Rechtswissenschaftliches Institut Strafprozessrecht II Frühlingssemester 2016 Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch 01.03.2016 Seite 1 Rechtswissenschaftliches Institut Vorlesungsprogramm Strafprozessrecht II Lektion Datum Inhalt 1 Di 23.02. Einleitung des Strafverfahrens 2 Di 01.03. Der Anspruch auf Verteidigung 3 Di 08.03 Einschränkungen der Verteidigung 4 Di 15.03. Freie Beweiswürdigung, Unschuldsvermutung, «in dubio pro reo», Recht auf Konfrontation 5 Di 22.03. Verbot des Selbstbelastungszwanges, Abwesenheitsverfahren 6 Di 05.04. Legalitäts- und Opportunitätsprinzip, Strafbefreiung gemäss StGB 52 ff. 7 Di 12.04. Zwangsmassnahmen im Allgemeinen, Haft und Ersatzmassnahmen 8 Di 19.04. Durchsuchung von Aufzeichnungen, Siegelungsverfahren, Beschlagnahme 9 Di 26.04. Strafbefehlsverfahren, abgekürztes Verfahren 10 Di 03.05. Beweisrecht I: Die Auskunftsperson 11 Di 10.05. Beweisrecht II: Der Sachverständige 12 Di 17.05. Die Anklage 13 Di 24.05. Beschleunigungsgebot, Verhältnis von Voruntersuchungs- und Hauptverfahren 14 Di 31.05. Der Grundsatz «ne bis in idem», Revision, Wiederaufnahme eingestellter Verfahren 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 2 Rechtswissenschaftliches Institut Literatur D. Jositsch, Grundriss des schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Aufl., Zürich/St.Gallen 2013 01.03.2016 Seite 3 Rechtswissenschaftliches Institut Strafprozessrecht II Lektion 1: Einleitung des Strafverfahrens 01.03.2016 Seite 4 Rechtswissenschaftliches Institut Übersicht Vorverfahren Im Vorverfahren wird ein Tatverdacht durch Ermittlungen und Beweiserhebungen überprüft. Nach Abschluss der Untersuchungshandlungen wird das Vorverfahren beendet durch: Anklagerhebung Strafbefehl Einstellung des Verfahrens 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 5 Rechtswissenschaftliches Institut Einleitung der Strafverfolgung Anklageprüfung Vorverfahren Ermittlungsverfahren Hauptverfahren Untersuchungsverfahren Einstellung des Verfahrens 01.03.2016 Verurteilung Anklageerhebung (resp. Strafbefehl) Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Einstellung des Verfahrens Freispruch Seite 6 Rechtswissenschaftliches Institut Strafverfolgungsbehörden im Vorverfahren Das Vorverfahren führen durch: Polizei Staatsanwaltschaft Übertretungsstrafbehörden Verfahrensleitung: Staatsanwaltschaft/Übertretungsstrafbehörde 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 7 Rechtswissenschaftliches Institut Zusammenarbeit Polizei/Staatsanwaltschaft (StPO 307) Staatsanwaltschaft als übergeordnete Strafverfolgungsbehörde: Die Staatsanwaltschaft erteilt der Polizei Weisungen und Aufträge und kann Verfahren an sich ziehen. Informationspflichten der Polizei: Die Polizei informiert die Staatsanwaltschaft unverzüglich über schwere Straftaten (Brandtourfälle). Anzeigen, Berichte, Protokolle und Akten werden spätestens nach Abschluss der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft übermittelt. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 8 Rechtswissenschaftliches Institut Einleitung des Vorverfahrens (StPO 300) Durch polizeiliche Ermittlungstätigkeit Durch die Eröffnung einer Strafuntersuchung durch die Staatsanwaltschaft 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 9 Rechtswissenschaftliches Institut Polizeiliche Ermittlungstätigkeit Feststellung des relevanten Sachverhalts Spuren- und Beweissicherung Ermittlung von Geschädigten und Tatverdächtigen Festnahmen, Fahndung 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 10 Rechtswissenschaftliches Institut Eröffnung der Strafuntersuchung durch die Staatsanwaltschaft Bei hinreichendem Tatverdacht Wenn Zwangsmassnahmen angeordnet werden Brandtourfälle Bedingung: Prozessvoraussetzungen bzw. keine Verfahrenshindernisse In Zweifelsfällen gilt «in dubio pro duriore» 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 11 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 1 Kann ein Strafverfahren nach Beginn des Hauptverfahrens eingestellt werden? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 12 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 2 Wer leitet bei Brandtourfällen zu welchem Zeitpunkt die Strafuntersuchung ein? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 13 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 3 Wie hat die Staatsanwaltschaft in den folgenden Konstellationen vorzugehen? a) Eduard erstattet gegen seinen Nachbarn Strafanzeige wegen Ehebruchs b) Nach diversen Untersuchungshandlungen vermutet die Staatsanwaltschaft, dass die Verjährung eingetreten ist, kann den Tatzeitpunkt jedoch nicht eindeutig feststellen. c) Bei einer Hausdurchsuchung wurden bei Werner 800 Thai-Pillen gefunden. Einen Tag später wird Werner vom Tram überfahren und stirbt. d) Bei einer Demonstration sind zahlreiche Polizeikräfte (auch in Zivil) anwesend. Es kommt allerdings zu keinerlei Straftaten. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 14 Rechtswissenschaftliches Institut Strafprozessrecht II Lektion 2: Der Anspruch auf Verteidigung 01.03.2016 Seite 15 Rechtswissenschaftliches Institut Recht auf Verteidigung Zwei Teilgehalte: Formell: Das Recht einen Verteidiger zu bestellen Materiell: Das Recht im Verfahren auf die Entlastung der beschuldigten Person hinzuwirken sowie Einsichts- und Teilnahmerechte 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 16 Rechtswissenschaftliches Institut Arten der Verteidigung Wahlverteidigung (StPO 129) Notwendige Verteidigung (StPO 130) Amtliche Verteidigung (StPO 132) 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 17 Rechtswissenschaftliches Institut Wahlverteidigung (StPO 129) Recht der beschuldigten Person in jedem Strafverfahren und auf jeder Verfahrensstufe einen Verteidiger seiner Wahl zu beauftragen. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 18 Rechtswissenschaftliches Institut Notwendige Verteidigung Zwingende Bestellung eines Rechtsanwaltes: Untersuchungshaft über 10 Tage Drohende Freiheitsstrafe über 1 Jahr Körperliche oder geistige Beeinträchtigung Anwesenheit des Staatsanwaltes bei der Gerichtsverhandlung Abgekürztes Verfahren 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 19 Rechtswissenschaftliches Institut Amtliche Verteidigung Vom Staat bestellte und bezahlte Verteidigung: Bei notwendiger Verteidigung, wenn kein Wahlverteidiger vorhanden ist Fehlende finanzielle Mittel bei komplexen Sach- oder Rechtsfragen und kein Bagatellfall Kein Bagatellfall liegt zwingend bei einem zu erwartenden Strafmass von über vier Monaten vor 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 20 Rechtswissenschaftliches Institut Wahlverteidigung/amtliche Verteidigung Freiwillige Verteidigung Amtliche Verteidigung Wahlverteidigung Wahlverteidigung Amtliche Verteidigung Voraussetzung: Voraussetzung: Die beschuldigte Person hat selbst keinen Verteidiger bestellt 01.03.2016 Notwendige Verteidigung Fehlende Finanzielle Mittel komplexe Sach- oder Rechtsfragen Kein Bagatellfall Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 21 Rechtswissenschaftliches Institut Rolle der Verteidigung StPO 128 Die Verteidigung ist nur den Interessen der beschuldigten Person verpflichtet. Die Verteidigung ist aber nicht an die Weisungen der beschuldigten Person gebunden. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 22 Rechtswissenschaftliches Institut Beginn der Verteidigung Hinweis bei der ersten Einvernahme, dass ein Verteidiger bestellt oder eine amtliche Verteidigung beantragt werden kann (StPO 158 I c) Bei Einvernahmen durch die Staatsanwaltschaft oder die Polizei Bestellung des Verteidigers durch die Staatsanwaltschaft bei notwendiger Verteidigung 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 23 Rechtswissenschaftliches Institut Bestellung der Verteidigung I Wahlverteidigung: Nach Vereinbarung zwischen Verteidiger und beschuldigter Person durch ein Vollmacht Notwendige Verteidigung: Der beschuldigten Person wird zur Bestellung eines Verteidigers eine Frist gesetzt Ist die beschuldigte Person anschliessend nicht verteidigt, wird ein amtlicher Verteidiger bestellt 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 24 Rechtswissenschaftliches Institut Bestellung der Verteidigung II Bestellung der amtlichen Verteidigung: Die amtliche Verteidigung wird durch die Verfahrensleitung bestellt Die Wünsche der beschuldigten Person werden nach Möglichkeit berücksichtigt Kein Anspruch auf einen Verteidiger seiner Wahl 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 25 Rechtswissenschaftliches Institut Genügende Verteidigung I Der Verteidiger kann die Verteidigungsrechte wirksam ausüben: Verteidiger hat die Verfahrensrechte der beschuldigten Person Ausreichend Zeit vor Verfahrenshandlungen, Rücksicht auf Verfügbarkeit des Verteidigers und Information des Verteidigers Freier schriftlicher und mündlicher Verkehr zwischen Verteidigung und der beschuldigten Person 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 26 Rechtswissenschaftliches Institut Genügende Verteidigung II Pflicht zu sorgfältiger Verteidigung: Wahrnehmung der Verteidigungsrechte im Vorverfahren (z.B. Akteneinsicht, Teilnahmerechte) Die notwendige/amtliche Verteidigung muss an der Hauptverhandlung teilnehmen und auf relevante Anklagepunkte inhaltlich eingehen Rechtsmittel in einigermassen aussichtsreichen Fällen 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 27 Rechtswissenschaftliches Institut Entschädigung der amtlichen Verteidigung Die amtliche Verteidigung wird vom Staat entschädigt Bemessung anhand der Anwaltstarife des Bundes bzw. Kantons Nur für notwendige und verhältnismässige Leistungen Rückzahlungspflicht: Wenn die finanziellen Mittel während dem Prozess vorhanden sind oder der beschuldigten Person nach dem Strafverfahren zukommen Verjährung innert 10 Jahren 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 28 Rechtswissenschaftliches Institut Entschädigung der Wahlverteidigung Durch die beschuldigte Person gemäss Vereinbarung Anspruch auf Entschädigung für die Wahlverteidigung (StPO 429 I a) Nur soweit die Anwaltskosten angesichts der Strafsache verhältnismässig und notwendig sind 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 29 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 1 Weil Miguel mit seiner amtlichen Verteidigung nicht zufrieden ist, nimmt er seine Verteidigung in die eigene Hand: Miguel verschickt an Staatsanwaltschaft, Zwangsmassnahmengericht und später das erstinstanzliche Gericht Stellungnahmen, Beweisanträge und Haftentlassungsgesuche im Umfang von insgesamt mehreren hundert Seiten. Die amtliche Verteidigung macht andere, teilweise widersprechende Eingaben. Wie haben die Strafbehörden damit umzugehen? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 30 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 2 Saralisa wird dem Antrag der Staatsanwaltschaft entsprechend vom Gericht zu 4 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Anschliessend kann sie den von ihr bestellten Wahlverteidiger Dieter nicht bezahlen. Kann Dieter seine Forderung gegenüber dem Staat geltend machen? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 31 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 3 Im Berufungsverfahren stellt sich heraus, dass der wegen Mordes verurteilte Karl ungenügend verteidigt wurde: Sein damaliger Verteidiger war während den Einvernahmen durchgehend betrunken und schlief während der Hauptverhandlung mehrmals ein. Wie hat das Berufungsgericht damit umzugehen? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 32 Rechtswissenschaftliches Institut Strafprozessrecht II Lektion 3: Einschränkungen der Verteidigung 01.03.2016 Seite 33 Rechtswissenschaftliches Institut Einschränkungen der Verteidigung Rechtliche Einschränkungen der Verteidigungsrechte (z.B. Schutzmassnahmen) Rein faktische Einschränkungen (bspw. unzureichende finanzielle Mittel) Grundsatz: Trotz Einschränkungen der Verteidigungsrechte muss ein insgesamt faires Verfahren gewährleistet bleiben. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 34 Rechtswissenschaftliches Institut Rolle des Verteidigers I 128 StPO: Aufgabe der Verteidigung ist ausschliesslich die Interessenwahrung der beschuldigten Person Vorbehalten sind Recht… z.B. keine Geldwäscherei durch den Anwalt …und Standesregeln: Keine Beeinflussung von Zeugen, vertrauliche Gesprächsinhalte / Dokumente 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 35 Rechtswissenschaftliches Institut Rolle des Verteidigers II Beispiele Standesregeln des SAV: Art. 26 Vertrauliche Kommunikation unter Kollegen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, die Kolleginnen oder Kollegen eine Mitteilung senden, die vertraulich sein soll, müssen diesen Willen in der Mitteilung klar zum Ausdruck bringen. Als vertraulich bezeichnete Dokumente und Gesprächsinhalte dürfen keinen Eingang in gerichtliche Verfahren finden. Art. 7 Kontakt mit Zeugen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte unterlassen jede Beeinflussung von Zeugen und Sachverständigen. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 36 Rechtswissenschaftliches Institut Unzureichende Mittel der beschuldigten Person Kein Anspruch auf freie Anwaltswahl bei amtlicher Verteidigung Entschädigungspolitik durch Staatsanwaltschaft oder Gerichte Auszug aus dem Leitfaden für amtliche Mandate der Oberstaatsanwaltschaft Zürich (S. 26): „Kein Grund für überlange Besprechungen bildet ein unkooperatives Verhalten der beschuldigten Person gegenüber der amtlichen Verteidigung“. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 37 Rechtswissenschaftliches Institut Weitere Einschränkungen der Verteidigung Sitzungspolizeiliche Massnahmen (StPO 63 ff.) Keine umfassende Übersetzung (StPO 68) Übersetzungen nur über den wesentlichen Inhalt der Verfahrenshandlungen (StPO 68 II) Kein Anspruch auf vollständige Übersetzung der Akten Wechsel der Verteidigung 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 38 Rechtswissenschaftliches Institut Beginn der Verteidigung/Anwalt der ersten Stunde Recht der beschuldigten Person auf Verteidigung ab der ersten Einvernahme Belehrungspflicht der einvernehmenden Behörde, ansonsten absolute Unverwertbarkeit. Teilgehalte des Rechts auf einen Anwalt der ersten Stunde: Recht einen Anwalt zu kontaktieren Beschränkte Unterstützungspflicht der Staatsanwaltschaft bei der Anwaltssuche 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 39 Rechtswissenschaftliches Institut Einschränkung von Teilnahmerechten Bei Verhinderung des Rechtsbeistandes (keine Wiederholung, wenn unentschuldigt oder unverhältnismässig aufwändig) Im Rechtshilfeverfahren (grundsätzlich kein Anspruch auf Teilnahme bei Beweiserhebungen im Ausland) Durch Schutzmassnahmen 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 40 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 1 Der beschuldigte Wladimir kann zwar etwas deutsch sprechen, aber nicht lesen. Ist deswegen die Bestellung eines Verteidigers zur Wahrung der Interessen von Vladimir geboten? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 41 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 2 Der amtliche Verteidiger Beat nimmt seine Aufgabe in verschiedener Hinsicht sehr ernst: Welche Tätigkeiten werden ihm vergütet werden? a) Beat erscheint pünktlich zur Einvernahme der beschuldigten Person. Die Einvernahme findet jedoch zwei Stunden verspätet statt, währenddessen Beat auf seinem Smartphone Online-Poker spielt. b) Auf der Suche nach einer mysteriösen Dame, welche den Beschuldigten entlasten könnte, verbringt Beat zahlreiche Nächte in diversen Cabarets. Er findet die Dame tatsächlich und erreicht dank ihr einen Freispruch. c) Beat vertritt den Beschuldigten nebenbei auch in miet- und arbeitsrechtlichen Belangen 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 42 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 3 Nach einem Verkehrsunfall, an welchem August beteiligt war, befragt die Polizei die umstehenden Personen (auch August), ob sie den Unfallhergang gesehen haben bzw. wo sie zu diesem Zeitpunkt waren. Anschliessend wird August auf dem Polizeiposten eingehend befragt. Dabei wird ihm mitgeteilt, dass man ihn für den Unfallverursacher halte und er wohl massiv zu schnell gefahren sei. Die Befragung wird protokolliert. Später wird August noch von einem Staatsanwalt einvernommen. Zu welchem Zeitpunkt muss August über seine Rechte als beschuldigte Person belehrt werden und ab wann hat er Anspruch auf die Anwesenheit eines Verteidigers? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 43 Rechtswissenschaftliches Institut Strafprozessrecht II Lektion 4: Freie richterliche Beweiswürdigung, Unschuldsvermutung, «in dubio pro reo» Recht auf Konfrontation 01.03.2016 Seite 44 Rechtswissenschaftliches Institut Unschuldsvermutung, «in dubio pro reo» und freie Beweiswürdigung Unschuldsvermutung 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 45 Rechtswissenschaftliches Institut Unschuldsvermutung (StPO 10 I) «Jede Person gilt bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig.» Beweislastregel: Es ist Aufgabe des Staates alle strafbegründenden Umstände darzulegen Ohne rechtskräftige Verurteilung muss die betroffene Person als unschuldig behandelt werden: Keine «de facto Strafen» Gilt während des ganzen Verfahrens 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 46 Rechtswissenschaftliches Institut «in dubio pro reo» (StPO 10 III) Bei «unüberwindlichen Zweifeln» ist der für die beschuldigte Person günstigere Sachverhalt massgebend. Konkretisierung der Unschuldsvermutung Beweislastregel: Freispruch, wenn der Beweis nicht erbracht werden kann. Beweiswürdigungsregel: Freispruch, wenn am Beweis bei vernünftiger Betrachtung Zweifel bestehen. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 47 Rechtswissenschaftliches Institut Freie Beweiswürdigung Ziel der Beweiserhebung (Wahrheitsgrundsatz) Ergründung der materiellen Wahrheit Die Überzeugungskraft des Beweises ist im Einzelfall zu prüfen, nicht anhand fester Regeln. Einschränkungen der freien Beweiswürdigung: Beweisverwertungsverbote Gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse, Antizipierte Beweiswürdigung Grundsatz des «fair trial», z.B. anonyme Belastungszeugen 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 48 Rechtswissenschaftliches Institut Recht auf Konfrontation I EMRK 6 III d; IPBPR 14 III e Recht auf Anwesenheit bei der Einvernahme von Belastungszeugen Recht, dem Belastungszeugen Fragen zu stellen Teilnahmerecht; ergibt sich aus dem Prinzip des «fair trial» Belastungszeugen im Sinne der Konventionen sind auch Mitbeschuldigte, Auskunftspersonen oder Sachverständige, welche die beschuldigte Person mit ihren Aussagen belasten. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 49 Rechtswissenschaftliches Institut Recht auf Konfrontation II Teilnahmerecht gemäss StPO 147 Gilt für alle Parteien Nicht nur für Einvernahmen Einmalige Gelegenheit das Recht auf Konfrontation auszuüben genügt Bedingung: «adequate and proper opportunity» D.h. den Umständen genügende anwaltliche Vertretung Das Recht auf Konfrontation konnte bezüglich aller wesentlichen Punkte ausgeübt werden 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 50 Rechtswissenschaftliches Institut Einschränkungen des Rechts auf Konfrontation Durch Schutzmassnahmen (StPO 149 ff.) Die Verfahrensleitung hat das rechtliche Gehör und Verteidigungsrechte zu gewährleisten Einschränkungen des Rechts auf Konfrontation sind verhältnismässig 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 51 Rechtswissenschaftliches Institut Anonyme Belastungszeugen Bei erheblichen Einschränkungen des Rechts auf Konfrontation (insbesondere anonyme Belastungszeugen) ist dies im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen. Praxis EGMR: Verurteilungen dürfen nicht ausschliesslich oder in gewichtiger Weise auf Aussagen anonymer Belastungszeugen ergehen. Praxis Bundesgericht: Eine Verurteilung kann ergehen, wenn die beschuldigte Person sich dennoch wirksam verteidigen konnte bzw. das Verfahren insgesamt dem Prinzip des «fair trial» genügt. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 52 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 1 Gemäss StGB 173 II (üble Nachrede) trägt die beschuldigte Person die Beweislast dafür, dass die ehrenrührigen Aussagen/Verdächtigungen wahr sind. Widerspricht dies der Unschuldsvermutung? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 53 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 2 Ist das «Zeugnis vom Hörensagen» als Belastungsbeweis zulässig? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 54 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 3 Brooke behauptet von ihrem Ehegatten Charlie mit einem Messer bedroht worden zu sein. Charlie bestreitet dies vehement. Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage und stützt ihre Beweisführung überwiegend auf ein aussagepsychologisches Gutachten. Richter Bruce spricht Charlie frei: Dies begründet er damit, dass er aussagepsychologische Gutachten aufgrund seiner langjährigen Erfahrung für «Hokuspokus» hält und somit keine Verurteilung ergehen könne. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 55 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 4 Dem Beschuldigten X werden sexuelle Handlungen mit Abhängigen (StGB 188) vorgeworfen. Die Beweislage basiert auf den belastenden Aussagen des minderjährigen Opfers. Zum Schutz des Opfers wird die Einvernahme durch eine Fachperson durchgeführt, welcher die Verteidigung von X schriftlich Ergänzungsfragen unterbreiten kann. Das Opfer weigert sich die von der Verteidigung eingereichten Ergänzungsfragen zu beantworten. Kann X gestützt auf diese Aussagen verurteilt werden? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 56 Rechtswissenschaftliches Institut Strafprozessrecht II Lektion 5: Verbot des Selbstbelastungszwanges Abwesenheitsverfahren 01.03.2016 Seite 57 Rechtswissenschaftliches Institut Verbot des Selbstbelastungszwanges IPBPR 14 III g; StPO 113 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 58 Rechtswissenschaftliches Institut Inhalt des Verbots des Selbstbelastungszwangs I Aussageverweigerungsrecht Z.B. StPO 158 I b; 169 I a Generelle Selbstbelastungsfreiheit Die beschuldigte Person muss sich nicht durch aktives Verhalten belasten. Z.B. keine Pflicht zur Abgabe von Schrift- oder Stimmproben oder zur Herausgabe von Beweisstücken (StPO 265 II) 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 59 Rechtswissenschaftliches Institut Inhalt des Verbots des Selbstbelastungszwangs II StPO 158 I b: Hinweis auf das Recht Aussage und Mitwirkung zu verweigern bei der ersten Einvernahme der beschuldigten Person. StPO 169 I: Zeugnisverweigerungsrecht, wenn durch Selbstbelastung Strafverfolgung droht. Verbot der Verwertung des Schweigens: Gilt nur bei vollständigem Schweigen. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 60 Rechtswissenschaftliches Institut Ausserstrafrechtliche Mitwirkungspflichten I Problematik: Mitwirkungspflichten im Verwaltungsverfahren können zur Selbstbelastung zwingen Steuerrecht: Strafbewehrte Meldepflichten oder nach Mahnung Steuerunterlagen einzureichen (DBG 174; StHG 55) Gemäss DBG 183 I und Ibis dürfen zwangsweise erhobene Beweise in Nachsteuerverfahren, aber nicht in Strafverfahren verwendet werden. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 61 Rechtswissenschaftliches Institut Ausserstrafrechtliche Mitwirkungspflichten II Strassenverkehrsrecht: Strafbewehrte Verhaltenspflichten, um Verkehrsdelikte aufzuklären (SVG 51; 91a; 92). Gemäss Bundesgericht mit «nemo tenetur» vereinbar, aber keine Pflicht des Beschuldigten wahre Angeben zum genauen Unfallhergang zu machen. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 62 Rechtswissenschaftliches Institut «nemo tenetur» und die Duldung von Zwangsmassnahmen Rechtsprechung Bundesgericht: Betroffene müssen Zwangsmassnahmen passiv erdulden. Der Zwang zur aktiven Teilnahme an Zwangsmassnahmen verstösst gegen «nemo tenetur» Rechtsprechung EGMR: Es kommt darauf an, ob das Beweismittel «unabhängig vom Willen der beschuldigten Person existiert» Editionspflicht bei vorbestehenden Akten Kein Zwang einen Atemlufttest zu machen 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 63 Rechtswissenschaftliches Institut Abwesenheitsverfahren StPO 366 ff. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 64 Rechtswissenschaftliches Institut Voraussetzungen des Abwesenheitsverfahrens Die ordnungsgemäss vorgeladene beschuldigte Person blieb der erstinstanzlichen Verhandlung fern Die beschuldigte Person erscheint auch nicht, nachdem sie zu einer zweiten Hautverhandlung vorgeladen wurde Die beschuldigte Person konnte sich ausreichend zu den Tatvorwürfen äussern Die Beweislage lässt ein Abwesenheitsurteil zu Das Gericht kann das Verfahren sistieren 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 65 Rechtswissenschaftliches Institut Durchführung des Abwesenheitsverfahrens Entsprechend den Bestimmungen des ordentlichen erstinstanzlichen Hauptverfahrens (StPO 367 IV) Die Verteidigung kann Parteivorträge vorbringen Urteil anhand der Beweiserhebungen im Vorverfahren und Abwesenheitsverfahren 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 66 Rechtswissenschaftliches Institut Neue Beurteilung, Berufung gegen Abwesenheitsurteil Neue Beurteilung 10 Tage nach der Zustellung des Abwesenheitsurteils (soweit möglich) kann die beschuldigte Person die erneute Beurteilung verlangen. Abweisung des Gesuchs, wenn die beschuldigte Person ordnungsgemäss vorgeladen wurde und unentschuldigt fernblieb. Berufung Gegen das Abwesenheitsurteil ist die Berufung möglich. Berufung und Gesuch um erneute Beurteilung können parallel eingereicht werden. Auf die Berufung wird nur eingetreten, wenn die erneute Beurteilung abgelehnt wird. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 67 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 1 Als im Keller der Wohnung von Mike Diebesgut gefunden wird, beschuldigt dieser wahrheitswidrig seine Vermieterin, woraufhin auch gegen diese ermittelt wird. Später stellt sich heraus, dass Mike die Sachen gestohlen hat. Mike wird nun der Tatbestand von StGB 303 (falsche Anschuldigung) vorgeworfen. Mike ist damit nicht einverstanden und vertritt die Auffassung, dass er sich sonst belastet hätte. Hat Mike Recht? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 68 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 2 Rita zeigt Rupert wegen sexueller Nötigung an. Als Rupert einvernommen wird, bestreitet er die Vorwürfe vehement. Im Verlauf der Ermittlungen stellt sich heraus, dass Rupert die Rita tatsächlich zur Duldung sexueller Handlungen nötigte. Hat Rupert sich nun auch der Ehrverletzung gegenüber Rita schuldig gemacht? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 69 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 3 Verhindert ein Abwesenheitsurteil die Verjährung? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 70 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 4 Die unterdessen untergetauchte beschuldigte Person konnte sich zu Beginn der Strafuntersuchung bei einer ersten Einvernahme zu den Tatvorwürfen äussern. Unterdessen wurden allerdings noch weitere Belastungszeugen ermittelt und die Strafuntersuchung auf weitere Delikte ausgedehnt. Kann die beschuldigte Person in Abwesenheit verurteilt werden? Wenn ja, gestützt auf welche Beweise und für welche Delikte? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 71 Rechtswissenschaftliches Institut Strafprozessrecht II Lektion 6: Legalitäts- und Opportunitätsprinzip, Strafbefreiung gemäss StGB 52 ff. 01.03.2016 Seite 72 Rechtswissenschaftliches Institut Legalitäts- und Opportunitätsprinzip Rechtliche Grundlagen in StGB und StPO: Legalitätsprinzip StPO 7: Verfolgungszwang StPO 8: Verzicht auf Strafverfolgung StPO 316: Vergleich StPO 358: abgekürztes Verfahren Opportunitätsprinzip StPO 6: Untersuchungsgrundsatz StGB 52-54: Strafbefreiung 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 73 Rechtswissenschaftliches Institut Legalitätsprinzip Verfolgungszwang: Pflicht der Strafverfolgungsbehörden bei genügenden Verdachtsmomenten und gegebenen Prozessvoraussetzungen Delikte zu verfolgen Justizgewährungsprinzip: Von einer Straftat Betroffene haben Anspruch auf Strafverfolgung 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 74 Rechtswissenschaftliches Institut Opportunitätsprinzip I Opportunitätsprinzip Gegenstück zum Legalitätsprinzip Verzicht auf Strafe oder Strafverfolgung aus Zweckmässigkeit oder Verhältnismässigkeit Die StPO sieht kein allgemeines Opportunitätsprinzip vor, sondern begrenzt den Anwendungsbereich auf die in StPO 8 bzw. StGB 52 ff. genannten Fälle Das Opportunitätsprinzip wird durch Staatsanwaltschaften oder Gerichte angewendet 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 75 Rechtswissenschaftliches Institut Opportunitätsprinzip II Problematik des Opportunitätsprinzips: Gewaltenteilung Selektionspraxis der Strafverfolgungsbehörden Rechtsgleichheit/Einzelfallgerechtigkeit Vereitelung der Strafzwecke Rolle des Geschädigten Öffentlichkeitsprinzip Absprachen: informelle Kronzeugenregelungen Unschuldsvermutung: Bei Verfahrenseinstellung ohne Urteil 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 76 Rechtswissenschaftliches Institut Strafbefreiung aus Verhältnismässigkeitsgründen StGB 52-54 Grundgedanke: Das Strafrecht dient der Wahrung des Rechtsfriedens Wurde der Rechtsfrieden nicht ernsthaft beeinträchtigt, ist die konsequente Anwendung des Strafrechts unverhältnismässig StGB 52: fehlendes Strafbedürfnis Wurde der Bruch des Rechtsfriedens ausgeglichen, ist zusätzliche Anwendung des Strafrechts ebenfalls unangemessen StGB 53/54: eigene Betroffenheit, Wiedergutmachung 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 77 Rechtswissenschaftliches Institut Fehlendes Strafbedürfnis (StGB 52) Voraussetzungen des Strafverzichts: Schuld und Tatfolgen sind gering 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 78 Rechtswissenschaftliches Institut Wiedergutmachung (StGB 53) Voraussetzungen des Strafverzichts: Schadensdeckung oder Ausgleich Voraussetzungen für eine bedingte Strafe sind erfüllt (StGB 42) Geringes Interesse von Öffentlichkeit und Geschädigten 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 79 Rechtswissenschaftliches Institut Betroffenheit durch eigene Tat (StGB 54) Voraussetzungen des Strafverzichts: Schwere Betroffenheit durch die unmittelbaren Folgen der Tat Bestrafung erscheint als unangemessen Kriterium: Der erlittene Nachteil wird mit der auszufällenden Strafe verglichen 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 80 Rechtswissenschaftliches Institut Vorgehen bei Strafbefreiung Absehen von Strafverfolgung per Nichtanhandnahmeverfügung nur in offensichtlichen Fällen Einstellung des Verfahrens nach Abschluss der Untersuchung durch die Staatsanwaltschaft (StPO 319 I e) durch das Gericht vor der Hauptverhandlung (StPO 320 IV) Schuldspruch mit Strafverzicht nach Beginn der Hauptverhandlung 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 81 Rechtswissenschaftliches Institut Prozessuale Strafverzichtsgründe (StPO 8) Zweck Prozessökonomie Bei mehreren Delikten kann auf die Verfolgung von Straftaten abgesehen werden, die sich auf die Strafe nicht wesentlich auswirken. Retrospektive Konkurrenz: Auf die Ausfällung von Zusatzstrafen kann verzichtet werden, wenn sie nicht erheblich sind. Eine anrechenbare ausländische Strafe entspricht/übersteigt die zu erwartende Strafe Die Staatsanwaltschaft «kann» auf Verfolgung verzichten, wenn die beschuldigte Person von einer ausländischen Strafbehörde verfolgt wird Zusätzlich: Keine überwiegenden Interessen der Privatklägerschaft 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 82 Rechtswissenschaftliches Institut Selbstanzeige Selbstanzeigen führen grundsätzlich nicht zu Strafbefreiung Ausnahme im Steuerrecht: DBG 175 III, 177 III, StHG 56 Ibis Einmal im Leben kann mit der Selbstanzeige Straffreiheit bewirkt werden Bedingung: Die Steuerbehörde erfährt erst durch die Anzeige vom Steuerdelikt und der Steuerpflichtige kooperiert im Nachsteuerverfahren DBG 186 III: Die Straffreiheit gilt auch für weitere Delikte mit Zusammenhang zum Steuerdelikt (z.B. Urkundenfälschung) 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 83 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 1 Dario ist Rechtsanwalt und Präsident der Vormundschaftsbehörde X. Dario wird beschuldigt in seiner nebenamtlichen Tätigkeit als Willensvollstrecker in mehreren Fällen insgesamt Fr. 550‘000.-veruntreut zu haben. Dario ist der Auffassung, dass von Strafe abzusehen sei, weil er von den Folgen seines deliktischen Verhaltens schwer betroffen sei: Das Amt als Präsident der Vormundschaftsbehörde hat er verloren und seine anwaltliche Tätigkeit musste er einstellen. Dadurch habe er seinen Lebensstandard erheblich nach unten korrigieren müssen. Liegt ein möglicher Fall von Strafbefreiung vor? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 84 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 2 Dennis erhebt gegen Anna Strafklage wegen des Diebstahls von 500 Franken. Der Chef der zuständigen Kriminalpolizei kennt Anna gut, weswegen er zwischen Dennis und Anna einen Kompromiss vermittelt: Anna gibt Dennis die Hälfte des Diebesguts zurück. Dennis ist damit einverstanden, woraufhin der Chef der Kriminalpolizei den Fall als abgeschlossen erklärt. Wie ist das Verhalten des Chefs der Kriminalpolizei zu würdigen? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 85 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 3 Der Graffiti-Künstler Andreas wird der Sachbeschädigung in 178 Fällen beschuldigt. Die Staatsanwaltschaft möchte nur jene 30 verhandeln, in welchen der Schaden besonders hoch ist. Ist dies möglich? Wenn ja, unter welchen Voraussetzungen? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 86 Rechtswissenschaftliches Institut Strafprozessrecht II Lektion 7: Zwangsmassnahmen im Allgemeinen, Untersuchungs- und Sicherheitshaft sowie Ersatzmassnahmen 01.03.2016 Seite 87 Rechtswissenschaftliches Institut Zwangsmassnahmen StPO 196: Verfahrenshandlungen der Strafbehörden Grundrechtseingriffe Zweck: Beweissicherung (z.B. Hausdurchsuchung) Sicherstellung der Anwesenheit von Personen (z.B. Vorführung) Gewährleistung der Vollstreckung (z.B. Sicherheitshaft) 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 88 Rechtswissenschaftliches Institut Zwangsmassnahmen Voraussetzungen: Gesetzliche Grundlage Hinreichender Tatverdacht Kein milderes Mittel (Erforderlichkeit) Bedeutung der Straftat rechtfertigt die Zwangsmassnahme (Verhältnismässigkeit i.e.S.) Aber auch analog zu BV 36: Wahrung des Kerngehalts, Eignung des Grundrechtseingriffs 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 89 Rechtswissenschaftliches Institut Zwangsmassnahmen Durchführung: Anordnung durch Staatsanwaltschaft oder zuständiges Gericht Durch die Polizei nur soweit gesetzlich erlaubt: Z.B. StPO 241 III Im Regelfall schriftlich mit Kopie des Befehls zuhanden der betroffenen Person Ausnahme: Geheimhaltungsgründe Rechtsmittel: Beschwerde gemäss StPO 393 ff. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 90 Rechtswissenschaftliches Institut Untersuchungs- und Sicherheitshaft, Ersatzmassnahmen Rechtliche Grundlagen: Freiheitsentzug im Allgemeinen: BV 31, EMRK 5, IPBPR 9 Vorläufige Festnahme (Haftbefehl: StPO 207 I d; Polizei auf frischer Tat: StPO 217 I a; Private auf frischer Tat: StPO 218) Untersuchungshaft/Sicherheitshaft: StPO 220-224 Untersuchungshaft: StPO 224-228 Sicherheitshaft: StPO 229-233 Ersatzmassnahmen: StPO 237-240 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 91 Rechtswissenschaftliches Institut Untersuchungs- und Sicherheitshaft Grundsatz: Die beschuldigte Person bleibt während des Strafverfahrens in Freiheit Haft wird nur bei besonderen Haftgründen angeordnet Die Haft während des Strafverfahrens verfolgt keinen Strafzweck 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 92 Rechtswissenschaftliches Institut Beginn des Freiheitsentzuges Durch polizeiliche Vorführung Vorladung Vorläufige Festnahme Anschliessend wird die beschuldigte Person einvernommen und über ihre Rechte belehrt. Ergeben oder bestätigen sich Haftgründe, stellt die Staatsanwaltschaft beim Zwangsmassnahmengericht den Antrag auf Anordnung von Untersuchungshaft. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 93 Rechtswissenschaftliches Institut Anordnung der Untersuchungshaft Vorladung (StPO 201) Vorführungsbefehl (StPO 207 I lit. d) Vorführung zum Staatsanwalt (StPO 219 III Satz 2 und IV, StPO 209 II) Vorläufige Festnahme (StPO 217 ff.) Befragung durch die Polizei (StPO 219 I und II) Befragung durch die Staatsanwaltschaft (224 StPO) Entlassung des Vernommenen Einstweilige Festnahme und Antrag ans Zwangsmassnahmengericht auf Anordnung der Untersuchungshaft Antrag ans Zwangsmassnahmengericht auf Anordnung von Ersatzmassnahmen gemäss StPO 237 ff. Antrag an das Zwangsmassnahmengericht unverzüglich, spätestens innert 48 Stunden seit der Festnahme Entscheidung durch das Zwangsmassnahmengericht (StPO 226) (unverzüglich, spätestens 48 Stunden nach Eingang des Antrags) Keine Untersuchungshaft: unverzügliche Freilassung Ersatzmassnahmen nach StPO 237 ff. Anordnung/Fortsetzung der Untersuchungshaft Rechtsmittel Beschwerde (StPO 222) Zudem: Strafrechtsbeschwerde ans Bundesgericht (BGG 78-81) 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 94 Rechtswissenschaftliches Institut Sicherheitshaft Sicherheitshaft = Haft nachdem Anklage erhoben wurde Verfahren zur Anordnung der Sicherheitshaft analog zur Untersuchungshaft Bei vorbestehender Untersuchungshaft: Verfahren entsprechend Haftverlängerungsgesuch Vorher keine Untersuchungshaft, aber neue Haftgründe: Verfahren entsprechend Anordnung der Untersuchungshaft 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 95 Rechtswissenschaftliches Institut Ersatzmassnahmen StPO 237 ff. Ersatzmassnahmen = mildere/verhältnismässigere Mittel als Untersuchungs-/Sicherheitshaft Nicht abschliessende Aufzählung in StPO 237 II: Sicherheitsleistung (Kaution) Ausweis- und Schriftensperre Auflagen zu Kontrollbesuchen, Aufenthaltsort, Meldepflichten etc. electronic monitoring Kontaktverbot zu bestimmten Personen (z.B. dem Zeugen der nicht beeinflusst werden soll) 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 96 Rechtswissenschaftliches Institut Vorzeitiger Strafvollzug Voraussetzungen: Anhand von Tatvorwurf und Untersuchungsstand (Beweislage) ist eine Freiheitsstrafe zu erwarten Antrag der beschuldigten Person Vorzeitiger Strafvollzug bzw. der Antrag der beschuldigten Person ist kein Geständnis 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 97 Rechtswissenschaftliches Institut Dauer zwischen Festnahme und Anordnung der Untersuchungs-/Sicherheitshaft Die Staatsanwaltschaft hat innert 48 Stunden den Antrag auf Anordnung der Untersuchungshaft beim Zwangsmassnahmengericht zu stellen. Das Zwangsmassnahmengericht entscheidet hierüber innert 48 Stunden. Rechtsprechung Bundesgericht: Die Fristen sind Maximalwerte, die nur auszuschöpfen sind, wenn dies notwendig ist. Die Fristen von 48 Stunden sind gemäss Bundesgericht interne Fristen, für Betroffene ist die Gesamtdauer von 96 Stunden relevant. Die Überschreitung der 96 Stunden begründet keinen Anspruch auf Freilassung, wenn danach die Haft rechtmässig angeordnet wird. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 98 Rechtswissenschaftliches Institut Dauer der Untersuchungs-/Sicherheitshaft Das Zwangsmassnahmengericht kann bestimmte Haftdauer vorsehen oder die Haftdauer nicht beschränken Nach Ablauf der Haftdauer oder drei Monaten (bei unbeschränkter Haftdauer) kann die Haft um jeweils drei (ausnahmsweise 6) Monate verlängert werden Für die gesamte Dauer gibt es keine absolute Höchstgrenze Die Haft ist aufzuheben: Wenn die Haft die zu erwartende Freiheitsstrafe übersteigt Der Haftgrund oder dringende Tatverdacht wegfällt 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 99 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 1 Wer ordnet Urin- oder Blutproben an, wenn diese durch die Polizeibehörden zur Abklärung der Fahreignung abgenommen werden? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 100 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 2 Ronald soll als Zeuge in einem Strafverfahren gegen eine kriminelle Organisation aussagen. Da er sich vor Racheakten fürchtet, bereitet er seine Flucht ins Ausland vor. Kann die Staatsanwaltschaft beim Zwangsmassnahmengericht für Ronald Untersuchungshaft beantragen? Wie ist die Situation, wenn Ronald als Auskunftsperson einvernommen werden soll, weil er als Mitbeschuldigter nicht ausgeschlossen werden kann? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 101 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 3 Caroline steht unter dem dringenden Verdacht, den Postboten erwürgt zu haben. Die Staatsanwaltschaft beantragt daraufhin Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr, weil der Beschuldigten eine langjährige Freiheitsstrafe droht. Liegt ein hinreichender Haftgrund vor? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 102 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 4 Gegen X wird wegen der versuchten vorsätzlichen Tötung an seiner Ehefrau ein Strafverfahren durchgeführt. Offenbar hatte X seiner Ehefrau die Pulsadern am Handgelenk aufgeschnitten. Das Opfer fürchtet, dass X seine Tat doch noch verwirklichen werde, sollte nicht bis zur Verurteilung Untersuchungs- und Sicherheitshaft angeordnet werden. Liegen Haftgründe vor? (Flucht- und Kollisionsgefahr bestehen nicht) 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 103 Rechtswissenschaftliches Institut Strafprozessrecht II Lektion 8: Durchsuchung von Aufzeichnungen, Siegelungsverfahren, Beschlagnahme 01.03.2016 Seite 104 Rechtswissenschaftliches Institut Durchsuchung, Siegelung, Beschlagnahme Privatsphäre: BV 13; EMRK 8; IPBPR 17 Eigentum: BV 26 Durchsuchung von Aufzeichnungen, Siegelung: StPO 246 ff. Beschlagnahme: StPO 263 ff. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 105 Rechtswissenschaftliches Institut Durchsuchung von Aufzeichnungen I Aufzeichnungen = Träger menschlicher Gedankenäusserungen und Aufzeichnungen von Vorgängen im weitesten Sinne (weiter als Urkundenbegriff gemäss StGB 110 IV) Voraussetzung: Begründete Vermutung, dass Informationen enthalten sind, die der Beschlagnahme (StPO 263 ff.) unterliegen. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 106 Rechtswissenschaftliches Institut Durchsuchung von Aufzeichnungen II Anordnung der Durchsuchung durch schriftlichen Befehl. Dieser bezeichnet: Gegenstand der Durchsuchung Zweck der Massnahme Die durchsuchende Behörde 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 107 Rechtswissenschaftliches Institut Siegelung I (248 I) Der Inhaber kann geltend machen, dass die Aufzeichnungen nicht durchsucht oder beschlagnahmt werden dürfen. Inhaber = faktischer Inhaber, nicht der Berechtigte Die Siegelung muss unmittelbar bei der Durchsuchung oder Beschlagnahme verlangt werden. Die Aufzeichnungen werden versiegelt und amtlich verwahrt 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 108 Rechtswissenschaftliches Institut Siegelung II (248 II/III) Die Strafbehörde kann innert 20 Tagen die Entsiegelung beim Zwangsmassnahmengericht verlangen Das Zwangsmassnahmengericht entscheidet darüber innert eines Monats: Ob die Durchsuchung rechtmässig ist Ob überwiegende Geheimhaltungsinteressen bestehen Herausgabe oder Durchsuchung durch die Staatsanwaltschaft 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 109 Rechtswissenschaftliches Institut Durchsuchung von Aufzeichnungen (StPO 246 ff.) Der Inhaber ist einverstanden Inhaber macht Zeugnis- und Aussageverweigerungsrecht geltend Papiere werden in amtliche Verwahrung genommen und versiegelt (StPO 248 I) Entsiegelungsgesuch der Strafbehörden innert 20 Tagen (StPO 248 II) Zwangsmassnahmengericht Gericht, bei welchem der Fall hängig ist Entscheidung über Entsiegelung (StPO 248 III) Ordnungsmässigkeit der Durchsuchung hinreichenden Tatverdacht Interessenabwägung: Geheimhaltungs- vs. Verfahrensinteresse wenn ja Durchsicht und gegebenenfalls Beschlagnahme durch StA 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch wenn nein Rückgabe der Papiere Seite 110 Rechtswissenschaftliches Institut Beschlagnahme StPO 263 ff. Entziehung der Verfügungsgewalt über deliktsrelevante Gegenstände oder Vermögenswerte 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 111 Rechtswissenschaftliches Institut Voraussetzungen der Beschlagnahme I (263) Der Beschlagnahme unterliegen Vermögenswerte und Gegenstände: Die als Beweismittel in einem Strafverfahren dienen Zur Sicherstellung von Verfahrenskosten, Entschädigungen, Geldstrafen Die den Geschädigten zurückzugeben sind Die der selbständigen Einziehung gemäss StGB 69 ff. unterliegen 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 112 Rechtswissenschaftliches Institut Voraussetzungen der Beschlagnahme II (264) Die Beschlagnahme ist ausgeschlossen: Wenn die Aufzeichnungen aus dem Verkehr der beschuldigten Person mit ihrer Verteidigung oder Personen mit Zeugnisverweigerungsrecht stammen Bei persönlichen Aufzeichnungen, wenn das private Interesse (z.B. Persönlichkeitsschutz) schwerer als das Strafverfolgungsinteresse wiegt 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 113 Rechtswissenschaftliches Institut Durchführung der Beschlagnahme (266) Schriftlicher Befehl der Staatsanwaltschaft/des Gerichts (Ausnahme in dringlichen Fällen) Aufforderung an den Inhaber die Gegenstände/Vermögenswerte herauszugeben Zwangsmassnahmeneinsatz nur wenn der Inhaber die Herausgabe verweigert oder die Aufforderung den Zweck der Beschlagnahme vereiteln würde 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 114 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 1 Markus hat einen noch nicht veröffentlichten und absolut geheim gehaltenen achten Harry-Potter-Band gestohlen. Bei einer Hausdurchsuchung wird dieses Manuskript gefunden. Wer kann was unternehmen, um den Inhalt des Manuskripts zu schützen? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 115 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 2a Beim Doktoranden Sergio wird eine Hausdurchsuchung durchgeführt. Dabei werden auch seine Festplatten, auf welchen sich Entwürfe seiner Dissertation befinden, gespiegelt. Kann Sergio verhindern, dass vom Inhalt der Dissertation Kenntnis genommen wird? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 116 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 2b Nebst seiner Dissertation befinden sich auf dem Computer von Sergio auch filmische Aufzeichnungen seines Liebeslebens mit verschiedenen Frauen, die allerdings nicht wussten, dass sie gefilmt werden. Kann Sergio hiergegen etwas unternehmen? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 117 Rechtswissenschaftliches Institut Strafprozessrecht II Lektion 9: Strafbefehlsverfahren, abgekürztes Verfahren 01.03.2016 Seite 118 Rechtswissenschaftliches Institut Strafbefehlsverfahren Aussergerichtliche Verfahrenserledigung durch die Staatsanwaltschaft bei geringfügigen Straftaten. Analog: Übertretungsstrafverfahren (StPO 357) 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 119 Rechtswissenschaftliches Institut Strafbefehlsverfahren Voraussetzungen: Sachverhalt ist eingestanden oder ausreichend klar Konkrete Strafdrohung unter 6 Monaten Freiheitsstrafe oder eine Geldstrafe von 180 Tagessätzen Bei erfüllten Voraussetzungen ist das Strafbefehlsverfahren zwingend durchzuführen 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 120 Rechtswissenschaftliches Institut Einsprache gegen den Strafbefehl Durch die beschuldigte Person, betroffene Dritte, evtl. obere Staatsanwaltschaften Innert 10 Tagen Begründungspflicht (Ausnahme: die beschuldigte Person) 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 121 Rechtswissenschaftliches Institut Verzicht auf Einsprache Es erfolgt keine frist- und formgerechte Einsprache (354 III) Die Einsprache wird zurückgezogen (356 III) Die Einsprache erhebende Person wurde vorgeladen und ist ferngeblieben (355 II) Der Strafbefehl wirkt wie ein rechtskräftiges Urteil 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 122 Rechtswissenschaftliches Institut Folgen der Einsprache Reaktion der Staatsanwaltschaft: Festhalten am Strafbefehl Einstellung des Verfahrens Neuer Strafbefehl Anklageerhebung 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 123 Rechtswissenschaftliches Institut Abgekürztes Verfahren StPO 358 ff. Vereinfachtes Verfahren mittels Absprachen zwischen der beschuldigten Person und der Staatsanwaltschaft 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 124 Rechtswissenschaftliches Institut Voraussetzungen des abgekürzten Verfahrens Antrag der beschuldigten Person Eingeständnis des massgeblichen Sachverhalts Grundsätzliche Anerkennung der Zivilforderungen Staatsanwaltschaft fordert nicht mehr als 5 Jahre Freiheitstrafe Wenn die Voraussetzungen für das Strafbefehlsverfahren erfüllt sind, kann kein abgekürztes Verfahren stattfinden. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 125 Rechtswissenschaftliches Institut Absprachen im abgekürzten Verfahren Geständnis gegen Reduktion der Tatvorwürfe bzw. Strafminderung fact bargaining: Absprachen über die Sachverhaltsfestellung Konflikt mit dem Grundsatz der materiellen Wahrheit charge bargaining: Absprache, welche Tatvorwürfe in der Anklage erhoben werden sentence bargaining: Vereinbarungen zu Sanktionsfolgen, insbesondere Strafmass Die rechtliche Würdigung/Subsumtion kann nicht Gegenstand der Absprache sein 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 126 Rechtswissenschaftliches Institut Durchführung des abgekürzten Verfahrens I Antrag der beschuldigten Person auf Durchführung des abgekürzten Verfahrens Die Staatsanwaltschaft entscheidet endgültig über den Antrag Fall notwendiger Verteidigung (StPO 130 e) Verhandlungen zwischen der beschuldigten Person und Staatsanwaltschaft über den Inhalt der Absprache Dokumentationspflicht über den Verlauf der Verhandlungen Anklageschrift mit Urteilsvorschlag und dem Hinweis, dass auf Rechtsmittel verzichtet wird Zustimmung der Parteien innert 10 Tagen (Stillschweigen der Privatklägerschaft gilt als Zustimmung) 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 127 Rechtswissenschaftliches Institut Durchführung des abgekürzten Verfahrens II Summarische Hauptverhandlung Zustimmung Anklageschrift wird wie ein Urteil rechtskräftig Ablehnung Anweisung an die Staatsanwaltschaft ein Vorverfahren durchzuführen Erklärungen aus dem abgekürzten Verfahren sind unverwertbar 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 128 Rechtswissenschaftliches Institut Rechtsmittel im abgekürzten Verfahren Auf Rechtsmittel wurde verzichtet Die Berufung ist nur mit folgenden Rügen zulässig: Keine Zustimmung zur Anklageschrift Die Anklageschrift entspricht nicht dem Urteil 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 129 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 1 Die Staatsanwaltschaft erlässt einen Strafbefehl gegen Maura. Als Sanktion ist eine bedingte Geldstrafe mit 180 Tagessätzen zu CHF 100 verbunden mit einer Busse von CHF 2000 vorgesehen. Ist ein solcher Strafbefehl zulässig? Variante: Statt der Busse wird zusätzlich eine unbedingte Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu CHF 100 angeordnet. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 130 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 2 Im abgekürzten Verfahren muss die beschuldigte Person notwendig verteidigt werden. Ab welchem Zeitpunkt beginnt diesfalls die notwendige Verteidigung? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 131 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 3 Kann die Privatklägerschaft gegen den Strafbefehl Einsprache erheben? Wenn ja, unter welchen Voraussetzungen? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 132 Rechtswissenschaftliches Institut Strafprozessrecht II Lektion 10: Beweisrecht I: Die Auskunftsperson 01.03.2016 Seite 133 Rechtswissenschaftliches Institut Personalbeweis: Auskunftsperson – Allgemeine Bestimmungen – Einvernahmen (StPO 142-146) – Teilnahmerechte (StPO 147) – Schutzmassnahmen (StPO 149-156) – Beschuldigter (StPO 157-161) – Zeuge (StPO 162-177) – Auskunftsperson (StPO 178-181) – Sachverständige (StPO 182-191) 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 134 Rechtswissenschaftliches Institut Auskunftsperson Prozessbeteiligte, die nicht als Zeuge oder beschuldigte Person einvernommen werden können (StPO 178) Privatkläger Unter 15-jährige Personen mit eingeschränkter Urteilsfähigkeit Als Täter bzw. Teilnehmer Verdächtige Mitbeschuldigte Zu Straftaten, die ihnen selbst nicht vorgeworfen werden Auch wer in einem anderen Verfahren wegen derselben oder im Zusammenhang stehenden Straftat angeschuldigt ist. Unternehmensvertreter sowie deren Mitarbeiter 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 135 Rechtswissenschaftliches Institut Stellung der Auskunftsperson I Auskunftspersonen i.S.v. StPO 180 I (nicht Privatkläger) Sinngemässe Anwendung der Bestimmungen über die Befragung von Beschuldigten Keine Aussagepflicht (die Aussageverweigerung muss nicht begründet werden) Belehrung gemäss StPO 158 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 136 Rechtswissenschaftliches Institut Stellung der Auskunftsperson II Auskunftspersonen i.S.v. StPO 180 II (Privatkläger) Sinngemässe Anwendung der Bestimmungen über die Zeugenbefragung grundsätzlich Aussagepflicht aber Belehrung über Zeugnisverweigerungsrechte Bei ungerechtfertigter Zeugnisverweigerung sind die Sanktionen von StPO 176 nicht anwendbar. Keine Wahrheitspflicht! 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 137 Rechtswissenschaftliches Institut Rollenwechsel der Auskunftsperson I Änderung der Verfahrensrolle, wenn die Auskunftsperson später als Zeuge oder beschuldigte Person gilt. Problematik: Verwertbarkeit bereits gemachter Aussagen 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 138 Rechtswissenschaftliches Institut Rollenwechsel der Auskunftsperson II Grund für die Einvernahme als Auskunftsperson fällt weg Z.B. das 15. Altersjahr wird überschritten Zukünftige Befragung als Zeuge, frühere Aussagen bleiben verwertbar Eine als Zeugin einvernommene Person, hätte als Auskunftsperson vernommen werden müssen Z.B. die Zeugin konnte nicht als Beschuldigte ausgeschlossen werden Zukünftige Befragung als Auskunftsperson (oder Beschuldigte), frühere Aussagen sind tendenziell unverwertbar 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 139 Rechtswissenschaftliches Institut Rollenwechsel der Auskunftsperson III Eine Zeugin wurde vernommen, bei der sich die Voraussetzungen für eine Einvernahme als Auskunftsperson erst nachträglich erfüllen Z.B. die Geschädigte konstituiert sich nachträglich als Privatklägerschaft Zukünftige Befragung als Auskunftsperson, frühere Aussagen bleiben verwertbar Eine Auskunftsperson wird im Verfahren zur beschuldigten Person Z.B. die Auskunftsperson belastet sich selbst Zukünftige Befragung als beschuldigte Person, frühere Aussagen grundsätzlich unverwertbar Ausnahmsweise Verwertbarkeit, wenn die Beschuldigtenrechte (inkl. entsprechende Belehrungen) gewährleistet wurden 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 140 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 1 Hugo arbeitet als Sachbearbeiter in der Compliance-Abteilung einer Versicherungsgesellschaft. Muss Hugo in einem Strafverfahren gegen das Versicherungsunternehmen als Auskunftsperson einvernommen werden? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 141 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 2 Bernd wird als Auskunftsperson einvernommen, weil er in einem anderen Verfahren wegen einer im Zusammenhang stehenden Tat beschuldigt ist (StPO 178 f). Später stellt sich heraus, dass Bernd in beiden Verfahren als Mittäter bzw. Beschuldigter gilt. Können die Aussagen, die Bernd als Auskunftsperson machte, verwendet werden? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 142 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 3 Die Privatklägerin Sandra ist Opfer eines Sexualdelikts. Welche Auswirkungen hat es, wenn sie die Aussage zu einzelnen Bereichen des Tathergangs verweigert? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 143 Rechtswissenschaftliches Institut Strafprozessrecht II Lektion 11: Der Sachverständige 01.03.2016 Seite 144 Rechtswissenschaftliches Institut Personalbeweis: Der Sachverständige – Allgemeine Bestimmungen – Einvernahmen (StPO 142-146) – Teilnahmerechte (StPO 147) – Schutzmassnahmen (StPO 149-156) – Beschuldigter (StPO 157-161) – Zeuge (StPO 162-177) – Auskunftsperson (StPO 178-181) – Sachverständige (StPO 182-191) 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 145 Rechtswissenschaftliches Institut Rolle des Sachverständigen I Sachverständige wirken mit ihrer besonderen Sachkunde an der Feststellung oder Beurteilung des prozessrelevanten Sachverhalts mit Gutachten nur zum Sachverhalt und nicht zu Rechtsfragen Ausnahme: Ausländisches Recht 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 146 Rechtswissenschaftliches Institut Rolle des Sachverständigen II Aufgabenbereich: Übermittlung allgemeiner Erfahrungs- und Wissenssätze Feststellung von Tatsachen Beurteilung eines Sachverhalts Kombination: Feststellung von Tatsachen, anschliessende Beurteilung 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 147 Rechtswissenschaftliches Institut Bestellung des Sachverständigen Durch die Staatsanwaltschaft oder das Gericht Nur natürliche Personen mit den fachlichen Kenntnissen Ausstandsgründe gemäss StPO 56 Auswahl durch die Verfahrensleitung Öffentlich-rechtliches Vertragsverhältnis Schweigepflicht Ernennung durch einen schriftlichen Auftrag (Ordnungsvorschrift) Hinweis auf Straffolgen bei falschem Gutachten (Gültigkeitsvorschrift) 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 148 Rechtswissenschaftliches Institut Erstellung des Gutachtens Schriftliche und begründete Ausfertigung des Gutachtens Ausnahmsweise mündlich in der Hauptverhandlung StPO 184 V; 191: Die Verfahrensleitung kann den Sachverständigen abberufen Ordnungsbusse oder entschädigungsloser Widerruf, wenn der Sachverständige den Auftrag nicht oder zu spät erfüllt 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 149 Rechtswissenschaftliches Institut Würdigung des Gutachtens Grundsatz Freie Beweiswürdigung Aber: Ein Abweichen vom Gutachten erfordert stichhaltige Gründe Widersprüchlichkeit, unwissenschaftliche Herleitung, Unvollständigkeit des Gutachtens Bei nicht überzeugenden Gutachten kann dieses ergänzt oder ein zusätzliches Gutachten eingeholt werden Die Würdigung des Gutachtens ist zu begründen 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 150 Rechtswissenschaftliches Institut Privatgutachten Privatgutachten sind von den Parteien in Auftrag gegebene Gutachten ≠ Auf Antrag einer Partei hin bestellte Sachverständige 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 151 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 1 Dürfen forensische Psychiater das Schweigen der beschuldigten Person zu deren Lasten auslegen? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 152 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 2 Was können die Parteien tun, wenn die Bestellung eines für ihr Anliegen vorteilhaften Sachverständigen wegen Ausstandsgründen widerrufen wird? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 153 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 3 Jonas wird verdächtigt zahlreiche Wohnhäuser angezündet zu haben. Im Laufe der Strafuntersuchung wird auch der forensische Psychiater Dr. Amsel zur Begutachtung der beschuldigten Person bestellt. Hierzu werden ihm unter anderem folgende Fragen vorgelegt: Hat Jonas den subjektiven Tatbestand von StGB 221 I erfüllt? Ist Jonas beeinträchtigt in der Fähigkeit das Unrecht seiner Handlungen einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln? Was ist von diesen Fragen zu halten? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 154 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 4 Auf die Frage ob bei der beschuldigten Person eine Verminderung der Schuldfähigkeit vorliege, antwortet der als Sachverständiger bestellte forensische Psychiater: «Mittel». Wie hat das Gericht mit dieser Antwort umzugehen? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 155 Rechtswissenschaftliches Institut Strafprozessrecht II Lektion 12: Die Anklage 01.03.2016 Seite 156 Rechtswissenschaftliches Institut Begriff der Anklage EMRK 6 III a, IPBPR 14 III a, BV 32 II: Anklage = Zu untersuchender Tatvorwurf während des Strafverfahrens Strafprozessordnung: Anklage = Von der Staatsanwaltschaft dargelegter Tatvorwurf, welcher im Hauptverfahren durch das Gericht beurteilt wird 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 157 Rechtswissenschaftliches Institut Anklagegrundsatz (StPO 350) Trennung von Ankläger- und Richterfunktion Begrenzungsfunktion der Anklage Unveränderlichkeit der Anklage (Immutabilitätsprinzip) Orientierungsfunktion Unwiderruflichkeit der Anklage 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 158 Rechtswissenschaftliches Institut Erhebung der Anklage Voraussetzungen: Kein Strafbefehl möglich Hinreichende Verdachtsgründe Prozessvoraussetzungen bzw. keine Prozesshindernisse Prinzip: «In dubio pro duriore», in Zweifelsfällen (ob genügende Verdachtsgründe vorliegen bzw. Prozessvoraussetzungen erfüllt sind) ist für die Anklageerhebung zu entscheiden. Die Anklageerhebung ist nicht anfechtbar (StPO 324 II) 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 159 Rechtswissenschaftliches Institut Inhalt der Anklage (StPO 325 f.) I Ort und Datum Anklageerhebende Staatsanwaltschaft Zuständiges Gericht Die beschuldigte Person Geschädigte Personen 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 160 Rechtswissenschaftliches Institut Inhalt der Anklage (StPO 325 f.) II Sachverhalt (objektive und subjektive Tatbestandsmerkmale müssen aus der Darstellung hervorgehen) Tatvorwurf (Vorsatz/Fahrlässigkeit, Garantenstellung bei unechten Unterlassungsdelikten) Erfüllte Tatbestände 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 161 Rechtswissenschaftliches Institut Inhalt der Anklage (StPO 325 f.) III Zusätzliche Angaben: Privatklägerschaft, allfällige Zivilklagen Angeordnete Zwangsmassnahmen, beschlagnahmte Gegenstände und Vermögenswerte Bisherige Untersuchungskosten Anträge auf Anordnung der Sicherheitshaft, nachträgliche richteriche Entscheidungen Anträge zu den Sanktionen Ersuchen um Vorladung zur Hauptverhandlung Erläuterungen zur Beweiswürdigung: Nur wenn die Staatsanwaltschaft nicht in der Hauptverhandlung erscheint. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 162 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 1 Hans wurde angeklagt seine Grosseltern mehrmals bedroht zu haben. Gemäss Anklageschrift sei dies in den Jahren 1996 bis 2004 durchschnittlich einmal pro Jahr geschehen. Genügt diese Anklageschrift den Anforderungen, wenn sich die konkreten Daten nicht genauer rekonstruieren lassen? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 163 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 2 Der Beschuldigte X wird wegen versuchter Brandstiftung (StGB 221 I; 22 I) angeklagt. Das erstinstanzliche Gericht ist jedoch der Auffassung, dass X die Hausbewohner gefährden wollte und hält den Tatbestand der versuchten qualifizierten Brandstiftung für erfüllt (StGB 221 II; 22 I). Die Anklageschrift enthält dazu keine Angaben. Wie hat das Gericht vorzugehen? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 164 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 3 Karin wird in der Anklageschrift vorgeworfen Ladendiebstähle am 2.5.2005 in Mörschwil, am 4.8.2005 in Rheineck sowie am 11.9.2005 in Rorschach begangen zu haben. Das erstinstanzliche Gericht stellt anhand der Akten fest, dass der Ladendiebstahl in Mörschwil eine Woche später stattfand und jener vom 11.9.2005 sich nicht in Rorschach, sondern in Goldach ereignete. Kann das Gericht Karin gestützt auf diese Erkenntnisse verurteilen? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 165 Rechtswissenschaftliches Institut Strafprozessrecht II Lektion 13: Beschleunigungsgebot Verhältnis von Voruntersuchungs- und Hauptverfahren 01.03.2016 Seite 166 Rechtswissenschaftliches Institut Beschleunigungsgebot StPO 5 I; BV 29 I; EMRK 6 I; IPBPR 14 III c Anspruch darauf, dass Strafverfahren ohne Verzögerung durchgeführt und abgeschlossen werden. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 167 Rechtswissenschaftliches Institut Zweck des Beschleunigungsgebots Zeitliche Begrenzung der Belastungen durch das Strafverfahren Beweissicherung durch zeitnahe Beweiserhebung General-/Spezialprävention 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 168 Rechtswissenschaftliches Institut Dauer des Strafverfahrens Berechnung der Dauer: Sobald die beschuldigte Person vom Vorwurf direkt/indirekt Kenntnis erhält bis zur rechtskräftigen Verfahrenserledigung. Angemessenheit der Dauer: Keine absolute Frist, sondern von den Umständen des Einzelfalls abhängig Kriterium: Umfang und Komplexität der Rechts- und Sachfragen Missbräuchliche Verfahrensverschleppung durch die beschuldigte Person kann berücksichtigt werden, die blosse Weigerung zu kooperieren nicht. Verantwortung des Staates, die erforderlichen Ressourcen für zeitnahe Strafverfolgung bereitzustellen 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 169 Rechtswissenschaftliches Institut Beschleunigungsgebot – Beispiele EGMR Urteil des EGMR: Eckle gegen die Bundesrepublik Deutschland vom 15.7.1982 Urteil des EGMR: Foti u.a. gegen Italien vom 10.12.1982 Urteil des EGMR Neumeister gegen Österreich vom 27.6.1968 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 170 Rechtswissenschaftliches Institut Verletzung des Beschleunigungsgebotes Keine Regelung zu den Folgen bei Missachtung des Beschleunigungsgebotes in der StPO Gemäss Bundesgericht ist eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes je nach Schwere verschieden zu berücksichtigen (BGE 117 IV 124): Feststellung der Verletzung im Entscheid Berücksichtigung bei der Strafzumessung (vgl. StGB 47 ff.) Schadenersatz oder Genugtuung Schuldspruch mit Verzicht auf Strafe Einstellung des Verfahrens 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 171 Rechtswissenschaftliches Institut Verhältnis von Voruntersuchungs- und Hauptverfahren Schwerpunkt des Voruntersuchungs- und Hauptverfahrens Konzentrationsgrundsatz Beweiserhebung Rückweisung / Änderung der Anklage Zweiteilung der Hauptverhandlung 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 172 Rechtswissenschaftliches Institut Schwerpunkt des Voruntersuchungs- und Hauptverfahrens Vorverfahren: Sachverhaltsfeststellung, Beweissicherung, Ausarbeitung der Anklageschrift Hauptverfahren: Richterliche Beurteilung anhand der Ergebnisse des Vorverfahrens und kritische Würdigung der Ergebnisse 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 173 Rechtswissenschaftliches Institut Rückweisung / Änderung der Anklage Rückweisung der Anklage: StPO 329: Zur Ergänzung oder Berichtigung an die Staatsanwaltschaft, wenn die Anklageschrift nicht ordnungsgemäss erstellt wurde. Rückzug / Änderung der Anklage durch die Staatsanwaltschaft: StPO 340 I b: Nach der Behandlung der Vorfragen nicht mehr möglich. Anpassung / Erweiterung der Anklage: StPO 333: Wenn der Sachverhalt einen anderen Straftatbestand erfüllen könnte oder im Hauptverfahren weitere Taten bekannt werden. 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 174 Rechtswissenschaftliches Institut Zweiteilung der Hauptverhandlung (StPO 342) Das Gericht kann vorfrageweise entscheiden, dass im Hauptverfahren Tatund Schuldfragen sowie Strafmass getrennt behandelt werden. Schuldinterlokut 1. Phase: Tat- und Schuldfrage 2. Phase: Strafmass Tatinterlokut 1. Phase: Tatfrage 2. Phase: Schuldfrage und Strafmass 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 175 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 1a Dem Beschuldigten X, der sich in Untersuchungshaft befindet, werden mehrere schwere Sexualdelikte vorgeworfen. Die Strafuntersuchung ist nahezu abgeschlossen, es steht jedoch noch die psychiatrische Begutachtung aus. Der bestellte Psychiater erklärt sich sechs Monate später für befangen, weil er beim Aktenstudium bemerkt, dass er die Opfer persönlich kennt. Liegt ein Verstoss gegen das Beschleunigungsgebot vor und welche Auswirkungen hätte ein solcher Verstoss? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 176 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 1b Anschliessend ernennt die Staatsanwaltschaft einen anderen Sachverständigen, der für die Fertigstellung des Gutachtens sieben Monate benötigen wird. Der Beschuldigte X schlägt einen anderen Sachverständigen vor, der das Gutachten deutlich schneller erstellen würde. Die Staatsanwaltschaft lehnt dies ab, weil der vorgeschlagene Sachverständige über weniger Erfahrung im entsprechenden Bereich verfügt. Verstösst die Staatsanwaltschaft gegen das Beschleunigungsgebot, wenn sie den Sachverständigen bestellt, der längere Zeit benötigt? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 177 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 2 Otmar ist Zeuge in einem Strafverfahren gegen Hilmar wegen Insiderhandels. Otmar, der als Angestellter eines multinationalen Handelsunternehmens in Boston arbeitet, erklärt, er sei erst in zwei Jahren bereit, in der Schweiz auszusagen, da er dann pensioniert sei und wieder in die Schweiz zurückkehre. Die Staatsanwaltschaft ist einverstanden und lässt das Verfahren zwei Jahre liegen. Ist dieses Vorgehen mit dem Beschleunigungsgebot vereinbar? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 178 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 3 Der Beschuldigte Ferdinand wird während der erstinstanzlichen Hauptverhandlung einvernommen. Dabei verspürt er grosse Reue über seinen bisherigen Lebenswandel und gesteht, er habe ausserdem noch seine Nachbarin umgebracht und halte derzeit fünf Kinder in seinem Keller gefangen. Können diese neuen Straftaten im selben Strafverfahren beurteilt werden? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 179 Rechtswissenschaftliches Institut Strafprozessrecht II Lektion 14: Der Grundsatz «ne bis in idem», Revision, Wiederaufnahme eingestellter Verfahren 01.03.2016 Seite 180 Rechtswissenschaftliches Institut Inhalt von «ne bis in idem» StPO 11: Verbot der mehrfachen Bestrafung in derselben Strafsache Sperrwirkung/Verfahrenshindernis nach rechtskräftiger Beurteilung 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 181 Rechtswissenschaftliches Institut Voraussetzungen von «ne bis in idem» Identischer Täter Identische Tat 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 182 Rechtswissenschaftliches Institut «ne bis in idem» im internationalen Kontext Innerstaatlich: StPO 11 I International: Keine umfassende «ne bis in idem»-Wirkung Vgl. aber StGB 3-7 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 183 Rechtswissenschaftliches Institut «ne bis in idem» gemäss SDÜ SDÜ 54: Im Schengen-Raum gilt «ne bis in idem» Ausnahme: staatsvertraglicher Vorbehalt der Schweiz Die Tat fand nicht im Urteilsstaat, sondern zumindest teilweise im Hoheitsgebiet der Schweiz statt Die Tat richtet sich gegen die Sicherheit oder wichtige Interessen der Schweiz Die Tat wurde von einem schweizerischen Beamten unter Verletzung von Amtspflichten begangen 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 184 Rechtswissenschaftliches Institut Revision I StPO 410 ff. Anfechtbare Entscheide: Rechtskräftige Strafentscheide von erstinstanzlichen und Berufungsgerichten Strafbefehle Nachträgliche richterliche Entscheidungen (StPO 363 ff.) Entscheide im selbständigen Massnahmeverfahren (StPO 372 ff.) Selbständiges Einziehungsverfahren (StPO 376 ff.) 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 185 Rechtswissenschaftliches Institut Revision II Revisionsgründe: Neue Tatsachen/Beweismittel Die dem urteilenden Gericht nicht bekannt waren Vor dem Entscheid eingetreten sind Sich eignen ein wesentlich anderes Urteil zu bewirken Bei Entscheiden, die sich in urteilsrelevanten Bereichen widersprechen Strafbare Einwirkung auf das Strafverfahren Erforderlich durch Urteil des EGMR 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 186 Rechtswissenschaftliches Institut Revision III Die Revision ist subsidiär zu anderen Rechtsmitteln Zugunsten oder zuungunsten der beschuldigten Person 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 187 Rechtswissenschaftliches Institut Wiederaufnahme eingestellter Verfahren StPO 323 Bei eingestellten oder durch Nichtanhandnahme beendeten Strafverfahren, wenn neue belastende Beweismittel/Tatsachen auftreten Bedingung: Die neuen Erkenntnisse ergaben sich noch nicht aus der früheren Aktenlage 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 188 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 1 Bruno bringt seine ehemalige Lebensgefährtin um: Dazu schickt er ihr per Post eine Sprengfalle, die er mit einer während des Militärdienstes gestohlenen Handgranate gebastelt hat. Später wird Bruno in einem Militärstrafverfahren wegen Entwendung der Handgranate mangels Beweisen freigesprochen. In einem folgenden bürgerlichen Strafverfahren wird Bruno wegen der Tötung verurteilt. Dabei geht das Gericht davon aus, dass Bruno die Tat mit der im Militär gestohlenen Handgranate beging. Bruno vertritt nun die Auffassung, dass das Urteil gegen «ne bis in idem» verstosse, weil das Urteil auf Tatvorwürfen beruht, von denen er rechtskräftig freigesprochen wurde. Was ist von Brunos Argument zu halten? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 189 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 2 Remo wurde wegen Raubes (StGB 140) verurteilt. Später wird festgestellt, dass der Tatbestand des Raubes gar nicht erfüllt war, sondern der des Diebstahls (StGB 139). Kann nun ein Verfahren wegen Diebstahls eröffnet werden? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 190 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 3 Bourbaki wurde wegen rechtswidrigem Aufenthalt (rund ein Jahr) in der Schweiz zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu CHF 10 verurteilt. Drei Jahre später hält Bourbaki sich noch in der Schweiz auf und es droht im eine weitere Verurteilung. Bourbaki ist allerdings der Auffassung, dass sein Aufenthalt in der Schweiz ein Dauerdelikt sei, für das er schon bestraft wurde. Ergibt sich aus der früheren Verurteilung tatsächlich eine Begrenzung der Strafbarkeit von Bourbaki? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 191 Rechtswissenschaftliches Institut Übungsfall 4 Roger wurde rechtskräftig wegen fahrlässiger Tötung von Heinrich verurteilt. In einem späteren Zivilverfahren verneint das Gericht den adäquaten Kausalzusammenhang zwischen Rogers Verhalten und dem Tod von Heinrich. Liegt ein Revisionsgrund vor? 01.03.2016 Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 192
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