SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Forum Buch Vom 03.04.2016 (17:05 – 18:00 Uhr) Redaktion und Moderation: Katharina Borchardt Mit neuen Bücher aus den Niederlanden und aus Flandern von: Sander Kollaard, Lot Vekemans, Marcel Ruijters, Willem Elsschot, Els Moors, Saskia de Coster Sander Kollaard: "Stadium IV" Aus dem Niederländischen von Gerd Busse Verlag A1 18,80 Euro (Gespräch mit Eva Karnofsky) Lot Vekemans: "Ein Brautkleid aus Warschau" Aus dem Niederländischen von Eva M. Pieper und Alexandra Schmiedebach Wallstein-Verlag 19,90 Euro (Rezension von Holger Heimann) Marcel Ruijters: "Hieronymus Bosch" Aus dem Niederländischen von Katrin Herzberg Avant-Verlag 24,95 Euro (Rezension von Ulrich Rüdenauer) Willem Elsschot: "Käse" Aus dem Niederländischen von Agnes Kalmann-Matter und Gerd Busse Aufbau-Verlag 16,95 Euro (Kurzkritik von Katharina Borchardt) Els Moors: "Lieder vom Pferd über Bord. Gedichte" Aus dem Niederländischen von Christian Filips Brueterich Press 20 Euro (Rezension von Martin Grzimek) Saskia de Coster: "Wir & Ich" Aus dem Niederländischen von Isabel Hessel Tropen-Verlag 22,95 Euro (Gespräch mit Clemens Hoffmann) Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Forum Buch können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/literatur.xml Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de Lot Vekemans: "Ein Brautkleid aus Warschau" Abgesprochen haben sie sich wohl nicht. Doch augenfällig ist es allemal: In diesem Frühjahr macht gleich eine ganze Reihe bekannter Theaterautoren mit Romandebüts von sich reden. Die beiden Deutschen Roland Schimmelpfennig und Nis-Momme Stockmann waren zuletzt für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Ob auch der erste Roman der Holländerin Lot Vekemans „Ein Brautkleid aus Warschau“ preisverdächtig ist, verrät uns unser Rezensent Holger Heimann. Er hat mit Lot Vekemans gesprochen und ihr Buch gelesen. Die Holländerin Lot Vekemans ist eine renommierte Theaterautorin. Aber mit der Arbeit an dem Bühnenstück, das „Hotel Europa“ heißen sollte, kam sie einfach nicht voran. Immer wieder taten sich Probleme auf. Schließlich nahm sie einen ganz neuen Anlauf: Aus dem gescheiterten Theaterstück wurde ihr erster, jetzt ins Deutsche übersetzter Roman. Wie so oft, so hatte die Autorin anfänglich nur ein Bild vor Augen, sagt sie. O-Ton 1 Lot Vekemans Das ist ein Moment von Inspiration. Ich erkenne sehr genau, wenn das der Beginn von etwas ist. Als ich das Bild hatte einer jungen Frau mit einem Sohn, der nicht spricht, dann wusste ich, das ist etwas, ich muss etwas tun damit. Ich folge immer diesem Gefühl. Es ist ziemlich wenig natürlich: Eine Frau und ein Sohn, der nicht spricht. Aber es ist auch ein sehr starkes Bild. Um dieses Bild herum hat Lot Vekemans einen melancholischen Roman geschrieben, der vom Bereden und Beschweigen, von zunächst scheiternder und schließlich doch gelingender Verständigung erzählt. Das Buch führt zuerst nach Polen um die Jahrtausendwende, dann in die Niederlande und schließlich wieder in den Osten. Im Mittelpunkt steht Marlena, eine junge Frau, die in einfachen Verhältnissen aufwächst. Bei einem Besuch in Warschau verliebt sie sich in den polnischstämmigen Amerikaner Natan. Als sie ein Kind von ihm erwartet, ist Natan bereits wieder in New York, um dort seine Familienverhältnisse zu ordnen. Von der eigenen Mutter mit Vorwürfen überhäuft flieht Marlena vom elterlichen Hof. In einem Reisebüro, wo sie einen Flug nach New York buchen will, wird ihr stattdessen ein Heiratskatalog in die Hand gedrückt, in dem sich polnische Frauen holländischen Männern vorstellen. Lange zögert Marlena nicht, denn ob sie in Amerika wirklich willkommen ist, bleibt ungewiss, in Holland hingegen wird sie erwartet. Und die unbedarfte, meist spontan agierende Frau hat Glück mit ihrer Wahl: Andries, ein verwitweter Bauer, ist nicht nur ein verständnisvoller, sanftmütiger Mann, sondern wird auch zum perfekten Vater für das Kind, das Marlena in Holland zur Welt bringt. Stan wächst heran, der Bauernhof ist seine Welt, Marlena indes wird nie heimisch. Nach neun Jahren fährt sie zur Beerdigung der Mutter erstmals wieder nach Hause. Stan nimmt sie mit, und sie beschließt, in Polen zu bleiben. Zitat 1 aus „Ein Brautkleid aus Warschau“ Andries fehlte mir nicht. Der Hof fehlte mir nicht. Holland fehlte mir nicht. Das Einzige, was mir jeden Tag mehr fehlte, war das Leben, das ich nicht gehabt hatte. Das Leben mit Natan. Das Leben von dem ich einmal geträumt hatte. Seit ich wieder in Polen war, überkam mich das Gefühl immer häufiger und heftiger. Als würde die Erinnerung daran, wer ich einmal hatte sein wollen, langsam wachgerüttelt. Marlena, aus deren Perspektive im ersten Teil des Buches erzählt wird, kümmert sich wenig darum, dass ihr Mann sie anfleht zurückzukommen. Und auch die Wut und der Hass ihres Sohnes machen sie nicht nachgiebiger. Selbst als Stan in einem verzweifelten Akt der Notwehr beschließt, nicht mehr zu sprechen, kann seine Verweigerung das Herz der Mutter nicht erweichen. Die junge Polin ist eine selbstbezogene Frau, die ihren eigenen Lebensweg nicht völlig versteht und so auch für den Betrachter rätselhaft und undurchdringlich bleibt. Dass ihre Verstörung eng verknüpft ist mit der Vergangenheit der Eltern und Großeltern, in deren Leben der Zweite Weltkrieg schlimme Verheerungen hinterlassen hat, deutet die Autorin nur an, auserzählt wird dies nicht. Lot Vekemans ist sich sicher, dass auch in friedvollen Zeiten schwere Traumata weitergegeben werden. O-Ton 2 Lot Vekemans Es sind beschädigte Biografien, aber das hat nicht nur mit dem Krieg zu tun. Das ist etwas, was immer passiert. Die beschädigten Eltern tun etwas und das beschädigt die Kinder. Wir sind in einem System von Beschädigungen. Das ist etwas, was wir weitergeben. Wenn wir nicht darüber reden, wird es schlimmer und schlimmer. Wenn wir darüber reden, können wir es anschauen, und es kann sich lösen. Ein großes Problem dieser Figuren ist, dass sie nicht sprechen wollen, nicht reden über die Sachen, die wichtig sind für sie. Das ist ein echtes Problem, das Nicht-Reden über das, was da war oder da ist. Auch der niederländische Bauer Andries ist kein begabter Redner. Und er ist überdies ein Zauderer, ein großer Zögernder. So hat erst der brutale Vater, dann die energische Schwester über sein Leben bestimmt. Sie waren es, die ihm die Ehefrauen vermittelten. Andries, dessen Stimme durch den zweiten Teil des Romans führt, hat immer nur Ratschläge und Anweisungen befolgt. Doch der Verrat von Marlena weckt ihn aus einer langen Taubheit und führt schließlich zu einer immer drängenderen Selbstbefragung. Zitat 2 aus „Ein Brautkleid aus Warschau“ Warum hatte ich nie daran gedacht, Stan aus Polen zurückzuholen? Jeden Tag fühlte ich seinen Verlust wie Schläge in meiner Brust und Krämpfe im Bauch, aber was hatte ich unternommen, um ihn zurückzubekommen? Das einzige, was ich versucht hatte, war, mit aller Macht das elende Gefühl zu vergessen. Recht erfolglos. Weil er nicht vergessen kann und will, macht er sich schließlich auf den Weg nach Polen. Hier im dritten und letzten Teil des Buches trifft Andries jedoch zunächst nicht auf Frau und Sohn, sondern auf einen alten Freund von Marlena. Szymon, dessen polnische Familie im Krieg ausgelöscht wurde, ist ein Unglücklicher, der sich nirgendwo mehr zugehörig fühlt. Ob ausgerechnet er Andries zu Marlena führen wird, lässt Lot Vekemans bewusst offen. O-Ton 3 Lot Vekemans Ich will immer, dass man am Ende das Gefühl hat, dass etwas sich ändern kann oder dass man sich anders entscheiden kann, dass du das Gefühl hast, dass etwas vielleicht nicht jetzt in diesem Moment sich geändert hat, aber dass es möglich ist, dass vielleicht morgen oder nächste Woche etwas passiert, was auch das Leben von Marlena leichter macht. Für mich ist das immer eine wichtige Botschaft, dass man das Gefühl hat, dass man wählen kann. So lange man das Gefühl hat, kann man auch immer leichter leben. Man kann wissen: Ich habe eine Chance, etwas zu ändern, mein Unglück zu ändern, vielleicht nicht in Glück, aber in etwas, was tragbar ist. „Ein Brautkleid aus Warschau“ ist ein Roman, der von versehrten Menschen erzählt. Er tut dies in einer einfachen, nie aufgesetzt wirkenden Sprache. Etwas Trauriges schwingt immer darin mit. Aber dieses bemerkenswerte Debüt einer bekannten Dramatikerin verliert sich nicht in Düsternis und Melancholie. Vekemans erzählt von vertanen Chancen und bleibenden Verletzungen, aber auch vom Aufbruch, von der Kraft des Neubeginns. „Vielleicht bin ich eine optimistische Autorin mit einer pessimistischen Geschichte“, sagt sie von sich selbst. Es ist genau diese Verbindung, die ihr Buch so besonders und lesenswert macht. Marcel Ruijters: "Hieronymus Bosch" Jubiläen und Gedenktage ziehen nicht selten einen ganzen Schweif an Büchern, Kongressen und Ausstellungen hinter sich her. Im besten Falle kann man ein Ereignis oder einen berühmten Menschen auf diese Weise noch einmal anders oder neu kennenlernen, vielleicht sogar ein bisschen besser begreifen. Der 500. Todestag von Hieronymus Bosch ist ein gutes Beispiel: Seine Heimatstadt ’s-Hertogenbosch (kurz Den Bosch genannt) widmet ihm zurzeit eine imposante Ausstellung, für die viele der meisterlichen, visionären Bilder des Künstlers zusammengetragen wurden. Neue werkgeschichtliche und biographische Bücher sind in diesem Jahr ebenfalls auf den Markt gekommen, obwohl es letztlich nur wenige belegbare Lebensdaten gibt, anhand derer sich eine Biografie schreiben ließe. Dass er am 9. August 1516 in der Sint-Jans-Kathedrale beigesetzt wurde, gehört zu diesen spärlichen Gewissheiten. Vieles andere – wie Bosch gelebt hat und vor allem wie er zu seinem geradezu revolutionären Stil gekommen ist – muss man sich größtenteils aus dem Zeitkontext zusammenreimen. Oder man muss, um einige blinde Flecken dieser Biografie zu füllen, die eigene Fantasie stark machen. Ein später Nachfahre von Hieronymus Bosch hat das versucht. Marcel Ruijters wurde 1966 geboren und lebt in Rotterdam, er ist einer der bekanntesten Comic-Künstler der Niederlande. Seit Ende der 1980er Jahre veröffentlicht er seine Comics und Graphic Novels, zunächst noch im Eigenverlag, später dann bei niederländischen sowie internationalen Verlagen. Seit einigen Jahren beschäftigt er sich mit der Epoche des Mittelalters – nicht nur thematisch, sondern auch stilistisch hat das seine Spuren hinterlassen. Seine Bearbeitung von Dante Alighieris „Inferno“ wurde 2008 in den Niederlanden als beste Graphic Novel ausgezeichnet. Auch die Bände „Alle Heiligen“ und „Sine qua non“ sind im Mittelalter angesiedelt. Für sein Gesamtwerk wurde er 2015 mit dem „Stripschapprijs“ geehrt, einem renommierten und einzigartigen Preis für das Oeuvre eines Comickünstlers. Nun hat er sich mit einem der größten Künstler überhaupt beschäftigt – mit seinem Landsmann Hieronymus Bosch. Ulrich Rüdenauer hat den Comic-Künstler getroffen und sich mit ihm über seine Annäherung an das Leben von Hieronymus Bosch unterhalten. Marcel Ruijters hat vier Jahre an seiner Graphic Novel über Hieronymus Bosch gearbeitet. Vier Jahre, in denen er gelesen und studiert, gezeichnet, geschrieben, verworfen und immer wieder neu angesetzt hat, um dieser geheimnisvollen MalerPersönlichkeit in einem biografischen Comic auf die Spur zu kommen: Der erwachsene Hieronymus Bosch steht dabei im Zentrum, seine Beziehung zu den Maler-Brüdern und zu seiner Frau. Ruijters hat sich um eine realistische Schilderung des Lebens von Bosch bemüht, zuweilen huschen Wesen aus seinen Gemälden in Gestalt von gemarterten Kranken oder als Alptraumgespenster durch die farbige Szenerie. Ruijters Darstellung dieser fernen Lebenswirklichkeit – der Straßenszenen von Boschs Heimatstadt etwa oder seiner Maler-Werkstatt – ist detailgenau. Und zugleich überzeichnet. Ruijters Figuren haben fast übertrieben gearbeitete Züge, sie erscheinen ebenso naiv wie grotesk. In dieser Überzeichnung lassen sich auch Verbindungslinien von spätmittelalterlicher Kunst zu zeitgenössischer Comic Art ziehen. Da gibt es viele Momente des Drastischen, etwa wenn Ruijters die Exekution kleiner Gauner in ‚s-Hertogenbosch schildert und die geifernden Bürger und Geistlichen ausdrucksstark in ihrem sensationslüsternen Zorn zeigt. Das „Monströse, Hybride, Groteske oder Phantastische“ war lange Zeit Teil der kulturellen Vorstellung, wie Stefan Fischer in seiner neuen Bosch-Studie „Im Irrgarten der Bilder“ schreibt. Diese Motive interessieren auch den Comickünstler Marcel Ruijters, wenngleich er nicht vorhat, Bosch auf dessen ureigenem Gebiet zu schlagen. Ruijters, der einen illustrativen, erzählenden Stil pflegt, vermeidet es, Boschs Bildsprache nachzuahmen. Er zeigt vielmehr, wo diese herkommt – aus der Kirche, dem Alltag, den grausamen Foltermethoden des Mittelalters nämlich. Und Ruijters versucht, auf 160 chronologisch voranschreitenden, geschickt komponierten Seiten die sozialen Hintergründe sichtbar zu machen, wie er selbst unterstreicht. Bosch bediente sich einerseits aus der religiösen Bilderwelt. Und er hatte äußerst wache Sinne für seine Umgebung. Er war der dritte Sohn einer Malerfamilie. Ruijters charakterisiert ihn als zurückhaltenden Beobachter. Aber auch als Geschäftsmann, der Verbindungen zur Kirche und bürgerlichen Auftraggebern sucht. Über Boschs Biografie ist wenig bekannt. So muss Ruijters einige Leerstellen ausfüllen; etwa spekuliert er über einen Zwist unter den Maler-Brüdern oder eine abgebrochene Gesellenreise Boschs. Was man nicht weiß, müsse man durch Inspiration ausgleichen, meint Ruijters. Das sei die erste Regel. Für ihn ist Boschs Originalität nicht zuletzt aus einem Trauma heraus zu erklären: Als Kind erlebte er, wie Teile der Stadt einem Brand zum Opfer gefallen sind. Diese Szene zeichnet Ruijters sehr suggestiv, feuerrot lodernd, in seinem Buch nach. So ist Ruijters Graphic Novel eine Hohes und Triviales verschmelzende Geschichte des 15. und 16. Jahrhunderts. In einzelnen Kapiteln beschäftigt sich der ComicKünstler mit den Themen, die in Boschs Leben eine wichtige Rolle spielten – mit der Familie, dem städtischen Treiben oder Boschs Einflüssen und Visionen. Er zeigt ihn oftmals zeichnend und malend bei der Arbeit. Bosch ist bei Ruijters weniger ein genialischer Künstler – vielmehr ein fleißiger Handwerker. Und vielleicht sogar eine Art Alter ego von Ruijters selbst? Ruijters hat einen wunderbaren Sinn für Dramaturgie und für die szenische Umsetzung des unspektakulären Alltags, der das Außergewöhnliche dieses Lebens zu verstehen hilft. Vielleicht sind seine Figuren zuweilen etwas karikaturenhaft geraten, zu prägnant die Gesichter, ja, zu comichaft. Aber doch ist diese wort- und bildreiche Auseinandersetzung mit der Renaissance und dem Genie Bosch wie eine Zeitreise, kunstvoll, spannend und überraschend. Els Moors: "Lieder vom Pferd über Bord. Gedichte" Autor: Els Moors Gedichte haben etwas ungemein Erfrischendes und Lebendiges. Sie geben sich nicht tiefschürfenden Gedanken oder sprachartistischen Experimenten hin, sondern beschreiben alltägliche Impressionen und Erlebnisse, oft ungeschönt und frech vorgetragen wie etwa ein Zyklus mit dem Titel „De witte fuckende konijen“, also Gedichte über die „weißen fickenden Kaninchen“. Neben humorvoll gehaltenen Versen und der Darstellung von Alltagsszenen will Els Moors’ Poesie die Liebe entromantisieren mit einem schalkhaften Seitenblick aufs Klischee und einem Schuss Selbstironie, wie in dem folgenden Gedicht über einen auf einem Fensterbrett herumstolzierenden Täuberich. Zitatsprecherin: „die Luft ist ein Bogen, darunter / humpelt der städtische Tauber / vorwärts auf einer Kralle /sich durch die Straßenabfälle / Hinterm Fenster stehn grau / die Bäume Auch ein Stuhl / steht vor einem Fensterbrett, darauf // hockt er, mit einer Ecke des Tischs / entledigt er sich Feder um Feder des Kleids, / bis nur sein gelbes Hautkleid übrig bleibt / Zu allem bereit / lass ich mich ins Schlafzimmer schleppen // Ein pinker Rand ist der Wein um die Lippen, / den Mund Wenn das Telefon klingelt // häng ich, nicht unvermutet, ihm am Hals“ Autor: Knapp sechzig Gedichte umfasst Els Moors’ Gedichtband „Lieder vom Pferd über Bord“. Aufgeteilt ist er in sechs Kapitel mit neugierig machenden Titeln wie „Ich bin der Gärtner mit dem Alibi“ oder „Komm, ich leg deine Mutter um“, die keine thematischen Schwerpunkte andeuten wollen, sondern spielerisch Signale setzen und aufhorchen lassen. Die dann folgenden Gedichte verzichten auf Überschriften, auf Punkt und Komma oder sinnvermittelnde Zeilenumbrüche und fallen gleichsam von der ersten Zeile an sprichwörtlich mit der Tür ins Haus. Man ist meist mitten drin in einer Situation, als würde jemand munter und voraussetzungslos mit dem Erzählen beginnen. „Als ich heimkam / warf ich meine Tasche / bleichschwer in den Gang“ heißt es etwa, oder „die Felsen, die da liegen im Sand / liegen da seit Ewigkeiten“ und unterstreichen so schon im Ansatz die Haltung der Schreibenden: Els Moors lässt uns teilhaben an ihrer fast naiv zu nennenden Art, ihre Umgebung wahrzunehmen, sie berichtet von dem, was sie interessiert oder bedrückt: Zwischenmenschliches, Enttäuschungen, Lebenssituationen. Der Klang des Poetischen gerät ihr dabei scheinbar absichtslos in die Worte durch winzige Verrückungen, indem sie etwa notiert: „Das Wasser ist das treibende vorbei“. Mit dem Präfix „vorbei“ verdoppelt sie gleichsam das Vergängliche. Zum anderen liegt in ihren Blicken auf die sie umgebende Welt immer auch das absichtslose Hineinsehen in sich selbst, wie etwa in den folgenden Versen: Zitatsprecherin: „das kann nicht der Sinn der Übung sein, / dass ich früher daheim bin / früher aufsteh, ohne / mich zu treffen // Mal abgesehen davon / und hab ich so viele Geliebte abzufüllen wie / Tage zu stillen / Heute zum Beispiel sinds zwei // der Eine hält sich ans Papier / der Andre nimmt ein Fernrohr / und schaut aus dem Fenster“ Autor: In solchen Zeilen wie „dass (...) ich früher aufsteh, ohne / mich zu treffen“ und: ich hab „so viele Geliebte abzufüllen wie / Tage zu stillen“, formuliert Els Moors Gedanken über einen von Zwängen freien Umgang in der Beziehung zu anderen ebenso wie über die Gefahr, sich selbst darin zu verpassen. Typisch für den ständigen Wechsel von Außen- und Innensicht ist das immer wieder auftauchende Motiv des Fensters. Es ermöglicht dem Blick, ein Geschehen aus sicherer Distanz zu verfolgen, und bringt es zugleich im Rahmen des Fensters zum Stillstand: Zitatsprecherin: „Die Fenster sind Türen, ein Durchgang / Ein Hund jagt einem Kind nach auf dem Rasen / Im Gras bleiben hängen die Stimmen“. Autor: Els Moors Gedichte nehmen teil am Leben, zeigen Segmente der Erfahrung, schreiben uns nichts vor, vermitteln kein Wissen. Stattdessen reißen sie uns aus dem Gleichmaß der Wahrnehmung in die in uns zurückbleibenden Bildausschnitte, die uns dann in rätselhaften Träumen wiederbegegnen. Insofern können wir Ulf Stolterfohts noch ganz jungem Verlag Brueterich Press dankbar sein, dass er uns die flämische Lyrikerin vorstellt: ihre störrisch-einfühlsamen Gedichte über sich selbst, Freunde, Bekannte oder Menschen auf der Straße, die „über Bord“ gehen und kentern. Dankenswert ist auch, dass die Ausgabe zweisprachig gestaltet ist. Auf diese Weise lässt sich nachvollziehen, dass Jan Filips’ Übersetzungen an vielen Stellen äußerst eigenwillig sind und die melodische Sprache von Els Moors unnötig verhärten, als wollten sie die leicht hingesagten Impressionen der Lyrikerin zur Wortkunst erheben. Wenn Moors etwa eindeutig von „sich selbst (...) berühren“ schreibt, benutzt Filips den artifiziell klingenden Ausdruck „sich fingern“. Und die „fuckenden konijnen“ auf einem morgendlichen Campingplatz verniedlicht er zu „bumsenden Karnickeln“. Das klingt dumpf schwerfällig: Zitatsprecherin: „die weißen bumsenden Karnickel bumsen / und bums die bumsen sich und alles platt / ganz ohne Fernbedienung bums / bumsbums und schon ist Morgen! / Morgen ist in diesem nassen Land / in diesem Zahnpasta-Nutella-Land / auf nasser abgematteter Matratze“ Autor: In einer früheren Übersetzung des Kaninchen-Zyklus’ von Gregor Seferens heißt es dagegen sehr viel offener, lebendiger und näher am Spaß mit dem Spiel der Worte: Zitatsprecherin: „die weißen fickenden kaninchen ficken / und sie ficken was das zeug hält / ohne fernbedienung / boing boing es ist morgen! / es ist morgen in diesem nassen land / diesem zahnpasta nutella land / diesem nassen ermatteten land“ Autor: Eines liegt diesen Gedichten fern: der Wahrnehmung ein intellektuelles Korsett überzustülpen. Ihre Verse sind sinnlich und überraschend. Sie vermitteln die Freude am Aufschreiben und Nachempfinden von Erlebtem und Gesehenem, und das macht die Gedichte von Els Moors zu etwas Außergewöhnlichem.
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