SWR2 Glauben BEIT NOAH

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Glauben
BEIT NOAH
WO JUNGE PALÄSTINENSER MIT HANDICAP ISRAELIS
TREFFEN
VON TORSTEN TEICHMANN
SENDUNG 28.03.2016 / 12.05 UHR
Redaktion Religion, Kirche und Gesellschaft
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Atmo Beit Noah Regen
Ein Oktober am See Genezareth. Ein Junge trommelt. Die anderen Kinder tanzen. Regen
prasselt dazu auf das Vordach. Regen nach einem langen trockenen Sommer. Die
Stimmung ist entsprechend ausgelassen. Die Gäste sind junge Palästinenser und junge
Israelis. Es sind Kinder mit Behinderung. Kinder wie Daniel und Mohammed:
OT Mohammed
Ich mag die Natur hier. Das war das erste Mal, dass ich den See gesehen habe. Denn
ich komme aus einem Ort, in dem es kein Gewässer gibt. Ich will hier gar nicht weg.
OT Daniel VO
Es macht Spaß allein ohne die Familie und mit den Freunden. Es ist interessant
etwas Neues kennen zu lernen und dabei neue Freunde zu finden.
Drei Tage haben sie gemeinsam am See Genezareth in Israel verbracht. Ganz ohne ihre
Eltern, erklärt Paul Nordhausen. Nordhausen ist Sonderpädagoge. Der Deutsche lebt und
arbeitet seit bald sechs Jahren in Israel.
Paul1 dt.
Wir sind hier im Beit Noah in Tabgha. Das Ganze ist eine Begegnungsstätte, das
kann man im Moment gut beobachten. […] Wir arbeiten vor allem mit Volontären
und richten uns an Behinderten-Gruppen aus der Region, israelisch, wie
palästinensisch.
Atmo Kinder spiele
Die Begegnungsstätte Beit Noah in Tabgha gehört zum Kloster der Benediktiner
Mönche; direkt am Westufer des Sees gelegen, in unmittelbarer Nähe der
Brotvermehrungskirche. Der Überlieferung nach ist das der Ort, an dem Jesus mit fünf
Broten und zwei Fischen 5000 Männer, deren Frauen und Kinder versorgt haben soll.
Und dort ist auch jetzt möglich, wozu das übrige Land kaum mehr in der Lage ist: Die
Begegnungen von Israelis und Palästinensern. Allerdings ist die Arbeit schwerer
geworden: Nach Wochen mit Messerattacken, tödliche Anschläge von Palästinensern
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und Gewalt der israelischen Armee wachsen Angst und Misstrauen. Erste
palästinensische Gruppen haben Begegnung im Beit Noah abgesagt. Paul Nordhausen
macht sich deshalb auf den Weg ins Westjordanland. Auch um für die Begegnungsstätte
zu werben.
Atmo Wechsel auf Ramallah
Ramallah im Februar. Die palästinensische Stadt nördlich von Jerusalem hat 35-tauend
Einwohner. Sie ist das politische Zentrum im von Israel besetzten Westjordanland. Der
palästinensische Präsident Abbas hat dort seinen Sitz. Es gibt Ministerien. Die Deutschen
und andere Nationen sind mit Gesandten in Ramallah vertreten. Auch ohne Staat
Palästina sind staatliche Strukturen entstanden.
Vor einem Hotel der Innenstadt wartet Sonderpädagoge Nordhausen. Der Deutsche
trägt einen dunklen Wollpullover, eine Daunenweste und eine Wollmütze gegen den
Februarwind. Es ist kalt, aber Nordhausen ist verabredet. Er will Projekte für junge
Palästinenser mit Handicap besuchen. Er will sehen, wie sie leben, wenn sie nicht bei
ihm in Tabgha sind:
OT Nordhausen / Abu Gosh erste Familie / wichtig das Zuhause zu sehen
Für mich und für meine Arbeit ist das extrem wichtig. Denn wenn ich nur die Kinder
in Tabgha sehe, dann sehe ich glückliche Kinder im Pool spielen. Wenn ich nicht
begreife wo die herkommen und was ihre Geschichte ist, dann kann ich auch nicht
adäquat auf die reagieren, falls es nötig ist. (...)
Atmo Begrüßung mit Majdaaa
Majdaa Abu Gosh hat versprochen ihn einen Tag lang mitzunehmen. Mit einem alten
Ford Focus fegt die Sozialarbeiterin über die Dörfer nordwestlich von Ramallah. Die
Straßen sind schmal. Sogenannte Speedbumps, gegossene Asphaltwellen im
Straßenbelag zwingen sie immer wieder abzubremsen. Der Wagen beginnt zu dampfen.
Die Sozialarbeiterin hat ihr ganz eigenes Programm auf die Beine gestellt. Ihre Arbeit
lässt sich verkürzt vielleicht so zusammenfassen: Majdaa Abu Gosh organisiert Hilfe,
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Ausflüge und Betreuung. Und wenn nötig holt sie Kinder mit Behinderung auch aus
Familien raus. Bei Müttern sei die Scham noch immer groß:
OT Majidaa / Abu Ghosh unterwegs / Reaktion der Mütter auf behindertes Kind
Einige von ihnen, fangen an zu weinen und andere denken, sie werden von Gott für
eine böse Tat bestraft, die sie zuvor in ihrem Leben begangen haben. Weil es keine
Programme und keine Einrichtungen gibt, wissen sie sich nicht zu helfen. Sie wissen
nicht, wie sie den Bedürfnissen ihrer Kinder nachkommen können.
Atmo Ankunft
Die erste Station ist im Dorf Al Jib. Abu Gosh steigt aus dem Auto. Der Motor dampft
noch immer. Die Palästinenserin trägt Stiefel, eine Hose mit Leopardenprint und eine
schwere Jacke, dazu die Haare offen.
Atmo Telefon/ Eintreten
Bei der Familie öffnet niemand. Majdaa holt das Handy aus dem Wagen. Sie ruft einmal
an. Ein zweites Mal. Ein Tor öffnet sich. Die ärmliche Wohnung dahinter hat zwei
Zimmer. Die junge Frau wohnt zusammen mit ihrer Mutter und der älteren Schwester.
OT Majidaa / Abu Gosh erste Familie / zu Karima
Zuerst sprach Karima nicht, so dass Familie dachte, sie wäre taub. Sie wurde
untersucht auf Gründe warum sie nicht sprechen kann, es wurde untersucht, ob sie
hören kann oder nicht. Sie hatte Schwierigkeiten, zu sprechen. Mit dem Programm
zeigt sie erste Fortschritte. Sie war kurz in der Schule aber sie hat dort nichts
gelernt, da sie nicht sprechen konnte. Und weil sich niemand um sie kümmerte oder
daran interessiert war, ihr Sonderunterricht zu geben.
Atmo Hausaufgaben
Madjda bittet Karima ihre Hausaufgaben zu suchen. Die junge Palästinenserin trägt
einen violett gemusterten, bodenlangen Jilbab. Sie ist 22 Jahre alt und spricht kaum. In
ihrem Heft sind einfache Rechenaufgaben. Eine Beschäftigung, die ihr die
Sozialarbeiterin bei jedem Besuch aufträgt.
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Karima macht Fortschritte, aber eigentlich bräuchte die junge Palästinenserin eine
Gruppe mit anderen Jugendlichen, mit Aktivitäten an jedem Tag. Doch es gibt keine
Angebote. Daheim beschäftigt sich niemand mit der 22-jährigen. Mutter und Schwester
beschweren sich nur, wenn Karima vor lauter Langeweile laut wird.
Atmo Mutter erzählt
Auf dem Bett neben Karima liegt ihre Mutter halb aufrecht. Sie hatte einen Schlaganfall
und ist nicht mehr auf die Beine gekommen. Die Sozialarbeiterin hat der Tochter
beigebracht, der Mutter wie eine Pflegerin die Hände zu massieren.
Das Kind bekomme in den Augen der Mutter so wieder einen Wert, sagt Abu Gosh. Das
klingt hart. Das ist es für die Kinder auch. Ein Handicap gilt in der palästinensischen
Gesellschaft immer noch als schwerer Makel. Vor allem wenn es um eine Heirat geht.
Für Eltern wird es schwer selbst für die Geschwister Partner zu finden. Als der ältere
Bruder von Karima das Haus verließ, war die Palästinenserin noch sehr klein. Ihr
Handicap war kaum wahrzunehmen, erzählt ihre Schwester Nufuz. Dafür machte die
Familie bei der Braut des Bruders, Süjoud eine andere Entdeckung:
OT Mutter arabisch / Abu Gosh erste Familie 3 / Eheschließung, weil man Karima
nichts ansah [`Sü‘joud
Wir sind zu der Familie, um uns mit Sujoud zu verloben. Wir wussten nichts. Und die
Familie von Sujoud hat uns erst an dem Tag erzählt, dass sie einen behinderten
kleinen Bruder hat, damit wir es nicht von anderen erfahren. - Wir waren
überrascht. Erst an dem Tag haben wir es erfahren. Aber an dem Tag war es zu
spät.
Ohne Schande hätte sich die Verlobung nicht mehr lösen lassen. Die Hochzeit fand statt.
Aber für Nufuz, Karimas ältere Schwester gibt es mit 43 Jahren keine Aussicht mehr auf
eine eigene Familie. So bleiben die drei Frauen in Al Jib unter sich – und nur Karima
kommt ab und an raus.
Atmo draußen
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Bevor es im Auto zur nächsten Familie geht, steht Paul Nordhausen noch einen Moment
vor dem Tor des Hauses in Al Jib
OT Nordhausen / Abu Gosh erste Familie / wichtig das Zuhause zu sehen
(...) Die Zustände sind in manchen Familien einfach brutal, das kann man sich nach
unseren westlichen Maßstäben gar nicht vorstellen. […] Diese Ablehnung kann man
nicht anders beschreiben, als dass die hier Normalität ist. Das zu sehen, ist nicht
leicht aber muss man wenn man wirklich hier mit Behinderten arbeiten will, muss
man das auch verstehen und man muss sich das angucken.
Der Motor des alten Ford springt sofort an. Es ist schon ein enormer Schritt, dass die
palästinensische Sozialarbeiterin Majidaa Abu Gosh überhaupt Gäste zu ihren
Hausbesuchen mitbringen kann. Dabei sei es selbst für sie manchmal schwer, das
Vertrauen der Familien zu gewinnen, erinnert sich die Palästinenserin an einen jungen
mit Namen Rabach
OT Majidaa / Abu Gosh erste Familie 2 / Anfänge Rabah [Ra’bach] wie der Bach
Mir wurde gesagt, Majida, es gibt ein behindertes Kind, nicht weit von hier. Wir
können ihn besuchen fahren und sehen, ob wir ihm helfen können. Damals war er
ungefähr 4 Jahre alt. Wir sind also dorthin gefahren. Die Familie besitzt Schafe, er
saß draußen neben seiner Großmutter und vor lauter Dreck konnte ich sein Gesicht
nicht erkennen. - Wir hatten damals eine Tagespflege eröffnet. Der Junge begann
besser zu laufen und zu reden. Er wurde „Klassenbester“ in seiner Gruppe. Aber
Rabahs Familie hat ihn nicht immer gut unterstützt. Bis ich herausfand, dass sie
Rabah für die Arbeit mit Schafen und für harte Arbeit im Haus brauchten.
Rabah bekam schließlich solche Wut, dass die Familie es mit der Angst zu tun bekam
und seinen Wünschen nach Förderung stattgab. Lügt niemals Eure Kinder an, sie sind
clever, sagt Majdaa Abu Gosh.
Anfang Abu Tarek
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Bei der zweiten Station, bei Familie Abu Tarek ist von Anfang an große Offenheit zu
spüren. Tochter Dua’a hatte bei der Geburt zu wenig Sauerstoff bekommen. Die Folgen
waren ernst und erschweren ihr das Leben.
OT Mädchen mit Handicap Dua‘a / Abu Gosh zweite Familie 2 / vermisst ihre
Schwester
Es gibt niemanden, mit dem ich meine Probleme teilen kann. Und deswegen bleib
ich im Haus. Und daran habe ich mich mittlerweile gewöhnt.
Vater Abu Tarek erzählt, dass sie mit einem Film über Dua’a versuchen, andere Familien
und die Schule am Ort zu überzeugen. Überzeugen davon, dass Dua’a in den Unterricht
zurückkehren kann:
OT Vater arabisch / Abu Gosh zweite Familie / Versuch beim Schuldirektor
Ich habe mich neulich mit der Direktorin der Schule getroffen.
Die Direktorin hat mir erzählt, das Dua’a viele Schwierigkeiten hatte. Aber sie war
bereit, sie am Anfang des Jahres aufzunehmen. Aber dann habe ich gesagt, mein
Thema ist nicht nur Dua’a. Wir haben einfach viele andere Kinder wie Dua’a. Und
das Beste wäre ein eigenes Klassezimmer für solche Kinder. Dorthin kommen sie
kurz nach Schulanfang und erst wenn alle anderen Kinder weg sind, werden sie
abgeholt.
Die Angst vor Schikane und Mobbing der anderen Schüler muss riesig sein. Anders ist
der Satz nicht zu verstehen. Abu Tarek will das Schulprojekt keine Spenden. Er verlangt,
man müsse anfangen, etwas aufzubauen. Erst wenn Du baust, glauben Dir die Menschen,
dass Du es ernst meinst, sagt der Vater von drei Kindern.
Es fehlen aber nicht nur Verständnis und Vertrauen in der palästinensischen
Gesellschaft – die könnten wachsen. Es fehlen vor allem sämtliche Strukturen bei den
Kommunen und den staatlichen Organen. Alles muss privat organisiert werden. Ein
weiteres Beispiel dafür ist das Al Basma Zentrum in Beit-Sahour nahe Bethlehem, das
Paul Nordhausen am Tag zuvor besucht hatte.
OT Nordhausen Beit Sahour Basma Center dt.
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Wir sind jetzt im Al Basma Center, das ist ein Daycare Center für circa dreißig
behinderte Jugendliche oder junge Erwachsene. Die arbeiten unter dem Schirm der
Arab Womens Union. Das ist ungewöhnlich, dass in der Leitung von dieser
Organisation tatsächlich nur christliche Frauen sind. Das findet man nicht so häufig
und die Stimmung finde ich in diesem Center wirklich besonders, weil das ein sehr
kleines und familiäres Center ist und die Leute sehen sich wirklich jeden Tag und
machen dann alles zusammen und das ist für jeden eine sehr schöne Stimmung.
Atmo Basma Center Begrüßung
Viertel nach acht kommen die ersten palästinensischen Jugendlichen an. Abdel Ahmad
und Zar sind die ersten an diesem Morgen. Sie begrüßen Gäste ausgelassen. Die Leiterin
Basma Jiakama nimmt Paul Nordhausen mit in die Küche.
Basma ist beinahe zwei Köpfe kleiner als Nordhausen. Den Mantel hat sie im Büro
gelassen, das braun-karierte Tuch aber bleibt um den Hals. Die Haare sind dunkel und
wellig, ihr Blick neugierig. In der Küche beginnt Basma ihren Arbeitstag mit ihrer
Kollegin Jamla mit einem gemeinsamen Frühstück.
Das ist Routine. Die ist wichtig. Doch bis dahin war es ein langer Weg, erzählt Basma:
OT Basma, Hygiene
Als ich mit Jamla als Freiwillige anfing, haben wir uns im ersten Monat ungefähr
hundert Mal am Tag unsere Hände gewaschen. Ich wusch meine Hände nachdem
ich einen Schüler angefasst hatte, ich wusch meine Hände nachdem ich den Tisch
angefasst hatte. Aber mit jedem Tag haben wir mehr Gefallen an unserer Arbeit und
unseren Schülern gefunden. Am Anfang waren sie halt so schmutzig. Ich erinnere
mich, dass eine Schülerin sehr schmutzig war, weil sie mit den Tieren lebte. Wir
begannen, sie jeden Tag zu duschen und dann mit ihr zu arbeiten. Die Arbeit wurde
leichter und angenehmer.
Atmo Arbeiten
Die Jugendlichen im Al Basma Center lernen Handarbeit. So nennt Basma die Aufgaben.
Dazu gehört eine Art kleine Hotelschule. Eine Gruppe übt den Tisch zu decken. Und
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Jamla leitet in einem anderen Raum zwei junge Palästinenser an, die Decken mit
Bettbezügen zu beziehen.
OT Basma, Kinder machen Betten auch zuhause
Jamla bringt ihnen bei, die Betten zu machen. Denn wir haben auch ein Gästehaus.
Wenn wir fünf Schülern beibringen Betten zu machen, können sie für die Touristen
arbeiten. Für die Kinder ist es etwas Neues. Aber am Ende sind sie erfolgreich und
das ist unser Ziel. (Atmo Applaus).
Die Überlegung dabei: Sobald junge Palästinenser mit Behinderung daheim helfen
können, empfindet die Familie sie nicht länger nur als Belastung.
Dass die Jugendlichen mit der Arbeit einmal für sich selbst sorgen können, daran ist
nicht zu denken. Das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben kennt die palästinensische
Gesellschaft offenbar noch nicht, wenn es um Jugendliche mit Handicap geht:
OT Basma / Beit Sahour / Kinder bleiben für immer
Die Kinder werden hier ausgebildet. Das sollte nicht länger als 2-3 Jahre dauern.
Die Kinder bleiben aber für immer. Denn wenn ich eines der Kinder bitte, das
Zentrum zu verlassen, wird es auf der Straße landen, da niemand mit ihm arbeiten
kann.
Atmo Abed singt
In einem anderen Zimmer singt Abed. Er arbeitet dabei an einem Webstuhl. Er knüpft
aus Stoffbändern und Wolle einen Wandteppich. Für ihn sind die Vormittage bei Basma
Abwechslung vom Alltag daheim:
OT Abed im Basma Center
Mein Leben ist reine Schikane. Ich sitze seit Jahren nur im Haus. Ich gehe nicht raus.
Ich komme jeden Morgen hierher. Aber wenn ich zuhause bin, kann ich kaum
schlafen. Ich bin mal oben, mal unten im Haus. Aber mir ist einfach langweilig, ich
habe nichts zu tun. Genau.
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Der jährliche Besuch in der Begegnungsstätte in Tabgha ist für ihn und die anderen
deshalb auch immer Erholung. Ein Ziel dass für sie das gesamte Jahr über Bedeutung
hat. Viele von ihnen erkennen Paul Nordhausen als er sich in das Zimmer mit den
Webstühlen setzt.
OT Basma, Beit Sahour, Tiberias auch gut für Mütter
Sie können sich nicht vorstellen, wie sich die Schüler freuen, wenn sie IHN sehen,
denn er erinnert sie an Tiberias. Tiberias ist wie ein Traum für sie. Dort können sie
schwimmen und alles essen, was sie mögen - und viel davon. Sie genießen es
zusammen zu sein. Es ist auch gut für die Mütter. Anfangs erzählen sie nicht viel von
sich selbst. Aber Jahr für Jahr lernen sie sich besser kennen, werden Freunde und
erzählen einander ihre Geheimnisse.
Für die Ausflüge nach Tabgha in Israel muss Basma Genehmigungen bei der israelischen
Militärverwaltung beantragen. Israel entscheidet, wer fahren darf und wer nicht. Sie
werde jedes Mal nervös, sagt Basma. Denn wird auch nur einer ihrer Schüler abgelehnt,
weil der Vater zum Beispiel in Israel im Gefängnis sitzt, droht die gesamte Reise zu
platzen. Sie könne doch niemand allein zurücklassen?
Völlig unverständlich wird es zunächst, wenn sich die palästinensische Autonomie gegen
die Begegnung sperrt. Die Palästinenser fürchten, die Welt könnte sich an den
gegenwärtigen Zustand gewöhnen. Also an die israelische Besatzung des
Westjordanlands, an die Gewalt dort und die Ungleichheit.
Atmo Beit Noah Oktober
Die politischen Konflikte sind beim Besuch im Haus Noah am See Genezareht nichts zu
spüren. Dort herrscht Ferienlagerstimmung für alle Kinder. Zum Beispiel als sie Steine
sammeln und bemalen. Einige in den israelischen Nationalfarben, andere mit einer
palästinensischen Flagge. Burkhard Schunkert kommt regelmäßig mit palästinensischen
Kindern nach Tabgha. Der Deutsche hat die Reha-Einrichtung LifeGate in Beit-Jala im
Westjordanland gegründet. Und er hat festgestellt, dass Jugendlichen mit Behinderung
die Verständigung vielleicht sogar leichter fällt.
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Burkhard Schunkert dt
Behinderte Menschen, an denen vermutlich diese ganz einseitige Erziehung, der
Aufbau von Feinbildern, der schon in der normalen Schule leider beginnt, ist an
ihnen so ein wenig vorbei gegangen. Aufgrund geistiger Einschränkungen,
Aufgrund das sie in Behinderteneinrichtungen groß geworden sind und deshalb ist
eine Offenheit da, auf andere Menschen zuzugehen.
Nur die Betreuer hätten in den Anfangsjahren Schwierigkeiten gehabt, auf einander
zuzugehen. Politik, Umwelt und Vorurteile scheinen sie im Umgang miteinander stärker
zu behindern als ihre Schützlinge.
Der deutsche Leiter der Begnungsstätte hofft, dass auch in diesem Jahr wieder alle
Gruppen nach Tabgha kommen können. Das es eine christliche Einrichtung ist, sei kein
Zufall. Das sei ihm auch bei der Fahrt über die Dörfer im Westjordanland aufgefallen,
erklärt Nordhausen in Beit Sahour Basma Jiakama.
OT Nordhausen / Beit Sahour / christlich Nächstenliebe
In fast jeder Organisation, die ich hier besuche, ist die Führung christlich, die
Mehrheit der Schüler sind aber Moslems. Ich glaube dahinter steckt eine lange
Tradition des christlichen Glaubens, anderen zu helfen. Ich glaube wirklich, dass es
damit verbunden ist. ABER ich kann auch beobachten, dass in den letzten Jahren
das Bewusstsein innerhalb der moslemischen Gesellschaft gewachsen ist. Es wächst
langsam, aber es wächst.
Zu verdanken ist die Veränderung Frauen wie Basma und Majdaa. Sie übernehmen
Aufgaben, vor denen sich die palästinensische Gesellschaft drückt - und allen voran die
palästinensische Führung. Die Frauen sind ein viel besserer Gradmesser für den Aufbau
einer palästinensischen Gesellschaft als die vielen Hochhäuser, Botschaften und
Ministerien in der Stadt Ramallah.
Präsident Abbas habe das Al-Basma Center in Beit Sahour besucht, erzählt deren
Leiterin. Er habe Geld gespendet. Einmal. Aber ihre Organisation brauche regelmäßige
Unterstützung. Gerade fehlt das Geld für einen neuen großen Bus. Der Bus holt die
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Kinder von ihren Familien ab, fährt sie zu Ausflügen. Die Reparaturkosten des alten
Mercedes fressen die Zuwendungen auf, klagt Basma.
Atmo Ramallah
Zum Abschluss noch eine Geschichte von Majdaa Abu Gosh und ihrem Programm. Sie
fährt mit ihren Jugendlichen nie allein nach Tabgha. Sie nimmt auch jedes Jahr zusätzlich
Freiwillige mit an den See Genezareth. Das können Nachbarn sein oder Freunde der
Kinder. Und manchmal auch der eigene Bruder, wie im Fall von Tarek und Imad.
Tarek arbeitet in der Küche eines Cafès in Ramallah. Er wird Koch, Tellerwäscher war er
schon. Der 21jährige spricht in Gegenwart der Sozialarbeiterin ganz offen. Er habe
seinen behinderten Bruder Imad früher nur schwer ertragen. Das Verhältnis der beiden
hat sich seit der Arbeit mit Majdaa Abu Gosh aber komplett verändert:
OT Freiwilliger Bruder arabisch / Abu Gosh Freiwilliger - Bruder eines
Behinderten
Der liebt mich mehr als meine Mutter. Ich hatte ihn neulich gefragt, wen magst du
mehr, mich oder die Mutter? Da sagte er: Dich. Vor zwei Tagen hatte ich Streit mit
meinem Vater seinetwegen. Und meine Mutter wurde eifersüchtig. Ich bin stolz
drauf, dass mein Bruder mich sehr liebt.
Tarek erzählt, wie er für seinen Bruder einsteht. Und das es nötig ist.
OT Bruder 3
Wenn ich beobachte, dass ein behindertes Kind von anderen beleidigt oder
geschlagen wird, wenn sie ihm Zigaretten anbieten, dann mische ich mich ein und
trenne sie. Und manchmal gibt es eine Schlägerei.
Freundschaften seien daran zerbrochen. Mit einem Kumpel habe sich so gefetzt, dass der
eine mit einem gebrochenen Finger endete. Der andere mit Wunden und Schrammen im
Gesicht. Aber das scheint Tarek unangenehm, im Detail mag er nicht öffentlich darüber
sprechen.
OT Bruder 2
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Die Menschen müssen erkennen, dass dieses Kind ein normales Kind ist. Sie müssen
mit ihm ganz normal umgehen und nicht wie mit einem Behinderten.
Tarek sucht nun nach einer Frau für seinen Bruder. Damit Imad versorgt ist, aber damit
auch er, Tarek irgendwann einmal heiraten kann. Sein Gefühl für Verantwortung geht
weit über das normale Maß hinaus. Tarek muss das tun. Denn er weiß, wenn er sich
nicht kümmert, sorgt niemand für seinen Bruder.
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