SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Glauben BEIT NOAH WO JUNGE PALÄSTINENSER MIT HANDICAP ISRAELIS TREFFEN VON TORSTEN TEICHMANN SENDUNG 28.03.2016 / 12.05 UHR Redaktion Religion, Kirche und Gesellschaft Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR SWR2 Glauben können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/glauben.xml Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de Atmo Beit Noah Regen Ein Oktober am See Genezareth. Ein Junge trommelt. Die anderen Kinder tanzen. Regen prasselt dazu auf das Vordach. Regen nach einem langen trockenen Sommer. Die Stimmung ist entsprechend ausgelassen. Die Gäste sind junge Palästinenser und junge Israelis. Es sind Kinder mit Behinderung. Kinder wie Daniel und Mohammed: OT Mohammed Ich mag die Natur hier. Das war das erste Mal, dass ich den See gesehen habe. Denn ich komme aus einem Ort, in dem es kein Gewässer gibt. Ich will hier gar nicht weg. OT Daniel VO Es macht Spaß allein ohne die Familie und mit den Freunden. Es ist interessant etwas Neues kennen zu lernen und dabei neue Freunde zu finden. Drei Tage haben sie gemeinsam am See Genezareth in Israel verbracht. Ganz ohne ihre Eltern, erklärt Paul Nordhausen. Nordhausen ist Sonderpädagoge. Der Deutsche lebt und arbeitet seit bald sechs Jahren in Israel. Paul1 dt. Wir sind hier im Beit Noah in Tabgha. Das Ganze ist eine Begegnungsstätte, das kann man im Moment gut beobachten. […] Wir arbeiten vor allem mit Volontären und richten uns an Behinderten-Gruppen aus der Region, israelisch, wie palästinensisch. Atmo Kinder spiele Die Begegnungsstätte Beit Noah in Tabgha gehört zum Kloster der Benediktiner Mönche; direkt am Westufer des Sees gelegen, in unmittelbarer Nähe der Brotvermehrungskirche. Der Überlieferung nach ist das der Ort, an dem Jesus mit fünf Broten und zwei Fischen 5000 Männer, deren Frauen und Kinder versorgt haben soll. Und dort ist auch jetzt möglich, wozu das übrige Land kaum mehr in der Lage ist: Die Begegnungen von Israelis und Palästinensern. Allerdings ist die Arbeit schwerer geworden: Nach Wochen mit Messerattacken, tödliche Anschläge von Palästinensern 2 und Gewalt der israelischen Armee wachsen Angst und Misstrauen. Erste palästinensische Gruppen haben Begegnung im Beit Noah abgesagt. Paul Nordhausen macht sich deshalb auf den Weg ins Westjordanland. Auch um für die Begegnungsstätte zu werben. Atmo Wechsel auf Ramallah Ramallah im Februar. Die palästinensische Stadt nördlich von Jerusalem hat 35-tauend Einwohner. Sie ist das politische Zentrum im von Israel besetzten Westjordanland. Der palästinensische Präsident Abbas hat dort seinen Sitz. Es gibt Ministerien. Die Deutschen und andere Nationen sind mit Gesandten in Ramallah vertreten. Auch ohne Staat Palästina sind staatliche Strukturen entstanden. Vor einem Hotel der Innenstadt wartet Sonderpädagoge Nordhausen. Der Deutsche trägt einen dunklen Wollpullover, eine Daunenweste und eine Wollmütze gegen den Februarwind. Es ist kalt, aber Nordhausen ist verabredet. Er will Projekte für junge Palästinenser mit Handicap besuchen. Er will sehen, wie sie leben, wenn sie nicht bei ihm in Tabgha sind: OT Nordhausen / Abu Gosh erste Familie / wichtig das Zuhause zu sehen Für mich und für meine Arbeit ist das extrem wichtig. Denn wenn ich nur die Kinder in Tabgha sehe, dann sehe ich glückliche Kinder im Pool spielen. Wenn ich nicht begreife wo die herkommen und was ihre Geschichte ist, dann kann ich auch nicht adäquat auf die reagieren, falls es nötig ist. (...) Atmo Begrüßung mit Majdaaa Majdaa Abu Gosh hat versprochen ihn einen Tag lang mitzunehmen. Mit einem alten Ford Focus fegt die Sozialarbeiterin über die Dörfer nordwestlich von Ramallah. Die Straßen sind schmal. Sogenannte Speedbumps, gegossene Asphaltwellen im Straßenbelag zwingen sie immer wieder abzubremsen. Der Wagen beginnt zu dampfen. Die Sozialarbeiterin hat ihr ganz eigenes Programm auf die Beine gestellt. Ihre Arbeit lässt sich verkürzt vielleicht so zusammenfassen: Majdaa Abu Gosh organisiert Hilfe, 3 Ausflüge und Betreuung. Und wenn nötig holt sie Kinder mit Behinderung auch aus Familien raus. Bei Müttern sei die Scham noch immer groß: OT Majidaa / Abu Ghosh unterwegs / Reaktion der Mütter auf behindertes Kind Einige von ihnen, fangen an zu weinen und andere denken, sie werden von Gott für eine böse Tat bestraft, die sie zuvor in ihrem Leben begangen haben. Weil es keine Programme und keine Einrichtungen gibt, wissen sie sich nicht zu helfen. Sie wissen nicht, wie sie den Bedürfnissen ihrer Kinder nachkommen können. Atmo Ankunft Die erste Station ist im Dorf Al Jib. Abu Gosh steigt aus dem Auto. Der Motor dampft noch immer. Die Palästinenserin trägt Stiefel, eine Hose mit Leopardenprint und eine schwere Jacke, dazu die Haare offen. Atmo Telefon/ Eintreten Bei der Familie öffnet niemand. Majdaa holt das Handy aus dem Wagen. Sie ruft einmal an. Ein zweites Mal. Ein Tor öffnet sich. Die ärmliche Wohnung dahinter hat zwei Zimmer. Die junge Frau wohnt zusammen mit ihrer Mutter und der älteren Schwester. OT Majidaa / Abu Gosh erste Familie / zu Karima Zuerst sprach Karima nicht, so dass Familie dachte, sie wäre taub. Sie wurde untersucht auf Gründe warum sie nicht sprechen kann, es wurde untersucht, ob sie hören kann oder nicht. Sie hatte Schwierigkeiten, zu sprechen. Mit dem Programm zeigt sie erste Fortschritte. Sie war kurz in der Schule aber sie hat dort nichts gelernt, da sie nicht sprechen konnte. Und weil sich niemand um sie kümmerte oder daran interessiert war, ihr Sonderunterricht zu geben. Atmo Hausaufgaben Madjda bittet Karima ihre Hausaufgaben zu suchen. Die junge Palästinenserin trägt einen violett gemusterten, bodenlangen Jilbab. Sie ist 22 Jahre alt und spricht kaum. In ihrem Heft sind einfache Rechenaufgaben. Eine Beschäftigung, die ihr die Sozialarbeiterin bei jedem Besuch aufträgt. 4 Karima macht Fortschritte, aber eigentlich bräuchte die junge Palästinenserin eine Gruppe mit anderen Jugendlichen, mit Aktivitäten an jedem Tag. Doch es gibt keine Angebote. Daheim beschäftigt sich niemand mit der 22-jährigen. Mutter und Schwester beschweren sich nur, wenn Karima vor lauter Langeweile laut wird. Atmo Mutter erzählt Auf dem Bett neben Karima liegt ihre Mutter halb aufrecht. Sie hatte einen Schlaganfall und ist nicht mehr auf die Beine gekommen. Die Sozialarbeiterin hat der Tochter beigebracht, der Mutter wie eine Pflegerin die Hände zu massieren. Das Kind bekomme in den Augen der Mutter so wieder einen Wert, sagt Abu Gosh. Das klingt hart. Das ist es für die Kinder auch. Ein Handicap gilt in der palästinensischen Gesellschaft immer noch als schwerer Makel. Vor allem wenn es um eine Heirat geht. Für Eltern wird es schwer selbst für die Geschwister Partner zu finden. Als der ältere Bruder von Karima das Haus verließ, war die Palästinenserin noch sehr klein. Ihr Handicap war kaum wahrzunehmen, erzählt ihre Schwester Nufuz. Dafür machte die Familie bei der Braut des Bruders, Süjoud eine andere Entdeckung: OT Mutter arabisch / Abu Gosh erste Familie 3 / Eheschließung, weil man Karima nichts ansah [`Sü‘joud Wir sind zu der Familie, um uns mit Sujoud zu verloben. Wir wussten nichts. Und die Familie von Sujoud hat uns erst an dem Tag erzählt, dass sie einen behinderten kleinen Bruder hat, damit wir es nicht von anderen erfahren. - Wir waren überrascht. Erst an dem Tag haben wir es erfahren. Aber an dem Tag war es zu spät. Ohne Schande hätte sich die Verlobung nicht mehr lösen lassen. Die Hochzeit fand statt. Aber für Nufuz, Karimas ältere Schwester gibt es mit 43 Jahren keine Aussicht mehr auf eine eigene Familie. So bleiben die drei Frauen in Al Jib unter sich – und nur Karima kommt ab und an raus. Atmo draußen 5 Bevor es im Auto zur nächsten Familie geht, steht Paul Nordhausen noch einen Moment vor dem Tor des Hauses in Al Jib OT Nordhausen / Abu Gosh erste Familie / wichtig das Zuhause zu sehen (...) Die Zustände sind in manchen Familien einfach brutal, das kann man sich nach unseren westlichen Maßstäben gar nicht vorstellen. […] Diese Ablehnung kann man nicht anders beschreiben, als dass die hier Normalität ist. Das zu sehen, ist nicht leicht aber muss man wenn man wirklich hier mit Behinderten arbeiten will, muss man das auch verstehen und man muss sich das angucken. Der Motor des alten Ford springt sofort an. Es ist schon ein enormer Schritt, dass die palästinensische Sozialarbeiterin Majidaa Abu Gosh überhaupt Gäste zu ihren Hausbesuchen mitbringen kann. Dabei sei es selbst für sie manchmal schwer, das Vertrauen der Familien zu gewinnen, erinnert sich die Palästinenserin an einen jungen mit Namen Rabach OT Majidaa / Abu Gosh erste Familie 2 / Anfänge Rabah [Ra’bach] wie der Bach Mir wurde gesagt, Majida, es gibt ein behindertes Kind, nicht weit von hier. Wir können ihn besuchen fahren und sehen, ob wir ihm helfen können. Damals war er ungefähr 4 Jahre alt. Wir sind also dorthin gefahren. Die Familie besitzt Schafe, er saß draußen neben seiner Großmutter und vor lauter Dreck konnte ich sein Gesicht nicht erkennen. - Wir hatten damals eine Tagespflege eröffnet. Der Junge begann besser zu laufen und zu reden. Er wurde „Klassenbester“ in seiner Gruppe. Aber Rabahs Familie hat ihn nicht immer gut unterstützt. Bis ich herausfand, dass sie Rabah für die Arbeit mit Schafen und für harte Arbeit im Haus brauchten. Rabah bekam schließlich solche Wut, dass die Familie es mit der Angst zu tun bekam und seinen Wünschen nach Förderung stattgab. Lügt niemals Eure Kinder an, sie sind clever, sagt Majdaa Abu Gosh. Anfang Abu Tarek 6 Bei der zweiten Station, bei Familie Abu Tarek ist von Anfang an große Offenheit zu spüren. Tochter Dua’a hatte bei der Geburt zu wenig Sauerstoff bekommen. Die Folgen waren ernst und erschweren ihr das Leben. OT Mädchen mit Handicap Dua‘a / Abu Gosh zweite Familie 2 / vermisst ihre Schwester Es gibt niemanden, mit dem ich meine Probleme teilen kann. Und deswegen bleib ich im Haus. Und daran habe ich mich mittlerweile gewöhnt. Vater Abu Tarek erzählt, dass sie mit einem Film über Dua’a versuchen, andere Familien und die Schule am Ort zu überzeugen. Überzeugen davon, dass Dua’a in den Unterricht zurückkehren kann: OT Vater arabisch / Abu Gosh zweite Familie / Versuch beim Schuldirektor Ich habe mich neulich mit der Direktorin der Schule getroffen. Die Direktorin hat mir erzählt, das Dua’a viele Schwierigkeiten hatte. Aber sie war bereit, sie am Anfang des Jahres aufzunehmen. Aber dann habe ich gesagt, mein Thema ist nicht nur Dua’a. Wir haben einfach viele andere Kinder wie Dua’a. Und das Beste wäre ein eigenes Klassezimmer für solche Kinder. Dorthin kommen sie kurz nach Schulanfang und erst wenn alle anderen Kinder weg sind, werden sie abgeholt. Die Angst vor Schikane und Mobbing der anderen Schüler muss riesig sein. Anders ist der Satz nicht zu verstehen. Abu Tarek will das Schulprojekt keine Spenden. Er verlangt, man müsse anfangen, etwas aufzubauen. Erst wenn Du baust, glauben Dir die Menschen, dass Du es ernst meinst, sagt der Vater von drei Kindern. Es fehlen aber nicht nur Verständnis und Vertrauen in der palästinensischen Gesellschaft – die könnten wachsen. Es fehlen vor allem sämtliche Strukturen bei den Kommunen und den staatlichen Organen. Alles muss privat organisiert werden. Ein weiteres Beispiel dafür ist das Al Basma Zentrum in Beit-Sahour nahe Bethlehem, das Paul Nordhausen am Tag zuvor besucht hatte. OT Nordhausen Beit Sahour Basma Center dt. 7 Wir sind jetzt im Al Basma Center, das ist ein Daycare Center für circa dreißig behinderte Jugendliche oder junge Erwachsene. Die arbeiten unter dem Schirm der Arab Womens Union. Das ist ungewöhnlich, dass in der Leitung von dieser Organisation tatsächlich nur christliche Frauen sind. Das findet man nicht so häufig und die Stimmung finde ich in diesem Center wirklich besonders, weil das ein sehr kleines und familiäres Center ist und die Leute sehen sich wirklich jeden Tag und machen dann alles zusammen und das ist für jeden eine sehr schöne Stimmung. Atmo Basma Center Begrüßung Viertel nach acht kommen die ersten palästinensischen Jugendlichen an. Abdel Ahmad und Zar sind die ersten an diesem Morgen. Sie begrüßen Gäste ausgelassen. Die Leiterin Basma Jiakama nimmt Paul Nordhausen mit in die Küche. Basma ist beinahe zwei Köpfe kleiner als Nordhausen. Den Mantel hat sie im Büro gelassen, das braun-karierte Tuch aber bleibt um den Hals. Die Haare sind dunkel und wellig, ihr Blick neugierig. In der Küche beginnt Basma ihren Arbeitstag mit ihrer Kollegin Jamla mit einem gemeinsamen Frühstück. Das ist Routine. Die ist wichtig. Doch bis dahin war es ein langer Weg, erzählt Basma: OT Basma, Hygiene Als ich mit Jamla als Freiwillige anfing, haben wir uns im ersten Monat ungefähr hundert Mal am Tag unsere Hände gewaschen. Ich wusch meine Hände nachdem ich einen Schüler angefasst hatte, ich wusch meine Hände nachdem ich den Tisch angefasst hatte. Aber mit jedem Tag haben wir mehr Gefallen an unserer Arbeit und unseren Schülern gefunden. Am Anfang waren sie halt so schmutzig. Ich erinnere mich, dass eine Schülerin sehr schmutzig war, weil sie mit den Tieren lebte. Wir begannen, sie jeden Tag zu duschen und dann mit ihr zu arbeiten. Die Arbeit wurde leichter und angenehmer. Atmo Arbeiten Die Jugendlichen im Al Basma Center lernen Handarbeit. So nennt Basma die Aufgaben. Dazu gehört eine Art kleine Hotelschule. Eine Gruppe übt den Tisch zu decken. Und 8 Jamla leitet in einem anderen Raum zwei junge Palästinenser an, die Decken mit Bettbezügen zu beziehen. OT Basma, Kinder machen Betten auch zuhause Jamla bringt ihnen bei, die Betten zu machen. Denn wir haben auch ein Gästehaus. Wenn wir fünf Schülern beibringen Betten zu machen, können sie für die Touristen arbeiten. Für die Kinder ist es etwas Neues. Aber am Ende sind sie erfolgreich und das ist unser Ziel. (Atmo Applaus). Die Überlegung dabei: Sobald junge Palästinenser mit Behinderung daheim helfen können, empfindet die Familie sie nicht länger nur als Belastung. Dass die Jugendlichen mit der Arbeit einmal für sich selbst sorgen können, daran ist nicht zu denken. Das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben kennt die palästinensische Gesellschaft offenbar noch nicht, wenn es um Jugendliche mit Handicap geht: OT Basma / Beit Sahour / Kinder bleiben für immer Die Kinder werden hier ausgebildet. Das sollte nicht länger als 2-3 Jahre dauern. Die Kinder bleiben aber für immer. Denn wenn ich eines der Kinder bitte, das Zentrum zu verlassen, wird es auf der Straße landen, da niemand mit ihm arbeiten kann. Atmo Abed singt In einem anderen Zimmer singt Abed. Er arbeitet dabei an einem Webstuhl. Er knüpft aus Stoffbändern und Wolle einen Wandteppich. Für ihn sind die Vormittage bei Basma Abwechslung vom Alltag daheim: OT Abed im Basma Center Mein Leben ist reine Schikane. Ich sitze seit Jahren nur im Haus. Ich gehe nicht raus. Ich komme jeden Morgen hierher. Aber wenn ich zuhause bin, kann ich kaum schlafen. Ich bin mal oben, mal unten im Haus. Aber mir ist einfach langweilig, ich habe nichts zu tun. Genau. 9 Der jährliche Besuch in der Begegnungsstätte in Tabgha ist für ihn und die anderen deshalb auch immer Erholung. Ein Ziel dass für sie das gesamte Jahr über Bedeutung hat. Viele von ihnen erkennen Paul Nordhausen als er sich in das Zimmer mit den Webstühlen setzt. OT Basma, Beit Sahour, Tiberias auch gut für Mütter Sie können sich nicht vorstellen, wie sich die Schüler freuen, wenn sie IHN sehen, denn er erinnert sie an Tiberias. Tiberias ist wie ein Traum für sie. Dort können sie schwimmen und alles essen, was sie mögen - und viel davon. Sie genießen es zusammen zu sein. Es ist auch gut für die Mütter. Anfangs erzählen sie nicht viel von sich selbst. Aber Jahr für Jahr lernen sie sich besser kennen, werden Freunde und erzählen einander ihre Geheimnisse. Für die Ausflüge nach Tabgha in Israel muss Basma Genehmigungen bei der israelischen Militärverwaltung beantragen. Israel entscheidet, wer fahren darf und wer nicht. Sie werde jedes Mal nervös, sagt Basma. Denn wird auch nur einer ihrer Schüler abgelehnt, weil der Vater zum Beispiel in Israel im Gefängnis sitzt, droht die gesamte Reise zu platzen. Sie könne doch niemand allein zurücklassen? Völlig unverständlich wird es zunächst, wenn sich die palästinensische Autonomie gegen die Begegnung sperrt. Die Palästinenser fürchten, die Welt könnte sich an den gegenwärtigen Zustand gewöhnen. Also an die israelische Besatzung des Westjordanlands, an die Gewalt dort und die Ungleichheit. Atmo Beit Noah Oktober Die politischen Konflikte sind beim Besuch im Haus Noah am See Genezareht nichts zu spüren. Dort herrscht Ferienlagerstimmung für alle Kinder. Zum Beispiel als sie Steine sammeln und bemalen. Einige in den israelischen Nationalfarben, andere mit einer palästinensischen Flagge. Burkhard Schunkert kommt regelmäßig mit palästinensischen Kindern nach Tabgha. Der Deutsche hat die Reha-Einrichtung LifeGate in Beit-Jala im Westjordanland gegründet. Und er hat festgestellt, dass Jugendlichen mit Behinderung die Verständigung vielleicht sogar leichter fällt. 10 Burkhard Schunkert dt Behinderte Menschen, an denen vermutlich diese ganz einseitige Erziehung, der Aufbau von Feinbildern, der schon in der normalen Schule leider beginnt, ist an ihnen so ein wenig vorbei gegangen. Aufgrund geistiger Einschränkungen, Aufgrund das sie in Behinderteneinrichtungen groß geworden sind und deshalb ist eine Offenheit da, auf andere Menschen zuzugehen. Nur die Betreuer hätten in den Anfangsjahren Schwierigkeiten gehabt, auf einander zuzugehen. Politik, Umwelt und Vorurteile scheinen sie im Umgang miteinander stärker zu behindern als ihre Schützlinge. Der deutsche Leiter der Begnungsstätte hofft, dass auch in diesem Jahr wieder alle Gruppen nach Tabgha kommen können. Das es eine christliche Einrichtung ist, sei kein Zufall. Das sei ihm auch bei der Fahrt über die Dörfer im Westjordanland aufgefallen, erklärt Nordhausen in Beit Sahour Basma Jiakama. OT Nordhausen / Beit Sahour / christlich Nächstenliebe In fast jeder Organisation, die ich hier besuche, ist die Führung christlich, die Mehrheit der Schüler sind aber Moslems. Ich glaube dahinter steckt eine lange Tradition des christlichen Glaubens, anderen zu helfen. Ich glaube wirklich, dass es damit verbunden ist. ABER ich kann auch beobachten, dass in den letzten Jahren das Bewusstsein innerhalb der moslemischen Gesellschaft gewachsen ist. Es wächst langsam, aber es wächst. Zu verdanken ist die Veränderung Frauen wie Basma und Majdaa. Sie übernehmen Aufgaben, vor denen sich die palästinensische Gesellschaft drückt - und allen voran die palästinensische Führung. Die Frauen sind ein viel besserer Gradmesser für den Aufbau einer palästinensischen Gesellschaft als die vielen Hochhäuser, Botschaften und Ministerien in der Stadt Ramallah. Präsident Abbas habe das Al-Basma Center in Beit Sahour besucht, erzählt deren Leiterin. Er habe Geld gespendet. Einmal. Aber ihre Organisation brauche regelmäßige Unterstützung. Gerade fehlt das Geld für einen neuen großen Bus. Der Bus holt die 11 Kinder von ihren Familien ab, fährt sie zu Ausflügen. Die Reparaturkosten des alten Mercedes fressen die Zuwendungen auf, klagt Basma. Atmo Ramallah Zum Abschluss noch eine Geschichte von Majdaa Abu Gosh und ihrem Programm. Sie fährt mit ihren Jugendlichen nie allein nach Tabgha. Sie nimmt auch jedes Jahr zusätzlich Freiwillige mit an den See Genezareth. Das können Nachbarn sein oder Freunde der Kinder. Und manchmal auch der eigene Bruder, wie im Fall von Tarek und Imad. Tarek arbeitet in der Küche eines Cafès in Ramallah. Er wird Koch, Tellerwäscher war er schon. Der 21jährige spricht in Gegenwart der Sozialarbeiterin ganz offen. Er habe seinen behinderten Bruder Imad früher nur schwer ertragen. Das Verhältnis der beiden hat sich seit der Arbeit mit Majdaa Abu Gosh aber komplett verändert: OT Freiwilliger Bruder arabisch / Abu Gosh Freiwilliger - Bruder eines Behinderten Der liebt mich mehr als meine Mutter. Ich hatte ihn neulich gefragt, wen magst du mehr, mich oder die Mutter? Da sagte er: Dich. Vor zwei Tagen hatte ich Streit mit meinem Vater seinetwegen. Und meine Mutter wurde eifersüchtig. Ich bin stolz drauf, dass mein Bruder mich sehr liebt. Tarek erzählt, wie er für seinen Bruder einsteht. Und das es nötig ist. OT Bruder 3 Wenn ich beobachte, dass ein behindertes Kind von anderen beleidigt oder geschlagen wird, wenn sie ihm Zigaretten anbieten, dann mische ich mich ein und trenne sie. Und manchmal gibt es eine Schlägerei. Freundschaften seien daran zerbrochen. Mit einem Kumpel habe sich so gefetzt, dass der eine mit einem gebrochenen Finger endete. Der andere mit Wunden und Schrammen im Gesicht. Aber das scheint Tarek unangenehm, im Detail mag er nicht öffentlich darüber sprechen. OT Bruder 2 12 Die Menschen müssen erkennen, dass dieses Kind ein normales Kind ist. Sie müssen mit ihm ganz normal umgehen und nicht wie mit einem Behinderten. Tarek sucht nun nach einer Frau für seinen Bruder. Damit Imad versorgt ist, aber damit auch er, Tarek irgendwann einmal heiraten kann. Sein Gefühl für Verantwortung geht weit über das normale Maß hinaus. Tarek muss das tun. Denn er weiß, wenn er sich nicht kümmert, sorgt niemand für seinen Bruder. 13
© Copyright 2024 ExpyDoc