Leseprobe aus: Angela Sommer-Bodenburg Kasimir von Käsebleich kommt in die Schule Mehr Informationen zum Buch finden Sie hier. © 2006 by Rowohlt Verlag GmbH Ein ungewöhnliches Gespinsterkind Es war Sonnabend, der neunzehnte September, eine Viertelstunde vor Mitternacht. Um diese Zeit brannte in den meisten Häusern von Schwarzenburg kein Licht mehr. Die Straßen lagen wie ausgestorben da und auch die große, im Quadrat gebaute Schule machte einen verlassenen Eindruck. Aber sie war keineswegs verlassen! In den Klassenzimmern, die zum Innenhof lagen und die man von der Straße aus nicht sehen konnte, hatte der Unterricht begonnen. Es waren jedoch keine Menschenkinder, die hier lernten – es waren Gespinsterkinder! Die Gespinsterkinder flogen erst spät am Abend zur Schule, wenn die Menschenkinder längst in ihren Betten lagen. Im Malstudio unter dem Dach hatte Olivia von Deckweiß, die Lehrerin der ersten Klasse, Tuschkästen und Pinsel, Wassergläser und Papierbögen ausgeteilt. Nun schwebten ihre zwölf Schüler in der Luft und malten Sterne, Monde und Kometen. Plötzlich riefen Maximilian und Moritz von Doppel-Moppel wie aus einem Mund: »Da ist Kasimir!« Maximilian und Moritz waren Gespinsterzwillinge und sahen sich so ähnlich, dass nicht einmal ihre eigenen Eltern sie auseinander halten konnten. 9 »Kasimir ist da?« Mina von Muffensausen fiel vor Freude der Pinsel aus der Hand. Er landete auf ihrem Sternenbild und machte einen dicken gelben Klecks. »Ich hab niemanden gesehen«, brummte Arno von Angst und Bange. Er schwebte in der hintersten Ecke des Malstudios und malte einen roten Kometen mit einem langen gelben Schweif. »Doch, es war Kasimir«, sagte Maximilian. »Ich hab ihn genau gesehen.« »Ich auch«, sagte Moritz. »Er ist gerade mit seinen Eltern vorbeigeflogen.« »Dann kommt er bestimmt zu uns in die Malstunde!« Mina war ganz aufgeregt. »Das glaube ich nicht«, sagte Olivia von Deckweiß. »Kasimir und seine Eltern sind auf dem Weg zu Wieland von Waghals. Sie haben etwas Wichtiges zu besprechen.« »Wahrscheinlich wollen sie besprechen, wie Kasimir schneller wachsen kann!«, rief Arno von Angst und Bange. »Arno, bitte!« Olivia von Deckweiß warf ihm einen tadelnden Blick zu. »Ist Kasimir etwa nicht winzig klein?«, sagte Arno und lachte. Sein Lachen klang wie eine schlecht geölte Tür. 10 Olivia von Deckweiß räusperte sich dreimal scharf. Das tat sie nur, wenn jemand drauf und dran war, etwas sehr Dummes zu sagen. Doch Arno hatte offenbar vergessen, was ihr dreimaliges Räuspern bedeutete. »Kasimir ist so winzig klein, dass man eine Lupe braucht, wenn man ihn angucken will«, posaunte er heraus. »Nun reicht es aber!«, sagte Olivia. »Wir Gespinster machen uns über niemanden lustig – einerlei, ob er nun besonders groß oder besonders klein ist. Und Kasimir ist sogar sehr groß für sein Alter!« »Wie alt ist er denn?«, wollte Zita von Zitterpartie wissen. »Sechs Tage«, antwortete Olivia. »Sechs Tage?«, wiederholte Zita ungläubig. Auf einmal redeten alle Gespinsterkinder durcheinander. »Wusstet ihr das?« – »Nein!« – »Und er kann schon so toll malen!« – »Meine Schwester ist vier Wochen alt und sie kann noch nicht mal sprechen.« – »Ich dachte, Kasimir wäre zwei Jahre!« – »Ich auch!« – »Ich dachte, er wäre drei Jahre.« »Ruhe, Kinder!«, rief Olivia von Deckweiß. Sie wartete, bis ihre Schüler wieder zuhörten. 11 Dann erzählte sie, dass Kasimir an seinem zweiten Lebenstag angefangen hatte zu sprechen und dass er bereits lesen und rechnen konnte. »Lesen und Rechnen lernen wir doch erst in der zweiten Klasse«, staunte Olaf von O-wie-Schrecklich. »Ja, und dann dauert es mehrere Jahre, bis ihr richtig lesen und rechnen könnt«, sagte Olivia von Deckweiß. »Ihr seht also, Kasimir ist wirklich ein ungewöhnliches Gespinsterkind!« »Vor allem ist er ungewöhnlich nett«, seufzte Mina von Muffensausen. Das ist ja eine Überraschung! Eine Viertelstunde später pochte es leise an der Tür des Malstudios. »Jemand hat geklopft!«, rief Mina. Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Vielleicht ist es ja Kasimir?, dachte sie. »Ich hab nichts gehört«, brummte Arno von Angst und Bange, der noch immer an seinem Kometen malte. »Sieh doch mal nach, Mina!«, sagte Olivia von Deckweiß. 12 Mina von Muffensausen stellte ihren Pinsel ins Wasser und schlüpfte durchs Schlüsselloch. Und wirklich: Draußen im Gang schwebte Kasimir von Käsebleich! Seine Mutter hatte ihm einen gelben Jogginganzug angezogen, den sie in einem Koffer mit Kinderkleidung entdeckt hatte. Dazu trug er eine gelbweiß geringelte Zipfelmütze, unter der seine weiße Haarlocke hervorguckte. »Kasimir!«, freute sich Mina. Er war schon wieder gewachsen und hatte nun die Größe eines einjährigen Gespinsterkindes. Ansonsten sah er mit seiner leicht nach oben gebogenen Nase, seinen seitlich abstehenden Ohren und den bernsteinfarbenen Augen noch genauso aus wie vor zwei Tagen. »Guten Abend, Mina!«, sagte er und schaute sie voller Bewunderung an. Mina hatte türkisblaue Augen, krause orangefarbene Haare und ganz viele goldene Pünktchen im Gesicht, genau wie Kasimirs Mutter, Malwine von Käsebleich. Menschen nannten diese Pünktchen Sommersprossen, aber unter Gespinstern hießen sie Sternentupfer. Mina war das hübscheste Gespinstermädchen, das ihm je begegnet war!, fand Kasimir. Aber das konnte er ihr natürlich nicht sagen. 13 Auch Mina wusste nicht, wie sie das Gespräch beginnen sollte. Da kam Olivia von Deckweiß durch das Schlüsselloch geschwebt. »Kasimir, du? Das ist ja eine Überraschung!«, rief sie. »Guten Abend«, sagte Kasimir. »Möchtest du zu uns ins Malstudio kommen?« »Wenn ich nicht störe . . . «, antwortete er. »Du störst uns nie«, sagte Olivia. Verlegen zupfte Kasimir an seiner Haarlocke. »Aber ich kann nicht lange bleiben, hat Wieland gesagt.« »Besser ein kurzer Besuch als gar keiner«, meinte Olivia. »Ich male heute die Milchstraße«, verriet Mina von Muffensausen. »Den breiten, hellen Gürtel, der durch den vereinigten Glanz sehr vieler, weit entfernter Sterne entsteht?«, fragte Kasimir. Das hatte er auf einer Tafel gelesen, als er mit seinen Eltern von außen in die erleuchteten Klassenzimmer gespäht hatte. »Wie bitte?«, sagte Mina. »Das stand auf der Tafel«, erklärte Kasimir. »Was die Milchstraße ist, lernen die Gespinsterkinder erst in der zehnten Klasse«, sagte Olivia. »Wir in der ersten Klasse malen sie nur.« 14 Jetzt schwebte Helmo von Hauchdünn, der als besonders neugierig galt, aus dem Schlüsselloch heraus. »Ach, du dickes Gespinst! Das ist ja Kasimir!«, rief er. Ach, du dickes Gespinst! war sein Lieblingsausdruck. Er benutzte ihn, sooft er konnte. Hinter ihm kam Klara von Klammheimlich, die ebenfalls sehr neugierig war. »Kasimir! Wie geht es dir?«, rief sie. »Mir? Gut«, sagte Kasimir. Als Nächste kamen Maximilian und Moritz von Doppel-Moppel aus dem Schlüsselloch geschlüpft. »Hallo, Kasimir!«, riefen sie beide gleichzeitig. Olivia von Deckweiß rückte ihre Brille zurecht. »Was ist denn das? Findet unsere Malstunde heute im Gang statt?« »Ja!«, riefen Maximilian und Moritz. »Au ja!«, sagte Klara von Klammheimlich. »Dann bemalen wir die Wände!« »Das werden wir ganz bestimmt nicht tun.« Olivia klatschte in die Hände und kommandierte: »Alle zurück ins Malstudio!« Die Gespinsterkinder verschwanden eins nach dem anderen im Malstudio. Mina von Muffensausen war die Letzte, die durchs Schlüsselloch schwebte. Nur Kasimir rührte sich nicht vom Fleck. 15 »Möchtest du nicht mitkommen?«, fragte Olivia von Deckweiß. »Doch«, antwortete er. »Aber du hast gesagt, zurück ins Malstudio. Und ich war nicht im Malstudio. Ich war im Studierzimmer von Wieland von Waghals.« Olivia lächelte. »Dann lade ich dich jetzt ganz herzlich zu unserer Malstunde ein – als Ehrengast!« »Nicht als Ehrengast«, bat Kasimir. »Einfach als . . . Kasimir.« »Du magst keine Sonderbehandlung?« Er schüttelte den Kopf. »Ich will ja kein Sonderling sein.« »Das bist du auch nicht«, versicherte Olivia. Sie verschwand im Malstudio und Kasimir folgte ihr. 16 Schritt für Schritt In der Zwischenzeit hatten Kasimirs Eltern im Studierzimmer von Wieland von Waghals Platz genommen. Nun zog Kasimirs Vater einen schmalen Umschlag aus der Tasche seiner Seidenjacke. Kunibert von Käsebleich hatte violette Augen, große Ohren, die seitlich vom Kopf abstanden, eine leicht nach oben gebogene Nase wie Kasimir und glattes silbergraues Haar. »Malwine und ich haben alles genau so gemacht, wie du es gesagt hattest«, erklärte er und legte den Umschlag auf Wielands Schreibtisch. »Sehr gut«, sagte Wieland von Waghals. Wieland hatte buschige weiße Augenbrauen, eine gebogene Nase und lange silberne Haare. Seine Augen waren von einem intensiven Blau. Er trug einen weißen, mit Säulen, Zylindern, Würfeln und anderen geometrischen Figuren bestickten Seidenmantel. Seine Gestalt war fast durchscheinend, denn Wieland hatte ein Alter erreicht, das selbst für Gespinster ungewöhnlich hoch war: In zwei Wochen wurde er vierhundertneunundzwanzig Jahre alt! Früher hatte Wieland an der Gespinsterschule Geschichte unterrichtet. Doch das war vor Malwi17 nes und Kuniberts Zeit gewesen. Heute verbrachte er seine Nächte mit dem Studium der alten Dokumente und Schriftstücke. Es gab kein Gespinst, das so viel über ihre Geschichte wusste wie Wieland von Waghals. Mit seinen Fingern strich Wieland über den Umschlag. »Könntest du mir noch einmal Schritt für Schritt berichten, wie ihr vorgegangen seid, Kunibert?«, bat er. »Selbstverständlich«, sagte Kunibert. Seine Gedanken wanderten zum vergangenen Sonntag zurück, dem dreizehnten September. Als die Sonne untergegangen war, hatte Malwine dreizehnmal geniest, dann hatte sie sechsundzwanzigmal Schluckauf gehabt, dann hatte sie zweiundfünfzigmal gegähnt – und dann war Kasimir aus ihrem Mund herausgeschwebt! Kasimir war aber so klein gewesen, dass Malwine ihn nicht in einer Holztruhe schlafen lassen wollte, wie es bei Gespinsterbabys üblich war. Sie hatte sich eine Wiege für Kasimir gewünscht und Kunibert war noch in derselben Nacht losgeflogen und hatte sich nach einer Wiege umgesehen. Dabei war er in das Zimmer eines Menschenmädchens mit dem Namen Franziska gekommen. Franziska hatte Kunibert ihre Puppenwiege geschenkt. 18 Eigentlich durften Gespinster keine Geschenke von Menschen annehmen. Aber Kunibert wollte Malwine nicht enttäuschen und so hatte er sich für die Wiege bedankt und sie mitgenommen. Und dann hatten sie Kasimir in der Wiege schlafen lassen! Kunibert und Malwine wussten allerdings nicht, dass neugeborene Gespinster in ihren ersten drei Lebenstagen völlig schutzlos waren und mit nichts Menschlichem in Berührung kommen durften. Außerdem hatten sie den Gespinstertaler, den Malwines Eltern Kasimir geschenkt hatten, zu ihm in die Wiege gelegt. Wieland war sehr besorgt gewesen, als er davon erfahren hatte. Er hatte mit Kasimir gesprochen und festgestellt, dass Kasimir außergewöhnliche Kräfte besaß. Diese Kräfte waren jedoch durch irgendetwas blockiert. Nach Wielands Vermutung war diese Blockierung durch das Schlafen in der Menschenwiege eingetreten. Um die Blockierung aufzuheben, sollten Malwine und Kunibert den gesamten Vorgang – vom Schenken der Wiege bis zum Hineinlegen von Kasimir – wieder rückgängig machen, hatte Wieland verlangt. Ja, und das hatten sie in der vergangenen Nacht getan! 19
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