Interview mit Wiltrud Gieseke, Professorin an der

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Interview mit Wiltrud Gieseke, Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin
Gut beraten – handlungsfähig bleiben
Das Angebot auf dem Weiterbildungsmarkt ist groß und für den Einzelnen mittlerweile
unüberschaubar geworden. Beratung tut also not. Aber Vorsicht: Bildungsberatung darf
keine Entscheidungen strukturieren. Sie sollte immer die subjektiven Interessen und
Bedürfnisse der Individuen ausmachen und unterstützen. Das bedeutet, die Ratsuchenden in ihrer Autonomie zu stärken und nicht von der Beratung abhängig zu machen.
Prof. Dr. Wiltrud Gieseke,
Seniorprofessorin,
Humboldt Universität
zu Berlin, Kultur-, Sozialund Bildungswissenschaftliche Fakultät, Institut für
Erziehungswissenschaften,
Abteilung Erwachsenenbildung/Weiterbildung
wiltrud.gieseke@
cms.hu-berlin.de
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Weiterbildung: Wenn man sich die enorm hohe Anzahl
an professionellen Beraterinnen und Beratern oder
Coaches derzeit ansieht: Gibt es in unserer Gesellschaft
eigentlich einen Zwang zu Beratung?
Wiltrud Gieseke: Es gibt einige Darstellungen soziologischer Natur, die von einer neuen Beratungsgesellschaft
sprechen, allerdings scheint mir diese Bezeichnung für
den Bildungsbereich übertrieben, wir haben hier, was das
lebenslange Lernen betrifft, eher zu wenig Bildungsberater. Ob es einen Zwang zur Beratung gibt oder geben
könnte, hängt von gesellschafts- und bildungspolitischen
Entscheidungen ab. Bildungswissenschaftlich sehe ich
eine Notwendigkeit, dass das Individuum die Entscheidung über sein eigenes Leben nicht nur behalten sollte,
sondern behalten muss, da es auch im späteren Leben
für seine getroffenen Entscheidungen die Verantwortung
zu übernehmen hat. Die Unsicherheiten darüber, wie man
biografisch seine eigene Zukunft gestaltet oder wie man
sich optimieren kann, sind aus gesellschaftspolitischer
Sicht gerade auch im neoliberalen Denken durchaus
gewollt. Jedes Individuum soll sich immer flexibel neu orientieren können, das heißt, sich permanent im UmlernModus befinden. Diese Optimierungsinteressen können
natürlich zu einer impliziten Steuerung der Person führen.
Wir haben es dann mit einer angeleiteten Selbststeuerung zu tun. Solche Hoffnungen werden vielleicht besonders an ein Coaching geknüpft. Man sollte hier allerdings
vorsichtig sein und eher darüber diskutieren mit welchen
Theorien und Handlungsmodellen Coaching arbeitet und
wer jeweils die Auftraggeber sind. Ethisch verlässlich ist
Coaching nur, wenn die Individuen es selber nachfragen.
Früher war es ein Privileg, dass man gecoacht wird, und
jetzt ist es häufig eine Notwendigkeit, wie man liest.
In der Bildungsberatung haben wir aber gegenwärtig eine
andere Situation; die Angebote im Weiterbildungsbereich
haben sich rhizomartig entwickelt, die Weiterbildungsmärkte sind nicht strukturiert, sondern die Angebote sind
dem Markt überlassen. Wobei wir nicht wissen, ob die
Märkte wirklich die notwendigen Qualifikationsbedarfe
in der Gesamtbevölkerung entsprechend befriedigen können. Programmforschung hilft hier weiter. Um sich nun
auf diesem Weiterbildungsmarkt zurechtzufinden, das gilt
inzwischen auch für die Berufsausbildung, unterstützt die
Bildungsberatung eine Entscheidungsfindung, die die Interessen der Individuen, die Möglichkeiten vor Ort und die
Ressourcen der Individuen aufeinander bezieht. Die Beratung schafft eine Möglichkeit, eine Orientierung zu gewinnen, wobei die Entscheidung nach bildungswissenschaftlicher Auffassung aber beim Individuum verbleibt.
Weiterbildung: Gesellschaftliche Entwicklungen und die
offenen Märkte treiben also in den Beratungsbereich, der
ja wiederum selber Marktmechanismen unterliegt. Was
wissen wir wissenschaftlich darüber?
Wiltrud Gieseke: In der Tat wird der Beratungsbereich
zurzeit, was die Bildung betrifft, über Vernetzungen und
Kooperationen und andere komplizierte Konstruktionen
gelöst. Dazu liegt etwas Forschung vor. Aus meiner Sicht
ist es aber wichtig, dass man Beratung formatbezogen in
ihren Prozessen untersucht und Detailanalysen in Zukunft
eine größere Rolle spielen werden. Unser Handbuch, das
ich dieses Jahr mit Dieter Nittel herausgebe, gibt dazu
Hinweise. In Deutschland gab es viele Initiativen, zum Beispiel „Lernen in den Regionen“, wo unter anderem die
Implementierung von Organisationsstrukturen und Qualitätssicherungskonzepten für Beratung empirisch begleiWeiterbildung
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tet wurden. Und „Lernen vor Ort“, wo die Umsetzung von
Beratung unter vernetzten kommunalen Bedingungen analysiert wurde. Es zeigt sich dabei, dass die öffentlichen
Institutionen, die verlässlichsten Partner vor Ort sind (zum
Beispiel die Volkshochschulen), um Strukturbedingungen
für eine kontinuierliche Beratung in einer Region zu sichern.
Das heißt, ohne staatliche Strukturbildung wird sich besonders die Bildungsberatung nicht ausreichend stabilisieren können. Es gibt für diese Etablierung hier keine Parallelen zu Beratungsformen in Unternehmen und Politik.
Weiterbildung: Wenn wir das Wesen der Beratung am Weiterbildungsmarkt noch einmal schärfen: Ist Beratung für
Sie eine Dienstleistung wie jede andere, oder kann man
von dieser Form noch etwas anderes erwarten?
Wiltrud Gieseke: Die OECD und auch die Berufsberatung im weitesten Sinne arbeiten mit dem Dienstleistungsbegriff. Jetzt kommt es darauf an, wie im Diskurs
Dienstleistung ausgelegt wird. Welche Art von Dienstleistung liegt vor und wer bezahlt sie? An wessen Interessen
ist sie orientiert und wann gilt sie als erfolgreich? Im
Moment ist das noch nicht ausreichend klar. In den jetzigen Diskursen hat Bildungsberatung die Bedeutung,
dass die subjektiven Interessen und Bedürfnisse von Individuen unterstützt werden, um die vorhandenen Möglichkeiten und Anschlusspunkte auszumachen, damit man
einen individuellen Weg findet, auf dem man gehen kann.
Aber auszumachen heißt nicht, diesen vorzuschlagen,
heißt nicht, einen Rat zu geben, heißt nicht, Begrenzungen zu benennen. Sondern es heißt vor allen Dingen,
unterstützend zu wirken. Es bedeutet für mich, Interessen und Aktivitäten des Individuums herauszuarbeiten,
Mut zu machen und Entscheidungsfähigkeit zu stärken,
nicht, die Entscheidung zu strukturieren, sondern sie eben
vorzubereiten. Genau dieses Vorgehen wirkt dann durch
die aktiven Individuen auch im positiven Sinne auf die
Gesellschaft zurück. Nur das aktive, handlungsfähige Individuum kann selbsttätig kreative Prozesse für sich und im
jeweiligen Handlungsfeld anstoßen. Dazu gehören Wissen und emotionale Ausdifferenziertheit, um handlungsfähig zu bleiben, das heißt, sich am Leben zu beteiligen.
Beratungsdienstleistungen in anderen Bereichen, wie in
der Wirtschaft, unterliegen als Dienstleistung ganz anderen Anforderungen.
Weiterbildung: Da stellt sich bei diesen EmpowermentProzessen auch gleich eine kritische Frage, ob Menschen
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quasi abhängig werden von einem Außensystem, welches
ihnen permanent sagt, „du kannst es, du schaffst es“.
Kann solche Beratung abhängig machen?
Wiltrud Gieseke: Das hängt davon ab, wie man Hilfe auslegt. Also, Aktivisten, die verkünden, alle können alles
und alle machen alles und alle sollen permanent alles
machen, das ist natürlich eine überzogene Forderung. Ich
neige eher dazu, dass man etwas langsamer vorangeht
und die Menschen nicht nötigt, aber auch nicht unterfordert. Dieses Spannungsverhältnis muss beschrieben werden. Jedes Individuum kann seinen eigenen Weg suchen,
aber es muss die Chance haben und den Spielraum dafür,
ihn zu finden und dafür eine gesellschaftliche Unterstützung erhalten.
Weiterbildung: Ist nicht vieles davon, was sich heute
Beratung nennt, im Grunde Marketing?
Wiltrud Gieseke: Über den Bankensektor zum Beispiel
gibt es Informationen, dass das, was sich kundenorientierte Beratung nennt, letztlich Verkaufen bestimmter Produkte meint. Die Beratung ist also nicht auf die Individuen bezogen, beziehungsweise nicht unbedingt auf ihre
Interessen. Aber zum Beispiel auch für die Berufsberatung gibt es Probleme, wenn nur die Noten als einziges
Kriterium gelten, um Entwicklungschancen zu steuern.
Wenn die Bildungsberatung nicht unabhängig ist, kann
es natürlich auch zum Marketing für bestimmte Träger
oder anderen Interessen kommen.
Weiterbildung: Sollte das in der Forschung stärker herausgearbeitet werden?
Wiltrud Gieseke: Das vorhandene Wissen ist allerdings
besser in Fortbildungen einzubeziehen, die regelmäßig
stattfinden sollten. Es geht nicht darum, nur Ziele für
Beratung zu formulieren, sondern wir müssen uns mikroanalytisch die Beratungsprozesse ansehen, um das Wissen zu erweitern und Theoriebildungsprozesse für eine
professionelle Arbeit zu unterstützen. Deshalb plädiere
ich für eine gründliche Vorbereitung auf eine Beratungstätigkeit. Nur bei hoher professioneller Kompetenz auf
ethischer Basis können sich die Akteure im „Beratungsgeschäft“ entsprechend artikulieren und professionell
ihren Handlungsspielraum für die Beratungsprozesse
durchsetzen. Im wechselseitigen Austausch erweitern
sich die Betrachtungsperspektiven durch den Beratungsprozess und wir können neu auf die eigenen Verhältnisse schauen.
Das Interview führte
Rudolf Egger.
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