Eine Frau unter Männern – Maria Magdalena und der

sethianische Soteriologie nicht in erster Linie mit einer doketischen Christologie
verbunden sein müsse, sondern auch als Teil eines Diskurses um die zwei Naturen Christi interpretierbar sei (22).
Summierend bleibt zu sagen: Etwas mehr Ruhe und Gelassenheit hätte der Erschließung des EvJud zweifellos gut getan und eine weniger verwirrende Vielzahl
an Übersetzungen und Deutungsversuchen auf unterschiedlichen Rekonstruktionsstufen des Textes produziert. Die Ist-Situation ist dennoch nicht nur zu beklagen. Sie ist, was sie ist – nämlich ein authentisches Kapitel Wissenschaftsgeschichte unter Einfluss des medialen Marktes und seiner Gesetzmäßigkeiten.
Das Interesse dieses Marktes hat sich inzwischen längst anderen Themen zugewandt, so dass die nach wie vor andauernden Bemühungen um die Erschließung
des EvJud, sowohl textlich als auch inhaltlich-theologisch, mit weniger öffentlicher Anteilnahme und Beeinflussung vonstatten gehen. Mit der erwünschten
Ruhe kann nun sortiert werden, welche Erkenntnisse aus der aufgeregten Anfangszeit bleiben, welche sich als ungerechtfertigt herausgestellt haben und an
welchen Stellen die Diskussion noch weitergehen muss und vielleicht – wie bei
vielen anderen Texten des frühen Christentums auch – nie zu einem eindeutigen
Ergebnis kommen wird.
Eine Frau unter Männern – Maria Magdalena und der
Anfang des Christentums
Friederike Kunath
Reimund Bieringer, Touching Jesus? The Meaning of μή μου ἅπτου in Its Johannine Context:
Reimund Bieringer/Karlijn Demasure/Barbara Baert (Hg.), To touch or not to touch. Interdisciplinary Perspectives on the Noli me tangere (Annua nuntia Lovaniensia 67), Peeters Leuven 2013, 61–81. – Esther A. de Boer, The Interpretation of John 20:17 in Early Christian
Writings. Why Is Noli me tangere Absent in ‚Apocryphal‘ Literature?: Reimund Bieringer/
Karlijn Demasure/Barbara Baert (Hg.), To touch or not to touch. Interdisciplinary Perspectives on the Noli me tangere (Annua nuntia Lovaniensia 67), Peeters Leuven 2013, 99–137. –
Bart D. Ehrman, Peter, Paul and Mary Magdalene. The Followers of Jesus in History and
Legend, University Press Oxford 2006, XV + 285 S. – Erika Mohri, Noli me tangere and the
Apocrypha: Reimund Bieringer/Karlijn Demasure/Barbara Baert (Hg.), To touch or not to
touch. Interdisciplinary Perspectives on the Noli me tangere (Annua nuntia Lovaniensia 67),
Peeters Leuven 2013, 83–98. – Silke Petersen, Maria aus Magdala. Die Jüngerin, die Jesus liebte
(BG 23), Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2011, 296 S. – Susanne Ruschmann, Maria von
Magdala im Johannesevangelium. Jüngerin, Zeugin, Lebensbotin (NTA NF 40), Aschendorff
Münster 2002, IX + 269 S. – Andrea Taschl-Erber, Maria von Magdala – erste Apostolin? Joh
20,1–18: Tradition und Relecture (HBS 51), Herder Freiburg 2007, XIII + 691 S.
Verkündigung und Forschung 61. Jg., Heft 1, S. 47–59
ISSN 0342-2410 © Chr. Kaiser / Gütersloher Verlagshaus, 2016
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Weitere Literatur
Jane Schaberg, The Resurrection of Mary Magdalene. Legends, Apocrypha, and the Christian
Testament, Continuum New York 2004, 379 S. – Daniela-Maria Ziegler, Frauen um Jesus.
Versuch einer historischen Betrachtung, Welt und Umwelt der Bibel 13 (2008/2) 17–19.
Maria Magdalena, die Sünderin, gibt es nicht mehr. 1978 strich die römisch-katholische Kirche ihren Beinamen „große Sünderin“ (magna peccatrix), der jahrhundertelang das Herzstück ihrer Identität beschrieb: Die Magdalenerin war
jene Sünderin, die dem Neuen Testament zufolge unter Tränen die Füße Jesu
salbte und mit ihren Haaren trocknete; die Büßerin, die es bis zur Heiligen
brachte, Fürsprecherin der Sünder und Verführten. Eine Figur voller existentieller Tiefe, eine Prostituierte, geheilt von sieben Dämonen, die sich bekehrt und
zur Jüngerin Jesu wird und am Ende als erste das leere Grab sieht. Was für eine
Biographie!
Doch nicht nur in der Heiligenverehrung ist dieses Bild weiterhin lebendig,
sondern auch in populären medialen Verarbeitungen (Romane, Filme usw.) und
selbst in Darstellungen von wissenschaftlichen Autoren. In der gegenwärtigen
Forschung dagegen ist es Konsens, dass sich dieses Bild einer Kombination dreier neutestamentlicher Frauenfiguren verdankt, die in keiner Weise von den Evangelien her gedeckt wird. Das Hauptinteresse der hier besprochenen Studien liegt
entsprechend auf der Etablierung einer neuen oder vielmehr der alten, der „ursprünglichen“ Maria aus Magdala. Das Programm aller Bücher besteht darin, ihr
ihre vergessene und verdrängte Hauptrolle für die Geschichte und Identität des
Christentums wiederzugeben. Warum sie diese Hauptrolle beanspruchen darf,
lässt sich an drei Thesen verdeutlichen:
1. Sie war eine – weithin marginalisierte und vergessene – Autoritätsperson in
der frühen Kirche, vielleicht sogar die erste Apostolin.
2. Sie war die bekannteste unter den Jüngerinnen Jesu und als einzige von allen
Jüngern kontinuierlich von Galiläa an bei allen Stationen des Lebens und Sterbens Jesu anwesend.
3. Sie war die erste Person am leeren Grab und die erste Zeugin und Botschafterin der Auferstehung Jesu.
Diese drei Thesen hängen auf vielfältige Weise miteinander zusammen. Sie bekommen ihr volles Gewicht und ihre Brisanz durch einen weiteren Punkt: dass
Maria Magdalena eine Frau war. Dies ist für das frühe Christentum, aber mehr
noch für die heutige Kirche von Bedeutung. Der „Frauenfrage“ kommt daher in
allen Punkten zentrale Bedeutung zu. Dies wird von Einsichten aus der feministischen Theologie und der Genderforschung vehement ins Gespräch gebracht.
Im Folgenden sollen anhand dieser drei Thesen die Fragestellungen, Erkenntnisse und Probleme gegenwärtiger Forschung zu Maria aus Magdala beleuchtet
werden. Dabei stehen die historische Gestalt und die literarische Figur in frühchristlichen Texten des 1. bis 3. Jh. im Fokus. Die spätere, modern-populäre Legendenbildung bleibt außerhalb unserer Betrachtung.
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1. Leitung und Autorität in der frühen Kirche –
Maria aus Magdala, erste Apostolin?
Das Bild von Maria aus Magdala als einer Frau, die in den frühen christlichen
Gemeinden eine leitende Position innehatte und entsprechende Autorität genoss,
ist wohl der interessanteste Gegenentwurf zum Bild der unterwürfigen Sünderin
und Büßerin. Dabei ist die These, dass sie in gleicher Weise wie Paulus und Petrus als „Apostolin“ anzusprechen sei (so Taschl-Erber), die stärkste Ausprägung
dieses Bildes. Sie schreibt ihr nicht nur eine im Ungefähren bleibende Rolle für
Geschichte und Identität des Christentums zu, sondern gesellt sie zu den Gründungsfiguren der ersten Stunde, die beauftragt von Christus mit der neuen Botschaft missionierten und eine bleibende Bedeutung für christliche Kirchen, die
sich an ihren Ursprüngen ausrichten, hat bzw. haben sollte. Von noch größerer
Reichweite ist die Bezeichnung „the founder of Christianity“ bei Ehrman (Ehrman, 229).
Weder die kanonischen noch die apokryphen Evangelien, also keine der frühchristlichen erzählenden Quellen, bezeichnet Maria aus Magdala mit dem Aposteltitel. Hippolyt von Rom legt ihr den Ehrentitel „apostola apostolorum“,
„Apostolin der Apostel“ bei, was freilich eine spezifische Ausprägung der Apostelschaft bedeutet, insofern sie auf die anderen, die männlichen Apostel bezogen
ist. Dies ist eine signifikante Verhältnisbestimmung von Maria zu den männlichen Aposteln, zugleich ehrend und abgrenzend, die uns wieder begegnen wird.
Ohne den Apostelbegriff zu thematisieren, findet sich in den Evangelien eine
implizite Charakterisierung Marias als Autoritätsfigur, teilweise mit versteckten
Spuren von Autoritätskonflikten, v. a. mit Petrus (kanonische Evangelien, v. a. Lk
und Joh), teilweise explizit zum Thema gemacht (in apokryphen Evangelien,
ausführlich im Mariaevangelium).
Trotz dieses Befundes steht bei A. Taschl-Erber die Frage im Zentrum, inwiefern Maria aus Magdala „nach den neutestamentlichen Kriterien auf literarischer
wie historischer Ebene eine apostolische Funktion zugesprochen werden
[kann]“ (469). Zentrale Bedeutung komme dabei den Ostererzählungen der kanonischen Evangelien zu, allen voran Joh 20,1–18, denn dieses würde die „Apostolizität Marias von Magdala am deutlichsten konturieren“ (469), obgleich bei
Joh der Apostelbegriff insgesamt keine Rolle spiele, also „textfremd“ angewandt
werde (469). Das Lukasevangelium verhalte sich genau komplementär dazu, insofern der Apostelbegriff häufig und zur Kennzeichnung der zentralen Autoritätsfiguren vorkomme, aber in einer eingeschränkten Bedeutung: Für Lk trifft
nur auf die männlichen „12 Apostel“, die zugleich die von Jesus berufenen „12
Jünger“ sind, dieser Titel zu (und auf die aufschlussreiche Ausnahme des Matthias, der für den ausgefallenen Judas nachgewählt werden muss, vgl. Apg 1,21–
26). Nicht zufällig dürfte die Bedeutung der Ostererfahrung der Frauen und insbesondere Marias bei Lk reduziert sein, um Merkmale zu tilgen, die sie auf eine
Ebene mit den Aposteln stellen könnten.
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Die „Apostolizität“ Marias von Magdala liegt somit in den neutestamentlichen
Quellen nicht nur nicht offen zutage, sondern sie muss den Texten gegen ihre
Darstellungsrichtung abgerungen werden. Das ist Taschl-Erber bewusst, ja es
ist die Durchführung ihres hermeneutischen Programms, die patriarchal-androzentrisch verfärbten Texte „gegen den Strich“ zu lesen (11). Sie tut dies in zwei
Schritten:
1. Hinter Joh 20,1–18 identifiziert sie eine sehr alte Tradition, die die Ersterscheinung („Protophanie“) des Auferstandenen vor Maria aus Magdala bezeugt und eine Beauftragung zur Verkündigung des Gesehenen beinhaltet. Diese
Tradition müsse als Erinnerung an historische Gegebenheiten gewertet werden
(153–271). Zwei wichtige Punkte ihrer Argumentation seien hervorgehoben: Es
gibt eine Parallelüberlieferung zu Joh 20,14–17 in Mt 28,9 f., wo die Frauen nach
der Erscheinung der Engel im Grab auf dem Weg eine weitere Erscheinung haben. Der Auferstandene erscheint selbst und wiederholt die Worte der Engel,
was eigenartig „überflüssig“ ist. Die Übereinstimmung mit Joh 20,14–17 und
die Dopplung bei Mt verweisen auf eine alte Tradition hinter beiden Texten (mit
Christophanie vor Maria und Auftrag zur Verkündigung an die Jünger). Zweitens leitet Taschl-Erber aus der Parallele ab, dass die Verbindung mit dem Grabkontext in Joh sekundär ist – ein sehr wichtiger Punkt, denn dadurch wird ihre
Rekonstruktion unabhängig von der Tradition vom leeren Grab. Dadurch umgeht sie sämtliche Schwierigkeiten, das leere Grab historisch deuten zu müssen.
Bei Ruschmann dagegen (Ruschmann, 78, 97) ist es ursprünglicher Bestandteil
der Tradition (s. u. Ziff. 3).
Unverzichtbarer Bestandteil der vorjohanneischen Tradition von der Erscheinung Christi vor Maria sei der Satz „Ich habe den Herrn gesehen!“, den Maria in
Joh 20,18 zu den Jüngern sagt. Dieser „Traditionssplitter“ (Taschl-Erber, 222) sei
trotz Einpassung in die Theologie des Joh ältestes Traditionsgut, eine „urkirchliche Kurzformel für die Ostererfahrung“ (222). Dieses Element, Herzstück der
Erscheinungsgeschichte (222), stelle Maria auf eine Stufe mit Paulus und den
anderen Aposteln des NT.
2. Damit sind wir bei Punkt 2, der Begründung der Apostolizität. Taschl-Erber
verbindet die vorjohanneische Tradition mit einer Mischung aus paulinischem
und lukanischem Apostelbegriff. Schon der frauenfeindliche lukanische Apostelbegriff, bei dem die Zeugenschaft des irdischen Jesus zentral sei (476), passe weitgehend – mit Ausnahme des Geschlechts – auf Maria. Denn wie die anderen
Apostel sei sie Jesus vom Beginn in Galiläa nachgefolgt und – anders als die
geflohenen Männer – über Passion und Ostern kontinuierlich dabei gewesen
(diese einzigartige Rolle der Frauen fehlt bei Lk, sondern wird abgemildert durch
das Hinzufügen anonymer männlicher Zeugen unter dem Kreuz in Lk 23,49;
472–476). Entscheidend jedoch sind die zentralen Merkmale des ältesten neutestamentlichen Apostelbegriffs, des paulinischen: Erscheinung des Auferstandenen
und Beauftragung zur Verkündigung kennzeichnen diesen (469) genau wie die
Tradition hinter Joh 20,14–17. Das „Sehen des Herrn“ sei analog zu 1 Kor 9,1
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aufzufassen, wo Paulus mit derselben Formulierung seine apostolische Autorität
untermauert, sowie zur Formulierung „Christus/der Herr ist dem Petrus etc.
erschienen“ (1 Kor 15,3–5; Lk 24,34). Taschl-Erber schlussfolgert: „Daher
kommt Maria von Magdala der gleiche apostolische Rang zu. Wenn sich Paulus
in 1 Kor 9,1 mit derselben Formel auf die Erscheinung des Auferstandenen beruft, um damit seine Autorität als Apostel zu legitimieren, muss dieses durch die
Christophanie begründete Apostolat auch für Maria von Magdala gelten.“ (476)
Dies ist bei Taschl-Erber kein literarisches Urteil – in dem Sinne, dass Maria
mit einer frappierenden Ähnlichkeit zum Apostolatsverständnis des Paulus porträtiert werde, was ausgesprochen interessant ist –, sondern ein historisches: Maria habe eine mit Paulus oder Petrus vergleichbare Autorität besessen und eine
ähnliche Rolle für die Entstehung und Ausbreitung des frühesten Christentums
gespielt. Davon scheint aber selbst Taschl-Erber nicht auszugehen: In Joh 20,14–
17 dürfte eine „historische Reminiszenz an das Engagement […] Marias von
Magdala“ vorliegen, „die Jesusbewegung in einer kritischen Phase weiterzuführen, in der die Männer innerhalb der JüngerInnengemeinschaft resigniert hatten.“ (477) Und noch klarer mit Blick auf Mt 28, wo die Frauen nur zu den elf
männlichen Jüngern gehen sollen, während diese zur allgemeinen Mission ausgesandt werden: Dies „könnte insofern den Gang der Geschichte widerspiegeln,
als nach der Überwindung der kritischen Phase nach Jesu Kreuzigung die Frauen
von der Bühne abtreten mussten, um den Männern in der Verkündigung den
Vortritt zu lassen.“ (471)
Demnach wäre historisch von einer vorübergehenden leitenden Tätigkeit von
Frauen, darunter Marias von Magdala, nach dem Tod Jesu auszugehen, die wegen
der fehlenden Männer nötig war und deshalb auch im historischen Gedächtnis
hängen blieb. Sie endete – oder wurde einfach wieder unsichtbar – als Männer die
Führungspositionen übernahmen. M. E. ist es nicht unglaubwürdig, dass die Tätigkeit der Frauen auf eine Wiederbelebung der Nachfolgegemeinschaft und eine
Aktivierung gerade der Männer zielte, die vorher zum engsten Kreis Jesu gehört
hatten. Warum nicht? In einer patriarchalen Gesellschaft ist es sehr wahrscheinlich, dass die Frauen selbst ein Interesse an männlichen Leitungsfiguren hatten,
die der Gruppe Schutz, Glaubwürdigkeit und die nötigen Handlungsspielräume
ermöglichten. Ob sie dagegen für längere Zeit an vorderster Front missionierten
und eine gleichberechtigte Funktion neben den Männern ausübten, muss Spekulation bleiben und wird von den Quellen nicht nahegelegt. Es bleibt unverständlich, wenn Taschl-Erber in Spannung zum Zugeständnis einer zeitweisen Leitungsfunktion der Frauen diese dann doch wieder zu einer dauerhaften und
nach außen gerichteten Missionstätigkeit stilisiert (478).
S. Petersen argumentiert ähnlich für die Apostolizität Marias, aber mit einem
entscheidenden Unterschied: Sie stellt den Apostelbegriff als uneinheitlichen dar,
ohne einen eigenen, letztlich anachronistischen Begriff daraus abzuleiten und
normativ für die Beurteilung Marias zu verwenden (69–72). Freilich sei das weitere paulinische Verständnis auch das ältere und in diesem Sinne könne man
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Maria als Apostolin bezeichnen (71). Es ist aber deutlich, dass das bei ihr eher ein
literarisch-theologisches Urteil im Blick auf gegenwärtige Kirchenpolitik ist.
Über das Schicksal der historischen Maria nach Ostern wagt sie dagegen keine
Aussage, da es in den neutestamentlichen Quellen dazu nichts gebe (86–88). Die
Osterberichte zielten nicht auf die Ausbildung von Hierarchien für die Mission,
sondern auf die Bestätigung der Auferstehung. Dafür spreche gerade das Fehlen
von Hinweisen auf eine missionarische Tätigkeit der Frauen (85 f.). An diese
Leerstelle in den kanonischen Evangelien konnten die legendarischen Ausschmückungen in den apokryphen Evangelien anknüpfen (89).
2. Jesus und seinen JüngerInnen –
Maria aus Magdala, herausragende Nachfolgerin?
Das Bild der treuen Jüngerin, die Jesus von Galiläa an nachfolgt und auch bei Tod
und Begräbnis nicht von ihm weicht, ist sicher weniger spektakulär als das der
Apostolin. Bei näherem Hinsehen berührt es jedoch generelle Aspekte der Jesusbewegung: Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, mögliche Hierarchien, die Nähe Marias zu Jesus und das Verhältnis zwischen dem Kreis der 12
männlichen Jünger und weiteren NachfolgerInnen, Maria als Anführerin einer
Frauengruppe, die Radikalität weiblicher Nachfolge. Die Frage der Jüngerschaft
Marias berührt den Charakter der Jesusbewegung insgesamt sowie unser Bild
vom historischen Jesus und seiner Botschaft.
In den kanonischen Evangelien wird weder Maria noch eine andere Frau je
explizit „Jüngerin“ genannt (anders im Petrusevangelium, EvPetr 12,50; in Apg
9,36 wird Tabita „Jüngerin“ genannt und im Thomasevangelium, Logion 61, Salome). Allerdings wird sowieso am häufigsten der Plural „Jünger“ verwendet
und bei diesem kann sowohl eine reine Männergruppe als auch eine gemischte
Gruppe gemeint sein. Petersen argumentiert mit Lk 14,26 f. par. Mt 10,37 f. und
Mk 10,29 f. parr. (v. 29–34), dass das Jesuswort vom Hassen der Herkunftsfamilie
um Jesu willen in seiner ältesten Form auch Frauen einschließe und erst von Lk
auf Männer vereindeutigt worden sei. Es sei also von Frauen innerhalb der Jesusbewegung auszugehen, die ebenso wie Männer ihre Herkunftsorte und -familien
verlassen haben. Ein Unterschied zwischen Frauen und Männern sei nicht auszumachen. Taschl-Erber wird konkreter und plädiert dafür, in Maria eine „Wanderprophetin“ (Taschl-Erber, 427) zu sehen, eine unverheiratete Frau, die losgelöst von familiären Bindungen eine selbständige Existenz in der Fremde führte.
Petersen und Ehrman halten dagegen offen, ob sie verheiratet war (Petersen, 185;
Ehrman, 198 f.). Ihr Beiname „Magdalenerin = aus Magdala“ zeige in erster Linie
an, dass sie Magdala irgendwann verlassen habe und zur Unterscheidung von
anderen Marias über ihren Herkunftsort definiert wurde – und nicht, wie üblich,
über den Ehemann oder einen männlichen Verwandten. Sicher ist sie Jesus allein
nachgefolgt.
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Ein weiteres Indiz, dass Maria und die anderen Frauen zu Recht „Jüngerinnen“ genannt werden können, ist die Bezeichnung ihrer Tätigkeiten: Mk 15,40 f.
zufolge sind sie Jesus „nachgefolgt“ – ein Terminus für Jüngerschaft – und haben
ihm „gedient“. Wie ist dieses „Dienen“ zu verstehen? Taschl-Erber sieht hierin
einen „christlichen Grundvollzug“ ausgedrückt (Taschl-Erber, 442), der nicht
auf Haustätigkeiten oder (finanzielle) Unterstützung und Versorgung eingeengt
werden dürfe (vgl. Mk 10,45). Vielmehr seien Verkündigung und Heilung mitgemeint. Das in Lk 8,1–3 gezeichnete Bild – Maria und weitere Frauen hätten den
Männern „aus ihrem Vermögen“ gedient –, sei mit einer Wanderexistenz unvereinbar und spiegele Verhältnisse der lukanischen Gemeinde (Taschl-Erber, 460–
464; ähnlich Petersen, 37). Ehrman dagegen, der den Begriff „Jüngerin/disciple“
nicht verwendet, sieht in Übereinstimmung mit Lk Maria als finanzielle Unterstützerin, ohne andere mögliche Tätigkeiten zu erwähnen (Ehrman, 198). Auf
der Linie von Lk 8,1–3 liegt auch das Argument von Ziegler, dass man historisch
plausibel von typischen Frauentätigkeiten ausgehen müsse (Brot backen, Kleider
flicken usw.), die eine wandernde Gruppe ja benötige (Ziegler, 18). Unklar bleibt
hier, wie die mitwandernden (!) Frauen dies bewerkstelligt haben können. Dies
verweist aber in erster Linie auf unser geringes Wissen über die konkreten Umstände des Lebens in Palästina im 1. Jh. n. Chr. und die Möglichkeiten einer Wanderexistenz und muss nicht sofort auf eine patriarchale Verzerrung in den Quellen deuten.
Auf eine besondere Bedeutung Marias innerhalb der Jesusbewegung deutet
ihre Erststellung in den „Frauenlisten“ hin: Mk 15,40 f. parr.; Mk 15,47 parr.;
Mk 16,1 parr.; Lk 8,1–3 (Petersen, 38; Taschl-Erber, 433 f. und Ehrman, 199).
Taschl-Erber geht gar von einer führenden Stellung innerhalb der Frauengruppe
aus (433–435; vgl. Ehrman, 199). Weitreichend ist ihre Interpretation von Lk 8,1–
3: Sie lehnt eine hierarchische Abstufung zwischen den drei Gruppen ab – den
Zwölf, der kleineren, mit Namen genannten Frauengruppe und der größeren
Frauengruppe – und will die Gruppe um Maria gleichberechtigt neben die Zwölf
gestellt wissen. Die Frauen dürften nicht als Teil eines äußeren Kreises um die
Zwölf angesehen werden, die den Kern der Jesusbewegung gebildet hätten
(Taschl-Erber, 449–464). Dagegen sieht B. D. Ehrman, m. E. einleuchtender,
den Zwölferkreis als von Jesus gegründete Kerngruppe mit symbolischer Bedeutung an: Er stehe für die zwölf Stämme Israels und symbolisiere die Sammlung
des zerstreuten Gottesvolks. Jesus zeige sich hier als Mann seiner Zeit, wenn er
diese Symbolik und die endzeitliche Führungsrolle selbstverständlich und ausschließlich Männern zuordnet (Ehrman, 199 f.).
Hier zeigt sich, wie eng das Bild der Magdalenerin mit demjenigen Jesu zusammenhängt. Wie „zeitgebunden“ und androzentrisch-patriarchal darf Jesus
gedacht werden? Ehrman, Petersen und Taschl-Erber betonen recht einhellig,
dass Jesus eine attraktive Botschaft für Frauen gehabt habe und sein Umgang
mit Frauen nonkonformistisch gewesen sei. Die Konkretisierung dessen ist jedoch völlig unsicher. Bei Taschl-Erber geht die Egalität der Geschlechter in der
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Jesusbewegung so weit, dass bei den Frauen genauso wie bei den Männern von
klassischen Berufungen auszugehen sei – obwohl die Evangelien keine erzählen.
Grund dafür seien androzentrische Redaktionsprozesse. Die Notiz in Lk 8,2,
dass Maria durch Jesus von sieben Dämonen geheilt worden sei, wird als unhistorische Wertung angesehen, mit der die Nachfolge dieser Frau in ein bestimmtes
Licht gerückt werde – offenbar ein negatives Licht (obwohl Heilungen analog
zur Bildung des Zwölferkreises für das anbrechende Gottesreich stünden; vgl.
Taschl-Erber, 456 f.). Diese Argumentation (ähnlich bei Petersen, 37 f.), steht
freilich in der Gefahr, einer anderen diskriminierenden Denkstruktur zu folgen.
Warum wertet es eine historische Person ab, wenn sie unter einer schweren
Krankheit oder Behinderung litt und allein durch eine Heilung zur Nachfolge
Jesu kam und nicht durch eine Berufung? Immerhin könnte eine tiefgreifende
Heilungserfahrung die Loyalität Marias erklären, die sie bis ans Kreuz und Grab
Jesu führt.
Die Tragweite der Jüngerschaft Marias zeigt sich bei der Passion Jesu. Hier
spielt sie (und nach den Synoptikern auch andere Frauen) allen kanonischen
Evangelien zufolge eine unverzichtbare Rolle. Anders als die männlichen Jünger
beobachten die Frauen die Kreuzigung und die Grablegung und können so am
Ostermorgen das Grab aufsuchen, wo ihnen als ersten die Auferstehungsbotschaft verkündigt wird. Maria aus Magdala ist die einzige namentlich an allen
Stationen genannte Zeugin und damit die einzige Konstante bei Kreuz, Bestattung und Auferstehung. Recht einhellig halten die Studien die Präsenz von Frauen bei der Kreuzigung dem synoptischen Zeugnis folgend „von ferne“ für historisch plausibel – die Darstellung in Joh 19,25, wo die Frauen direkt unter dem
Kreuz stehen, erweist sich als literarisches Mittel, um Jesus zu seiner Mutter und
zum Lieblingsjünger sprechen zu lassen. Da Frauen als Zeuginnen in der Antike
unglaubwürdig waren, kann nicht von einer Erfindung der Szene ausgegangen
werden, um die Wahrheit des christlichen Credos zu stützen (Petersen, 40 f.; Ehrman, 224–226). Deutlich knapper wird dies auch für die Beobachtung der Grablegung angenommen – obwohl hier die Absicht, den Gang der Frauen zum Grab
am Ostermorgen zu plausibilisieren, mitschwingt und der ganze Grabkomplex
stärker von hermeneutischen Erwägungen zur historischen Plausibilität des leeren Grabes abhängt.
Auf andere Weise wird die Jüngerschaft Marias in den Apokryphen profiliert:
Hier ist sie eine gelehrige Schülerin mit einer besonderen oder sogar der höchsten
Einsicht unter den Jüngern. Betont wird ihr besonders enges Verhältnis zum
Lehrer Jesus (Petersen, 106–144; Ehrman, 206–216, 230–246). Eine Ausdrucksform dieses engen Verhältnisses ist das Motiv des geistlichen Kusses, das nichts
mit einer romantisch-sexuellen Paarbeziehung zu tun hat (ausführlich Petersen,
128–144). Häufig findet sich eine Konkurrenzsituation zu einigen der männlichen Jünger, besonders zu Petrus, der Maria teilweise direkt angreift und ihre
Kompetenz bestreitet. Andere Jünger, etwa Levi im Mariaevangelium BG,
p. 18,7–21, oder Jesus selbst verteidigen sie und weisen Petrus in die Schranken.
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Hier sollen offensichtlich Autoritätsstreitigkeiten in den betreffenden Gemeinden verarbeitet werden, wo es konkurrierende Legitimationsfiguren gab (Petersen, 144–162; s. o. Ziff. 1).
3. Das leere Grab und die Osterbotschaft –
Maria aus Magdala, Osterzeugin und Lebensbotin
Maria aus Magdala war als erster Mensch am leeren Grab und empfing die Osterbotschaft – dies ist fest in der Evangelientradition verankert: Nicht nur die kanonischen Evangelien berichten dies übereinstimmend, auch im apokryphen Petrusevangelium kommt dies vor. Anders als im ersten Punkt soll hier nicht der
Autoritätsaspekt im Vordergrund stehen, der mit der Erstzeugenschaft verbunden ist, sondern die Frage nach dem Inhalt der mit Maria verbundenen Osterbotschaft. Was verkündigt sie eigentlich? Dabei wird Joh, die ausführlichste und
theologisch ausgeprägteste Darstellung, im Mittelpunkt stehen, gefolgt von
einem Seitenblick auf die Botschaft Marias in apokryphen Evangelien. Zuvor soll
kurz die notorisch schwierige Frage nach der Historizität des leeren Grabes thematisiert werden.
Während Taschl-Erber die historische Frage nur auf die Christophanie vor
Maria bezieht und das leere Grab dabei ganz ausblendet (s. o. Ziff. 1), sehen Petersen und Ruschmann den Grabkontext als essentiell an. S. Ruschmann zufolge
ist der Grabbesuch Marias sogar der Aspekt, der am stärksten mit der Erinnerung an ihre Person verbunden war (97). Auch sie thematisiert jedoch bei der
historischen Frage im Kern nur die Erscheinung und lässt das leere Grab an sich
außer acht. Damit ist es möglich, analog zu anderen Erscheinungsberichten (v. a.
1 Kor 15) von einem nicht näher spezifizierten, subjektiven „Ostererlebnis“ auszugehen (102), denn eine Erscheinung lässt sich als nicht-materielle Realität
leichter mit einem sinnlich-kognitiven Erlebnis einer Person oder mehrerer vereinbaren als die Massivität des leeren Grabes, wo das für modernes Denken so
sperrige, objektive „Verschwinden“ eines Leichnams zentral ist. Bedenkenswert
ist der Hinweis, dass in der Forschung lange Zeit die Grabtradition der Evangelien gegenüber der Erscheinungstradition in 1 Kor 15 abgewertet wurde. Petersen deutet einen Zusammenhang mit der Abwertung weiblicher Osterzeugen
gegenüber männlichen an, der sich schon bei Lk finde (57 f.). Sie wertet demgegenüber die Grabtradition als von der Erscheinungstradition unabhängige
Ausformung der Osterbotschaft auf (81–86). Beide seien gattungsgeprägt und
kontextabhängig – in 1 Kor 15 führe Paulus bestimmte anerkannte Autoritäten
auf, um sich einzureihen. Seine Aufzählung, in der Maria fehlt, habe per se keinen höheren Historizitätswert (76–80). Hinter den Erzählungen vom leeren
Grab könne ein historisches Ereignis angenommen werden. Jedenfalls müsse dies
unabhängig von modernen „Werturteil(en)“ (85) reflektiert werden.
Wofür steht die Osterzeugin Maria aus Magdala theologisch? Diese Frage ist
schwieriger zu beantworten als es zunächst scheint, denn der Inhalt von
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„Ostern“ ist keineswegs in allen Texten gleich – im Gegenteil, das jeweilige theologische Profil schlägt sich gerade hier besonders stark nieder. Wie dieses Profil
beschrieben wird, hängt wiederum sehr stark von Fragestellung und Methodik
der rezensierten Studien ab. Am ergiebigsten ist S. Ruschmann, weil sie für ihre
gesamte Studie der Frage nach der theologischen Bedeutung der Mariafigur im
Johannesevangelium nachgeht.
Im Unterschied zu Joh liege bei den Synoptikern der Ton auf der Nachfolge,
denn bei ihnen wird Maria mit den anderen Frauen als eine Nachfolgerin Jesu
von Galiläa an eingeführt (50–55). Sie stehe für Kontinuität, bezeuge irdisches
Wirken, Tod und Auferstehung Jesu. Anders bei Joh: Dort wird sie plötzlich als
Zeugin am Kreuz eingeführt und in der ausgeführten Ostererzählung liegt der
Fokus auf ihr allein (54 f.), nicht als Repräsentantin einer Frauengruppe oder
Mitglied einer Nachfolgegemeinschaft (55). Das johanneische Mariabild lege seinen Schwerpunkt auf die nachösterliche Etablierung der Glaubensgemeinschaft,
die geistliche „Familie“ (vgl. 103–107). Maria aus Magdala sei anwesend, als Jesus
vom Kreuz aus zwischen seiner Mutter und dem Lieblingsjünger diese geistliche
Familienbeziehung stiftet (102–107, das wäre zu diskutieren), und verkünde den
anderen JüngerInnen als Kern der Osterbotschaft diese Stiftung einer neuen Familie zwischen Gott, Jesus und den Glaubenden, die Realisierung ihrer Gotteskindschaft. Darauf zielten die Worte des Auferstandenen an Maria, dass er „zu
meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott“ hinaufgehe (218 f.). Eben diese Worte gebe sie den anderen weiter.
Ostern sei also für Joh nicht primär ein christologisches Geschehen, sondern
ein ekklesiologisches. Maria stehe am Wendepunkt zwischen vor- und nachösterlicher Zeit und verkörpere den Übergang zwischen beiden. Denn sie verkündige
nicht nur die Realität der neuen Gottesfamilie, sondern vollziehe selbst den
Übergang von vorösterlicher Unkenntnis Jesu zu österlicher Erkenntnis. Eben
das sei der Inhalt der Begegnung zwischen dem Auferstandenen und Maria, ihr
„Glaubensprozess“ (108), der in der Verkündigung des Erkannten münde. Nicht
im synoptischen Sinne als Nachfolgerin des Irdischen bis zu Ostern sei Maria
wichtig, sondern als den Ostergraben Überschreitende und zur Jüngerin Werdende. In einer interessanten Interpretation verbindet Ruschmann die Ostererzählung mit den Berufungen der ersten Jünger in Joh 1,35–51. Auch Maria
werde berufen, aber nachösterlich. Während für die vorösterliche Zeit das Suchen der Nähe zu Jesus und das Festhalten daran wesentlich für Jüngerschaft
war, sei nun das Loslassen und Akzeptieren seiner Abwesenheit unerlässlich.
Maria verbinde auf einzigartige Weise Kontinuität und Diskontinuität zwischen
vor- und nachösterlicher Jüngerschaft.
Dies ist auch die Pointe der Ruschmann’schen Interpretation von Joh 20,17,
dem berühmten „Rühre mich nicht an!“ oder besser: „Halte mich nicht fest!“
(91 f.). Sie vertritt wie die Mehrheit der Exegeten die Deutung, dass es nicht um
ein Berührungs-, sondern ein Festhalteverbot gehe. Der Grund dafür sei nicht
christologischer Natur (als ob es um Jesu willen verboten werde, ihn festzuhal56
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ten), sondern ekklesiologischer: Maria solle Jesus loslassen, weil er seinen Weg
zum Vater vollenden und so die Gemeinschaft der Glaubenden gründen könne
(93 f.). Sie müsse das Paradox verstehen, dass es nachösterlich eine Präsenz Jesu
nur in seiner Abwesenheit geben kann. Diese neue Präsenz wird nur in der Gemeinschaft der Glaubenden realisiert (219–221). Ähnlich ist die Deutung von Joh
20,17 bei R. Bieringer, obwohl seine Analyse die traditionelle und inzwischen
minoritäre Deutung „berühren“ bestätigt, freilich in einem weiteren Sinne („sich
nähern“). Seine Pointe ist aber analog zu Ruschmann, dass das Verbot sich Jesus
zu nähern ekklesiologisch begründet wird: Jesus müsse seinen Weg vollenden
und Maria den JüngerInnen verkündigen. Dort sei der neue Ort Jesu.
Wie Ruschmann und Taschl-Erber sieht Bieringer in dem Verbot bei Joh keinerlei Kritik oder Degradierung Marias (Bieringer, 79–81, ebenso de Boer, 100–
107). Gegenäufig dazu macht E. Mohri das Moment der Zurückweisung Marias
sehr stark und stellt eine Parallele zu ihrer Zurückweisung durch Petrus in einigen apokryphen Evangelien her (83–92, 96). Abgesehen von dieser singulären
Deutung herrscht die Meinung vor, dass Maria bei Joh in ausgesprochen positiver Weise dargestellt werde, als loyale und liebende Jüngerin. E. A. de Boer arbeitet heraus, dass die Berufung auf das Berührungsverbot aus Joh 20,17 in späterer Zeit, v. a. ab dem 4. Jh., meist negative Konsequenzen für Maria und für
Frauen generell hatte. Noch später konnte damit begründet werden, dass Frauen
die Berührung des Leibes Christi in der Eucharistie und damit deren Durchführung verboten werde (117–124, 129, 135).
Das theologische Profil der Magdalenerin in denjenigen apokryphen Texten,
wo sie eine zentrale und positive Rolle spielt, weicht nicht wenig vom johanneischen ab. Gleichwohl bestehen gerade zwischen Joh und dem Mariaevangelium
deutliche Parallelen, während dies sowohl für die Synoptiker als auch für andere
Apokryphen kaum zutrifft. Die apokryphe Maria spielt in den besprochenen
Studien eine zentrale Rolle und das Verhältnis zur johanneischen wird besonders
bei Taschl-Erber eingehend untersucht. Die Forschung steht bei der komplizierten Verhältnisbestimmung noch am Beginn, umso wertvoller ist der detaillierte
Textvergleich bei Taschl-Erber. Zunächst zeigt das apokryphe Mariaprofil eine
Besonderheit: Nur das Petrusevangelium situiert analog zu den kanonischen
Evangelien die Mariageschichte im Kontext von Tod, Begräbnis und Auferstehung Jesu. In den anderen apokryphen Texten dagegen finden wir Maria, andere
Jünger und Jesus in relativ losgelösten Dialogsituationen vor. Dies korreliert damit, dass Tod und Auferstehung Jesu auch für die theologische Botschaft praktisch keine Rolle spielen. Von einer „Osterbotschaft“ Marias kann also im Mariaevangelium eigentlich nicht gesprochen werden. Dies ist nur dann möglich, wenn
man die motivlichen Berührungen zwischen dem Mariaevangelium und Joh so
auswertet, dass ersteres an die Christophanieüberlieferung anknüpfe und mit
seiner großen Visions- und Offenbarungsschilderung (BG 10,10–17,9; POx 3525
Z.19 f.; PRyl 463r 1 f.) die Botschaft Marias in Joh 20,18 „Ich habe den Herrn
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gesehen!“ entfalte (Taschl-Erber, 479, 489, 504 f.). Freilich geschehe dies im Rahmen eines eigenständigen theologischen Konzepts.
Die theologische Botschaft Marias im Mariaevangelium betrifft den Aufstieg
der Seele in die himmlische Sphäre, wo sie sich gegen vier feindliche Mächte
behaupten muss, die sie aufhalten wollen. Das Ziel des Aufstiegs ist das Erlangen
von Ruhe. Taschl-Erber notiert die Übereinstimmung mit dem „Aufstieg“ Jesu
zum Vater in Joh 20,17 (Taschl-Erber, 504) – wenn nicht von einem nur oberflächlichen Wortspiel auszugehen ist, könnte dies als Teil der gnostischen Interpretation des Joh verstanden werden (Taschl-Erber, 482–484). Während jedoch
bei Joh die Botschaft vom Aufstieg Jesu unmittelbar ekklesiologische Folgen hat,
ist dies im Mariaevangelium anders: Auch hier wirkt Maria durch ihre Verkündigung auf die Stärkung der JüngerInnengemeinschaft hin – dies ist sogar ihre
Hauptfunktion als Trösterin der Gruppe –, aber dies liegt nicht an der gemeinschaftsgründenden Wirkung des Aufstiegs Jesu. Vielmehr liegt die Tröstung und
Ermutigung zur Mission in der Botschaft, wie die Seelen der Gläubigen ihren
rettenden Weg gehen können.
Zum Berührungsverbot in Joh 20,17 gibt es keine Parallele im Mariaevangelium. Dies ist Mohri zufolge kein Zufall, denn zum einen vermittle das Mariaevangelium ein ganz positives Bild Marias, zum andern wäre es für die (gnostischen) Apokryphen theologisch kontraproduktiv: Die Leiblichkeit des Auferstandenen zu betonen, widerspräche der Abwertung des Körperlichen im
Mariaevangelium, wo alles auf die geistliche Begegnung ankomme (Mohri, 97).
Interessanterweise ist dies im Mariaevangelium nicht mit einer weiblichkeitsfeindlichen Haltung verbunden, vielmehr werden Frauen wie Männer gleichermaßen zum wahren Menschsein erlöst (Ehrman, 242 f.). Anders ist dies in den
meisten anderen apokryphen Schriften, in denen Maria zwar auch eine herausragende Jüngerin ist, die dort vermittelte Botschaft aber die Überwindung des
Weiblichen impliziert, etwa im Dialog des Erlösers, dem Thomasevangelium
oder dem Philippusevangelium (Petersen, 163–180; Ehrman, 231–233). In diesen
Schriften ist die Geschlechterfrage ein zentraler theologischer Aspekt, der anhand der Frau aus Magdala thematisiert wird.
4. Fazit
An die Stelle der Sünderin und Büßerin tritt in der gegenwärtigen Forschung die
Jüngerin, Osterzeugin und Apostolin. Dieses neue Bild betont die Eigenständigkeit und Kompetenz dieser Frau im Gefolge Jesu und ihre Bedeutung für das
christliche Urdatum, Ostern. Es ist unverkennbar, dass zentrale Züge dieser neuen Maria gegenwärtigen Interessen nach Geschlechtergerechtigkeit und Frauenemanzipation entsprechen. Eine besondere Rolle kommt in der Diskussion dem
apokryphen Mariabild zu, denn dieses liefert offensichtlich die Aspekte einer
emanzipierten Frau nach, die im Neuen Testament schmerzlich vermisst werden.
Die neutestamentliche Maria selbst ist dabei möglicherweise weniger von frau58
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enfeindlichen Tendenzen geprägt als ihre spätere kirchliche Interpretation, wofür v. a. die Kombination mit der Sünderin und der Ausbau dieses Aspekts verantwortlich sind. Die apokryphen Texte haben neben der Aufwertung der Maria
den Vorteil, dass sie nicht von jahrhundertlangen Interpretationen durchdrungen
sind. Dass sie allerdings unserem modernen Bedürfnis nach einem gleichberechtigten Umgang mit den Geschlechtern gerecht werden, darf bezweifelt werden.
Am deutlichsten zeigen dies die weiblichkeitsfeindlichen Züge. Die Aufwertung
einer weiblichen Autoritätsfigur auf Kosten ihrer Weiblichkeit erfordert noch
weitere hermeneutische Reflexionen. Andererseits verweist diese Problematik
auf die Berechtigung einer gendersensiblen Exegese.
Besonders lohnend für die Beschäftigung mit Maria aus Magdala in den verschiedenen Texten ist neben der Frauenfrage die theologische Ebene. Das Verhältnis der theologischen Botschaften der Osterzeugin zueinander, v. a. der kanonische und apokryphen, braucht noch weitere detaillierte Textvergleiche.
Exemplarisch am Joh konnte gezeigt werden, wie stark Maria zur Botschafterin
johanneischer Theologie wird. Dies kann dazu anregen, „die Osterbotschaft“
nicht als fest umrissen anzusehen, sondern für ihre unterschiedlichen Gestalten
aufmerksam zu werden. Ähnlich fruchtbar ist der Aspekt der Jüngerin. Gerade
an der treuen Magdalenerin lässt sich exemplarisch reflektieren, was Jüngerschaft
angesichts von Leid und Trennung bedeutet. Dies ist jenseits der Frauenfrage für
alle Christen relevant.
Die ‚Pseudepigraphie‘ in frühchristlichen, neutestamentlichen Schriften im Spiegel der aktuellen Forschung
Silvia Pellegrini
Marlene Crüsemann, Die pseudepigraphen Briefe an die Gemeinde in Thessaloniki. Studien zu
ihrer Abfassung und zur jüdisch-christlichen Sozialgeschichte (BWANT 191), Kohlhammer
Stuttgart 2010, 336 S. – Jörg Frey/Jens Herzer/Martina Janssen/Clare K. Rothschild (Hg.),
Pseudepigraphie und Verfasserfiktion in frühchristlichen Briefen (WUNT 246), Mohr Siebeck
Tübingen 2009, XII + 902 S. – Joram Luttenberger, Prophetenmantel oder Bücherfutteral? Die
persönlichen Notizen in den Pastoralbriefen im Licht antiker Epistolographie und literarischer
Pseudepigraphie (ABG 40), Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2012, 430 S. – Stanley E. Porter/Gregory P. Fewster (Hg.), Paul and Pseudepigraphy (Pauline Studies 8), Brill Leiden 2013,
XV + 374 S. – Clare K. Rothschild, Hebrews as Pseudepigraphon. The History and Significance of the Pauline Attribution of Hebrews (WUNT 235), Mohr Siebeck Tübingen 2009,
XVII + 287 S.
Weitere Literatur
Pier Franco Beatrice, Forgery, Propaganda and Power in Christian Antiquity: Wilhelm Blümer/Rainer Henke/Markus Mülke (Hg.), Alvarium. Festschrift für Christian Gnilka (JbAC
Verkündigung und Forschung 61. Jg., Heft 1, S. 59–67
ISSN 0342-2410 © Chr. Kaiser / Gütersloher Verlagshaus, 2016
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