Leitthema Deutsche Version von: „The development of Emergency Medicine in Europe“, Notfall Rettungsmed 2015 · 18:113–118 DOI 10.1007/s10049-015-1971-3 Published online: 31. März 2016 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 D. Williams Die „Emergency Medicine“ ist in Australien, Kanada, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten bereits seit langem als eigenständiges medizinisches Fachgebiet etabliert. Dennoch kann der Begriff in vielen anderen europäischen Sprachen zu Missverständnissen führen. So wird die Notfallmedizin manchmal als Synonym für die medizinische Notversorgung verstanden, die Ärzte aus fast allen Fachgebieten übernehmen können. Zur klinisch basierten Notfallmedizin gehören jedoch auch die Wiederbelebung, Stabilisierung sowie das Management sämtlicher undifferenzierten dringenden Notfälle bis zur Entlassung oder Überweisung an einen anderen Arzt. akuter und chronischer Beschwerden abdeckt. Die Graphik (. Abb. 1) zeigt die wachsende Zahl europäischer Länder, die die Notfallmedizin als eigenständiges Fachgebiet mit eigener fachärztlicher Ausbildung anerkennen. Der vorliegende Artikel lässt die wesentlichen Meilensteine dieser Entwicklung Revue passieren. Unter „Emergency Medicine“, die der Konferenz 1986 ihren Namen gab, wurde zu diesem Zeitpunkt ein am Krankenhaus in der Notfallabteilung ausgeübtes Fachgebiet verstanden, das als angloamerikanisches Modell der Notfallmedizin bekannt ist. In diesen Ländern wird die präklinische Notfallmedizin von paramedizinischem Personal übernommen, während die Notfallabteilungen mit rein klinischen Notfallmedizinern besetzt werden. In vielen Ländern Kontinentaleuropas wurde dagegen das französisch-deutsch-österreichische Modell praktiziert, bei dem die präklinische Versorgung durch Notärzte geleistet wurde und in den Notaufnahmen Ärzte anderer Disziplinen arbeiteten. » Die Notfallmedizin ist mit allen anderen klinischen Disziplinen verflochten Die Notfallmedizin ist ein interdisziplinäres Fachgebiet, das mit allen anderen klinischen Disziplinen verflochten ist. Daher ergänzt sie die anderen Fachgebiete und tritt nicht mit ihnen in Konkurrenz. Die erste internationale Konferenz zur Notfallmedizin fand 1986 in London statt. Die 375 Delegierten kamen überwiegend aus den Vereinigten Staaten, Kanada, Australien und dem Vereinigten Königreich, während Kontinentaleuropa nicht vertreten war. Ihre letzte Jahreskonferenz hielt die Europäische Gesellschaft für Notfallmedizin im Oktober 2014 in Amsterdam ab. Die mittlerweile 2400 Delegierten kamen aus fast 70 Ländern, die allermeisten von ihnen aus Europa. Diese bemerkenswerte Entwicklung steht für die zunehmende Anerkennung eines Fachgebiets, das das klinische Sofortmanagement sowohl physischer als auch psychischer President, Section & Board of Emergency Medicine, European Union of Medical Specialists, London Entwicklung der Notfallmedizin in Europa Vereinigtes Königreich – Die Anfänge Manche sagen, Geschichte sei einfach die Biographie des menschlichen Geistes, und die wichtigsten historischen Entwicklungen könne man an der Lebensgeschichte bedeutender Männer und Frauen ablesen. Insofern wäre der englische Arzt Maurice Ellis ein wichtiger Teil der Geschichte des Fachgebiets Notfallmedizin, denn er wurde 1951 zum leitenden Facharzt der – wie man damals sagte – Unfallabteilung („Casualty Department“) des Hauptkrankenhauses im nordenglischen Leeds ernannt. Es war die erste Stelle dieser Art, und Ellis bekam so viel Widerstand der Kollegen anderer Fachgebiete zu spüren, dass er zu- nächst nicht zu den Sitzungen der medizinischen Leitungsgremien eingeladen wurde. Seine Reaktion bestand darin, die Behandlungsstandards in seiner Abteilung zu reformieren, und damit reformierte er auch den Ruf seiner Abteilung innerhalb des Krankenhauses. Als er 1969 in Rente ging, war Ellis immer noch der leitende Abteilungsarzt seiner nicht anerkannten Disziplin, aber er hatte inzwischen eine kleine Gruppe von Kollegen um sich geschart, die zusammenarbeiteten, um das Qualitätsniveau der Notfallabteilungen zu heben und den Kenntnisstand im Bereich Unfall- und Notfallversorgung im Lande zu verbessern. Diese Gruppe war als Casualty Surgeons Association bekannt, deren Präsident Ellis in den ersten 5 Jahren war. Gegen Ende seiner Amtszeit erklärte sich die britische Regierung bereit, die Schaffung von 32 unabhänggen Leitungspositionen für Notfallabteilungen zu finanzieren. Dieses Experiment erwies sich trotz eines über viele Jahre anhaltenden Widerstands innerhalb des Berufsstands als durchschlagender Erfolg. Später wurde die Casualty Surgeons Association in British Association for Emergency Medicine umbenannt. 1993 wurde die Fakultät für Notfallmedizin als gemeinsamer Fachbereich von 6 Royal Medical Colleges gegründet. Dadurch erlangte das Fachgebiet eine größere Anerkennung, bis schließlich 2008 das eigenständige College of Emergency Medicine gegründet wurde und damit die Entwicklung zur eigenständigen Fachlichkeit mit eigenem Facharzttitel abgeschlossen war. Kontinentaleuropa – Die Anfänge Die Casualty Surgeons Association veranstaltete die erste internationale Konferenz 1986 in London. Vier Jahre später fand die Notfall + Rettungsmedizin 2 · 2015 | 113 Leitthema Jahr der Anerkennung als eigenständiges medizinisches Fachgebiet Zahl der Länder 25 20 15 10 5 0 1970 1980 1990 Jahr 2000 erste nationale Jahreskonferenz in Manchester statt. Auf dem Programm stand auch ein Hauptvortrag zu Ehren von Ellis, gehalten von Herman Delooz von der Universität Leiden in Belgien. Die Rede trug den Titel „Notfallmedizin – eine europäische Perspektive“. Delooz regte die Gründung einer europäischen Vereinigung an, um die Entstehung eines Fachgebiets Notfallmedizin in ganz Europa zu fördern. Er setzte sich weiter für die Umsetzung seines Traums ein und wurde 4 Jahre später der erste Präsident der European Society for Emergency Medicine (EuSEM). Die Gründungssatzung der neuen Gesellschaft wurde bei der 5. internationalen Konferenz für Notfallmedizin 1994 in London unterzeichnet. Allerdings nahmen immer noch nur sehr wenige Delegierte aus Kontinentaleuropa an der Konferenz teil. Die europäische „Doctors‘ Directive“ – Notfallmedizin als eigenständiges Fach Die Europäische Gesellschaft für Notfallmedizin (European Society of Emergency Medicine, EuSEM) wurde als europäisches Forum für Ärzte geschaffen, die in der präklinischen und/oder der klinischen Notfallversorgung arbeiten. Sie vertritt den gesamten europäischen Kontinent, d. h. bis zu 50 Länder mit fast ebenso vielen Sprachen, unterschiedlichen Kulturen und Gesundheitssystemen. Die Europäische Union hat nur 28 Mitgliedsländer. Allerdings ist sie vielleicht die komplexeste geopolitische Union der Welt. Jedes Land hat eine eigene medizinische Tradition, verschiedene Zulassungssysteme zur Facharztanerkennung und auch unterschiedliche anerkannte medizinische Fachgebiete. Mit diesem Problem hat sich die Europäische Union befasst, insbesondere 114 | Notfall + Rettungsmedizin 2 · 2015 2010 2020 Abb. 1 9 Die Entwicklung der Notfallmedizin in Europa die Institution, die für den Binnenmarkt zuständig ist. Dazu gehört auch die gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen und andere Fragen der Freizügigkeit. Die „Ärzterichtlinie“ wurde zunächst als Richtlinie 93/16/EWG erlassen und später als Richtlinie 2001/19/EWG aktualisiert. Sie erkannte innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten über 50 verschiedene klinische Fachgebiete an, aber die Liste war nicht vollständig, da sie nur solche Fachgebiete enthielt, die mindestens zwei Mitgliedsstaaten gemeinsam haben. Daher wurde die Notfallmedizin von Anfang an aufgeführt, weil sie im Vereinigten Königreich und Irland schon lange anerkannt war, damals noch als „Unfall- und Notfallmedizin“ (Accident and Emergency Medicine). Dies waren bis zur EU-Erweiterungsrunde 2004 und 2005 die einzigen beiden Länder, in denen dieses Fachgebiet als Facharztqualifikation anerkannt war. Unter den 12 in diesen beiden Jahren beigetretenen neuen Mitgliedsstaaten waren 7, in denen das Fachgebiet Notfallmedizin als fachärztliche Qualifikation bereits anerkannt war. Sie wurden in einer weiteren Novelle der EU-Richtlinie (2005/36/ EWG) aufgelistet. Die Richtlinie ist seitdem nicht mehr novelliert worden. Derzeit ist eine erneute Novellierung erwogen, und dann kann der aktuelle Stand der Fachärztlichkeit der Notfallmedizin hoffentlich korrekt dargestellt werden. Dabei wird hoffentlich der signifikante Wandel des Status der Notfallmedizin im letzten Jahrzehnt berücksichtigt. So müsste die Richtlinie jetzt 8 weitere Länder auflisten, in denen sich die Notfallmedizin als eigenständiges Fachgebiet mit mindestens 5 Jahren Ausbildung durchgesetzt hat, sodass die Gesamtzahl dann auf 17 der 28 Mitgliedsstaaten wachsen würde. Diese weiteren Länder sind in der chronologischen Reihenfolge der formalen Anerkennung des Fachgebiets Belgien, Italien, Luxemburg, Finnland, Slowenien, Litauen, Kroatien und Estland. Die 3 Karten in . Abb. 2 zeigen die Zahl der EU-Länder mit Notfallmedizin mit einer primären fachärztlichen Kompetenz mit einer minimalen Ausbildungszeit von 5 Jahren im Jahr 1995 (2), 2005 (7) und 2015 (17). Die Karten verdeutlichen auch, dass die Notfallmedizin in der Türkei seit den späten 90er Jahren etabliert ist. In Schweden und Frankreich wird die Notfallmedizin also als Zusatzfach, das in einer Zusatzweiterbildung erlernt werden kann, betrachtet, wobei Schweden die Aufwertung zum primären Fachgebiet bis Ende 2015 und Frankreich für das darauffolgende Jahr angekündigt hat. Allerdings soll die Ausbildungsdauer dort möglicherweise nur 4 Jahre betragen. Lettland und die Niederlande haben bereits Ausbildungsprogramme, aber sie dauern wesentlich weniger als 5 Jahre und können daher nicht in die EU-Richtlinie aufgenommen werden. Der derzeitige Status der Notfallmedizin als klinisch basiertes Fachgebiet in den 28 Ländern der EU ist in der beigefügten Tabelle dargestellt (. Abb. 2). Es verbleiben nur noch 7 Länder der EU (Österreich, Zypern, Dänemark, Deutschland, Griechenland, Portugal und Spanien), in denen die Notfallmedizin immer noch nicht als eine eigene klinische Fachlichkeit mit der Notwendigkeit einer spezifischen Weiterbildung anerkannt ist, wobei Spanien und einige deutsche Bundesländer sich gerade auf eine Supraspezialität zubewegen und in Griechenland bereits viele politische Zusagen gebrochen wurden. Bemerkenswert ist, dass viele dieser Länder auch die Gerontologie trotz der bemerkenswerten Fortschritte bei der Lebenserwartung in ganz Europa noch nicht als Fachgebiet anerkannt haben. 20. Jahrestag – und auch der 10. Die Europäische Gesellschaft für Notfallmedizin wurde vor 20 Jahren gegründet. Vor kurzem wurde sie als internationale gemeinnützige Organisation in Brüssel eingetragen, hat aber ihr Büro in London. Sie hat über 800 Vollmitglieder, zu denen auch 32 nationale Gesellschaften für Notfallmedizin gehören, in denen wiederum mehr als 15.000 Notfallmediziner organisiert sind. Zusammenfassung · Abstract Das European Journal of Emergency Medicine, das ebenfalls von Professor Delooz gegründet wurde, hat zurzeit einen Impact Factor von 1.500. 2013 betrug er erst 1.021. Die Notfallmedizin ist in 18 europäischen Ländern (17 in der EU plus Türkei) als eigenständiges Fachgebiet anerkannt. Es ist davon auszugehen, dass diese Zahl in den nächsten Jahren noch weiter steigen wird. Diese und viele andere Errungenschaften wurden auf dem letzten europäischen Jahreskongress im Oktober 2014 in Amsterdam gefeiert, aber unter den vielen Besuchern (über 2400) waren nur wenige, die auch am 10. Jahrestag der EuSEM mitgewirkt haben, denn damals waren es nur 75 Delegierte. 2004 traten auch 10 neue Mitgliedsstaaten der EU bei, darunter auch die Tschechische Republik, und so wurde die magische Stadt Prag zum Austragungsort dieses Kongresses gewählt. Eine kleine, aber feine Gruppe von Delegierten aus mehr als 20 europäischen Ländern diskutierte über die künftige Rolle der Europäischen Gesellschaft für Notfallmedizin. Eine breite Palette von Themen wurde zunächst angesprochen, aber bald ergaben sich eine Reihe von gemeinsamen Zielen und Erwartungen, z. B. die Etablierung der Notfallmedizin als anerkanntes Fachgebiet mit Facharztstatus in den einzelnen Ländern, die Entwicklung gemeinsamer Standards für die Facharztausbildung in Europa und die Notwendigkeit, die zentrale Organisation einer Gesellschaft mit so großem geographischem Einzugsgebiet zu verbessern. Die meisten dieser Ziele waren zwar bereits im Manifest für eine Notfallmedizin in Europa verankert, das der Vorstand der EuSEM einige Jahre zuvor verabschiedet hatte, aber sie waren noch nicht realisiert worden [1]. Union Européenne des Médecins Specialistes (UEMS) Die Europäische Union nimmt auf die direkte Gesundheitsversorgung der unterschiedlichen Mitgliedstaaten keinen Einfluss; dies bleibt weiterhin die nationale Aufgabe der einzelnen Mitgliedsstaaten. Es gibt aber eine Reihe von nichtstaatlichen, freien europäischen medizinischen Organisationen, die durchaus politischen Einfluss haben. Die älteste und wichtigste ist die Europäische Vereinigung der Fachärzte (Union Européene des Médecines Specia- Notfall Rettungsmed 2015 · 18:113–118 DOI 10.1007/s10049-015-1971-3 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 D. Williams Entwicklung der Notfallmedizin in Europa Zusammenfassung Hintergrund. Großbritannien und die USA waren die ersten Länder, die in den frühen 1970er Jahren die Notwendigkeit der Notfallmedizin als klinisches Fachgebiet erkannten, unmittelbar gefolgt von Kanada und Australien. In Kontinentaleuropa gab es keine entsprechende Entwicklung, bis 1994 die Europäische Gesellschaft für Notfallmedizin (EuSEM) gegründet wurde. Zu ihren Aufgaben gehörte die Förderung der Etablierung der Notfallmedizin als eigenständiges Fachgebiet in den einzelnen Ländern sowie die Erarbeitung gemeinsamer Standards für die Facharztausbildung durch Einigung auf ein Kerncurriculum und ein 5-jähriges Ausbildungsprogramm. Ziel. In diesem Artikel blickt der Autor auf die europäische Entwicklung der Notfallmedizin zu einem klinischen Fachgebiet in den letzten 20 Jahren zurück. Ergebnisse und Schlussfolgerung. Die Notfallmedizin hat sich mittlerweile in 17 der 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sowie in der Türkei etabliert. Im Oktober 2014 feierte die Europäische Gesellschaft auf einem Kongress ihren 20. Jahrestag unter Teilnahme von über 2400 Delegierten. Schlüsselwörter EuSEM · UEMS · EU-Richtlinie · Europäisches Curriculum · Facharzt · Notfallmedizin Development of Emergency Medicine in Europe Abstract Background. The United Kingdom and the United States first recognised the need for a hospital-based specialty of Emergency Medicine in the early 1970s and were closely followed by Canada and Australia. However, similar developments were not seen on mainland Europe until 1994, when the European Society for Emergency Medicine (EuSEM) was established. Its main aims were to promote the establishment of Emergency Medicine as a primary specialty in individual countries and to develop common standards of specialty training across Europe by agreeing a core curriculum and a 5-year programme of specialty training. listees, UEMS), in der sich klinische Fachärzte aus den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zusammengeschlossen haben. Ihr Einfluss reicht noch weiter, denn auch andere europäische Länder können an ihr als assoziierte Mitglieder oder Beobachter teilnehmen. Die UEMS wurde schon 1958 mit dem Ziel der Harmonisierung und Verbesserung der fachärztlichen Versorgung in der Euroäischen Union gegründet. Für jedes Fachgebiet wurde eine eigene Sektion gegründet. Allerdings kann eine Sektion nur dann gegründet werden, wenn es in mehr als einem Drittel der EULänder eine Fachärztlichkeit in dem Fachgebiet anerkannt ist. Aus diesem Grund gibt es in verschiedenen Ländern der EU erheblich mehr anerkannte Fachgebiete als Sektionen innerhalb der UEMS. Objective. This article traces the development of Emergency Medicine as a hospital-based specialty in Europe over the last 20 years. Results and conclusion. Emergency Medicine is now established as a primary specialty in 17 of the 28 member countries of the European Union as well as Turkey. Moreover, in October 2014, the EuSEM celebrated ist twentieth anniversary during a congress in Amsterdam attended by more than 2400 delegates.. Keywords EuSEM · UEMS · EU Directive · European Curriculum for Emergency Medicine · EM Specialty Multidisziplinärer Gemeinsamer Ausschuss – Multidisciplinary Joint Committee Die EuSEM hatte bereits seit langem erkannt, dass auch die Notfallmedizin in der UEMS vertreten sein musste, aber die geforderte Anzahl der Länder mit Notfallmedizin als eigenständiges Fachgebiet mit Facharztstatus wurde nicht erreicht, sodass keine separate Sektion gegründet werden konnte. Sie bekam jedoch schließlich die Erlaubnis, einen Multidisziplinären Gemeinsamen Ausschuss (MJC) zu bilden, der aus der Europäische Gesellschaft für Notfallmedizin sowie denjenigen Sektionen besteht, die Fachgebiete mit besonderem Interesse an der Notfallmedizin repräsentieren. Die erste Sitzung dieses AusNotfall + Rettungsmedizin 2 · 2015 | 115 Leitthema Abb. 2 8 a–c Dunkelblau – EU-Länder mit Notfallmedizin als primärem Fachgebiet im Jahr 1995 (2), 2005 (7) und 2015 (17) und Türkei. Hellblau – EU Länder mit Notfallmedizin als Zusatzfach oder mit Trainingsprogramm unter 5 Jahren schusses fand im Mai 2005 in Brüssel unter Beteiligung der EuSEM und der Sektionen Anästhesie, Innere Medizin, Chirurgie, Orthopädie, Traumatologie, Geriatrie und Pädiatrie sowie eines Vertreters der European Junior Doctors (Ärzte in der Ausbildung) statt. Es wurde vereinbart, dass zu den vordringlichsten Aufgaben des Multidisziplinären Gemeinsamen Ausschusses in der Notfallmedizin (MJC-EM) nicht nur eine Bestandsaufnahme der Notfallmedizin in Europa sowie die Förderung der Notfallmedizin, sondern insbesondere auch die Entwicklung eines Kerncurriculums und Ausbildungsprogramms zum Facharzt für Notfallmedizin gehören sollten. Kerncurriculum für Notfallmedizin Das erste Curriculum für Notfallmedizin für Europa wurde im Dezember 2002 im European Journal for Emergency Medicine veröffentlicht [2]. Es folgte eine revidierte und erweiterte Version, die von einer Arbeitsgruppe unter Vorsitz von Roberta Petrino aus Italien geprüft wurde. Diese gemeinsame Arbeitsgruppe der MJC-EM und der EuSEM hatte 18 Mitglieder aus ganz Europa und entwickelte einen viel detaillierteren Lehrplan [3], der nicht nur die Wissensinhalte enthielt, sondern auch Empfehlungen für Ausbildungsprogramme gemäß der UEMS-Charta zur Ausbildung von Fachärzten in der Europäischen Gemeinschaft [4]. » Die empfohlene Mindestausbildungszeit beträgt 5 Jahre 116 | Notfall + Rettungsmedizin 2 · 2015 Die empfohlene Mindestausbildungszeit beträgt 5 Jahre, wobei man inzwischen erkannt hat, dass die Dauer eines Ausbildungsprogramms eher von der Zeit abhängt, die zur Erlernung der notwendigen Fähigkeiten tatsächlich benötigt wird. In diesem Lehrplan wurden Kernkompetenzen, häufige Symptome, besondere Aspekte der Notfallmedizin und wesentliche klinische Verfahren und Fähigkeiten aufgeführt. Er war jedoch für mehrere UEMS-Fachsektionen nicht akzeptabel, weil man der Meinung war, dies könne zu einem Übergreifen der Notfallmedizin in die etablierten klinischen Fachgebiete führen. Daher wurde ein Passus aufgenommen, der den Kollegen anderer Disziplinen zusichert, dass die Notfallmedizin sich als Ergänzung und nicht als Konkurrenz zu anderen klinischen Fachgebieten versteht. Ferner wurde erklärt, dass die von einem Notarzt verlangten Kompetenzen in anderen medizinischen Fachgebieten sich darauf beschränken sollten, festzustellen, ob und wann eine dringende oder sofortige Überweisung zu einem Spezialisten angezeigt ist. Das Kerncurriculum wurde vom Rat der UEMS im April 2009 förmlich verabschiedet und seither von vielen europäischen Ländern übernommen. Grundsatzerklärung zur Notfallmedizin in Europa Die EuSEM hat eine kurze Grundsatzerklärung zur Notfallmedizin in Europa erarbeitet, aus der später eine gemeinsame Erklärung der Europäischen Gesellschaft und des MJC-EM entstand. Sie definiert die Notfallmedizin als „medizini- sches Fachgebiet auf der Grundlage von Wissen und Fähigkeiten, die für die Prävention, die Diagnose und das Management dringender und notfallmäßig zu behandelnder Erkrankungen und Verletzungen von Patienten aller Altersgruppen mit dem gesamten Spektrum undiffenzierter körperlicher Krankheitszustände und Verhaltensstörungen notwendig sind. DIn diesem Fachgebiet ist die Zeit ein kritischer Faktor. Ferner ist das Fachgebiet krankenhausbasiert. Die Grundsatzerklärung wurde vom Rat der UEMS auf seiner Plenarsitzung im Oktober 2009 mit den Gegenstimmen von nur zwei EU-Mitgliedsstaaten gebilligt. Diese erste Version enthielt auch die Empfehlung, „andere europäische Länder sollten darauf hinarbeiten, die Notfallmedizin als eigenständiges medizinisches Fachgebiet zu etablieren“. Diejenigen Gesellschaften, die immer noch für die nationale Anerkennung ihres Fachgebiets kämpften, hielten diese Empfehlung für nicht nachdrücklich genug, sodass sie später dahingehend korrigiert wurde, dass „alle anderen Länder darauf hinarbeiten sollten, die Notfallmedizin als eigenständiges Fachgebiet mit Facharztstatus zu etablieren“. Diese Version wurde auf der Brüsseler Plenarsitzung des Rats der UEMS im April 2013 ohne Gegenstimme angenommen [5]. UEMS-Sektion und Board für Notfallmedizin Die Geschäftsordnung der UEMS erlaubt es jeder Sektion, ein eigenes euro- Tab. 1 Status der Notfallmedizin als klinisch basiertes Fachgebiet in den 28 Ländern der EU Unfall- und Notfallmedizin – Mindestausbildungsdauer 5 Jahre Land Belge (Belgien) Titel Médecine d’urgence Urgentiegeneeskunde Спешна медицина Urgentní medicína Aktueller Status Eigenständiges Fachgebiet Bemerkungen Gesetz vom 14.02.2005 Eigenständiges Fachgebiet Eigenständiges Fachgebiet Seit 1996 Gesetz Nr. 286/2013 – (Akutmedicin) – (Notfallmedizin) Erakorraline meditsiin – (Επείγουσα Ιατρική) – (Medicina de urgencias) – (Médecine d’urgence) Kein eigenständiges Fachgebiet Kein eigenständiges Fachgebiet … aber … Eigenständiges Fachgebiet Kein eigenständiges Fachgebiet … aber … Kein eigenständiges Fachgebiet … aber … Zusatzweiterbildung Hrvatska (Kroatien) Irland Italia (Italien) Κύπρος (Zypern) Latvija (Lettland) Lietuva (Litauen) Hitna medicina Emergency medicine Medicina d’emergenza-urgenza – (Επείγουσα Ιατρική) – (Neatliekamās medicīniskās) Skubioji medicina Eigenständiges Fachgebiet Eigenständiges Fachgebiet Eigenständiges Fachgebiet Kein eigenständiges Fachgebiet Kein eigenständiges Fachgebiet … aber … Eigenständiges Fachgebiet Luxemburg Magyarország (Ungarn) Malta Nederland (Niederlande) Österreich Polska (Polen) Portugal România (Rumänien) Slovenija (Slowenien) Slovensko (Slowakei) Médecine d’urgence Oxyológia és sürgősségi orvostan [2] Mediċina tal-Aċċidenti u l-Emerġenza – (Spoedeisende Geneeskunde) – (Notfallmedizin) Medycyna ratunkowa – (Medicina de Emergência) Medicină de urgenţă Urgentna medicina Úrazová chirurgia Urgentná medicína Akuuttilääketiede – (Akutvård) Emergency medicine Eigenständiges Fachgebiet Eigenständiges Fachgebiet Eigenständiges Fachgebiet Kein eigenständiges Fachgebie … aber … Kein eigenständiges Fachgebiet Eigenständiges Fachgebiet Kein eigenständiges Fachgebiet Eigenständiges Fachgebiet Eigenständiges Fachgebiet Eigenständiges Fachgebiet Zusatzweiterbildung im Bundesland Berlin Fünfjahreslehrplan ab 2015 Zusatzweiterbildung oft versprochen Könnte Zusatzweiterbildung werden Könnte 2016 eigenständiges Fachgebiet werden Seit 2013 Seit 1997 Gesetz vom 22. Januar 2008 Hat < Fünfjahreslehrplan Government Decree No 1229 18 December Gesetz vom 10.05.2010 Seit 2003 Seit 2004 Hat < Fünfjahreslehrplan Seit 1999 Seit 1999 Gesetz vom 22.06.2006 Seit 2003 Eigenständiges Fachgebiet Zusatzweiterbildung Eigenständiges Fachgebiet Finnische Verordnung 420/2012 Wird am 1. Mai 2015 eigenes Fachgebiet Seit 1972 България (Bulgarien) Česká republika (Tschechische Republik) Danmark (Dänemark) Deutschland Eesti (Estland) Ελλάς (Griechenland) España (Spanien) Frankreich Suomi (Finnland) Sverige (Schweden) United Kingdom (Vereinigtes Königreich) Auszug aus der EU-Richtlinie 2005/36/EWG, Anhang V, Punkt 5.1.3 – aktualisiert um Entwicklungen seit 2005. päisches Board als Arbeitsgruppe der Sektion zu gründen. Ein Board hat das Ziel, die Weiterbildung auf das höchstmögliche Niveau innerhalb des Fachgebiets anzuheben. Auch der MJC-EM verfolgte diesen Zweck und fungierte daher zunächst als Board ohne den entsprechenden Status als eigene Sektion innerhalb der UEMS. Die internen Regeln erlauben es einem Multidisziplinären Gemeinsamen Ausschuss jedoch, ein Board zu gründen. Ein entsprechender Vorschlag wurde vom Rat des UEMS auf seiner Plenarsitzung in Prag im Oktober 2010 angenommen. Die Nomenklatur ist hier etwas verwirrend, denn die europäischen Boards sind nicht das Gleiche wie die amerikanischen Boards für medizinische Fachgebiete, die ein striktes Verfahren für die Evaluation und Zertifizierung von Fachärzten anwenden. Trotzdem war dies ein weiterer Schritt hin zur Anerkennung der Notfallmedizin als eigenständige Fachärztlichkeit in Europa. Bereits 1 Jahr später erfolgte ein noch wichtigerer Schritt: Der Rat der UEMS befand, dass die Notfallmedizin endlich die Voraussetzungen zur Zulassung als eigene Sektion erfüllte und nunmehr den gleichen Status genoss wie die anderen großen Fachdisziplinen. Die Notfallmedizin wurde die 40. Sektion der UEMS, deren Gründungssitzung 2012 in Brüssel abgehalten wurde. Sie hat zurzeit 48 Mitglieder aus 23 europäischen EU- und Nicht-EU-Ländern. Zu den Eigenheiten der UEMS gehört es, dass durch die Schaffung einer Sektion für Notfallmedizin nicht automatisch der vorherige MJC-EM abgeschafft und der erst kurz vorher gebilligte europäische Board nicht auf die neue Sektion übertragen wurde. Weitere Bemühungen mussten dahingehend unternommen werden, sodass der Rat der UEMS erst 2013 die Existenz der neuen Sektion und des Boards für Notfallmedizin anerkannte. Prüfung des Europäischen Boards für Notfallmedizin Das Dokument, in dem das Kerncurriculum erläutert wird, schließt mit einem Notfall + Rettungsmedizin 2 · 2015 | 117 Leitthema kurzen Ausblick auf mögliche künftige Entwicklungen in der Notfallmedizin in Europa. Dazu gehört auch eine Prüfung, die den erfolgreichen Abschluss der Facharztausbildung bestätigt. Etwa zur gleichen Zeit, als das Curriculum verabschiedet wurde, bildete eine Gruppe von UEMS-Sektionen einen Rat für Facharztprüfungen (Concil for Specialty Medical Assessment, CESMA), um die Facharztabschlüsse in Europa zu harmonisieren. Es wurde festgestellt, dass Fachgebiete, in denen es bereits ein Europäisches Diplom gibt, ihre Prüfungen auf sehr unterschiedliche Weise durchführten. » Die Facharztqualifikationen innerhalb Europas sollten gegenseitig anerkannt werden Eine Hauptaufgabe des CESMA ist es, das geeignetste Format auszuarbeiten, sodass die Facharztqualifikationen innerhalb Europas gegenseitig anerkannt werden. Im Mai 2010 schlug der MJC-EM vor, eine Task Force einzurichten, um Vorschläge für eine europäische Prüfung in der Notfallmedizin zu erarbeiten. Erneut erklärte sich Roberta Petrino bereit, den Vorsitz dieser Gruppe zu führen. Die Prüfung des Europäischen Boards für Notfallmedizin basiert auf dem Kerncurriculum und hat zwei Teile. Teil A wird über eine elektronische Platform durchgeführt und enthält Multiple-Choice-Fragen über medizinische Grundlagen und klinisches Wissen. Teil B umfasst klinische Szenarien zur Beurteilung von Kompetenzen und Fähigkeiten wie Führungsstärke und Kommunikation [6]. Im November 2013 absolvierten 80 Kandidaten eine Pilotprüfung des Teils A. 30 Kandidaten bestanden diese Prüfung und legten im Mai 2014 die B-Prüfung ab. Von diesen genügten 13 den Anforderungen der Prüfer und erhielten ihr Europäisches Board-Diplom bei einer Feier aus Anlass des Jahreskongresses der EuSEM im Oktober 2014. Dies war der Höhepunkt einer immens aufwändigen Vorbereitungsarbeit durch eine kleine und sehr engagierte Gruppe von europäischen Notfallmedizinern. Die Prüfung ist ein weiterer wichtiger Meilenstein in der Entwicklung der Notfallmedizin in Europa. Vor 118 | Notfall + Rettungsmedizin 2 · 2015 kurzem hat der CESMA Kriterien zur Beurteilung europäischer Prüfungen aufgestellt, und es ist zu hoffen, dass die externe Evaluation des Board-Diploms in Notfallmedizin bestätigt, dass damit ein Standard in der Prüfung der Facharztqualifikation gesetzt wurde. „Die Europäische Gesellschaft für Notfallmedizin ist 20 Jahre alt“ Dies ist keine Zusammenfassung des vorher Gesagten, sondern der Titel eines aktuellen Leitartikels im European Journal of Emergency Medicine, der vom Herausgeber, Professor Colin Graham, und dem früheren Ehrensekretär der EuSEM, Marc Sabbe gemeinsam verfasst wurde [7]. Sie wiesen auf den signifikanten Wandel in der Arbeitsbelastung in den Notfallabteilungen in den letzten 20 Jahren hin. Dem Rückgang der traumabedingten Probleme, der zumindest in einigen Ländern zu verzeichnen ist, steht eine Zunahme der ebenso komplexen klinischen Probleme bei der alternden Bevölkerung gegenüber. Dies ist nur eine von vielen Herausforderungen, vor denen die Notfallmedizin heute steht, wie die belgische Gesundheitsministerin bei einer Rede vor der EUKonferenz mit dem Titel „Europes‘ Health Work Force“ erklärte. Sie nahm zum Wandel in der medizinischen Praxis Stellung und führte beispielhaft die Notfallmedizin an: „Wir müssen heute schon die Bedürfnisse von morgen kennen, und zwar nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene.“ Eine bemerkenswerte Zahl von EULändern hat diese Notwendigkeit inzwischen erkannt, aber es gibt immer noch einige, die noch keinerlei Schritte zur Etablierung der Notfallmedizin als eigenständiges Gebiet mit Facharztstatus eingeleitet haben. Die Entwicklung der Notfallmedizin in Europa war in den beiden zurückliegenden Jahrzehnten ein schwieriger berufspolitischer und politischer Kampf, aber es ist viel erreicht worden. Es ist zu hoffen, dass die Europäische Gesellschaft für Notfallmedizin, die UEMS-Sektion und das Board für Notfallmedizin weiterhin an einem Strang ziehen, um im nächsten Jahrzehnt noch mehr Fortschritte zu erzielen. Fazit für die Praxis FIn Europa hat sich die Notfallmedizin in den vergangenen 20 Jahren trotz aller Widerstände zu einer eigenständigen Disziplin mit klinischem Schwerpunkt und eigenem Facharztstatus entwickelt. FFachärzte für Notfallmedizin gibt es inzwischen in 17 Mitgliedsstaaten der 28 Mitgliedsstaaten der EU sowie in der Türkei. FGrundlage der fachärztlichen Ausbildung zum Notfallmediziner ist das Europäische Curriculum für Notfallmedizin, das eine 5-jährige Ausbildung vorsieht, von denen 3 Jahre in Notfallabteilungen erbracht werden müssen. FDie Entwicklung der Notfallmedizin ist auch auf den jährlichen Kongressen der EuSEM spürbar, In Amsterdam feierten 2400 Teilnehmer den 20sten Jahrestag der Gründung der Gesellschaft. Korrespondenzadresse Dr. D. Williams President, Section & Board of Emergency Medicine, European Union of Medical Specialists 7–9 Breams Buildings, Chancery Lane, EC4A 1DT London England [email protected] Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenskonflikt. D. Williams gibt an, dass kein Interessenskonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren. Literatur 1. Manifesto for Emergency Medicine. Eur J Emerg Med 5(4):389–390 2. Petrino R, Bodiwala G, Meulemans A et al (2002) EuSEM core curriculum for emergency medicine. Eur J Emerg Med 9(4):308–314 3. The EuSEM task force on curriculum: European curriculum for emergency medicine. http://www.eusem.org/ downloads/pdfs/Emergency_Medicine_curriculum 4. Charter on training of medical specialists in the European Community. Union Européenne des Médecins Spécialistes. Brussels 1993 http://www.uems.net/ uploadedfiles/176.pdf 5. Policy statement on emergency medicine in Europe. http://www.eusem.org/downloads/pdfs/Policy 6. Petrino R, Brown R, Härtel C et al (2014) European Board Examination in Emergency Medicine (EBEEM): assessment of excellence. Eur J Emerg Med 21(2):79–80 7. Sabbe MB, Graham CA (2014) The European Society for emergency medicine is 20 years old. Eur J Emerg Med 21(5):323
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