von Friedrich von Borries und Mara Recklies (aus Kursbuch 184)

Friedrich von Borries, Mara Recklies
Design als Intervention
Über experimentelle Forschung
Design ist bis heute kein präzise umrissenes Feld. In Zuschreibungen
wie »Grafik«, »Industrie«, »Produkt«, »Ausstellungs«-Design zeigt sich
die immense Breite der mit Design benannten Praxen der Gestaltung.
Im englischen Sprachgebrauch, und auch hierzulande, unterscheidet
man Fashion-, Urban-, Interior-, Environmental-, Game-, Stage- oder
Service-Design, und dies sind nur einige Beispiele, tatsächlich ist die
Spanne noch wesentlich größer. Gleichzeitig sind innerhalb der eng
umschriebenen Teilgebiete die disziplinären Selbstverständnisse höchst
different; verstehen sich die einen als Künstler oder zumindest als
»Au­toren«, sehen sich andere als rein kommerzielle Dienstleister.
Dabei bleibt der politische Charakter von Design oft unbeachtet.
Das politische Moment des Designs manifestiert sich in seiner Alltäg­
lich­keit; Design betrifft alles und alle. Es prägt unsere Wahrnehmung
und unseren Geschmack, beeinflusst unsere Alltagshandlungen, drückt
bestehende Ordnungen aus und beeinflusst sie zugleich.
Design konstituiert Identität. Dabei ist es kein Unterschied, ob Na­
tionalflaggen, das Logo von Vereinen oder Fußballmannschaften kol­
lektive Identitäten prägen oder Modefirmen, Einrichtungshäuser oder
Getränkehersteller uns Schablonen anbieten, mit denen wir unsere in­
dividuelle Identität auszubilden versuchen. Design ist auch ein ent­
schei­dender Faktor für die individuelle Ästhetisierung des Selbst – in
Form des Umgangs mit dem eigenen Körper, der bewussten Kleider­
wahl, der Einrichtung der Wohnung und des Sich-Umgebens mit
schönen Dingen. Darüber hinaus steht Design in einem unmittelbaren
Zusammenhang mit Produktionsmöglichkeiten und -bedingungen.
Design als Intervention
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Durch Design wird aber nicht nur das Reale, das Alltägliche und
Gewöhnliche gestaltet, sondern auch das Besondere. Design kann auch
Möglichkeitsräume aufzeigen und so Utopien entwerfen. Ein Beispiel
dafür liefert der vielleicht erste »Gesellschaftsdesigner«, der englische
Philosoph, Staatsmann und Schriftsteller Thomas Morus. Sein be­rühm­­
tes Werk Utopia aus dem Jahre 1516 bietet einen solchen umfassenden
Entwurf eines »idealen« Staates und einer idealen Gesellschaft. Um
anschaulich zu machen, wie das ideale, »utopische« Leben gelebt wird,
beschreibt Morus die Stadtplanung, die Häuser und die Essrituale der
Bewohner von Utopia. Er zeigt, wie Utopia »designt« ist. Design ist
also politisch, weil Designer die Struktur, die Normen, die Bedürf­
nisse, die Begierden, die Identitäten und das Zusammenleben gestal­
ten.
Die politische Dimension des Designs geht aber auch von konkre­
ten Dingen aus, die uns umgeben – als Verbrauchsgüter, aber auch als
Gebrauchsgüter. Denn Design betrifft alles: Hochspannungsleitungen
und Straßenbeleuchtung, Unterseekabel, Telefon- und Internetverbin­
dungen, Wohnzimmereinrichtungen und TV-Werbung. Design beein­
flusst nicht nur die Produktion der Welt, in der wir leben, sondern auch
deren Zugänglichkeit und Verteilung.
Trotz der eigentlich offenkundigen politischen Dimension von De­
sign ist in Designtheorie und -forschung das politische Moment von
Design noch unbestimmt. Eine relativ junge Form von D
­ esignforschung,
die sich bewusst als politisch versteht, ist die interventionistische De­
signforschung. Es ist eine Form von Forschung, die in Anlehnung an
die Praxen künstlerischer Interventionen in gesellschaftliche Prozesse
eingreift oder zumindest einzugreifen versucht. Damit ist sie gleichzei­
tig Praxis von Design und Gegenstand von Designforschung.
Dass es für diese Form von Design als Forschung und Forschung als
Design bislang keine eigenständige Theorie gibt, ist ein Versäumnis,
das es aufzuholen gilt. Dafür soll hier ein erster Versuch skizziert wer­
den. Dieser Text ist dabei Bestandteil eines praxeologischen Experi­
ments im Grenzbereich von Design, Kunst und Wissenschaft. Er ist,
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was er zu untersuchen behauptet. Er ist Gegenstand und Beispiel, er ist
Zwischenstand eines Design- und Forschungsprojektes, das sich selbst
untersucht.1 Damit werden neue Wege der Designforschung beschrit­
ten, die auf die Wirkmechanismen von Design aufmerksam machen.
Denn mit Design sind Wahrnehmungs- und Aneignungspraktiken ver­
bunden, die untersucht werden müssen, um auf die Macht und d
­ amit
einhergehende Verantwortung von Design aufmerksam zu machen.
Interventionistisches Design als Form und Gegenstand
künstlerischer Forschung
Für eine Theorie des interventionistischen Designs müssen Methoden
gefunden oder entwickelt werden, mit denen das mehrschichtige Ver­
hältnis zwischen Akteur, Produzent und Beobachter in und von Inter­
ventionen gefasst werden kann.
»Intervenieren« heißt, in Prozesse einzugreifen. Der Gegenstand,
der untersucht und reflektiert wird, ist nicht entfernt, distanziert, »ob­
jektiv«, sondern er wird durch das eigene Eingreifen »einverleibt«,
sub­jektiv. Für die interventionistische Designforschung heißt das: Um
verborgene Prozesse im Design transparent zu machen, wird Design
generiert, das dann zum Gegenstand der – eigenen – Forschung wird.
Der Forscher wird zum Designer, der Designer wird zum Forscher.
Um mit dieser Doppelrolle umzugehen, bedarf es einer Methode der
selbstreflexiven Hinterfragung. Wissenschaftstheoretischer Ausgangs­
punkt dieser selbstreflexiven Methode ist eine Neuinterpretation der
»autoethnografischen Forschung« auf Basis der goffmanschen Rah­
menanalyse. Die beiden Methoden operieren auf unterschiedlichen
Ebenen: Die autoethnografische Forschung interveniert in den Unter­
suchungsgegenstand und hat dabei sowohl eine deskriptive als auch
eine offenlegende, dekuvrierende Funktion. Die Rahmenanalyse ist ein
Instrument, dieses Vorgehen zu beschreiben, und dient der Auswer­
tung von Vorgängen und Sachverhalten.
Design als Intervention
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Um ein Verständnis für den systematischen Aufbau von interven­
tionistischer Designforschung zu entwickeln, ist eine Grundannahme
der Rahmenanalyse Erving Goffmans wichtig. Nämlich seine Aussage,
dass sich Menschen immer in irgendeiner Situation befinden. Die Klä­
rung dieser Situation erfolgt über die Frage »What’s going on?«. Sie
wird im Alltag permanent von allen Menschen gestellt und beantwor­
tet. Dabei gibt es meistens Menschen, welche die jeweilige Situation
schaffen, und Menschen, die sich in dieser geschaffenen Situation be­
finden und sich ihr entsprechend verhalten. Wenn aber Situationen ge­
schaffen werden, so müssen sie nicht nur unwillkürlich, sondern auch
willkürlich, mit bestimmten Zielen, geschaffen werden können. Das
heißt, jemand plant und entwirft diese Situationen im Voraus – sie ver­
fügen über ein »Design«.
Mit diesem Punkt setzte sich auch, von Goffman zitiert, der ameri­
kanische Soziologe Harold Garfinkel auseinander. Er suchte nach Re­
geln, die es erlauben, jede gewünschte Wirklichkeit zu erzeugen. Sein
Gedanke war, dass man eine Art Maschine erschaffen müsse, die spe­
ziell dazu »designt« sei, jede beliebige Wirklichkeit herzustellen. Diese
Herstellung von »Wirklichkeiten«, synonym verstanden mit authen­
tisch wirkenden, jedoch strategisch initiierten Situationen, kann, zu­
sammengefasst, ein Thema interventionistischer Designforschung sein.
Als Beispiel: Die transmediale Intervention RLF
Strategisch initiierte Situationen werden durch Interventionen produ­
ziert. Die transmediale, halb fiktive, halb reale Intervention »RLF« ist
ein Beispiel für interventionistische Designforschung. RLF war der
Versuch, neue Methoden der Gesellschaftskritik durch Kunst und De­
sign zu erproben. Dabei basiert RLF (der Name leitet sich von Theodor
W. Adornos Diktum Es gibt kein richtiges Leben im falschen ab, kann je­
doch auch für real life fiction stehen) auf einem Narrativ, das in einem
Dokumentarfilm und einem Roman wurzelt.2 Ausgangspunkt von »RLF«
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ist ein Unternehmen mit revolutionärem Ansatz. Es möchte durch den
Verkauf von luxuriösen Designobjekten die erstrebte antikapitalis­
tische Revolution finanzieren. Innerhalb der Intervention sollen so der
Pro­test gegen das System und der Konsum von Luxusprodukten zu­
sammengeführt und zu einem revolutionären Akt werden. So werden
die Käufer zu Shareholdern der Revolution, angefeuert durch den pro­
grammatischen Appell von RLF: »SHOW YOU ARE NOT AFRAID«.
RLF nutzte eine Fülle von Instrumenten zur Vermarktung der luxu­
riösen Designprodukte und den in ihnen enthaltenen politischen Auf­
ruf. Abgesehen von den narrativen Mitteln wie dem Roman, gab es
darüber hinaus repräsentative und performative Mittel wie eine Aus­
stellung und eine Demonstration, jedoch auch interaktive Elemente
wie eine Webseite und ein Serious Game. Zusätzlich wurden soziale
Netz­werke wie Facebook und Twitter zum Storytelling genutzt.
Als Projekt der interventionistischen Designforschung gehört es zum
Selbstverständnis von RLF, die eingesetzten Methoden und ihre Wirk­
samkeit zu reflektieren. Das betrifft aber nicht nur die inhaltliche Aus­
richtung der bereits abgeschlossenen Elemente von RLF, sondern auch
das gegenwärtige Forschungsvorhaben, dessen politische, ­gesellschaftsund designkritische Intentionen auf der persönlichen Auseinanderset­
zung von Wissenschaftlern mit dem eigenen Forschungsanspruch und
den Anforderungen an die Folgen der eigenen Forschung beruhen.
Autoethnografie als methodisches Werkzeug
Für diese Anliegen arbeitet die interventionistische Designforschung
mit einer Neuinterpretation von Autoethnografie. Es ist ursprünglich
eine Methode, die sich aus der qualitativen Forschung der Ethnografie beziehungsweise Sozialforschung entwickelte. Ihr Ziel ist, die Teil­
nahme des Forschenden an dem Erforschten, also die eigene wie auch
die gemeinsame Wahrnehmung der Lebenswelt für die Forschung
frucht­bar zu machen. Autoethnografie ist ein subjektives, deskriptiDesign als Intervention
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ves Forschungsinstrument, mit dem sich die Planung, Organisation,
Durch­führung und Vorgehensweise von politisch motivierter Design­
forschung, wie etwa Interventionen3, beschreiben lassen. Sie eignet
sich besonders, da sie subjektiven Perspektiven und persönlicher In­
volviertheit in den Forschungsgegenstand einen epistemischen Wert
zuspricht. Dabei sind insbesondere drei Aspekte der Autoethnografie
entscheidend, die hier kurz ausgeführt werden sollen und die gleich­
zeitig die für die Designforschung entscheidende Auffassung von auto­
ethnografischer Forschung veranschaulichen.
1. Keine starren Begrenzungen
Die von uns fokussierte Autoethnografie entzieht sich einer strikten
inhaltlichen, methodischen oder formalen Eingrenzung, weshalb wir
sie als »blurred genre« 4, auffassen und keine Notwendigkeit sehen, sie
disziplinär oder inhaltlich zu begrenzen.
Diese relative Unbestimmtheit der Methode entspricht der relativen
Un­bestimmtheit nicht nur von Design, sondern auch von Designfor­
schung. Darüber hinaus erleichtert diese disziplinäre Offenheit gerade
in den frühen Phasen der Erprobung von Autoethnografie als Me­
thode der Designforschung die Arbeit, da die wenigen Vorgaben den
Forschungsprozess kreativ und offen halten. Da es keine Grenzen gibt,
ist der Spielraum des Forschenden weit.
2. Abschied von der Neutralität der Wissenschaft
Wir verstehen die von uns fokussierte Autoethnografie als eine Art
An­merkung zu dem Axiom der angeblichen Neutralität der Wissen­
schaft. Wir möchten damit die Vorstellung hinterfragen, Wissenschaft­
ler könnten dem Ideal der Neutralität und Distanziertheit gegenüber
dem Forschungsgegenstand grundsätzlich entsprechen. Da wir – mehr
oder weniger – persönlich in den Forschungsgegenstand involviert sind,
ist ein gewisser Grad an Subjektivität unvermeidbar. Diese Subjektivi­
150 Friedrich von Borries, Mara Recklies
tät wird in der Autoethnografie jedoch nicht als Makel gesehen, son­
dern ihr wird ein epistemischer Wert zugestanden.
Das bedeutet, es geht uns auch um die wissenschaftliche Anerken­
nung von Subjektivität. In dieser Form der Forschung geht es um einen
Zugang zu dem Untersuchungsgegenstand, der nicht versucht, die Ir­
ritationen zu minimieren, die durch subjektive Faktoren entstehen,
sondern sie als Material nutzbar zu machen. Damit gibt es letztlich,
dieser Auffassung ist auch der Medien- und Kulturforscher Rainer
Winter, keinen »privilegierten Standpunkt, von dem aus eine endgül­
tige Version der Welt erfasst werden kann«. Wissen und Standpunkte
existieren häufig nur »partiell, partikular und sozial situiert«.5
3. Politische Motivation
Wir beobachten – und das ist in diesem Zusammenhang entscheidend – Autoethnografie als einen politisch motivierten Forschungsan­
satz und zugleich als eine Art forschende Intervention.
Darin folgt die interventionistische Designforschung dem Medien­
wissenschaftler Rainer Winter, der betonte, dass es an der Zeit sei, sich
von der Idee einer wertfreien Wissenschaft zu verabschieden. Tatsäch­
lich sei nämlich auch die Wissenschaft eine politische Praxis, und
demzufolge gelte es, als Forschender politisch Stellung zu beziehen.
Der Gedanke, man könne heutzutage angesichts der Verantwortung
der Forschenden nicht mehr einfach entscheiden, ob man »neutral«
oder »engagiert« Forschung betreibe, verdient Beachtung. Bei Winter
wird dies sogar noch weiter zugespitzt, er bezeichnet Neutralität bezie­
hungsweise den klassischen objektiven Standpunkt des Beobachters
sogar als blinden Fleck der Wissenschaftler, die vor der Erkenntnis
flüchten, dass jegliche Wissenschaft Folgen habe, und sie damit eine
Verantwortung tragen.
Die Forschung hat demnach eine konkrete, nahezu politische Auf­
gabe. Es liegt an ihr, Möglichkeiten für ein besseres Zusammenleben,
Design als Intervention
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eine bessere Welt im weitesten Sinne aufzuzeigen. Ein Ziel, das man als
Wissenschaftler zum Beispiel durch interventionistische Untersu­
chungen aufgrund ihrer transformativen Kräfte erreichen kann. Sie
ähnelt der Aktionsforschung, die während des Forschungsprozesses,
etwa bei der Untersuchung von sozialen Gefügen, in ihren Untersu­
chungsgegenstand eingreift, um diesen positiv zu verändern.
Dementsprechend positioniert sich auch diese Form der interven­
tionistischen Designforschung dort, wo Autoethnografie als Kritik, als
subversives Element, als radikales Mittel zur Erneuerung von Beste­
hendem und als Umkehrung klassischer Methoden der Ethnografie
be­trachtet wird.
Diese Standpunkte, von denen aus Autoethnografie als W
­ iderspruch
und Auflehnung betrachtet wird, eignen sich auch für interven­tio­
nistische Designforschung. Denn auch uns geht es nicht darum, eine
normative Wissenschaft und Methodik sprichwörtlich in Stein zu
­meißeln. Es ist für die interventionistische Designforschung dagegen
von Interesse, von diversen Standpunkten aus die Wirklichkeit zu be­
trachten und zu analysieren. Damit können Ansichten produziert wer­
den, die den bisher akzeptierten oder dominanten wissenschaftlichen
Ergebnissen zum Teil bewusst widersprechen.
Experimentelles Arbeiten und Forschen – als bewusster Gegen­
entwurf – bedeutet vor allem, die etablierten Regeln zu überdenken
und infrage zu stellen. In dieser Rolle der autoethnografischen For­
schung als Gegenentwurf ist auch ihre subversive und interventionis­
tische Kraft angelegt. Das autoethnografische Arbeiten ermöglicht, »ein
breiteres und heterogeneres Publikum zu erreichen, das traditionelle
Forschung üblicherweise außer Acht lässt, um zu persönlicher Verän­
derung und sozialem Wandel für möglichst viele Menschen beizutra­
gen«.6
Im konkreten Fall der autoethnografischen Untersuchung von RLF
bedeutet das, die persönlichen Erfahrungen verschiedener Akteure
sichtbar zu machen und den Intentionen des Projektes gegenüberzu­
stellen. Hierfür werden Interviews mit Initiatoren, Teilnehmern oder
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Beobachtern geführt. Gerade dort, wo die Intervention eigene Dyna­
miken entwickelte, wo sie Emotionen hervorrief, wo sie Begeisterung
oder Ablehnung erzeugte, entstehen kraftvolle Erzählungen für den
autoethnografischen Forschungsprozess. Es geht darum, Akteure sub­
jektiv sprechen zu lassen und sie gleichzeitig mit der mehrschichtigen Reflexivität des Projektes zu konfrontieren. Anstatt vermeintliche
neutrale Daten auszuwerten (wie etwa die Besucherzahlen der Web­
site, Ver­kaufszahlen der RLF-Produkte oder die Teilnehmerzahl an
dem RLF-Game), werden zum Beispiel die Juroren des BusinessplanWettbewerbs ­Berlin-Brandenburg damit konfrontiert, als Bewertende
des RLF-Bu­si­ness­plans selbst Teil einer Intervention und Gegenstand
der Design­forschung geworden zu sein.
Das Potenzial der Autoethnografie ist es, in Dinge einzugreifen, sie
zu kritisieren oder zu verändern. Wir möchten eine Designforschung,
die in der Lage ist, zu gesellschaftlichen Transformationsprozessen
­einen kritischen Beitrag zu leisten, indem sie sich als Reflexionsinstanz
betrachtet, die die Änderung des Untersuchungsgegenstandes zum
Ziel hat.
Mit dieser Auffassung von Designforschung vollziehen wir den Schritt
von einer rein deskriptiven Forschung hin zu einer offenen, interven­
tionistischen Forschungspraxis. Die Schweizer Soziologinnen Andrea
Ploder und Johanna Stadlbauer regten vor wenigen Jahren an, Auto­
ethnografie auch als Chance zu sehen, sich mit dem Anspruch an die
eigene Forschung auseinanderzusetzen. Dabei werden verschiedene
Fragen aufgeworfen, wie die, ob das eigene Fach Kritik üben wolle
oder Engagement anregen.
Design als Intervention
153
Der performative Charakter interventionistischer
Designforschung
Autoethnografisches Arbeiten besteht zu einem Großteil darin, sich
auf die Suche nach den aussagekräftigen Fragmenten, nach ­epistemisch
reichen Narrativen zu machen. So kann der Eindruck entstehen, auto­
ethnografisch erzeugte Forschungsergebnisse seien bloße Erzählungen
oder messy stories, da alle möglichen Datenkombinationen wie Inter­
views, Artikel, Briefe, Medienberichte usw. zu ihrer Erstellung genutzt
werden können. Und tatsächlich gleicht der Datenkorpus der Auto­
ethnografie einem Flickenteppich. Seine Besonderheit ist, verglichen
mit dem herkömmlicher sozialwissenschaftlicher Forschung, dass er
nicht nur um nicht objektiv verifizierte Daten, wie etwa Erinnerungen,
ergänzt ist – sondern sogar aus ihnen bestehen kann.
Die Effektivität solch einer intuitiv anmutenden Forschungspraxis
stellt Erving Goffman unter Beweis. Er merkte in der Einleitung seiner
Rahmen-Analyse an, dass ihm bei der Erstellung seines Datenkorpus
die Grundsätze, nach denen er ihn erstellte, rätselhaft waren und stetig
wechselten. Es war ihm unmöglich, seine Kriterien rational zu begrün­
den oder zu erklären. Er bezeichnete sein Vorgehen hinsichtlich der
Sammlung von Daten sogar als eine Karikatur von systematischer Ar­
beit. Ebenso, wie auch in dem laufenden Projekt zur Entwicklung
von Methoden politischer Designtheorie, macht Goffman keinen Un­
terschied zwischen Hochkultur und niederer Kultur, Wissenschaft,
Popkul­tur usw. – alles gesammelte Material ist Resultat von seinem
speziellen Interesse, das keinerlei Wertunterschiede macht. Alles kann
nützlich werden für die Erforschung der entscheidenden Passagen des
Alltags, des persönlichen Erlebens und der sozialen Gefüge.
Aus der Fruchtbarmachung der autoethnografischen Methoden für
die Designforschung ergibt sich, dass das Ziel der Forschung nicht
zwingend das Ergebnis des Forschungsprozesses ist, sondern der For­
schungsprozess selbst. Nicht das Verstandene steht im Vordergrund, son­
dern das Verstehen. Wir folgen damit einer performativen Forschungs154 Friedrich von Borries, Mara Recklies
l­ogik, die uns eine epistemologische Alternative zu den üblicherweise
genutzten verstehenden Zugängen bietet. Mit dieser unkonventionel­
len, experimentellen Forschungslogik wird der Forschungsprozess ab­
sichtlich kaum eingeschränkt und schwer voraussehbar oder planbar.
Er ist vielschichtig und ähnelt, wie die amerikanische Autoethnografin
Carolyn Ellis formulierte, einer Wanderung in ein Dickicht ohne
Kompass.
Die Designforschung, die damit entwickelt und erprobt wird, steht
ebenso wie die Autoethnografie an der Grenze dessen, was im akade­
mischen Sinn als wissenschaftlich gilt. Auch den Forschungsprozess
auf diese Art offenzulegen und zu analysieren, wie es die interventionis­
tische Designforschung fordert, ist unüblich. Für gewöhnlich präsen­tiert
die Wissenschaft finale Tatsachen, nicht primär den Verstehensprozess.
Interventionistische Designforschung agiert anders: Das, was sonst im
verborgenen Diskurs wissenschaftlicher Forschung abläuft, soll zugäng­
lich gemacht werden. Insofern versteht sich eine solche Forschung nicht
nur als Intervention in kulturelle, wirtschaftliche oder politische Dis­
kurse, sondern auch in den wissenschaftlichen Betrieb. Sie entzieht
sich der gängigen Forschungspraxis, in der fertige Ergebnisse als Tat­
sachen präsentiert werden, und bekennt sich zu einer performativen
Forschungslogik, die permanent epistemisch offen bleibt.
Eine solche interventionistische Designforschung untersucht nicht
nur die politische Dimension von Design, sondern ist selbst als gelebte
Praxis ein Beispiel dafür, dass Design politisch ist.
Design als Intervention
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Anmerkungen
1 Friedrich von Borries führt gemeinsam mit Mara Recklies ein Forschungsprojekt über die
Intervention »RLF« durch. Das Forschungsprojekt ist Teil der Forschergruppe »Übersetzen
und Rahmen« der Universität Hamburg und der Hochschule für bildende Künste. Gleichzei­
tig ist Friedrich von Borries Protagonist von RLF.
2 Borries, Friedrich von: RLF. Das richtige Leben im falschen. Berlin 2013.
3 Vgl. Borries, Friedrich von; Hiller, Christian; Kerber, Daniel; Wegner, Friederike; Wenzel,
Anna-Lena: Glossar der Interventionen. Annäherung an einen überverwendeten, aber unter­
bestimmten Begriff. Berlin 2012. Und auch das von der DFG geförderte Forschungsprojekt
»Urbane Interventionen« an der HFBK Hamburg unter der Leitung von Prof. Dr. Friedrich
von Borries.
4 Ploder, Andrea; Stadlbauer, Johanna: »Autoethnographie und Volkskunde?« In: Österrei­
chische Zeitschrift für Volkskunde 116 (2013), 3–4, S. 374–404, hier S. 379.
5 Winter, Rainer: »Ein Plädoyer für kritische Perspektiven in der qualitativen Forschung« In:
Forum Qualitative Sozialforschung, Vol. 12, Nr. 1 (2011), S. 6.
6 Ellis, Carolyn; Adams, Tony E.; Bochner, Arthur P.: »Autoethnographie«. In: Mruck, Katja;
Mey, Günther (Hrsg.): Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie. Wiesbaden 2010,
S. 345–357, hier S. 348.
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