SWR2 Forum Buch vom 30.11.2014

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Forum Buch
Mit neuen Büchern von Uwe Krüger, Julia Cagé, Stefan Schulz,
Gerhard Paul, Wolfgang Ullrich, Wilfried F. Schoeller, Maria Marc,
Meike Hoffmann und Nicola Kuhn
Sendung: Sonntag, 27. März 2016
Redaktion: Wolfram Wessels
Produktion: SWR 2016
Ulrich Teusch über neue Bücher zur Medienkritik:
Uwe Krüger: Mainstream. Warum wir den Medien nicht mehr trauen
C.H. Beck, 170 Seiten, 14,95 Euro
Julia Cagé: Rettet die Medien. Wie wir die vierte Gewalt gegen den Kapitalismus
verteidigen
C.H. Beck, 134 Seiten, 12,95 Euro
Stefan Schulz: Redaktionsschluss. Die Zeit nach der Zeitung
Carl Hanser Verlag, 304 Seiten, 21,90 Euro
Gerhard Paul: Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel
Wallstein Verlag, 760 Seiten, 39,00 Euro
Rezension: Monika Boll
Wolfgang Ullrich: Siegerkunst. Neuer Adel, teure Lust.
Wagenbach, 157 Seiten, 16,90 Euro
Gespräch mit Wolfgang Ullrich
Wilfried F. Schoeller: Franz Marc. Eine Biographie
Carl Hanser, 400 Seiten, 26,00 Euro
Maria Marc: Das Herz droht mir manchmal zu zerspringen. Mein Leben mit Franz Marc
Herausgegeben von Brigitte Roßbeck
Siedler Verlag, 192 Seiten, 19,99 Euro
Rezension: Andreas Puff-Trojan
Meike Hoffmann, Nicola Kuhn: Hitlers Kunsthändler. Hildebrand Gurlitt 1895-1956. Die
Biographie
CH Beck, 400 Seiten, 24,95 Euro
Gespräch mit Meike Hoffmann
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
Urhebers bzw. des SWR.
Uwe Krüger: Mainstream. Warum wir den Medien nicht mehr trauen
Julia Cagé: Rettet die Medien. Wie wir die vierte Gewalt gegen den Kapitalismus verteidigen
Stefan Schulz: Redaktionsschluss. Die Zeit nach der Zeitung
Von Ulrich Teusch
Autor:
„Redaktionsschluss“ – man muss diesen Titel wörtlich nehmen. Denn die Kernthesen des Autors
Stefan Schulz lauten: Die gedruckte Zeitung, wie wir sie kannten, steht unwiderruflich vor dem
Aus. Und: der seriöse, hochwertige Journalismus ebenfalls. Schulz hat ein analytisch brillantes und
fesselnd geschriebenes Buch vorgelegt. Zugleich ein beklemmendes Werk, das eine düstere
Medienzukunft heraufbeschwört. Viele, die in den großen Medienhäusern Verantwortung tragen,
so sein Vorwurf, haben die bedrohlichen Entwicklungen viel zu spät mitbekommen – oder sie
verschließen nach wie vor Augen und Ohren. Schulz erzählt zwei Episoden, die das
schlaglichtartig veranschaulichen: Die eine trug sich bei der FAZ zu, als der legendäre Frank
Schirrmacher noch das Zepter im Feuilleton führte. Die Online-Redakteure der Zeitung hatten ein
Problem: Sie fragten sich, wie sie mit einem Artikel verfahren sollten, der aus Schirrmachers
Ressort stammte und die Website der FAZ zierte, aber immer schlechtere Klickzahlen generierte.
Gemessen werden solche Zugriffe mit einer Software namens „Chartbeat“.
Zitator:
„Es war das erste Mal, dass [Schirrmacher] von Chartbeat hörte. Er mahnte deutlich an, dass über
die Linie der Zeitung von den fünf Herausgebern entschieden würde und nicht von einer Software.
In Zukunft wollte er sofort darüber informiert werden, wenn leitende Online-Redakteure die
Empfehlungen der Software zu ihrer journalistischen Entscheidungsgrundlage machten und dies
auch von anderen verlangten. Doch das Horrorszenario des einen war längst Alltag der anderen.“
Autor:
Die zweite Episode spielte sich bei einer Veranstaltung zur Zukunft des „Qualitätsjournalismus“ ab.
Da beklagte sich der Chefredakteur der „Hannoverschen Allgemeinen“ über Unternehmen wie
Google und Facebook. Diese greifen, sagte er, Presseerzeugnisse im Internet auf, ohne dafür
zahlen zu müssen. Das trug ihm eine zornige Replik von Ralf Bremer ein, dem Vertreter von
Google Deutschland. Er machte dem Chefredakteur klar, dass viele Menschen die OnlineAngebote der Zeitungen doch nur deshalb lesen, weil sie von Google dorthin geleitet werden.
Wäre es also nicht angemessener, Google für solche Dienste zu entschädigen? Und dann wollte
Bremer noch wissen, was denn die Redaktion der „Hannoverschen Allgemeinen“ eigentlich dafür
zahle, dass sie in exzessivem Ausmaß die Google-Suche, Google Maps, Google News, YouTube
und Ähnliches nutze? Was aus diesen und vielen anderen Beispielen des Buches überdeutlich
wird: Die Gewichte in der Medienwelt haben sich längst verlagert.
Zitator:
„Der organisierte Journalismus ist nicht nur beim Vertrieb seiner Produkte auf die Dienste der
neuen Informationsanbieter angewiesen, sondern schon bei ihrer Herstellung.“ „‘Spiegel online‘
und allen Betroffenen bliebe nur eine Möglichkeit des Widerspruchs, nämlich Google die Nutzung
2
aller Inhalte pauschal zu verbieten und auf mehr als die Hälfte aller Leser zu verzichten, die als
Laufpublikum von Google und anderen Informationsvermittlern aus auf die Website gelangen. Die
Pluralität der Medienwelt wird heute von Google gestaltet.“
Autor:
Der Journalismus, so Schulz, wird sich unter diesem Druck grundlegend verändern. Nicht Qualität,
sondern Quantität, nicht Glaubwürdigkeit und Vertrauen, sondern messbare Akzeptanz werden im
Zentrum stehen. Das müsse man zwar nicht gut finden, meint Schulz, aber man könne auch wenig
dagegen ausrichten. Was bleibt, ist Sarkasmus. Ein wenig fühlt man sich da an den Verleger Axel
Springer erinnert. Einst auf die dürftige Qualität seiner Bild-Zeitung angesprochen, erwiderte er
trocken: Nun, das sei eben die „tägliche Abstimmung am Kiosk“. Was tun, wenn Google, Facebook
und Co. das Ruder übernehmen? Mediengiganten also, die ihre Nutzer nicht wirklich informieren,
sondern ihnen letztlich nur das Gefühl geben, informiert zu sein? Da weiß auch Stefan Schulz
keinen überzeugenden Rat. Sein Vorschlag: Wir sollten uns eine „Nachrichtendiät“ verordnen,
also: abschalten, weghören, wegsehen. Das mag hilfreich sein für Leute, die sich tagaus, tagein
mit journalistischem Fast- oder Junkfood den Magen vollschlagen und gelegentlich verderben.
Aber wäre es nicht viel sinnvoller, konsequent auf gesunde Ernährung umzustellen? In Schulz‘
stark polarisierender Darstellung gerät fast aus dem Blick, dass das Internet nicht nur aus Google
und Facebook besteht. Es gibt dort auch alternative Produkte mit hohem Informationswert,
hochkarätige journalistische Plattformen, spannende Nachrichtenportale, interessante Blogs.
Anders gesagt: An solider Information besteht im Grunde kein Mangel. Das Problem: Man muss
sie finden und sich aus dem reichhaltigen Angebot ein gut verträgliches, auf die individuellen
Bedürfnisse zugeschnittenes Menu zusammenstellen. Das würde vermutlich auch der Leipziger
Medienwissenschaftler Uwe Krüger so sehen. Doch er würde zugleich darauf hinweisen, dass die
systematische Auswertung der vielen Alternativangebote immer Sache einer Minderheit bleiben
wird. Denn um sie im Netz aufzuspüren und sinnvoll zu nutzen, braucht es nicht nur erhebliche
Kompetenzen, sondern auch und vor allem: Zeit. Und die hat längst nicht jeder in ausreichendem
Maß zur Verfügung. In seinem Buch „Mainstream“ tritt Uwe Krüger gleichsam einen Schritt hinter
Stefan Schulz zurück und greift in die aktuelle Mediendebatte genau dort ein, wo sie sich im
Moment befindet. Da ist zum einen die Wahrnehmung, dass es einen massiven Vertrauensverlust
des Publikums gibt, dass öffentliche und veröffentlichte Meinung auseinanderdriften – zum
anderen, dass sich die Medien angesichts der vielfältigen Kritik in einer Art Wagenburg verschanzt
haben und darauf hoffen, der Sturm möge sich bald wieder legen. Krügers Buch ist eine
Punktlandung. Auf knappstem Raum verbindet es präzise Medienkritik mit profunder
Ursachenanalyse. Der Autor argumentiert stringent, scharf, manchmal provokant – jedoch nie
verletzend, immer mit Dialogbereitschaft. Und er trennt die Spreu vom Weizen, hält sich nicht auf
mit der unflätigen Pauschalkritik, die man in den letzten Jahren zu hören bekam, sondern
konzentriert sich auf substantielle, begründete Einwände. Davon gibt es mehr als genug. Nach
dem ersten Drittel seines Buches zieht Krüger eine vorläufige Bilanz.
Zitator:
„Wir haben gemerkt: Nachrichten werden von Menschen ausgewählt und aufbereitet, von
Menschen, die Fehler machen, die in bestimmten Produktionsstrukturen und Routinen stecken, die
Vorlieben und Abneigungen haben und die zuweilen auch Absichten verfolgen. Wir haben
3
verstanden: Die mediale Wirklichkeit ist kein simpler Spiegel der Welt, sondern eine Konstruktion.
Wir wissen jetzt: Die Nachrichten könnten auch ganz anders sein.“
Autor:
Doch noch sind sie so, wie sie sind. Viel zu staats- und wirtschaftsnah, sagt Krüger. Das zeige sich
besonders eindrücklich immer dann, wenn es ans Eingemachte geht. Ob Finanzkrise oder
Griechenland-Hilfe, Flüchtlingspolitik oder Pegida, Syrien, Russland oder Ukraine – bei
neuralgischen Themen bewegten sich die Medien in einem verstörenden Gleichklang. Bestimmte
Narrative beherrschten das Feld, manchmal gesteigert zu regelrechten Kampagnen – mit
entsprechender Nachrichtenauswahl und -gewichtung. Der Journalismus agiere nur noch selten
als vierte Gewalt, stattdessen, wenn man so will, als Teil des Systems. Viele Journalisten, so
Krüger, seien eher Anpasser als Aufpasser. Sie wollten zwar nicht unbedingt mit-regieren, aber sie
fühlen sich allzu oft mit-verantwortlich. Das sei aber nicht ihre Aufgabe.
Zitator:
„Nicht umsonst soll in einer modernen westlichen Demokratie der Journalismus unabhängig und
frei sein, soll auch berichten über das, was demokratisch gewählte Politiker nicht für hilfreich
halten. Journalisten sind nicht verantwortlich für das Gelingen einer bestimmten
Griechenlandpolitik, nicht für die Qualität der transatlantischen Beziehungen, nicht für die
Bewältigung der Flüchtlingskrise. Sie sind auch nicht verantwortlich für die Erziehung ihrer Nutzer,
sondern dafür, Öffentlichkeit herzustellen.“
Autor:
Während Stefan Schulz die Sache weitgehend verloren gibt, formuliert Uwe Krüger einen Appell,
getragen von der Hoffnung, der Journalismus möge sich auf seine originären Aufgaben, auf seine
Tugenden besinnen. Doch ist es damit getan? Wären nicht auch strukturelle Reformen nötig? Sie
sind das Thema in Julia Cagés Buch „Rettet die Medien“. Nach einer hochinformativen,
international vergleichenden Übersicht über die wirtschaftliche Lage der Medien, entwickelt sie ein
neues, ausgeklügeltes Organisationsmodell. Es könnte sowohl die prekäre Lage der
Alternativmedien, die sich meist durch Spenden ihrer Leser über Wasser halten, wie auch die der
dahinsiechenden etablierten Medien nachhaltig verbessern. Konkret schlägt Cagé eine gut
durchdachte Kombination aus Aktiengesellschaft und Stiftung vor, so konstruiert, dass große
Investoren keinen beherrschenden Einfluss erlangen können und Kleinaktionäre über erhebliche
Mitbestimmungsrechte verfügen. Solche konstruktiven, zukunftsweisenden Ideen bräuchten wir
mehr. Und sie müssten Gegenstand einer breiten öffentlichen Debatte werden – bevor es zu spät
ist. Andernfalls werden wir in den nächsten zehn, zwanzig Jahren ein gewaltiges Mediensterben
erleben. Ungeachtet der berechtigten Kritik an der derzeitigen Verfassung vieler Medien – wer
könnte an einem solchen Aderlass ein Interesse haben?
4
Gerhard Paul: Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel
Von Monika Boll
Rez.:
Visuelle Geschichte versteht sich als eine Teildisziplin der allgemeinen Geschichtswissenschaft.
Sie vertritt die These, dass unser historisches Gedächtnis heute in einem beträchtlichen Ausmaß
von Bildern bestimmt wird. Bilder der Macht, Bilder des Krieges, Bilder des Umbruchs. Seit im
Jahre 1839 Francois Arago der Pariser Akademie der Wissenschaften das erste taugliche
Fotoverfahren vorstellte, entwickelte sich das Bild mehr und mehr zu einem Massenmedium, das
uns heute wie eine zweite Natur umgibt. Gerhard Pauls Buch trägt den Untertitel: „Punkt und
Pixel“. Sie stehen für die Urelemente der technischen Revolution. Der Rasterpunkt bildet das Atom
moderner Drucktechnik, die die massenhafte Verbreitung von Bildern ermöglichte und das Pixel
stellt das Elementarteilchen der neuen digitalen Bilderwelten dar. „Sichtbarkeit erzeugt
Bedeutsamkeit“, heißt das Leitmotiv, nach dem Gerhard Paul die Geschichte des kollektiven
Bildgedächtnisses durchmustert. Ein absoluter Pluspunkt des Buches ist sein umfangreicher
Bildteil. Zum Bestand des visuellen Zeitalters gehören Gemälde, Fotografien, Plakate, Filmstills,
Illustrierte, Fernseh-Bilder und die Bilderflut der Neuen Medien. Auch die bildende Kunst blieb nicht
unberührt von den Möglichkeiten technischer Reproduktion. War das Ölgemälde zunächst ein
Privileg aristokratischer Wohnkultur, zogen erbauliche Bildmotive wie Dürers „Betende Hände“
oder Spitzwegs „Armer Poet“ bald als Kunstdrucke massenhaft in kleinbürgerliche Wohnstuben
ein. Viel folgenreicher als dies aber war, dass die Malerei unter dem Konkurrenzdruck der
Fotografie ihren eigenen Formenkanon bis hin zur Abstraktion revolutionierte und so zu dem
wurde, was man heute Klassische Moderne nennt. Was das Buch von Gerhard Paul nicht leistet,
sei hier auch gleich gesagt. Es liefert nicht den großen Theorieentwurf zu einer Disziplin namens
Visual History. Dafür sind die vielen verschiedenen theoretischen Zugriffe zu disparat. Der Autor
räumt das freimütig ein.
Sprecher Zitat:
„Mit diesem Buch schließe ich meine Studien zur Visual History ab. Was wie ein Masterplan
aussehen mag, ist tatsächlich keiner. Ein Projekt ergab vielmehr das nächste. Das verbindende
und motivierende Element war von Anbeginn an mein großes Interesse an Bildern der
Geschichte.“
So ist das Buch von Gerhard Paul eher ein Nachschlagewerk und Bildarchiv. Blättert man den
Band einmal als Daumenkino durch, was sich leicht machen lässt, weil die Bilder alle am
Seitenrand platziert sind, bestätigt sich die These vom kollektiven Bildgedächtnis schon am hohen
Wiedererkennungswert der Abbildungen. Als Probe aufs Exempel seien hier Folgende genannt:
Die Anklagebank bei den Nürnberger Prozessen, Der Kniefall Willy Brandts in Warschau, Das
Fahndungsplakat der RAF, Uwe Barschel in der Badewanne, Nine/Eleven, das Gefängnis von Abu
Ghraib. Die einzelnen Buchkapitel sind chronologisch geordnet. Sie beginnen mit der Hochzeit der
Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts und reichen bis in die Gegenwart. Die Frage der
Ikonografie von Herrschaft, der bildlichen Inszenierung von Politik bildet eine durchgehende Linie
im Buch. Der Maler Max Kohner brachte Wilhelm II noch als repräsentativen Staatenlenker nach
5
dem Vorbild Ludwig IVX auf die Leinwand. Fotografie und Film aber beförderten den deutschen
Kaiser bald schon zum Medienstar. Ab 1912 war er regelmäßig im Kino als Attraktion der
Wochenschau vor großem Publikum zu sehen. Die Nationalsozialisten mussten also Public
Relations nicht eigens erfinden, aber sie setzten neue Maßstäbe. Das Hakenkreuz funktionierte als
Emblem mit hohem Markenimage. Das erkannten bereits Zeitgenossen aus der Werbebranche wie
Ernst Growald, der 1932 durchaus anerkennend schrieb:
Sprecher Zitat:
„Der Erfolg Hitlers beruht zum großen Teil auf der ausgezeichneten Reklame, die besonders
wirksam ist, weil die Gegenseiten ihr nichts annähernd so Wirksames gegenüber stellen konnten.
Der Reklame-Fetisch der Nazis ist das Hakenkreuz, das besser propagiert wird als je ein Fabrikund Handelszeichen.“
Nach dem Krieg ging es daher neben der politischen auch um eine visuelle Absetzung vom
Nationalsozialismus. In der Bundesrepublik standen Transparenz und Sachlichkeit für die neue
Demokratie. Konrad Adenauer inszenierte sich als bürgerliche Autorität. Willy Brandt, man denke
an den Wahlslogan „Willy wählen!“, präsentierten die Medien als Mann zum Anfassen, und Helmut
Schmidt sah sich selber gerne als obersten Angestellten der Republik dargestellt. Der Trend einer
zunehmenden Visualisierung in der Nachkriegszeit wurde durch die rasante Entwicklung der
Fernsehtechnik weiter beschleunigt, so Gerhard Paul.
Sprecher Zitat:
„Mediengeschichtlich war die Bonner Republik eine Fernsehnation. Fernsehen galt als etwas
Außergewöhnliches, geradezu Feierliches, das zelebriert wurde. Wo 100 Jahre zuvor in vielen
Wohnstuben noch der Hausaltar seinen Platz hatte, stand nun das neue Fernsehmöbel, das
bewundert, sogar fotografiert wurde.“
Hier wird ein Einspruch fällig: So unleugbar richtig diese Beobachtung ist, so offensichtlich
übergeht Paul aber auch ein anderes, sowohl in der frühe Bundesrepublik als auch im
Nationalsozialismus führendes Medium, nämlich das Radio. Von einer „Verkümmerung des Ohres“
zugunsten des Auges im 20. Jahrhundert, wie Paul in der Einleitung schreibt, kann überhaupt
keine Rede sein. Denn wo sich im Lauf der 1960er Jahre die Familie um die Fernsehtruhe
versammelte, da stand zuvor nicht etwa der Hausaltar, sondern der Rundfunkempfänger. Die
Rundfunkansprachen Hitlers und Goebbels waren integraler Bestandteil des Nationalsozialismus.
Und auch die Bundesrepublik der 1950er Jahre wäre ohne das Radio eine andere gewesen. Der
Rundfunk feierte nach dem Krieg eine zweite Pionierphase. Hier fand die Wiederauferstehung der
bürgerlichen Öffentlichkeit in einem elektronischen Massenmedium statt, das den
Demokratisierungsprozess wesentlich beförderte. Selbst bei einer zugestandenen Priorität des
Visuellen muss man an Pauls Studie die Frage stellen, ob das Visuelle als Alleinstellungsmerkmal
nicht in die Irre führt.
Im Buch folgt ein Abriss zur Fernsehgeschichte, der auch nach dem Wandel der Rezeption fragt.
Anders als in der fiktionalen Kinowelt erheben Fernsehbilder einen höheren Wirklichkeitsanspruch.
Paul verweist auf den hohen Authentizitätsfaktor, den die Tagesschau über Jahrzehnte
auszeichnete. Sie war die tägliche Messe des bundesrepublikanischen Homo Politikus. Zugleich
6
erweiterte das Fernsehen die Populärkultur, die die Zuschauer zur Teilhabe und zur Identifikation
einlud. Paul erinnert an berühmte Spieleshows wie „Einer wird gewinnen“, „Der goldene Schuß“,
„Wünsch dir was“ und an die großen Fernsehfamilien von den „Hesselbachs“ bis zur
„Lindenstraße“. Dabei interessiert ihn besonders der Wandel der Zeigbarkeitsregeln, jener Regeln,
welche die Tabugrenzen, vor allem von Sex und Gewalt, abstecken. Man denke an etwa den
vieldiskutierten schwulen Männerkuss in der „Lindenstraße“ von 1987. Einen massiven Bruch mit
den bis dahin gültigen Zeigbarkeitsregeln sieht Paul in der Berichterstattung zum Gladbecker
Geiseldrama 1988, das zu einer makabren Reality-Show mutierte, als Reporter und Fotografen
während der Flucht mit den Geiselnehmern Live-Interviews führten. In der DDR wäre so etwas
undenkbar gewesen. Der Vergleich, den Gerhard Paul zur Fernsehkultur der DDR unternimmt,
betont neben der verzögerten technischen Entwicklung vor allem eine gelenkte und kontrollierte
Bildpolitik. Das galt selbst für die Populärkultur, die anstelle von unberechenbaren Rockstars lieber
auf politisch zuverlässige Helden des Sportes setzte, wie den Radrennfahrer Täve Schur oder die
Eiskunstläuferin Katharina Witt. Ein wirklich erstaunliches Tabu betraf die Mauer. Sie kam im
offiziellen Bilderkanon gar nicht vor. Über sie war ein Bilderverbot verhängt. Die Parteiführung
fürchtete offenbar, dass der optische Eindruck der Mauer jede ideologische Verbrämung vom
antifaschistischen Schutzwall überstieg. In Zeiten des Internets sind solche Bilderverbote freilich
kaum noch durchsetzbar. Die zunehmende Digitalisierung der Welt hält dafür andere
Herausforderungen bereit. Totale Sichtbarkeit birgt die Gefahr allgegenwärtiger Überwachung und
die Bilderflut der Neuen Medien lähmt uns mit ihrem Aufmerksamkeitsterrorismus. Gerhard Pauls
abschließender Appell lautet deshalb: Es gilt kritische Distanz zu wahren!
7
Wilfried F. Schoeller: Franz Marc. Eine Biographie
Maria Marc: Das Herz droht mir manchmal zu zerspringen. Mein Leben mit Franz Marc
Von Andreas Puff-Trojan
Sprecher:
Maria Marc hat keine Biographie ihres im 1. Weltkrieg gefallenen Mannes geschrieben, sondern
eine Autobiographie mit ihren persönlichen Erinnerungen an den Künstler. Der Text wurde
wahrscheinlich in den 1930er Jahren begonnen und war ursprünglich nicht für eine
Veröffentlichung vorgesehen. Brigitte Roßbeck, Historikerin und Autorin, ersteigerte das
Manuskript und brachte es jetzt in eine lesbare Fassung.
Zitat-Sprecherin / Maria Marc: „Mein Leben mit Franz Marc“, S. 17:
In den Jahren meines Alleinlebens nach dem Tode von Franz Marc wurde in mir der Wunsch
lebendig, Erinnerungen an mein Leben mit ihm aufzuschreiben; ich musste so viel an dieses
Leben denken, das ihn und uns beide so wunderliche Wege geführt hatte.
Sprecher:
Etwas mehr als zehn Jahre erlebte Maria Marc Höhen und Tiefen, dann langsam Aufstieg und
erste Anerkennung der Malerei ihres Mannes – und seinen Tod. Mit diesem endet auch ihr
Lebensbericht, obwohl sie erst 1955 starb. Ganz anders die Biographie des Autors und
Literaturwissenschaftlers Wilfried F. Schoeller.
Zitat-Sprecher / Wilfried F. Schoeller: „Franz Marc. Eine Biographie“, S. 10:
Dieses Buch will die übernützten Verbalien über Franz Marc hinter sich lassen, gängige Klischees
überwinden und seine anhaltende Fremdheit herausstellen. Es soll Ungestüm und Unruhe dieses
Künstlers sichtbar machen.
Sprecher:
Schoeller hat den Versuch unternommen, Werk und Person des Malers in ein zeitgemäßes Licht
zu bringen. Das ist nicht leicht, denn Franz Marcs Tierbildmotive sind heute in billigen
Reproduktionen und als Poster Allgemeingut – ihre wilde, oft schräge Farbgebung wird dabei meist
unterschlagen. Wilfried F. Schoeller geht als Biograph den klassischen Weg: Er beginnt bei
Geburt, Kindheit und Jugend. Marcs Vater war ein recht bekannter Landschafts- und Genremaler.
Doch der junge Franz scheint in den Augen des Vaters nur mäßiges Talent gezeigt zu haben.
Pastor oder Philologe wollte er erst werden, doch mit zwanzig Jahren schrieb er sich in die
Münchner Kunstakademie ein und besuchte Kurse von Lehrern, die einen klaren Historismus
vertraten. Schließlich konnte Franz Marc nach Paris reisen und fand dort seine ersten Vorbilder:
van Gogh, Gauguin und Cezanne. Alle drei Maler übten großen Einfluss auf die spätere
Generation der Expressionisten aus; auch die Künstler des „Blauen Reiter“ haben ihnen ihre
Reverenz erwiesen. Doch zur vollen Entfaltung von Franz Marcs eigenem Stil kam es durch ein
anderes Dreigestirn. Der erste in diesem Bund ist der russische Maler und Kunsttheoretiker
Wassilij Kandinsky. Maria Marc erinnert sich.
8
Zitat-Sprecherin / Maria Marc: „Mein Leben mit Franz Marc“, S. 139:
Er war der Weitblickendste. Franz hat dies alles sehr schnell begriffen. Die Anregung, die von
Kandinsky ausging, war stark und gewaltig und schaffte in ihm Hemmungen fort, sich von dem
Althergebrachten ganz zu befreien.
Sprecher:
Der zweite Lebensfreund ist der Maler August Macke – eine optimale Symbiose, wie Wilfried F.
Schoeller meint.
Zitat-Sprecher / Wilfried F. Schoeller: „Franz Marc. Eine Biographie“, S. 120:
Die beiden ergänzten einander auf eine geradezu ideale Weise. Ihre künstlerischen Verfahren
beruhten auf gemeinsamen französischen Vorbildern und waren dazu angetan, die jeweils
anderen Anlagen auszuprägen.
Sprecher:
Der letzte in Franz Marcs so wichtigem Künstlerdreigestirn war der Schweizer Maler Paul Klee.
Lange stand er ein wenig im Hintergrund. Doch im Oktober 1914 – Marc steht im Feld, August
Macke ist bereits gefallen, der Russe Wassilij Kandinsky hat als „feindlicher Ausländer“
Deutschland verlassen müssen – schreibt er berührende Zeilen an Klee.
Zitat-Sprecher / Wilfried F. Schoeller: „Franz Marc. Eine Biographie“, S. 311f:
Alle meine Freunde hat dieser Krieg mir zerschlagen! Lieber Klee, gib Du mir wenigstens die Hand
und lass uns brüderliche Freunde werden, über dem Grab dieses anderen guten; so bin ich
wenigstens nicht ganz allein, willst Du?
Sprecher:
Wilfried F. Schoeller zeigt in seiner Biographie genau auf, wie Franz Marc die Ideen und Verfahren
der Malerfreunde für sich selbst nutzbar machte: Kandinsky war mehr noch als Marc auch ein
Kunsttheoretiker, seinen konsequenten Weg in die abstrakte Malerei wollte und konnte Marc nur
beschränkt mittragen. Da waren ihm die gegenständlicheren Tafelbilder eines August Macke
näher. Doch was Kandinsky und Macke wiederum verband, war ein geradezu genialisches
Verständnis von Farb- und Formgebung. Hiervon konnte Franz Marc einiges aufnehmen. Mitte
Juni 1911 schreibt Kandinsky in einem Brief an Marc zum ersten Mal von der Idee, eine Art KunstAlmanach zu gestalten. Marc ist Feuer und Flamme und alsbald findet sich auch der Titel: „Der
blaue Reiter“.- „Blau“ ist eine Lieblingsfarbe der beiden Maler und „Pferde“ sind ja ein beliebtes
Motiv in Marcs Tafelbilder. Zudem konnte man auf ein Netz von Malern, Sammlern und Galeristen
zurückgreifen, um den Plan zu realisieren. Im „Blauen Reiter“-Almanach waren neben den
Herausgebern Kandinsky und Marc die Freunde Macke und Klee, so dann Hans Arp, Cézanne,
Robert Delaunay, Gaugin, van Gogh, Oskar Kokoschka, Alfred Kubin, Henri Matisse, Gabriele
Münter, Pablo Picasso, Henri Rousseau mit Bildern und Zeichnungen vertreten – von Arnold
Schönberg wurden gar zwei Bildbeigaben, ein theoretischer Text und eine Partitur aufgenommen.
Es gab aber auch viele Beispiele europäischer Volkskunst. Der „Blaue Reiter“-Almanach erschien
im Mai 1912 und zwar in drei Versionen.
9
Zitat-Sprecher / Wilfried F. Schoeller: „Franz Marc. Eine Biographie“, S. 209:
Eine normale Ausgabe in 1200 Exemplaren; eine Luxusausgabe in Leinen, jeweils mit einem
Farbholzschnitt von Kandinsky und Marc, 50 Exemplare; eine Museumsausgabe in blauem
Maroquinleder, mit beiden Originalholzschnitten und je einer originalen Handzeichnung oder einem
Aquarell der beiden Herausgeber in 10 Exemplaren.
Sprecher:
Ob der Almanach ein finanzieller Erfolg war, lässt sich schwer sagen. Immerhin weist Maria Marc
in ihrem Erinnerungsbuch auf einen Umstand hin.
Zitat-Sprecherin / Maria Marc: „Mein Leben mit Franz Marc“, S. 164:
Das Interesse war so groß, dass bald eine zweite Auflage erscheinen konnte. Das war schon ein
Erfolg – trotz aller Gegenwehr von Seiten vieler Künstler und des Publikums.
Sprecher:
Eines ist sicher: Die Gegenwartsmaler, die im Almanach vertreten waren, alle voran Marc und
Kandinsky, steigerten durch den Almanach erheblich ihren Bekanntheitsgrad. „Blaue Reiter“Ausstellungen waren in der Folge in ganz Deutschland zu sehen. Und so ist es kaum
verwunderlich, dass man sich mit weiteren Plänen beschäftigte. Ein Buch über das neue Theater
war geplant. Dazu holte man Hugo Ball mit ins Boot, er, der 1916 die Dada-Bewegung in Zürich
mitbegründen sollte. Doch aus all dem wurde nichts. Der Erste Weltkrieg machte die Pläne
zunichte, riss die Maler-Freunde auseinander. Franz Marc frönte keinem Hurra-Patriotismus, doch
er sah seinen Platz im Krieg als Soldat. Fatalistisch und träumerisch zugleich hoffte er, dass der
Krieg die alte Welt zerschlage und aus diesem europäischen Waffengang eine neue, bessere
Daseinsform entstünde. Franz Marc steht da nicht alleine da: Oskar Kokoschka, Robert Musil,
Georg Trakl, August Stramm, Gottfried Benn und viele mehr sahen es ähnlich. Hier zeigt sich das
Schicksal einer ganzen Künstler-Generation. Wilfried F. Schoellers Biographie umfasst die
gesamte Entwicklung des Malers und Menschen Franz Marc. Besonders gelungen sind die
Textstellen die das malende Dreigespann Marc, Kandinsky und Macke betreffen. Und natürlich
gehört auch die Entwicklung hin zum „Blauen Reiter“-Almanach dazu. Da ist Schoellers Versuch
einer Ehrenrettung von Franz Marcs Kriegsgesinnung eigentlich unnötig. Marcs Werk und
künstlerischer Werdegang spricht für sich selbst. Maria Marcs Lebenserinnerungen sind natürlich
viel subjektiver geschrieben. Doch mit diesen taucht man ein in eine längst vergangene Welt – und
lernt die Lebenswelt von Franz Marc kennen. Beide Bücher geben auf unterschiedliche Weise
Zeugnis vom Kunstschaffen Franz Marcs, das ein Wagnis war – und den Weg ebnete für spätere
Generationen.
10
Meike Hoffmann, Nicola Kuhn: Hitlers Kunsthändler. Hildebrand Gurlitt 1895-1956. Die
Biographie
Gespräch mit Meike Hoffmann
Wolfram Wessels:
Der Kunstmarkt und zunehmend auch der Kunstdiskurs gelten heute als weitgehend ökonomisch
definiert. Einige wenige Künstler werden zu exorbitanten Preisen gehandelt, den Reichen und
Mächtigen, die sich diese Kunst leisten können, gilt sie als Statussymbol, soweit bekannt. Der
Autor und Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich, der bereits mehrfach über den Kunstmarkt
publiziert hat, nimmt sich des Themas erneut an und versucht ihm neue und spannende Seite
abzugewinnen.
Guten Tag, Herr Ullrich.
Wolfgang Ullrich:
Guten Tag, Herr Wessels.
Wolfram Wessels:
„Siegerkunst“ ist der Titel Ihres Buches. Erklären Sie uns den Begriff, wer sind die Sieger, wer die
Besiegten oder Verlierer?
Wolfgang Ullrich:
Ja. also die Sieger sind sowohl ein kleines Segment der Künstler auf dem Kunstmarkt, als auch
andererseits diejenigen, die sich für diese Kunst interessieren und sie kaufen, in Auftrag geben,
ersteigern, sammeln. Und Sieger sind die einen wie die anderen deshalb, weil sie aufgrund ihrer
Erfolge zu den ökonomisch mächtigsten Personen der Gesellschaft gehören, die das auch
kundtun, die das nicht diskret behandeln, dass sie reicher sind als andere, oder dass sie mehr
Erfolg, mehr Aufmerksamkeit, mehr Prominenz haben als andere, sondern die stolz darauf sind
und die gerade auch das Medium Kunst dazu nutzen, noch einmal ihre Überlegenheit auch in
Szene zu setzen und Distanz zu schaffen, zu der großen Mehrheit der Gesellschaft.
Wolfram Wessels:
Bleiben wir noch mal kurz beim Begriff, was wäre denn der Gegenbegriff: Raubkunst, Beutekunst,
Museumskunst? Es gibt ja verschiedene Kunstbegriffe.
Wolfgang Ullrich:
Ich sehe es eigentlich eher in so einer Tradition, es gibt sozusagen den Hofkünstler, es gibt den
Ausstellungskünstler, historisch gesprochen, und jetzt gibt es den Siegerkünstler. Wobei ich auch
klarmachen möchte, nicht alle Kunst, die heute entsteht, ist Siegerkunst, das ist ein wirklich sehr
kleiner Bereich dessen, was an Kunst geschieht, aber sicher der Bereich, der in den letzten ein bis
zwei Jahrzehnten die mit Abstand größte Aufmerksamkeit gefunden hat.
Wolfram Wessels:
Und was macht denn nun diesen Kunstwert aus der Siegerkunst, ist das der Marktwert?
11
Wolfgang Ullrich:
Ja, es ist ausschließlich der Marktwert. Und man darf jetzt auch nicht dem naheliegenden Schluss
verfallen, die hohen Preise, die für einzelne Werke gezahlt werden, als Indikator für eine
besondere Qualität anzusehen. Sondern man muss vielleicht eher sozusagen die Funktion auch
dieser Kunst näher begreifen, um dann auch die Preise zu verstehen. Aus meiner Sicht sind diese
Preise sehr stark sozusagen repräsentativer Natur. Also es fällt eben auf, dass vieles dessen, was
jetzt für mich unter Siegerkunst läuft, in irgendeiner Hinsicht eine Geschmacksverletzung darstellt.
Ist es besonders trashig, aus billigen Materialien, wo man sich dann fragt, wieso Millionen für was,
was schnell mal zusammengeschustert ist und vielleicht in 10 Jahren auch schon wieder verfällt,
oder es ist etwas vom Motiv her sehr Banales, sehr Obszönes, insofern auch wieder Billiges. Und
das sind sozusagen die Dinge, die am meisten Geld auf sich ziehen. Es hat vielleicht auch was
von einem Potlatch oft, also jemand verschwendet demonstrativ sein Geld, und das geht auf dem
Kunstmarkt besser als auf allen anderen Märkten.
Wolfram Wessels:
Ist also Siegerkunst eher ein gesellschaftliches Phänomen, denn ein Kunstgeschichtliches?
Wolfgang Ullrich:
Also, es ist auf jeden Fall natürlich ein Phänomen was sehr viel über unsere Gesellschaft verrät.
Für mich ist aber schon interessant, und das beschäftigt mich eben auch in dem Buch tatsächlich:
wie sieht diese Art von Kunst dann aus? Und das sind eben solche Dinge, wie ich’s gerade gesagt
habe.
Wolfram Wessels:
Also, da schlägt sozusagen der Marktwert in den Kunstwert um?
Wolfgang Ullrich:
Ja, auf jeden Fall. Also es wirkt rück auf das, was so an Kunst produziert wird. Ein anderes
Merkmal für dieses Segment der Kunst ist, dass die in der Moderne so eine ganz hoch und heilige
Trennung zwischen freier Kunst und angewandter Kunst eigentlich nicht mehr gültig ist, dass die
von fast all den erfolgreichen Künstlern auch Beispiel dafür finden können, dass die plötzlich
Lampen oder Möbel oder irgendwas anderes machen. Was damit zu tun hat, dass eben auch
sozusagen der Zielort dieser Kunst nicht mehr das Museum ist, sondern eben die schicke Villa des
reichen Sammlers, dass es Teil ist eines Lifestyles. Und da ist dann sozusagen kein großer
Unterschied mehr zwischen einem Möbelstück und einem Gemälde und einer Skulptur.
Wolfram Wessels:
Also der Wert der Kunst bemisst sich, das ist ja eine Ihrer Thesen, nicht mehr an der Rezeption,
sondern an dem Besitz.
Wolfgang Ullrich:
Genau. Also wir hatten, wenn man so will, in der Moderne die historische Ausnahme, dass man
versucht hat Bildende Kunst vom Besitz zu emanzipieren, dazu gab es so eine große Institution
12
wie das Museum, wo man das erste Mal eigentlich in der Geschichte der Kunst, eben Werke
anschauen konnte, ohne dass man sie besessen hat.
Und jetzt haben wir eigentlich wieder so eine rückläufige Bewegung, nämlich dass wieder
zusehends eigentlich Kunst mit Besitz verkoppelt ist, dass sie entsprechend nach anderen
Kategorien wahrgenommen, bewertet wird, dass aber vielleicht auch neue Formen von Explosivität
wieder entstehen, und das nicht mehr so selbstverständlich ist, dass eben jeder alles jederzeit im
Grunde auch rezipieren kann.
Wolfram Wessels:
Bedeutet das sozusagen eine Rückkehr zur Vormoderne? Das deuten Sie ein bisschen an im
Buch, aber nehmen es dann auch wiederum zurück und sagen: ja, eigentlich doch nicht oder
eigentlich doch. Ja, was nun?
Wolfgang Ullrich:
Was nun? Genau.
Also, es ist insofern eine Rückkehr zur Vormoderne, als wir sozusagen viele Verhältnisse wieder
haben, die uns aus der höfischen Zeit sehr bekannt sind. Es gibt viel Auftragskunst, die Künstler
verstehen sich selber eigentlich auch wieder als Unternehmer, die ihrerseits die großen Werke und
Aufträge dann delegieren und herstellen lassen von Fachleuten.
Wolfram Wessels:
Also arbeitsteilige Produktion.
Wolfgang Ullrich:
Arbeitsteilige Kunstproduktion. Und auch so der Künstler, der eigentlich wieder jetzt selber im
Zentrum der Macht steht und nicht mehr dieser Außenseiter oder arme Poet, wie wir ihn in der
Moderne so als Leitbild hatten. Aber ein Unterschied besteht darin, dass diese heutige Siegerkunst
eben noch extrem stark profitiert von dem Image, was die Kunst in der Moderne, schon in der
Romantik, erst recht in den Avantgarden sich zugelegt hat, nämlich wo man eben mit Kunst sowas
wie Reinigung, Erlösung, Therapie, Läuterung, Gesellschaftsveränderung, Verbesserung assoziiert
und wo sozusagen der Künstler eine extrem positiv besetzte Ausnahmefigur war. Und von diesem
Nimbus profitiert vieles der heutigen Siegerkunst, was man daran sehen kann, dass oft mit
formalen Versatzstücken der Moderne gearbeitet wird und all das, was mal die Heroen der
klassischen Moderne der Abstraktion oder was auch immer gemacht haben, kehrt jetzt wieder wie
so ein Nachbild der Moderne.
Wolfram Wessels:
Auch die Ideale der Moderne lassen sich vermarkten.
Wolfgang Ullrich:
Ja, genau, lassen sich sehr gut vermarkten. Und insofern profitiert diese heutige Generation von
Siegerkünstlern extrem davon.
Ich halte es aber auch für ein Übergansphänomen, weil ich denke, irgendwann ist diese Substanz,
die sozusagen in der Moderne geschaffen wurde, auch verbraucht, und was dann übrig bleibt ist
13
einfach nur noch Luxus und sozusagen jegliche Differenz zwischen eben dem Kunstwerk und dem
Möbelstück ist eigentlich verschwunden.
Wolfram Wessels:
Ja. Eine Facette der „Siegerkunst“ haben wir jetzt noch nicht besprochen, und zwar die, deren
Opfer Sie selber geworden sind, weil die Künstler heute auch sehr stark versuchen auf die
Rezeption, beziehungsweise den Besitz Einfluss zu nehmen und auch die Wirkungsgeschichte
selber zu beeinflussen. Viele Stellen bei Ihnen, wo Bilder sein sollten, sind grau geblieben, weil Sie
die Urheberrechte nicht bekamen, von den Künstlern, weil ihnen das nicht gepasst hat. Ist das nun
tatsächlich auch ein Versuch, dass sich „Siegerkunst“ soweit durchgesetzt hat, dass sie eben auch
den kunsthistorischen und kunstkritischen Diskurs dominieren will?
Wolfgang Ullrich:
Ja, auf jeden Fall. Und ich kann es auch, erst mal aus der Sicht der Künstler nachvollziehen. Sie
wissen wie wichtig ihr Marktwert ist, sie wissen wie wichtig es ist, welches Image sie haben, und
sie haben eben heute auch oft die Möglichkeiten, durch gute Logistik, aber auch durch ihre
ökonomische Macht, ziemlich stark zu kontrollieren, über die Rezeption ihrer Kunst, zu
entscheiden: wer schreibt wo, welche Ausstellung wird von wem gemacht. Das wird ziemlich stark
doch auch von den erfolgreichen Künstlern beeinflusst und entsprechend sind sie auch gewohnt
eben darüber zu entscheiden, wo überhaupt ein Werk von ihnen reproduziert wird und können
vielleicht mit so einem freien Autor, der jetzt mit seiner eigenen Sicht auf die Dinge hier losgeht,
erst mal nicht so viel anfangen und sind davon irritiert.
Wolfram Wessels:
Ja, sie wollen auch den Text haben.
Wolfgang Ullrich:
Sie wollen in der Regel heute den Text haben, und ich habe inzwischen so einen kleinen Aufruf
gestartet unter Fachkollegen, und bekam inzwischen um die 50 sehr interessante Rückmeldungen,
alles Fallberichte, ähnliche Fälle, zum Teil viel dramatischere Fälle als jetzt in meinem Buch. Wo
man sieht, da ist eine neue Konvention geworden, das sollen die Künstler, auch eben die ganze,
ich nenn’s mal Post-Produktion ihrer Arbeit beeinflussen. Und sie wissen eben, und das ist auch
ein stückweit ihre Professionalität, dass es nicht damit getan ist irgendwann die Signatur unter ein
Bild zu setzen, sondern dass man das Werk noch weiter begleiten muss, wenn es sozusagen
seinen Weg durch die Medien, durch die Rezeption antritt, um möglichst genau zu beeinflussen
eben wo und in welchem Zusammenhang es auftaucht.
Wolfram Wessels:
Aber gerade was diese Spaltung in die Siegerkunst oder die erfolgreiche Kunst oder die Kunst der
Mächtigen, der Adligen und auf der anderen Seite die brotlose Kunst angeht. Gab’s diese Spaltung
eigentlich nicht immer?
Wolfgang Ullrich:
Nicht in dieser Deutlichkeit. Es gibt natürlich eine grundsätzliche Affinität der Bildenden Kunst zu
den Milieus der Reichen. Und deshalb halte ich das in gewisser Weise sozusagen auch für eine
14
große historische Ausnahme, was wir in der Moderne hatten. Aber ich denke eben schon, dass
diese Ausnahme auch darin bestand, in der Moderne, dass die Künstler im Zweifelsfalle lieber
vielleicht für etwas weniger Geld was gemacht haben, mit der Perspektive: es wird mal im Museum
hängen, es wird kanonisiert sein, es wird sozusagen Teil einer kulturellen Identität sein, als jetzt
irgendwie zu einem viel höheren Preise die Privatgemächer eines Milliardärs zu gestalten.
Wolfram Wessels:
Sehr spannend, ein Buch, das sehr viel über unsere Gesellschaft aussagt und uns zeigt, was die
Kunst über die gesellschaftlichen Entwicklungen aussagen kann.
Vielen Dank Wolfgang Ullrich.
Wolfgang Ullrich:
Ich danke Ihnen.
Wolfram Wessels:
„Siegerkunst“ heißt das Buch „Neuer Adel, teure Lust“, erschienen ist es bei Wagenbach.
15