BUCHBESPRECHUNGEN Günther, Klaus: Schuld und kommunikative Freiheit. Studien zur personalen Zurechnung strafbaren Unrechts im demokratischen Rechtsstaat. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2005. 281 S. (Juristische Abhandlungen Band 45) Die vorliegende Schrift „Schuld und kommunikative Freiheit“ ist die vom Fachbereich Rechtswissenschaft an der J. W. Goethe-Universität Frankfurt/ Main im Wintersemester 1996/97 angenommene Habilitationsschrift von Klaus Günther. Im Vorwort bereitet er den Leser darauf vor, dass „vieles Programm geblieben (sei), was eigentlich noch ausgeführt werden sollte“ (S. V.) und in der Tat ist zu bedauern, dass sein Konzept einer deliberativen Person 1 und den entsprechenden Bedingungen einer Schuldzurechnung nur in vergleichsweise knapper Form (S. 245–258) ausgeführt wird. Dennoch ist zu begrüßen, dass sich Günther trotz Bedenken zur Veröffentlichung seiner Arbeit entschlossen hat, da die strafrechtliche Schuld unverändert der wissenschaftlichen Auseinandersetzung bedarf. Günther nähert sich seinem Thema nicht im Wege einer theoriegeschichtlichen Darstellung. Er greift vielmehr auf der Grundlage einer Hypothese einzelne Positionen aus der nahezu unübersehbaren Literatur heraus. Seine Hypothese lautet, dass es einen nicht lediglich „zufälligen Zusammenhang zwischen der individualisierenden Zurechnung eines strafbaren Unrechts zur Schuld einer Person und der Art und Weise der Legitimation derjenigen Rechtsnormen (gebe) deren Verletzung zugerechnet wird“ (Einleitung, S. 1). Dabei setzt er sich bewusst ab von Theorien in der Tradition Rousseaus, wonach einer Person ein Schuldvorwurf gemacht werden könne, „weil sie als vernünftige Person eine vernünftig begründete Rechtsnorm verletzt habe“ (Einleitung, S. 1). Der Gedanke eines solchen Selbstwiderspruchs des Täters differenziere seiner Ansicht nach nicht ausreichend „zwischen der Rechtsperson in der Rolle des Normadressaten und in der Rolle des Staatsbürgers“ (Einleitung, S. 1). Diese Hypothese bringt Günther bereits in der Einleitung mit einem weiteren zentralen Aspekt in Verbindung, nämlich der Frage, wie strafrechtliche Schuld überhaupt begründet werden kann. Dabei macht er im Wesentlichen zwei Grundpositionen aus. Zum einen die Auffassung, für die ent1 Der Begriff leitet sich ab von deliberare (lat.) = erwägen, nachdenken, überlegen und m.acc.c.inf. auch zweifeln. Unauthenticated 118 (2006) Heft 1 Download DateZStW | 3/29/16 11:38 AM 216 Buchbesprechungen scheidend sein soll, dass sich der Täter in Freiheit für das Unrecht entschieden hat. Dieser Ansicht setzt Günther entgegen, dass die Freiheit, anders zu handeln, eine Fiktion sei, „die sich am Selbstverständnis der übrigen Mitglieder einer Gesellschaft“ orientiere (Einleitung, S. 2). Die andere Richtung knüpfe die Bedeutung der Schuldfiktion an den präventiven Zweck der Strafe an. Diese Theorien sieht Günther insofern im Vorteil, als sie „den Charakter der strafrechtlichen Schuld offen als eine zugeschriebene Fiktion erklären“. Zugleich macht Günther jedoch eine „Legitimationslücke“ aus, da die Bestimmung von Schuld von der Zweckmäßigkeit der Strafe abhängig gemacht werde (Einleitung, S. 3). Aus dieser in der Einleitung vorgegebenen Grundrichtung ergibt sich der Aufbau der Arbeit. Sie ist in drei Teile unterteilt, wobei sich der Erste Teil (S. 5–116) dem Zusammenhang von personaler Zurechnung und Normgeltung widmet. Hier befasst sich Günther zunächst mit der personalen Zurechnung bei Adolf Merkel (S. 5–37) und schließt daran eine Darstellung und Kritik der personalen Zurechnung in den Theorien der positiven Generalprävention an (S. 37–116). Im Zweiten Teil der Arbeit (S. 117–243) befasst sich Günther mit der Empirie der personalen Zurechnung, konkreter mit der Zuschreibung individueller Verantwortlichkeit. Dieser Teil endet mit der Suche nach einem höherstufigen Personenbegriff (S. 232–243), der schließlich in einem Dritten Teil (S. 245–258) in Gestalt des Begriffs einer deliberativen Person, mit der die Zurechnung zur Schuld zugleich mit der demokratischen Rechtsgeltung in Zusammenhang gebracht wird, vorgestellt wird. Günther beginnt den Ersten Teil der Arbeit mit einer detaillierten Darstellung der Zurechnungslehre Merkels (S. 5–37). Ein wesentlicher Grund hierfür liegt wohl darin, dass Merkel sich Günther zufolge als einer der ersten Strafrechtswissenschaftler des 19. Jahrhunderts von dem „idealistischen Postulat der Willensfreiheit“ als wesentliches Element der strafrechtlichen Schuldzurechnung abwendet und versucht neue Wege einer individuellen Verantwortlichkeit zu beschreiten (S. 5). Merkel wolle dabei nicht das Freiheitsgefühl der Menschen bestreiten, sondern nur ihre „Deutung“ als ein von Kausalität unabhängiges Vermögen. Dies führe Merkel jedoch nicht zum Determinismus. Er beharre vielmehr auf der „nicht weiter reduzierbaren Ubiquität der Verantwortlichkeit als eines sozialpsychologischen Faktums“ (S. 9). Merkel versuche so zwischen der Scylla der Willensfreiheit und der Charybdis eines Determinismus (S. 34) zu navigieren und interpretiere dabei die Zurechnung als aus zwei Komponenten bestehend, nämlich aus einem Urteil über die Kausalität und einem Werturteil (S. 10). Neben dem ZStW 118 (2006) Heft 1 Unauthenticated Download Date | 3/29/16 11:38 AM Buchbesprechungen 217 Bemühen Merkels eine von der Willensfreiheit unabhängige individuelle Zurechnung zu begründen, ist seine Position für Günther aber vor allem deshalb bedeutsam, da er bei Merkel einen ersten Hinweis auf einen internen Zusammenhang zwischen der Art und Weise der Legitimation einer Rechtsordnung und der Art und Weise, wie dem Einzelnen eine normwidrige Handlung zur Verantwortung zugerechnet wird, erkennt. Schlüssel hierfür ist, dass bei Merkel sich die herrschenden Interessen der Gesellschaft in Normen ausdrückten, die an Einzelne adressiert seien und von diesen aufgrund ihres eigenen Willens und insofern „frei“ befolgt würden. In der Tatsache, dass Merkel von einem individualistischen Ethos ausgehe und diesen in einen inhaltlichen Zusammenhang mit historisch unterschiedlichen Herrschaftsverhältnissen bringe, erkennt Günther einen wesentlichen Hinweis auf den angesprochenen Zusammenhang und er fasst Merkels These wie folgt zusammen: „Der Umfang und die Intensität, mit denen jeder einzelne Bürger als Staatsbürger am politischen Prozeß der Entstehung von Rechtsnormen teilhat, bestimmt auch Umfang und Intensität der Verantwortung jedes einzelnen für die Befolgung dieser Normen“ (S. 28; Hervorhebung im Original). Damit findet Günther bei Merkel gleichsam einen ersten Zeugen für den von ihm behaupteten internen Zusammenhang zwischen der Legitimation einer Rechtsordnung und der Zurechnung von Verantwortung. Darüber hinaus teilt Günther jedoch die von Merkel zugrunde gelegte empirische Voraussetzung, dass dieser interne Zusammenhang im Ethos des Volkes faktisch gegeben sei, nicht. Er kritisiert vielmehr, dass die Individualität damit an eine „faktisch geltende Sittlichkeit gebunden“ sei, die gegenüber einem gesellschaftlichen Pluralismus nicht begründbar sei (S. 37). Unter II des Ersten Teils befasst sich Günther sodann mit der personalen Zurechnung in der Theorie der positiven Generalprävention (S. 37–88), wobei er zunächst auf Jakobs (S. 37–71) eingeht. Dieser führe alle Reaktionen auf eine faktisch eingetretene Normverletzung und der damit verbundenen Erwartungsenttäuschung und die beabsichtigte normative Stabilisierung der Erwartung zurück (S. 40). So erkläre sich auch die „Verantwortlichkeit“ des Einzelnen ausschließlich aus dieser Funktion der Stabilisierung der enttäuschten Erwartungen, woraus sich wesentliche Konsequenzen für die „Schuld“ ergäben. Eine so verstandene „Verantwortlichkeit“ müsse zwangsläufig als „Zuschreibung“ verstanden werden. Zudem würden das Ob und das Wie einer Zuschreibung von Verantwortung nicht von bestimmten Schuldsachverhalten in der Person, sondern von dem Zweck der Normstabilisierung abhängen (S. 41). Zum Zentrum der „Schuld“ werde das „motivationale Unauthenticated 118 (2006) Heft 1 Download DateZStW | 3/29/16 11:38 AM 218 Buchbesprechungen Defizit an Rechtstreue“. Nun könne einen solchen Anspruch auf „dominanter motivatorischer Berücksichtigung“ jede Rechtsordnung stellen, womit sich „Schuld im formellen Sinne“ ergebe. Schuld im materiellen Sinne könne Jakobs zufolge aber nur in legitimen Ordnungen gegeben sein (S. 51), wobei der Schuldbegriff von einem „Synallagma“ getragen werde, bei dem eine äußere Normenbefolgung Hand in Hand gehe mit einer rechtlich garantierten individuellen Handlungsfreiheit (S. 58). Bei Jakobs findet sich damit im Ansatz etwas, dem Günther später eine besondere Bedeutung zumisst, nämlich die Differenzierung zwischen der mit Freiheitsrechten ausgestatteten Rechtsperson und der Bürgerrolle in der die Zustimmung zur Verpflichtung zum Bürgergehorsam erfolgt (S. 60). Die Begründung aus dem Synallagma unterliegt jedoch traditionell Einwänden, die sich darauf beziehen, dass ohne vorausgehende wechselseitige Anerkennung der Kontrahenten als freie gleiche Vertragspartner keine Verpflichtung aus dem Vertrag erwachse (S. 61). Gegen dieses defizitäre Konzept eines Synallagmas bei Jakobs setzt Günther recht unvermittelt den „Akt der demokratisch legitimierten politischen Selbstbestimmung“. Die Verpflichtung zum Rechtsgehorsam entstünde damit nicht aus einem Tausch Freiheitsverzicht gegen Freiheitsgewinn, sondern aus dem „Recht auf wirksame Teilnahme an den rechtlich institutionalisierten Verfahren demokratischer Selbstgesetzgebung, in denen gleiche und freie Rechtspersonen sich selbst die Normen geben, unter denen sie gleiche Freiheitsrechte in Anspruch nehmen“ (S. 62). Den gedanklich nächsten Schritt sieht Günther bei Hassemer, der auf „Einsicht und Zustimmung“ statt auf „Einschüchterung und Gewalt“ setze (S. 63). Für Hassemer gehöre dabei die „Autonomie“ der Adressaten zu den „Wirkungsbedingungen und nicht zu den Effekten der präventiven Strafe“ (S. 66; Hervorhebung im Original). „Autonomie“ soll dabei bedeuten, dass die „Bürger das Recht akzeptieren und befolgen, weil sie selbst sich von seiner Anerkennungswürdigkeit überzeugt haben, also nur das Recht befolgen, das sie sich – im qualifizierten und modifizierten Sinne des modernen demokratischen Rechtsstaates – ‚selbst gegeben‘ haben“ (S. 66; Hervorhebung im Original). Daraus ergebe sich ein Konzept, bei dem neben die präventiven Zwecke ein „Legitimitätsanspruch“ trete, der die auf die Einsicht gegründete Zustimmung der Staatsbürger verdien(e)“ (S. 70). Für Günther bedeutet dies, dass dann die Staatsbürger selbst es wären, „die festlegen würden, welche Erwartungen sie in der Rolle eines Normadressaten an ihre Fähigkeit zur Normbefolgung wechselseitig richten würden“ (S. 70f.). ZStW 118 (2006) Heft 1 Unauthenticated Download Date | 3/29/16 11:38 AM Buchbesprechungen 219 Dies führt Günther zu einer zentralen These: Derjenige, der das Schuldprinzip unabhängig von seiner präventiven Funktion immer schon voraussetze, der müsse die Eigenständigkeit des Schuldprinzips gegenüber dem Strafzweck auch eigenständig begründen. Wer dabei, wie Günther, weder auf einen „sittlichen Schuldbegriff“, noch auf ein „metaphysisches Postulat der Willensfreiheit“ zurückgreifen wolle, dem bleibe nichts anderes, „als sich auf die soziale Zurechnungspraxis der Gesellschaft zu stützen: Die Schuld stecke schon in den Köpfen der Bürger“ (S. 71). Diese problematische These macht deutlich, warum Günther sich im Zweiten Teil seiner Arbeit intensiv mit empirischen Zurechnungstheorien befasst. Den gedanklich nächsten Schritt vollzieht Günther in Auseinandersetzung mit der von Neumann, Lüderssen und Stratenwerth erhobenen Vermutung, dass die Erklärung der Strafe aus dem Zweck der Generalprävention auf einem Zirkel beruhe, da der Eintritt der normstabilisierenden Wirkung immer schon die individuelle Zurechnung voraussetze und diese unabhängig von allen präventiven Effekten bereits in den Köpfen der Bürger existiere (S. 74). Dabei dürften nur solche Zurechnungsregeln in einem demokratischen Rechtsstaat verbindlich sein, „die von allen Staatsbürgern akzeptiert werden können, nach denen sie einander wechselseitig individuelle Verantwortung in ihrer Rolle als Rechtsperson und Normadressaten zuschreiben“ (S. 76; Hervorhebung im Original). Für Lüderssen heißt dies, dass er zum einen ein diskursives Verfahren für maßgeblich hält und dabei einen konzeptionellen Zusammenhang zwischen dem Diskurs und der „Autonomie“ als Maßstab für die Qualität des Diskurses herstellt (S. 77). Der erneut auftauchende Begriff der „Autonomie“ wird dabei mit der Kritikfähigkeit in Zusammenhang gebracht (S. 78). Indem sich die Teilnehmer eines Diskurses wechselseitig auf die Kritikfähigkeit des anderen beziehen, „müssen sie einander bereits als autonome Teilnehmer anerkennen“, wobei mit einer „idealisierenden Unterstellung“ (S. 79) gearbeitet werde. Wenn Günther anschließend auf Stratenwerth eingeht, der Einwände gegen die Begründung des Schuldbegriffs aus dem Zweck der positiven Generalprävention erhebt, so ist für ihn entscheidend, dass auch Stratenwerth eine Verbindung herstelle zwischen dem „auf Anerkennung durch die Betroffenen gerichteten Legitimitätsanspruch der Normen und der vorauszusetzenden Verantwortlichkeit desjenigen, dem eine Verletzung legitimer Normen zur individuellen Schuld zugerechnet wird“ (S. 84). Über die Befassung mit den sog. objektiven Schuldelementen (S. 89ff.) gelangt Günther zu einer näheren Bestimmung des Begriffs der Rechtsperson Unauthenticated 118 (2006) Heft 1 Download DateZStW | 3/29/16 11:38 AM 220 Buchbesprechungen (S. 102). Dabei versteht er diesen Begriff als doppelten, nämlich einerseits als Bürger und Normadressat und andererseits als Staatsbürger und Normautor. Dies führe dazu, dass sich die Staatsbürger selbst in ihrer Rolle als Rechtsperson interpretieren und die Grenze ziehen zwischen individueller Freiheit und verantwortlicher Zurechnung zur Schuld. Dabei soll es „keine den öffentlichen Diskursen der Staatsbürger a priori vorgegebenen Linien“ geben. Insoweit spricht Günther von ihrer „öffentlichen Autonomie“ (S. 105; Hervorhebung im Original). Die äußere, nicht überschreitbare Grenze ergebe sich nur daraus, dass sie sich letztlich nicht als Staatsbürger selbst in Frage stellen dürften (S. 107). Schuld und der sie stützende Begriff der verantwortlichen Rechtsperson wird dabei von Günther als ein „askriptiver“, d. h. zuschreibender Begriff charakterisiert, wobei sich die Legitimität der Zuschreibung nicht aus einer vorausgesetzten, sondern aus einer „hergestellten Gemeinsamkeit“ ergebe (S. 115; Hervorhebung im Original). Es gehe somit um eine „gemeinsame Interpretation des immer schon vorausgesetzten Begriffs der Rechtsperson“. Im Zweiten Teil der Arbeit versucht nun Günther näher zu bestimmen, wie die Zuschreibung beschaffen ist. Zu diesem Zweck zeichnet er eine Reihe von Theorien, wie z. B. die des „Symbolischen Interaktionismus“ und des „labeling approach“, die sich mit der Empirie der Zuschreibung von Verantwortung befassen, detailliert nach (S. 117–245). In diesem Teil der Arbeit geht es beispielsweise um die unterschiedlichen Perspektiven von Beobachter und Akteur (S. 122ff.) und um Differenzierungen zwischen Attribution von Kausalität und Verantwortlichkeit und darum welche Rolle z. B. Merkmale wie Vorhersehbarkeit, Intentionalität und Gründe dabei spielen (S. 140ff.). Des Weiteren geht es auch um mögliche Attributionsfehler und inwieweit Kriterien für Differenzierungen zwischen richtigen und unrichtigen, wahren und unwahren Zuschreibungen begründet werden können (S. 149 ff.), sowie um ein Weiterführen von Zuschreibungen in einen etikettierenden Akt des Bezeichnens als „abweichend“ (S. 152ff.). Diese Ausführungen sind interessant, angesichts des Umfangs der Darstellung droht jedoch immer wieder die konkrete Relevanz aus dem Blick zu geraten. Am Ende lässt sich jedoch ein Ertrag ausmachen: Zunächst erhält man überhaupt einen Überblick über unterschiedliche empirische Theorien zur Zuschreibung, die in Günthers Konzeption einen zentralen Platz haben. Dabei wird deutlich, dass sich offenbar Regeln für das durchaus komplexe Phänomen der Zuschreibung beschreiben lassen. Wesentlich bei der Zuschreibung scheint dabei vor allem die Rolle der Beteiligten selbst zu sein, wobei es zu ZStW 118 (2006) Heft 1 Unauthenticated Download Date | 3/29/16 11:38 AM Buchbesprechungen 221 den unterschiedlichsten Verschiebungen, Verzerrungen und Etikettierungen kommen kann. Schließlich geht eine der ganz wesentlichen Erkenntnisse dahin, dass die Zuschreibung nicht lediglich bestimmten Regeln folgt, die sich thematisieren und kritisieren lassen, sondern dass den Theorien vor allem bestimmte Personenkonzepte zugrunde liegen, d. h. dass es letztlich um gesellschaftliche Konstruktionen von Personen gehen soll (S. 191ff.). Für Günther ist vor allem dieser letzte Aspekt, nämlich die unterschiedlichen Personenkonzepte, von Bedeutung. Dabei scheint seiner Ansicht nach zunächst angesichts eines faktischen Pluralismus eine für alle Mitglieder verschiedener Lebensformen akzeptable Personenkonzeption, auf deren Grundlage über Zurechnung entschieden werden kann, ausgeschlossen zu sein (S. 235). Dabei will es Günther jedoch nicht belassen. So bleibe fraglich, ob mit der dargestellten Diagnose der eingespielten „Praxis des Kriminaljustizsystems in modernen Gesellschaften“ denn auch das „normative Selbstverständnis dieser Gesellschaften getroffen“ sei. Zudem weist er darauf hin, dass die Analyse der Attributionstheorien zeige, dass auch eine Beschreibung der Praxis „ohne ein kritisches Vorverständnis“ nicht möglich sei (S. 235; Hervorhebung im Original). Contrafaktisch würden somit normative Ansprüche erhoben, dergestalt „jeder Bürger das gleiche Recht auf wirksame Teilnahme an der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung habe und das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz bei der Anwendung und Durchsetzung einer Norm befolgt werde“ (S. 236). Diese Analyse und ein späterer Bezug auf Rawls, der von einem „sense of justice“ ausgeht (S. 239 ff.), bringt Günther zu dem Schluss, dass auf ein „höherstufiges Personenkonzept bezug genommen werden“ müsse, um überhaupt den Anspruch auf Zuschreibung individueller Verantwortung von Normverletzungen erheben zu können (S. 236). Daran anschließend beschreibt Günther im gedanklichen Vorgriff auf seinen deliberativen Personenbegriff, wie ein solches höherstufiges Personenkonzept ausgestaltet sein müsste. So müssten „die Beteiligten an einer Kontroverse über die Zuschreibung individueller Verantwortung (bzw. an einem Zurechnungsdiskurs) (…) sich selbst und einander wechselseitig als Personen anerkennen“, die trotz möglicher Unterschiede in ihrer Identität „als Personen Gleiche sind“ (S. 136; Hervorhebung im Original). Für die Gültigkeit „der auf allgemeine Anerkennung gerichteten Normen“ soll es darauf ankommen, dass sie „aus Verfahren hervorgegangen sind, in denen jeder einzelne Angehöriger einer je verschiedenen Lebensform das gleiche Recht auf Teilhabe hat“. In der von Günther vorgestellten Zurechnungskonzeption soll sich die Legitimität somit ausschließlich aus der Art des Verfahrens bestimmen (S. 237). Unauthenticated 118 (2006) Heft 1 Download DateZStW | 3/29/16 11:38 AM 222 Buchbesprechungen Im Dritten und zentralen Teil der Arbeit expliziert Günther sein solchermaßen vorbereitetes deliberatives Personenkonzept (S. 245–258), wobei er ausdrücklich auf Berührungspunkte mit Argumenten von Habermas und Rawls hinweist (S. 245, Fn. 1). Dabei legt er dar, dass sich seiner Ansicht nach der gesuchte, eine Verantwortungszuschreibung legitimierende höherstufige Personenbegriff, nur finden lasse, wenn der strafrechtliche Schuldbegriff „auf die Idee der demokratischen Legitimation von Rechtsnormen und die Person des Staatsbürgers als Trägers des Rechts auf politische Teilnahme am demokratischen Verfahren der Meinungs- und Willensbildung über die Setzung von Rechtsnormen“ bezogen sei (S. 245). Als wesentlich für eine solche Konzeption sieht Günther, die bereits im Ersten Teil angesprochene Kritikfähigkeit der Person. Herauszuheben ist, dass Günther zufolge in dieser Kritikfähigkeit die Freiheit der Person gründe, wobei eine „Zuschreibung“ zugrunde liege (ausdrücklich auch S. 248). Dabei sei weder festgelegt, „ob und in welcher Weise“ die Person von ihrer Kritikfähigkeit Gebrauch mache, noch „auf welche Sorte von Gründen sie sich dabei stützen soll“. Eine Person, der eine solche Fähigkeit zugeschrieben werden kann, nennt Günther „deliberative Person“ (S. 246; Hervorhebung im Original). Damit eine solche deliberative Person in der Lage sei, eine kritische Stellungnahme auf Gründe zu stützen, ist Günther zufolge vorausgesetzt, dass die deliberative Person an Argumentationen, aus denen sich Gründe bilden können, teilnehmen kann. Solche Argumentationen und Diskurse seien durch eine Reihe idealisierender Voraussetzungen gekennzeichnet, auf die Günther nicht näher eingeht. Es ist anzunehmen, dass Günther dies ausklammert, da er an späterer Stelle demokratische Verfahren von Diskursen unterscheidet (S. 249). Dennoch ist dies zu bedauern, da Günther damit ein wesentliches Problem der Diskurstheorie ausklammert. Schließlich soll der deliberative Personenbegriff auch umfassen, „daß die Person als sich selbst hervorbringende Quelle ihrer Handlungen und Äußerungen selbst betrachtet und von Dritten auch so behandelt“ werde (S. 247; Hervorhebung im Original) und insofern als „frei“ zu bezeichnen sei (S. 247, Fn. 3). Günther nennt dies „kommunikative Freiheit“ (S. 248). Die deliberative Person setzt Günther dann in Beziehung zu demokratisch legitimierten Verfahren, indem solche Verfahren einerseits deliberative Personen voraussetzen und sie sich andererseits im Gebrauch der solchen Personen zugeschriebenen Fähigkeiten „reproduzieren“ (S. 248). ZStW 118 (2006) Heft 1 Unauthenticated Download Date | 3/29/16 11:38 AM Buchbesprechungen 223 Die deliberative Person, die zunächst nur durch ihre Kritikfähigkeit gekennzeichnet wird, soll schließlich durch „weitere Merkmale, die sich aus der Eigenart der Geltungsansprüche, Diskurse und Gründe ergeben, zu einer rationalen, moralischen oder ethischen Person spezifiziert“ werden. Hier sei beispielhaft herausgegriffen, was dies für die Moralität einer Person bedeuten soll. So müsse sich eine Person, „die mit einem moralischen Problem konfrontiert sei“, überlegen, „ob der in ihrer Handlungsintention implizierte Geltungsanspruch von allen anderen Menschen als Ergebnis eines praktischen Diskurses akzeptiert werden könnte“ (S. 250). Der Sache nach handelt es sich um eine ins Diskursive gewendete Form des kantischen kategorischen Imperativs. Dies verdeutlicht, dass es nahe gelegen hätte, sich auch mit auf der kantischen Freiheitsphilosophie aufbauenden Positionen zu befassen. Auch in den weiteren Ausführungen lässt sich ein, von Günther jedoch so nicht hergestellter Bezug ausmachen. So führt Günther aus, dass sich aus der verfahrensmäßigen Legitimation der Normen zwar eine Pflicht zur Befolgung der Rechtsnormen ergebe, dass es jedoch nicht erforderlich sei, dass der Einzelne die Norm als einen eigenen Grund akzeptiere (S. 251). Die Rechtsperson habe somit die Freiheit, die Norm abzulehnen, sofern sie die abgelehnte Norm nicht mit ihrem Handeln verletzt (S. 252). Dies entspricht seinem Gehalt nach der aus der kantischen Philosophie hergeleiteten Trennung zwischen Legalität und Moralität, derzufolge sich das Recht im Unterschied zur Moral mit der äußeren Befolgung der Gesetze begnügt. Die angesprochene Verbindlichkeit des positiven Rechts soll sich Günther zufolge aus der der deliberativen Person zugeschriebenen Kritikfähigkeit einerseits und dem subjektiven Recht auf wirksame Ausübung dieser Fähigkeit „in rechtlich institutionalisierten demokratischen Verfahren“ andererseits ergeben (S. 251 und S. 253). Für die Schuld folgert er daraus, dass „mit dem Recht auf Teilnahme“ an demokratischen Normsetzungsverfahren und der Möglichkeit zur ablehnenden Stellungnahme der Rechtsperson zugemutet werden dürfe, die Norm zu befolgen. Wer die Norm dennoch verletze, missachte die andere Person „als freien und gleichen Staatsbürger“ (S. 255). Damit ist zugleich eine für Günther zentrale Unterscheidung angesprochen, nämlich die zwischen dem Staatsbürger als Teilnehmer am demokratischen Gesetzgebungsverfahren und der Rechtsperson als Adressat der in diesem Verfahren gewonnenen Normen. Aus dieser Differenzierung heraus soll sich Wesentliches für die weitere Ausgestaltung des Schuldbegriffs ergeben. So werden die wesentlichen Merkmale nicht lediglich abgeleitet, sondern es Unauthenticated 118 (2006) Heft 1 Download DateZStW | 3/29/16 11:38 AM 224 Buchbesprechungen sind die Staatsbürger selbst, die im Wege des beschriebenen Verfahrens „die Bedingungen festlegen, unter denen eine Person als zurechnungsfähige und schuldige Rechtsperson“ gelten soll (S. 256). Dies beinhalte Günther zufolge einen praktischen Zirkel, indem die „Staatsbürger einander stets als freie und gleiche deliberative Rechtspersonen anerkennen und zugleich darüber entscheiden müssen, wie sie einander als Freie und Gleiche anerkennen“ (S. 256). Der Schuldbegriff beziehe sich folglich auf „das Selbstverständnis der Staatsbürger als freie und gleiche Rechtspersonen“ (S. 258). Betrachtet man die Arbeit Günthers, so gelingt es ihm vor allem mit seiner Darstellung der verschiedenen Zurechnungstheorien, aber durchaus auch mit der Darstellung der empirischen Zuschreibungstheorien eine Entwicklung zu beschreiben, die konsequent auf Elemente des von ihm vertretenen Konzepts einer deliberative Person hinweisen. Diese Vorgehensweise ist insofern vorteilhaft, als sie mit einer Beschränkung auf für die eigene Theorie wesentlichen Teilen des nahezu unübersehbaren Schrifttums zur Schuld verbunden ist. Zum anderen vermitttelt der gewählte Gang der Darstellung den Eindruck wissenschaftlicher Kontinuität, indem Günther sich zwar zu den vorgestellten Theorien in Teilen immer wieder kritisch positioniert und insoweit auch abgrenzt, er aber doch die gewonnenen Erkenntnisse schrittweise für die Herausbildung der eigenen Position zu nutzen weiß und gezielt auf ihnen aufbaut. Damit vermag das von Günther entwickelte Konzept einer deliberativen Person wesentliche Elemente der bisherigen Schulddiskussion zu integrieren. So wird die Vorstellung, dass Schuld immer Zuschreibung sei und als solche wissenschaftlich erforschten Regeln unterliegt ebenso integriert, wie ein offenbar bestehendes Bedürfnis nach einer legitimatorischen Grundlage jenseits der bloß faktischen Beschreibung von Zurechnungsphänomenen. Dies wird zudem mit demokratischen Willensbildungsprozessen so in einen legitimatorischen Zusammenhang gesetzt, dass damit nicht nur die Berechtigung demokratischer Willensbildung gezeigt wird, sondern zugleich auch noch die Bedingungen von Freiheit und Gleichheit aufgenommen werden. Dies alles in einer Theorie vereinen zu wollen verdient Respekt. Besondere Bedeutung kommt der Arbeit Günthers aber auch insofern zu, als versucht wird, auf der Basis vor allem der habermasschen Diskurstheorie, konsequent eine Legitimation personaler Zurechnung zur Schuld ausschließlich aus der Art eines Verfahrens zu begründen. Der Grundgedanke Legitimität mit einem Verfahren in Verbindung zu bringen, ist vom Grundsatz her überzeugend, da er mit der Idee verbunden ist, sich von unerweislichen Prämissen zu lösen und zugleich die Beteiligten in ZStW 118 (2006) Heft 1 Unauthenticated Download Date | 3/29/16 11:38 AM Buchbesprechungen 225 ihrer Fähigkeit zur Selbstbestimmung ernst zu nehmen. Und schließlich wird dem Relativismuseinwand entgegen getreten. Zugleich ist der Grundgedanke, mittels eines Verfahrens Verbindlichkeit zu erlangen jedoch nicht neu, er findet vor allem im kategorischen Imperativ Kants seinen Ausdruck. Auf dieser Grundlage könnte sich die im Anschluss an Habermas entwickelte Konzeption Günthers strafrechtliche Zurechnung im Wege eines Verfahrens zu legitimieren, möglicherweise als konsequente Weiterführung des kategorischen Imperativs darstellen. Eine solche Konzeption in die Schulddiskussion hineingebracht zu haben, ist zweifellos ein großes Verdienst. Dass die Entwicklung und Darstellung der eigenen Theorie im Dritten Teil dabei jedoch mit lediglich 13 Seiten im Verhältnis zu den ausgesprochen detaillierten vorausgehenden Teilen der Arbeit leider entschieden zu knapp ausfällt und man sich hier weitere Ausführungen und Vertiefungen gewünscht hätte, ist Günther, wie bereits seinem Vorwort zu entnehmen ist, bewusst, weshalb es insoweit auch bei diesem Hinweis bleiben soll. Trotz der im Ganzen anerkennenswerten Leistung wirft die von Günther entworfene Position dennoch grundlegende Fragen auf. Ein wesentlicher Punkt wird dabei von Günther selbst angesprochen (S. 246, Fn. 2), aber leider nicht weiter verfolgt. So erkennt er, dass die Merkmale der deliberativen Person „selbstverständlich ihrerseits begründungsbedürftig“ sind. Wenn also Günther für die deliberative Person die Kritikfähigkeit als entscheidend ansieht, so bleibt offen, warum er legitimerweise eine entsprechende Zuschreibung überhaupt meint vornehmen zu können und warum gerade die Kritikfähigkeit als die zentrale Fähigkeit ausgewiesen wird. Diese Frage stellt sich gerade auch, da der deliberative Personenbegriff zugleich umfassen soll, dass sich die Person als Quelle ihrer Handlungen und Äußerungen betrachten kann und auch von Dritten so betrachtet werden soll. Damit wird der Sache nach freiheitliches Handeln der Person – wenngleich in einer uminterpretierten Form – vorausgesetzt, obwohl doch gerade die Freiheit aus ihrer traditionell zentralen Rolle bei der Legitimation von Normen und strafrechtlicher Verantwortung bewusst herausgelöst werden sollte. Vor einem ganz ähnlichen Problem steht man m. E. auch bei der Begründung für die Notwendigkeit eines höherstufigen Personenbegriffs. Dass ein solcher höherstufiger, die Faktizität der Zurechnung eingrenzender Personenbegriff überhaupt erforderlich sein soll, wird von Günther ohne wirklich eingehende Begründung angenommen. Er belässt es lediglich bei dem Hinweis, dass es ein entsprechendes Selbstverständnis der Personen zu geben scheine und dass sich auch bei den empirischen Zurechnungstheorien Hinweise auf Unauthenticated 118 (2006) Heft 1 Download DateZStW | 3/29/16 11:38 AM 226 Buchbesprechungen eine Legitimationsgrundlage als Bezugsmaßstab finden lassen. Angesichts der Tatsache, dass die Willensfreiheit als Zurechnungsgrundlage im Rahmen der Einleitung mit nur knappen Hinweisen ausgeschlossen wurde, wären hier eigentlich gewichtigere Gründe erforderlich. Dies umso mehr, als Günther immer wieder mit Begriffen arbeitet, die gerade auch in einer freiheitlichen Rechtsbegründung wesentlich sind, wenngleich er sie jedoch im Hinblick auf die Legitimation durch Verfahren in ihrem Gehalt partiell uminterpretiert. So steht auch bei ihm die Notwendigkeit im Zentrum, dass sich die Staatsbürger wechselseitig als freie und gleiche Rechtspersonen anerkennen. Wesentlich sollen demnach sein: wechselseitige Anerkennung, Freiheit und Gleichheit. Angesichts dieser Situation drängt sich die Frage nach den Unterschieden und den Vorteilen der Konzeption einer deliberativen Person im Vergleich zu einer Begründung der Legitimität von Rechtsnormen auf der Grundlage der Autonomie der Person unmittelbar auf. Günther geht dieser ganz wesentlichen Frage leider nicht nach und belässt es bei einer Vorfeldabgrenzung im Rahmen der Einleitung. Damit zeigt sich, dass eine wirklich eigenständige Begründung der Legitimität ausschließlich aus der Art des Verfahrens letztlich nicht gelungen ist. Eine Begründung allein aus einem Verfahren, ohne die Einbeziehung von Freiheit und Gleichheit, ohne „idealisierenden Bedingungen“ scheint nicht denkbar zu sein. So gerät die Verfahrensbegründung in Abhängigkeit von idealen Setzungen, von denen sie sich eigentlich lösen wollte und die sie zugleich in ihrer Bedeutung nicht voll aufnimmt. Dies zeigt sich insbesondere an der inhaltlichen Verschiebung der Freiheit ins Kommunikative. Damit erfolgt nicht nur die Ablösung unvollständig, sondern zugleich wird ein intersubjektives Element zum Kernpunkt des Subjekts erhoben und damit die eigentliche Substanz des Subjekts verkannt. Am Ende soll aber noch einmal betont werden, dass das Bemühen Günthers um eine Weiterentwicklung der individuellen Schuldzurechnung trotz offener Fragen und auch kritischen Einwänden hoch zu schätzen ist und eine Befassung mit seiner Arbeit in jedem Fall gewinnbringend ist. Brigitte Kelker, Tübingen ZStW 118 (2006) Heft 1 Unauthenticated Download Date | 3/29/16 11:38 AM
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