1 Freitag, 18.03.2016 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Susanne Stähr Vorzügliche Edition ROBERT SCHUMANN Complete Symphonic Works Vol. IV und Vol. V PATRICIA KOPATCHINSKAJA (VIOLINE) DÉNES VÁRJON (KLAVIER) ALEXANDER LONQUICH (KLAVIER) WDR Sinfonieorchester Köln HEINZ HOLLIGER (LEITUNG) audite 97.717 und 97.718 Spielerische Leichtigkeit HAYDN CONCERTOS RICCARDO MINASI • MAXIM EMELYANYCHEV • IL POMO D’ORO ERATO 08256 46052042 Stupende Gesangstechnik MOZART THE WEBER SISTERS SABINE DEVIEILHE RAPHAËL PICHON PYGMALION ERATO 08256 46016259 Delikat gespielt EN PLEIN AIR DAVID KADOUCH piano MIRARE MIR 274 Leuchtende Höhenlage vilde frang britten korngold violin concertos frankfurt radio symphony james gaffigan WARNER CLASSICS 08256 46009213 Am Mikrophon begrüßt Sie herzlich: Susanne Stähr. Ein wenig sportiv wird es diesmal bei uns zugehen, denn im Zentrum der heutigen Sendung mit neuen CDs steht die Gattung des Solokonzerts. Und das italienische Wort „concertare“, das dieser Gattung ihren Namen verliehen hat, bedeutete ursprünglich nichts anderes als „wetteifern“ oder „wettstreiten“. Fünf Neueinspielungen habe ich Ihnen mitgebracht, mit Musik von Schumann und Haydn, von Mozart und Janáček, von Korngold und Britten. Wobei ich gleich vorwegnehmen will, dass bei unserem musikalischen Wettkampf wohl alle Kandidaten medaillenverdächtig sind. Fangen wir an mit Robert Schumann. Über seine Orchesterwerke hatte die Nachwelt schnell ihr Urteil gefällt: Nun gut, hieß es, der Mann hat ja hübsche melodische Einfälle, aber instrumentieren – das kann er nun wirklich nicht. Sein Orchestersatz ist zu dick, und die Farben der einzelnen Instrumente kommen nicht genug zur Geltung. Hätte sich Schumann doch nur mal eine Scheibe bei Hector Berlioz abgeschnitten … Und so weiter und so fort ging das Lamento. Aber in den letzten beiden Jahrzehnten hat sich der Wind zu drehen begonnen, nicht zuletzt dank hervorragender Neueinspielungen der Sinfonien, etwa von 2 John Eliot Gardiner oder Paavo Järvi. Ihnen gesellt sich jetzt ein Dritter zur Seite, der Schumann wirklich aus dem Effeff kennt: Der 1939 geborene Schweizer Komponist, Oboist und Dirigent Heinz Holliger zieht mit einer großen sechsteiligen Schumann-Edition die Summe seiner Erfahrungen. Gemeinsam mit dem WDR Sinfonieorchester Köln erarbeitet er für audite eine Gesamtaufnahme der Orchesterwerke ohne Vokalsolisten. Gerade sind die CDs Nr. 4 und 5 aus dieser Reihe erschienen, mit konzertanten Werken für Violine und Klavier. Und mit dem Konzertstück für vier Hörner und Orchester: Robert Schumann: Konzertstück für vier Hörner und Orchester op. 86, 3. Satz 6:35 Sie hörten das Finale aus Robert Schumanns Konzertstück für vier Hörner und Orchester mit dem WDR Sinfonieorchester Köln, aus dessen Reihen auch die vier Solisten stammen – Heinz Holliger dirigierte. Das ist nun ein Schumann, der alle Klischees widerlegt. Holliger betont vielmehr, wie erfindungsreich und experimentierfreudig Schumann vorgegangen ist, ja, wie avanciert diese Partitur sogar ist. Das fängt schon mit den vier Soloinstrumenten an: Schumann komponierte sein Konzertstück für das moderne Ventilhorn, das damals noch sehr umstritten war. Und er kostet die Möglichkeiten dieser Neuerfindung genüsslich aus, etwa wenn er das erste Horn in die exponierte Höhenlage führt, wenn er mit humoristischen Schleifern arbeitet oder wenn er das etwas maschinenhafte Moment dieses Instruments betont. Schumanns Konzertstück markiert nämlich einen musik- und kulturgeschichtlichen Wendepunkt. Einerseits gilt das Horn ja als Inbegriff der Romantik: Man denkt an Wald und Jagd, an Burgen und Fernweh – und mit genau diesen Assoziationen spielt das Werk natürlich. Andererseits aber bricht hier schon ein neues Zeitalter herein, nämlich die beginnende Industrialisierung, und die spiegelt sich im kraftbetonten Moment der Musik. Wenn die vier Hörner mit vollem Saft loslegen, dann hat das auch etwas von einer Dampfmaschine an sich. In eine ganz andere Welt führt dagegen Holligers Interpretation des Violinkonzerts, das er gemeinsam mit der aus Moldawien stammenden Geigerin Patricia Kopatchinskaja aufgenommen hat. Dieses Konzert hat Schumann im Herbst 1853 komponiert, wenige Monate vor seinem psychischen Zusammenbruch und der Einweisung in die Nervenheilanstalt von Bonn-Endenich. Weshalb es lange unter dem Verdacht stand, Spuren der Zerrüttung und des geistigen Abbaus aufzuweisen. Diese Vermutungen wurden zusätzlich dadurch angefacht, dass Schumanns Witwe Clara eine Publikation verhinderte. Erst 1937 wurde das Violinkonzert uraufgeführt, und das auch noch in einer entstellten Fassung. Heinz Holliger allerdings schätzt den Begriff „Krankheit“ im Zusammenhang mit Schumann nicht, er spricht lieber von „Anderssein“. Oder, wie er es einmal ironisch formuliert hat, als er sagte: „Ein normaler Mensch komponiert nicht – es sei denn, er komponiert wie Carl Czerny oder Muzio Clementi.“ So oder so: Wenn man den zweiten Satz aus dem Violinkonzert in Holligers und Kopatchinskajas Deutung hört, begreift man, dass diese Musik psychische Grenzbezirke berührt. Robert Schumann: Violinkonzert, 2. Satz 6:40 Patricia Kopatchinskaja und das WDR Sinfonieorchester spielten den zweiten Satz aus Schumanns Violinkonzert, Heinz Holliger hatte die Leitung. Ein extrem langsames Tempo haben sie hierfür gewählt, wie in Trance klingt es. Oder wie eine Wahnsinnsszene aus einer Oper. Kopatchinskaja wagt sich bis ins äußerste Pianissimo vor, sie spielt non-vibrato, geradezu antiromantisch, und doch hat diese Interpretation eine unglaubliche Expressivität, sie wirkt radikal – und todtraurig. Die Langsamkeit sorgt obendrein für eine neue Zeiterfahrung: Die Melodie im Orchester ist kaum mehr als sangliche Linie wahrzunehmen. Und die Solovioline bleibt ohnehin in ihrer eigenen Welt, außerhalb der metrischen Ordnung. Heinz Holliger selbst spricht davon, dass man bei Schumann oft nicht mehr spürt, wie die Zeit vergeht. Diesen magischen Effekt stellt er in seiner Edition meisterlich heraus. 3 Aber auch Schumann, der Erzromantiker, kommt auf den beiden neuesten Ausgaben der Reihe zu Gehör: mit dem Klavierkonzert etwa, das Dénes Várjon interpretiert. Und auch mit den beiden Konzertstücken für Klavier und Orchester, die Alexander Lonquich spielt. Wir hören jetzt noch in das erste davon rein, in das Konzertstück G-Dur op. 92, mit der Introduktion und dem Beginn des Allegro appassionato. Robert Schumann: Konzertstück für Klavier und Orchester G-Dur op. 92 7:30 Das war ein drittes Beispiel aus der vorzüglichen Schumann-Edition von Heinz Holliger, die bei audite erschienen ist: Hier dirigierte er den Beginn von Schumanns Konzertstück für Klavier und Orchester op. 92, mit dem WDR Sinfonieorchester Köln und Alexander Lonquich als Solisten. Schon die Introduktion dieses Stücks verbreitet romantische Morgenstimmung, als ob sich die Nebel allmählich lichteten. Lonquich legt seinen Part nicht als Virtuosen-Pièce aus, sondern ganz im Geist der frühen Klaviermusik Schumanns, wie ein Selbstgespräch, mit dieser eigenartigen „somnambulen Melancholie“, die der Kulturhistoriker Egon Friedell seinen Werken attestiert hat. Keine Musik fürs grelle Rampenlicht ist es also, die Holliger und das WDR Sinfonieorchester hier präsentieren. Aber eine klug durchdachte und hintersinnige Interpretation, die zum innersten Kern von Schumanns Klangwelt vordringt. Schumann, der so lange verkannt wurde, hat selbst allerdings auch ein langlebiges Vorurteil in die Welt gesetzt. Sein Opfer war Joseph Haydn, über den Schumann leichtfertig behauptete: „Er ist wie ein gewohnter Hausfreund, der immer gern empfangen wird; tieferes Interesse hat er für die Jetztzeit nicht mehr.“ Na ja, man muss Schumann allerdings zugutehalten, dass er Haydn nie vom italienischen Ensemble Il Pomo d’Oro zu hören bekommen hat. Denn die spielen den „alten Hausfreund“ gar nicht bieder, sondern gepfeffert und rasant: Joseph Haydn: Violinkonzert G-Dur Hob. VIIa:4, 3. Satz 3:40 Das war eine erste Kostprobe aus der neuen Haydn-CD, die das Ensemble Il Pomo d’Oro gerade bei ERATO vorgelegt hat: Sie hörten den Schlusssatz aus dem G-Dur-Violinkonzert, mit Riccardo Minasi als Solisten, der hier zugleich die Leitung innehat. Kurioserweise präsentiert diese neue Aufnahme, ganz wie Holligers Schumann-CDs, ebenfalls Konzerte für Violine, für Horn und für ein Tasteninstrument. Aber musikalisch könnte der Gegensatz nicht größer sein: Bei Schumann haben wir es mit dem gedankenverlorenen Rückzug in innere Traumwelten zu tun, bei Haydn dagegen mit extrovertiertem, funkensprühenden Temperament. Ein so spritziges, exzentrisches Konzertfinale, wie wir es gerade gehört haben, würde man wohl eher Antonio Vivaldi zutrauen als dem vermeintlich gewohnten Hausfreund Joseph Haydn. Riccardo Minasi und sein Ensemble gehen mit unglaublicher Souveränität und Virtuosität zu Werke. Sie meistern die vertracktesten Passagen mit einer spielerischen Leichtigkeit, als wäre es rein gar nichts. Oder als ob sie Akrobaten, Trapezkünstler und Clowns in einer Person wären. Haydn bekannte einmal, dass er mit allen Instrumenten zwar gut vertraut sei, aber dass er auf keinem einzigen wie ein Hexenmeister brillieren könne. Wie überragend Haydn indes die verschiedenen Instrumente einzusetzen verstand – das beweist Il Pomo d’Oro mit seiner neuen CD. Nehmen wir zum Beispiel das Horn, das zu Haydns Zeiten ja noch kein Ventilhorn, sondern ein Naturhorn war, also ein Instrument ohne Grifflöcher, Klappen und Ventile, bei dem die Tonstufen allein durch den Lippenansatz erreicht werden: ein heikles Unterfangen! Der Österreicher Johannes Hinterholzer ist jedoch ein Meister dieser Disziplin. Hören Sie sich mal den Kopfsatz des Hornkonzerts in D-Dur an: Joseph Haydn: Hornkonzert D-Dur Hob. VIId:3, 1. Satz 5:50 Ein Naturhorn ist es, das Johannes Hinterholzer bei dieser Aufnahme von Haydns D-DurKonzert mit dem Ensemble Il Pomo d’Oro spielt – und der Unterschied zur mächtigen 4 Hörnerbatterie, die wir vorhin bei Schumann zu hören bekamen, ist riesengroß. Viel geselliger und gemütlicher klingt dieses Instrument hier noch. Was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass es oft von der Violine gedoppelt wird und weniger als Signal-, Fanfaren- und Schmetterapparat in Erscheinung tritt. Wenn man diese Interpretation mit Aufnahmen aus der Pionierzeit der historisch informierten Aufführungspraxis vergleicht, dann muss man feststellen, dass sich ein qualitativer Quantensprung ereignet hat. In den frühen Jahren der Originalklangbewegung wurde die Unvollkommenheit der Instrumente oft betont – ob gewollt oder ungewollt sei einmal dahingestellt. Hier aber ist eine extrem hohe Klangkultur am Platze, ob es sich um Hinterholzers souveränes Hornspiel handelt, ob um Minasis runden Violinton oder den vollen, satten Klang des Ensembles Il Pomo d’Oro – nichts klingt hier mehr harsch, ausgedünnt oder spröde wie ein Knäckebrot. Als Zauberkünstler aber begegnet uns in diesem CD-Doppelpack der Cembalist und CoLeiter des Ensembles, der junge Russe Maxim Emelyanychev. Ich spiele Ihnen das Rondo all’Ungarese aus dem Cembalokonzert D-Dur vor: Joseph Haydn: Cembalokonzert D-Dur Hob. XVIII:11, 3. Satz 4:10 Vielleicht kennen Sie diesen berühmten Finalsatz aus Haydns D-Dur-Konzert, das Rondo all’Ungarese, in der Fassung für Klavier, aber beide Besetzungen sind möglich – Haydn hat das Werk alternativ für Cembalo oder Pianoforte ausgewiesen. Und wir hörten gerade die Cembalovariante, hochvirtuos gespielt von Maxim Emelyanychev und dem Ensemble Il Pomo d’Oro. Während das Horn Assoziationen an die Natur wachruft, ist das Cembalo ganz der Kunstsphäre verhaftet. Sein Ton hat etwas Surreales, er scheint zu zerstäuben oder irgendwie über dem Boden zu schweben. Bringt man diesen feingeistigen Klangcharakter aber in Verbindung mit handfester ungarischer Volksmusik, wie es in diesem Rondo geschieht, dann hat das eine humoristische Note. Es ist etwa so, wie wenn die Steckrübe, die lange als Tierfutter oder Nahrungsmittel für arme Leute galt, plötzlich in der Haute Cuisine verwendet wird. Und Emelyanychev reizt diesen Widerspruch genüsslich aus. Seine Interpretation erinnert an ein Wimmelbild, auf dem überall und gleichzeitig etwas passiert. Kaum sind wir in der Lage, mit unseren Ohren all dem zu folgen, was er uns vorstellt – so ziseliert, kleinteilig und quirlig ist das Ergebnis. Eine CD, die Lust auf mehr Haydn in Tomatenjus macht. Will sagen: mit Il Pomo d’Oro, dessen Ensemblename auf Deutsch ja nichts anderes als „Die Tomate“ heißt. Sie hören SWR2, den Treffpunkt Klassik mit neuen CDs. Wir bleiben in der Epoche der Klassik, wechseln aber zu Mozart – und zu der erstaunlichen französischen Sopranistin Sabine Devieilhe. Sie hat gemeinsam mit dem Ensemble Pygmalion unter Raphaël Pichon bei ERATO eine CD veröffentlicht, die den amourösen und künstlerischen Beziehungen Mozarts zu drei singenden Schwestern nachspürt, zu Josepha, Aloysia und Constanze Weber. An den Anfang aber hat Devieilhe ein Vorspiel gesetzt: Mozart in Erwartung kommender Liebesabenteuer. Mit einer Musik, die Sie irgendwoher kennen werden: Wolfgang Amadeus Mozart: „Ah, vous dirais-je, Maman“ (Ausschnitt) 2:10 Und dann sinkt sie hin in seine Arme … Aber nicht in die des Weihnachtsmanns, wie deutsche Hörer vermuten könnten, sondern in die Arme des schlimmen Silvandre. Sie hörten Sabine Devieilhe, begleitet von Arnaud de Pasquale am Fortepiano, mit dem französischen Lied „Ah, vous dirais-je, Maman“. Mozart hat es für Klavier variiert – hier wird es mit der traditionellen Gesangsmelodie zusammengeführt. Sicher hätte sich Mozart gewünscht, dass sein Jugendschwarm Aloysia Weber nach diesem Muster in seine Arme gefallen wäre, aber dazu ist es bekanntlich nicht gekommen. Aloysia schlug Mozarts Hand aus – und er heiratete dafür später ihre Schwester Constanze. Aber Aloysias phänomenale Stimme hat er trotzdem verewigt, mit einigen seiner schönsten Arien. Zum Beispiel mit „Vorrei spiegarvi“, das Aloysias Vorliebe für empfindsame Melodien und ihre Begeisterung für Portamenti aufgreift: 5 Wolfgang Amadeus Mozart: „Vorrei spiegarvi, oh Dio“ KV 418 6:35 „Vorrei spiegarvi, oh Dio“: Das ist schon beachtlich, wie Sabine Devieilhe diese Mozart-Arie singt, mit perfekten Registerwechseln, irrwitzig weiten Intervallsprüngen und seelenvoller Tongebung. Wer die 30-jährige Französin vor allem als Koloratursopranistin schätzt, mit virtuosen Glanzstücken wie der Olympia-Arie aus „Hoffmanns Erzählungen“ oder der „Glöckchen-Arie“ aus „Lakmé“, der kennt sie nicht wirklich. Auf ihrer Mozart-CD „Die WeberSchwestern“ stellt sie unter Beweis, dass sie eine ausgesprochen schöne, runde, lyrische Stimme besitzt. Alles wird delikat und wohltemperiert gesungen, nie platzt ein Ton heraus, nichts gerät kitschig oder plakativ. Mit dem Ensemble Pygmalion und seinem Dirigenten Raphaël Pichon hat Devieilhe obendrein ausgezeichnete musikalische Partner gefunden, die nicht nur – wie bei manch anderem Arienalbum – eine obligate Klangtapete liefern, sondern die wunderbar mit ihr konzertieren und dabei aparte instrumentale und farbliche Nuancen erzielen. Neben Aloysia Weber kommt natürlich ihre Schwester Constanze zum Zuge, Mozarts Ehefrau, mit dem „Et incarnatus est“ aus der c-Moll-Messe. Und auch die Älteste aus dem Weber-Clan ist mit von der Partie, Josepha nämlich, für die Mozart die hanebüchen schwere Partie der Königin der Nacht in der „Zauberflöte“ komponierte: Wolfgang Amadeus Mozart: „Die Zauberflöte, „Der Hölle Rache“ 2:40 Das war noch einmal Sabine Devieilhe, diesmal mit der zweiten Arie der Königin der Nacht aus der „Zauberflöte“, in der sie „Der Hölle Rache“ beschwört. Noch nie habe ich gehört, dass eine Sängerin bei den Wiederholungen der Koloraturen in der extremsten Höhenlage auch noch dynamische Abstufungen vornehmen kann – genau das macht Sabine Devieilhe aber. Man hat das Gefühl, dass mit dieser halsbrecherischen Partie ihre Möglichkeiten noch lang nicht ausgeschöpft sind, weder im Tonumfang, noch in der Dynamik. Und gleichzeitig führt sie ihre stupende Gesangstechnik nie um ihrer selbst willen vor, sie dient immer in erster Linie der musikalischen Idee. Ihr Familienportrait von Mozart und den WeberSchwestern ist das reine Hörvergnügen. Auch der französische Pianist David Kadouch, der mit Devieilhe das Geburtsjahr 1985 teilt, hat ein Konzeptalbum vorgelegt. „En plein air“ heißt seine neueste CD, die bei MIRARE erschienen ist. Es geht also ins Freie, an die frische Luft, und wir treten mit ihm gleich mal in den Wald ein: Robert Schumann: „Waldszenen“ op. 82 Nr. 1 und 2 3:30 Unverkennbar: Robert Schumann war das, mit den ersten beiden Nummern aus den „Waldszenen“, dem „Eintritt“ und dem „Jäger auf der Lauer“, gespielt von David Kadouch. „En plein air“, also wörtlich übersetzt „draußen“, heißt die CD, aus der dieses Beispiel stammt. Man mag dabei auch an die Pleinairmalerei denken, an all die Künstler, die mit ihren Staffeleien aufs Land zogen, um die Berge und Täler, die Wälder und Felder möglichst naturgetreu ins Bild zu setzen. Genau das unternimmt Kadouch auch bei Schumann: Er verwirklicht eine räumliche Staffelung, wenn er den Wald betritt. Sein Spiel suggeriert Nähe und Ferne, Vordergrund und Hintergrund, Standort und Ausblick, als ob man in eine Landschaft schaut. Und er versteht es, eine erstaunliche Magie zu entwickeln, die seine Hörer hypnotisch in Bann zieht. Zum Beleg spiele ich Ihnen als nächstes das Stück „Vogel als Prophet“ vor, das berühmteste der neun „Waldszenen“. Kadouch intoniert hier die stilisierten Gesangslinien des Vogels mit großem Raffinement: Es erinnert an Perlen, die abtropfen, oder an ein Geschmeide, das durch die Finger gleitet. Robert Schumann: „Waldszenen“ op. 82 Nr. 7 2:55 6 David Kadouch spielte die Nummer 7 aus Schumanns „Waldszenen“: „Vogel als Prophet“. Auf seinem Konzeptalbum „En plein air“ vereint er vier Werke, die alle nach draußen oder in die Fremde führen. Vor dem Schumann erklingt Bachs „Capriccio sopra la lontananza“, am Ende steht Bartóks hochvirtuoser Klavierzyklus „Im Freien“. Dazwischen aber stochern wir mit Leoš Janáček „Im Nebel“. Den ersten Satz aus diesem vierteiligen Werk möchte ich Ihnen jetzt vorstellen. Es ist verblüffend, wie es David Kadouch hier gelingt, die einzelnen Stimmen der Akkorde ganz verschieden zu gewichten. Bei ihm klingen die Akkordfolgen nie kompakt oder soldatisch, er staffelt die einzelnen Töne vielmehr unterschiedlich und erzielt dadurch abermals einen räumlichen Effekt: Die Musik wird ins Offene gestellt und kann frei atmen, „En plein air“ eben. Leoš Janáček: Im Nebel, 1. Satz 3:20 Sie hörten David Kadouch mit dem einleitenden Andante aus Janáčeks „Im Nebel“: ein außerordentlicher junger Musiker, der mit seiner CD „En plein air“ ein abwechslungsreiches, delikat gespieltes und klug konzipiertes Album vorgelegt hat. In der Generation der U 30, also der musizierenden Twens, finden sich im Moment ohnehin einige bemerkenswerte Künstler – es muss einem wirklich nicht bang um die Zukunft sein. Eine aus diesem Zirkel, eine junge Geigerin, möchte ich Ihnen noch vorstellen: Es ist die Norwegerin Vilde Frang, die bei Kolja Blacher studiert hat und von Anne-Sophie Mutter gefördert wurde. Sie hat nun zwei Violinkonzerte des 20. Jahrhunderts eingespielt, wie sie verschiedener nicht sein könnten: nämlich die Konzerte von Erich Wolfgang Korngold und Benjamin Britten. Beide Werke entstanden etwa zur selben Zeit, um das Jahr 1940, und beide Komponisten befanden sich damals im amerikanischen Exil. Aber während Korngold in seinem Gattungsbeitrag den Blick zurück wählt und eine unwiederbringlich vergangene Epoche mit nostalgischer Wehmut verklärt, wirkt Brittens Konzert streckenweise wie ein Pandämonium und spiegelt die katastrophische Zuspitzung der weltpolitischen Ereignisse, wie er sie 1939 erlebt haben muss. Wir hören uns den zweiten Satz bis zum Eintritt der Kadenz an – dieses Scherzo erinnert an einen Totentanz: Benjamin Britten: Violinkonzert op. 15, 2. Satz 5:45 Vilde Frang spielte den zweiten Satz aus Brittens Violinkonzert. Aufgenommen hat sie das Werk mit dem hr-Sinfonieorchester unter der Leitung von James Gaffigan für das Label WARNER. Die Virtuosität, die Britten seinen Interpreten abverlangt, ist weniger auf Brillanz ausgerichtet als auf das bizarre Moment, auf die extremen Lagen, auf ungewöhnliche Klangeffekte. Und die exzellente norwegische Geigerin gewinnt ihrem Solopart das ganze Spektrum an Finessen und Extravaganzen ab. Aber auch die Sinfoniker des Hessischen Rundfunks sind zu loben, denn Brittens Partitur erinnert mitunter an ein Konzert für Orchester und lebt vom originellen Umgang mit den verschiedenen Instrumenten. Wer aber schwelgen will in betörenden Kantilenen und süffigen Klängen, der kommt bei Korngold ganz auf seine Kosten. Erich Wolfgang Korngold war bereits ein erfolgreicher Filmkomponist in Hollywood, bevor ihn der Rassenwahn der Nazis zwang, seine österreichische Heimat endgültig zu verlassen. In seinem Violinkonzert von 1945 greift er etliche Themen auf, die er Ende der 1930er Jahre in Filmen zum Einsatz gebracht hatte. Dieser „Hollywood-Sound“ hat dazu geführt, dass Korngolds Violinkonzert immer wieder unter Kitschverdacht gestellt wurde. Wenn es aber mit so viel Geschmack und Raffinement gespielt wird wie von Vilde Frang, dann kann man sich dem Reiz dieser Musik kaum entziehen: Erich Wolfgang Korngold: Violinkonzert D-Dur op. 35, 2. Satz (Ausschnitt) 4:05 Das war der erste Teil der Romance aus dem Violinkonzert von Erich Wolfgang Korngold, gespielt von Vilde Frang und dem hr-Sinfonieorchester unter der Leitung von James 7 Gaffigan. Vilde Frang kostet hier alle Möglichkeiten des Violinmelos aus, vom satten, bratschigen Ton im Brustregister bis zum radikalen Non-Vibrato. Vor allem fasziniert sie mit ihrer leuchtenden Höhenlage, mit kristallinen, flötenden, immateriellen Klängen. Es ist, als würden sich die Melodien in eine andere Welt aufschwingen und ganze Himmelssphären durchkreuzen. Und mit diesem Ausflug in himmlische Höhen endet der heutige Treffpunkt Klassik mit neuen CDs. Eine Aufstellung aller Aufnahmen, die ich Ihnen heute präsentieren durfte, finden Sie im Internet unter www.swr2.de. Dort warten auf Sie auch weitere Angebote – zum Beispiel können Sie da die ganze Sendung gleich nochmal hören, eine ganze Woche lang … Fürs heutige Zuhören dankt Ihnen herzlich: Susanne Stähr. Und empfiehlt Ihnen das weitere Programm von SWR2, zunächst mit dem Kulturservice und dann mit Aktuell und den neuesten Nachrichten.
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