Skipisten, Komposthaufen und gefräßige Schne

Skipisten, Komposthaufen und gefräßige Schnecken von Phänomenen und Anwendungsbezügen zu
biologischer Bildung
von KARLHEINZ KÖHLER
1. Biologieunterricht im Abwind?
Seit den 70er Jahren kam es in fast allen Bundesländern zu Kürzungen des Stundenvolumens des Fachs Biologie in allen Schulformen (vgl. STAECK 1995, S. 18
ff.). In Baden-Württemberg findet sich nach der Zusammenlegung der Fächer Biologie und Chemie in der Hauptschule auch in der Lehramtsprüfungsordnung für die
Grund- und Hauptschule dieses „Doppelfach“, wobei beide Fächer als Hauptfach
zusammen nur noch so viele Semesterwochenstunden zur Verfügung haben, wie
vorher ein Fach alleine. Dabei wird gerade der Biologie eine große Bedeutung in
fachübergreifenden Lernbereichen wie Umwelterziehung, Sexualerziehung, Gesundheitserziehung und Drogen- und Suchtprävention zugeschrieben.
Der zunehmenden gesellschaftlichen Bedeutung der Naturwissenschaft Biologie (z.
B. Neurobiologie, Immunologie, Genetik/Gentechnologie, erneuerbare Rohstoffe
und Energien) steht deren Image als leichtes Schulfach, als Liebhaberei („Blumenund Tierfreunde“) oder als oberflächliches Logo (Bio-, Öko-) gegenüber (vgl.
VOLLMER 1992). Dabei beinhaltet die Biologie, also die Wissenschaft vom Leben,
gerade für die schulische Bildung Grundlegendes, wie die traditionellen Hauptfächer. Die kulturelle Entwicklung des Menschen ist ohne die Auseinandersetzung
mit Lebewesen und das Verständnis für Lebensvorgänge nicht denkbar. Der
Mensch ist in hohem Maße Produkt seiner Evolution und viele menschliche Denkund Verhaltensweisen sind erst vor diesem Hintergrund verständlich. Die ökologische Krise ist auch auf den Verlust an Bewußtsein für naturräumliche Zusammenhänge zurückzuführen. Unsere mitteleuropäische Kultur beruht in weiten Bereichen
auf der Basis biologischer Erkenntnis. Angesichts der Tendenzen der Sparpolitik
im Bildungsbereich ist es dem Biologieunterricht aber offenbar nicht gelungen, diese Bedeutung einsichtig zu machen.
2. Bio - ein langweiliges Fach?
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LÖWE (1992, S. 72) weist in seiner Studie zu Schülerinteressen in Biologie auch
auf die Bedeutung des extrinsischen Faktors „,Ansehen’ des Faches bei Freunden
und Eltern“ hin. In der Studie wird deutlich, dass für die meisten Schüler der Biologieunterricht in den ersten Klassen der Sekundarstufe I sehr eng mit pflanzenund tierkundlichen Inhalten assoziiert ist und dass humanbiologische und umweltbezogene Fragestellungen weniger stark mit dem Fach in Verbindung gebracht
werden, obwohl hier bei den Schülern das größere Interesse festzustellen ist. „Orientierungsstufenschüler lernen offensichtlich sehr schnell, dass sie auch in Biologie
im Grunde „nur für die Schule“ und nicht „für’s Leben“ lernen. Dies betrifft vor allem tier- und pflanzenkundliche Lerninhalte, z. T. allgemeinbiologische Themen.
"Eine Wiederbetonung von morphologischen Aspekten und Artenkenntnis [...]
macht wohl für den Durchschnittsschüler nach der x.ten Tier- und der n.ten Pflanzenart wenig verständlich, welchen persönlichen Gewinn er daraus ziehen kann,
noch weitere Arten hinzuzulernen - außer einer guten Note oder Anerkennung
durch den Lehrer“ (ebd., S. 73). Löwe fordert eine inhaltliche Neuorientierung, um
insbesondere die existentielle und lebenspraktische Bedeutung des Faches Biologie
stärker als bisher zu verdeutlichen. Fach-, schüler- und gesellschaftsrelevante Aspekte müssen stärker vernetzt werden. Themenbereiche, die aus fachlicher Sicht
höchst bedeutsam sind, wie z. B. Photosynthese, erscheinen Schülern häufig „zu
trocken“, „zu schwierig“, und „sehr theoretisch“, obwohl sie für das gesamte Leben
auf der Erde höchst präsent sind und existentielle Konsequenzen haben.
3. Genetisches Lehren - ein Ausweg?
WAGENSCHEIN (1989) hat auf ein zentrales Dilemma des naturwissenschaftlichen
Unterrichts hingewiesen, das in diesem Zusammenhang auch die Biologie eingeholt
hat: Folge eines (besonders im Realschul- und Gymnasialbereich) stark an der
Fachsystematik orientierten naturwissenschaftlichen Unterrichts ist „ein verfrühender und übereilter Einmarsch in das Reich der quantitativ belehrenden Apparate,
der nur nachgeahmten Fachsprache, der nur bedienten Formeln“, der „für viele
schon in frühen Schuljahren unwiederbringlich die Verbindung zu den Naturphänomenen [zerreißt] und [...] ihre Wahrnehmung [stört], statt sie zu steigern“. Hinzu
kommt, besonders für das Gymnasium, eine sehr stark lehrerzentrierte Unterrichtsführung, die selbständigen Lernformen der Schüler nur wenig Raum lässt (vgl.
KYBURZ-GRABER 1988).
Naturwissenschaft kann sich nach WAGENSCHEIN erst auf der Basis der Auseinandersetzung mit den freien Naturphänomenen und des allmählichen Verstehens der
dahinterstehenden Zusammenhänge entwickeln. Ausgangspunkt naturwissenschaftlichen Unterrichts sollte die nicht zerteilte, ungefächerte, unpräparierte Natur sein.
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Offenes und unvoreingenommenes Betrachten, Hören und Be-Greifen steht am Anfang der Annäherung an die naturwissenschaftlichen Denk- und Arbeitsweisen. Erst
auf der Grundlage selbständigen Erkennens an ausgewählten Phänomenen kann
sich allmählich ein echtes Bedürfnis nach gedanklicher Durchdringung und die spezifische, einengende (fokussierende) naturwissenschaftliche Sichtweise entwickeln
(genetisch-exemplarisches Unterrichtsverfahren, vgl. WAGENSCHEIN 1970a). Eine
gelungene Entwicklung naturwissenschaftlichen Denkens im Heranwachsenden
ohne voreilige Rodung der muttersprachlichen und unvoreingenommenen Wurzeln
der Naturwahrnehmung kann ein Beitrag zur Orientierung in der Welt, zur bewussten „Einwurzelung in der Natur“ (vgl. WAGENSCHEIN 1970b) und zur Erkenntnis
ihrer „Verlässlichkeit“ sein.
Kritik am genetisch-exemplarischen Ansatz WAGENSCHEINs ergibt sich vor allem
daraus, dass viele Elemente naturwissenschaftlicher Betrachtungsweise nicht unmittelbar aus voraussetzungsloser, aus dem Alltagsdenken ableitbarer Sicht entwickelt werden können. Wagenschein, in humanistischer Bildungstradition stehend,
sieht naturwissenschaftliche Bildung zudem wertneutral. Interesseorientierte Anwendung wird bei ihm aus dem Bereich grundlegenden Verstehens herausgehalten.
Heute muss aber zur Kenntnis genommen werden, dass auch naturwissenschaftliche
Erkenntnis interesseorientiert entstehen und angewandt werden kann (z. B. über die
Finanzierung bestimmter Forschungsbereiche). So kam es in der Folge von Wagenschein (und Kerschensteiner) zu einem (ungewollten) didaktischen Legitimationsdefizit konkreter Inhalte, da zwar die Herleitung der naturwissenschaftlichen Denkund Arbeitsweise systematisch untersucht wurde, nicht aber die Frage, „welche Inhalte aus welchen Gründen besonders wichtig sind“ (MUCKENFUß 1996).
4. Anwendungsorientierung im Biologieuntericht
Untersuchungen von GERHARDT (1994) zu Schülervorstellungen im Bereich der
Biologie haben gezeigt, dass viele Schüler über die ganze Schulzeit hinweg fehlerhafte Vorstellungen über biologische Zusammenhänge mitschleppen, zum Teil sogar noch verstärken. Begriffe sind oft nur als Worthülsen geläufig, nicht aber in ihren inhaltlichen Zusammenhängen verstanden (vgl. auch TROMMER 1990 und
KÖHLER 1996). Der Transfer unterrichtlicher Inhalte auf den Alltag wird meist
nicht vollzogen. In den Ergebnissen GERHARDTs werden die Kritikpunkte WAGENSCHEINs bestätigt. Wie aber kann das Verstehen biologischer Zusammenhänge gefördert und die lebenspraktische Bedeutung erkennbar gemacht werden?
AEBLI (1993) weist aus Sicht der allgemeinen Didaktik darauf hin, dass der Mensch
als Kulturwesen ein natürliches Aktivitäts- und Lernbedürfnis besitzt. Entscheidend
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für die Ausführung bestimmter Aktivitäten oder die bewusste Auseinandersetzung
mit Zusammenhängen ist das Vorhandensein einer entsprechenden Motivation. Ist
ein Ziel besonders interessant, entsteht intrinsische Motivation, also sach- oder
selbstbezogenes Interesse. Um ein Ziel zu erreichen, benötigt man verschiedene
Fähigkeiten und Fertigkeiten, deren Erlernen von diesem Ziel her motiviert ist
(extrinsische Motivation). Beide Motivationsformen wirken bei der Aktivierung in
Alltagssituationen zusammen. Sie sind die Antriebe für „natürliches Lernen“ und
Voraussetzungen für kulturelles Leben schlechthin. „Indessen bedeutet das wirkliche Kulturleben im Bereich der Freizeit zu einem guten Teil aktive Betätigung,
nicht nur Lektüre und Kontemplation. Daher müsste auch die Schule viel mehr auf
ein tätiges Kulturleben vorbereiten: nicht nur Botanik, sondern auch Gartenbau,
nicht nur Geographie, sondern auch Wandern und Reisen, nicht nur Zoologie, sondern auch Tierhaltung ...“ (ebd., 34 f.). Insofern ergeben sich für einen lebensnahen
und effektiven Biologieunterricht Forderungen nach einer stärkeren Betonung der
Auseinandersetzung mit authentischen Naturphänomenen und einer stärkeren Gewichtung anwendungsbezogener Aspekte.
STAECK (1995, S. 90) betont, dass „es in der Lernpsychologie seit langem als Binsenweisheit gilt, dass Wissen vor allem dann bildungswirksam wird, ..., wenn es in
Beziehung zum Lernenden tritt, wenn es Subjektivität ergreift. ... Beginnend im
vorfachlichen Grundschulunterricht und weiterführend im biologischen Fachunterricht müssen die thematisierten Fragestellungen die Lebensbedürfnisse, Interessen
und Probleme der Schüler zentral berücksichtigen“. Staeck leitet aus diesen Überlegungen den Ansatz eines utilitaristischen, anwendungsbezogenen Biologieunterrichts ab, in dem „der Nutzwert der Biologie ... das erkenntnisleitende Interesse“
für die Auswahl der Unterrichtsinhalte darstellt. Der Lehrstoff soll nach seiner Anwendungsrelevanz ausgewählt werden. So sehr die Forderung nach einer stärkeren
Gewichtung von Anwendungsbezügen aus lernpsychologischer, allgemeindidaktischer und bildungspolitischer Sicht zu begrüßen ist (vgl. BILDUNGSKOMMISSION
NRW 1995), sosehr birgt der Ansatz die Gefahr einer falschen Reduzierung des
Biologieunterrichts auf verschiedene Anwendungsbereiche in sich. Die Biologie ist
auch Grundlagenwissenschaft und weist elementare, grundlegende Bildungsinhalte
auf, die bei einer Auswahl der Unterrichtsinhalte nach Anwendungsrelevanz allzu
leicht unter den Tisch fallen könnten. Der umgekehrte Weg scheint sinnvoller: Zunächst müssen die Inhalte nach Fach-, Schüler- und Gesellschaftsrelevanz ausgewählt werden, dann aber sollte immer nach lebenspraktischen Bezügen und Anwendungsrelevanz gefragt werden. In der methodischen Planung des Unterrichts
kann dann der Anwendungsbezug am Anfang stehen. Insbesondere die Problemorientierung des Unterrichts anhand von Lebenssituationen, die die Schüler betreffen,
führen zu höherer Lernmotivation und zur Einsicht, dass auch grundlegende biolo-
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gische Inhalte für jeden einzelnen eine unmittelbar lebenspraktische Bedeutung haben.
Derartige Ansätze existieren bereits in größerer Zahl. Insbesondere in den Hessischen Rahmenrichtlinien der 70er Jahre wurden derartige Überlegungen erstmals
systematisch in Bildungsplänen verankert (vgl. HESS. KULTUSMINISTER 1978). In
jüngerer Zeit wurde der Ansatz durch ELLENBERGER (1993) wieder in die Diskussion gebracht.
1994 wurde in einer empirischen Untersuchung anhand der exemplarischen, anwendungsbezogenen Erarbeitung ökologischer Grundsachverhalte am Beispiel der
Kompostierung die Wirkung eines solchen Unterrichts auf Schüler und Lehrer überprüft und bewertet (KÖHLER 1994). Dabei wurde mit einem im Klassenzimmer
betriebenen Modellkompost, einem sogenannten Kompost-Kleinbrüter gearbeitet.
Im folgenden soll diese Untersuchung kurz dargestellt werden, bevor anhand diverser Beispiele der Strukturierungsansatz eines anwendungsorientierten
Biologieunterrichts weiter illustriert wird.
Ausgangspunkt der Untersuchung (ebd.) ist ein didaktisches Stufenkonzept zur
Umwelterziehung, das zunächst für die Bildungsarbeit im Naturschutz konzipiert
war (vgl. KLAUTKE/KÖHLER/TUTSCHEK 1988) und dann für die schulische Umwelterziehung modifiziert und weiterentwickelt wurde (vgl. KLAUTKE/KÖHLER 1991).
Kern dieses Konzepts sind die fünf Stufen Erleben/Begegnen, Erkunden/Wissen,
Reflektieren, Werten und Handeln, die als gleichwertige Elemente des Unterrichts
Berücksichtigung finden sollen (vgl. Abb. 1).
Den inhaltlich-fachlichen Bezugpunkt bildete die Kompostierung, die anhand eines
Kleinsystems (Kleinbrüter) direkt im Klassenraum (evtl. ergänzt durch Freilandaktivitäten, z. B. im Schulgarten) durchgeführt wurde. Die Kompostierung diente dabei als exemplarischer Fall für die Erarbeitung elementarer Grundbegriffe der Ökologie, wie z. B. Nahrungskette, Nahrungsnetz, Räuber-Beute-Beziehung, Stoffkreislauf usw.
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Erleben/Begegnen
Erkunden/Wissen
Reflektieren
Werten
Handeln
Umwelt
Mitwelt
Abbildung 1:
„Stufenkonzept“ zur Umwelterziehung nach KLAUTKE/KÖHLER (1991), verändert.
In der praktischen, angewandten Auseinandersetzung mit der Thematik machten
sowohl Schüler als auch Lehrer viele neue und überwiegend positive Erfahrungen.
Folgende Ergebnisse wurden u.a. bei der empirischen Erhebung an 10 Schulen (überwiegend Gymnasien) mit 11 Lehrkräften und 201 Schülern ermittelt:
• Die positive Aufnahme des Ansatzes zeigte sich in dem mit großer Mehrheit geäußerten Interesse einer Fortführung der Arbeit mit dem Kleinbrüter durch Lehrer und Schüler.
• Handlungsorientierte Elemente der Arbeit (sowohl praktische Tätigkeiten bei der
Kompostierung als auch biologisch-chemische Untersuchungen) wurden von den
Schülern als besonders interessant empfunden.
• Eigene Handlungserfahrungen der Lehrer im Bereich des praktischen Naturschutzes oder in der Lehrerfortbildung förderten die Handlungsorientierung des
Unterrichts.
• Das didaktische Stufenkonzept wurde von Lehrern und Schülern positiv bewertet, wobei besonders die Stufen „Reflexion“ (der eigenen Lebenspraxis) und
„Handeln“ (im Sinne umweltverträglicher Lebenspraxis) im Unterricht noch zu
wenig berücksichtigt wurden.
• Der exemplarische Charakter der (Kleinbrüter-)Kompostierung für ökologische
Grundsachverhalte wurde von den Lehrkräften erkannt, aber noch nicht in allen
Fällen im Unterricht umgesetzt. In einigen Fällen wurden ökologische Grundlagen, die am Kompost empirisch erarbeitet werden können, noch im Vorfeld
theoretisch erläutert, und dann nur am praktischen Beispiel illustriert. Dies
zeigt, dass besonders im Bereich der exemplarischen Erarbeitung von Inhalten
bei einigen Lehrern noch Praxisdefizite vorhanden sind (vgl. KÖHLER 1994,
KÖHLER/KLAUTKE 1994).
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In der Untersuchung zeigte sich, dass die Berücksichtigung der Prinzipien
> Anwendungsbezug/Lebensnähe
> Problemorientierung
> Exemplarität
> Situationsorientierung und
> Handlungsorientierung
im Unterricht die Bedeutung grundlegender biologischer Zusammenhänge einsichtig werden lassen kann. Dabei geht es nicht um eine vordergründig utilitaristische
Ausrichtung des Biologieunterrichts, sondern um die Verdeutlichung der Bildungsrelevanz biologischer Inhalte durch eine gezielte Einbeziehung von Anwendungsbezügen in verschiedensten thematischen Zusammenhängen. Dies sei an einer Reihe weiterer praktischer Beispiele illustriert:
Vegetationskundliche Untersuchungen belegen eindrucksvoll den Zusammenhang
von Lebensraum und Lebensgemeinschaft. Für Schüler ist jedoch nicht ohne weiteres einsehbar, worin der Nutzen eines Vergleichs verschiedener natürlicher Standorte liegen mag. Interessant wird dies erst, wenn lebenspraktische Bezüge deutlich
werden. Am Beispiel der Untersuchung der Vegetation von Skipisten kann der Einfluss menschlicher Eingriffe in natürliche bzw. naturnahe Ökosysteme gut erarbeitet werden (vgl. BEIER/HELLMESSEN/KÖHLER 1986, TEUTLOFF/TEUTLOFF 1991).
Viele Schüler sind Wintersportler oder Sommertouristen in den Alpen. Ausgehend
von der Problematik des Tourismus oder, induktiv, von der Untersuchung konkreter Pistenflächen im Rahmen einer Alpenexkursion, kann im Sinne eines ganzheitlich-kritischen Biologieunterrichts (ELLENBERGER 1993) und des didaktischen
Konzepts von KLAUTKE/ KÖHLER (1991) das Phänomen Beeinflussung eines Lebensraumes von verschiedenen Seiten her beleuchtet werden (Auswahl):
1. Veränderte Standortbedingungen fördern Pflanzenarten, die Anpassungsmerkmale an diese Standorte aufweisen.
2. Durch Verdrängung von klimatisch gut angepassten Arten kommt es zur Auflockerung der Vegetationsdecke mit der Folge einer erhöhten Erosionsgefahr.
3. Im Vergleich mit unbeeinflussten, natürlichen Standorten wird die Wechselwirkung von Biotop und Biozönose deutlich. Anthropogene Störungen natürlicher
Ökosysteme erfordern (meist sehr aufwendige) „Reparatur-“ bzw. Ausgleichsmaßnahmen.
4. Aus politisch-gesellschaftswissenschaftlicher Sicht stellt sich das Problem der
Tourismuslenkung bzw. der Ausrichtung bestimmter Tourismuskonzepte.
In der Schulgartenarbeit ergibt sich die Möglichkeit, die praktische Bedeutung elementarer botanisch-morphologischer Inhalte zu erfassen. Beim Setzen verschiedener Nutzpflanzenarten ist es notwendig, durch genaues Betrachten und Erfassen des
Bauplans von Blütenpflanzen die richtige Setztiefe im Boden zu wählen. Pflanzen,
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deren Vegetationspunkt sehr tief liegt (Rosettenpflanzen, „kopfartig“ wachsende
Pflanzen, wie Salate, Weißkohl, Rotkohl u.ä.) dürfen nicht zu tief gesetzt werden,
da sie sonst einer erhöhten Infektionsgefahr durch Pilze und Bakterien ausgesetzt
sind. Knollenbildende Pflanzen müssen, entsprechend der Lage des knollenbildenden Pflanzenteils, verschieden tief gesetzt werden (z. B. Rote Bete, Kohlrabi).
Pflanzen mit sprossbürtigen Wurzeln können tiefer gesetzt werden, damit sie vermehrt Wurzeln bilden und damit standfester werden und kräftiger wachsen (z. B.
Tomaten). Pflanzen, deren Früchte unmittelbaren Bodenkontakt haben (Erdbeeren,
Zucchini), bringen intakte Früchte und reichhaltigere Ernte hervor, wenn der Boden
um sie herum mit Stroh gemulcht wird usw. Um hier gärtnerisch richtig zu entscheiden sind Kenntnisse des Grundbauplans der Pflanzen und seiner Metamorphosen notwendig. Isoliert betrachtet werden diese Inhalte von Schülern oft als langweilig und uninteressant empfunden. Von dieser praktischen Anwendung kann in
weiteren Unterrichtsschritten dann auch auf die Bedeutung von Abwandlungen des
Grundbauplans für standörtliche Anpassungen an natürlichen Standorten eingegangen werden.
Probleme mit Schnecken im Schulgarten können zu der Frage führen, wo sich diese
Tiere aufhalten, wenn es trocken ist. Wie orientieren sie sich dann, um ihre Nahrung wieder zu finden? Können Schnecken riechen? Lassen sich Verhaltensweisen
und Fähigkeiten der Schnecken (wie das Suchen von Unterschlupfmöglichkeiten,
das Riechen von Nahrungspflanzen, die Orientierung am Geruch von Artgenossen
usw.) gezielt für Gegenmaßnahmen im Garten nutzen? So kann etwa das Thema
„Weichtiere“ anwendungsbezogen und mit Experimenten erschlossen um ein Vielfaches interessanter erarbeitet werden, als (nur) mit Schemazeichnungen im Schulbuch, gegebenenfalls unterstützt durch einige (beziehungslos im Raum stehende)
Versuche (vgl. KÖHLER 1995).
Gerade die Schulgartenarbeit weist eine Fülle von Themen auf, bei denen in praktischer Auseinandersetzung mit biologischen Phänomenen ökologische Grundeinsichten gewonnen werden können (z. B. Stoffkreisläufe im Garten, vgl. Abb. 2,
Biologischer Pflanzenschutz, Gestaltung von Biotopen u.a., vgl. BIRKENBEIL 1987,
BIRKENBEIL/KÖHLER 1997). Angewandt-biologische Bezüge ergeben sich aber
nicht nur im Bereich Ökologie und Schulgarten.
NEVERS u.a. (1991) haben zum Themenkomplex Mikrobiologie Praxismaterialien
vorgelegt, in denen mikrobiologische Grundlagen im Zusammenhang von der Lebensmittelbiotechnik erarbeitet werden (vgl. auch GRUBER/KLAUTKE 1991). So
kann der Einstieg in die Dimension der Mikroorganismen anhand des Verderbs von
Milch erfolgen. Ausgehend von der Nutzung von Milchbesiedlern bei der Herstellung von Joghurt und Käse wird dann auf die Vielfalt der Mikroorganismen und ih-
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re Bedeutung in der Lebensmittelherstellung, als Zersetzer und als Krankheiterreger eingegangen. So können auch zielgerichtet die Züchtung und Vermehrung von
Mikroorganismen thematisiert und praktisch erprobt werden.
Abbildung 2:
Modellvorstellungen der Bedeutung der Kompostierung im Stoffkreislauf des Gartens. Links:
Erste Einordnung des Komposts als Schlüsselstelle im Stoffkreislauf. Rechts: Erweiterung der
Modellvorstellung auf der Grundlage von Experimenten und Messungen, deren Sinn und
Notwendigkeit sich aus der anwendungsorientierten Beschäftigung mit Phänomenen der
Kompostierung ergeben hat (aus KÖHLER 1996).
Auch die Umweltbiotechnik bietet sich als Anknüpfungspunkt für mikrobiologische
Themen an (vgl. KÖHLER/GRUBER/KLAUTKE 1990, KÖHLER/KLAUTKE 1994). Haben Schüler erstmals bewusst nach den Aufsetzen eines Komposthaufens die sich
entwickelnde Hitze hand-greif-lich gespürt, ergibt sich die Frage nach den Verursachern eines derart eindrucksvollen Phänomens von selbst. Mit verschiedenen Versuchen kann der Vorgang der Verrottung und seine Beeinflussbarkeit erschlossen
werden. Vergleiche mit natürlichen Stoffkreisläufen (z. B. Streuzersetzung im
Laubwald) bieten sich an (vgl. KÖHLER 1993 und 1994b, siehe Abb.2)
Eine unmittelbar lebenspraktische Bedeutung ist im Bereich der Humanbiologie
gegeben. Trotzdem werden auch hier häufig Modelle und Medien den vielfältigen
Möglichkeiten eigener Erkundung vorgezogen. LEHMANN (1998) hat in einer wissenschaftlichen Hausarbeit ein Unterrichtsmodell erprobt, in dem das Thema „Herz
und Blutkreislauf“ konsequent auf der Basis konkret beobachtbarer Phänomene erschlossen wurde und auch medizinische und sportliche Anwendungsaspekte einbezogen waren.
Auch Themen, die im Biologieunterricht üblicherweise keinerlei Anwendungsbezüge erkennbar werden lassen, gewinnen bei einer konsequenten Einbeziehung
derartiger Aspekte an bildungswirksamer Bedeutung für die Schüler.
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So stellt LÖWE (1992, S. 153) in seiner Untersuchung die Frage: „Weshalb lässt
sich die im Lehrplan vorwiegend fachlich legitimierte Unterrichtseinheit ‚Photosynthese‘ nicht in den biosphärischen Kontext der Stoffkreisläufe einbetten? Eingehend auf aktuelle umweltpolitische Fragestellungen zum Treibhauseffekt, der
Anreicherung von Spurengasen, insbesondere Kohlenstoffdioxid ... oder anknüpfend an der Vernichtung tropischer Regenwälder, vor allem durch Brandrodung,
wird das CO2-Problem thematisiert. Daraus ergibt sich zwangsläufig die Frage, warum wir auf der Erde nicht schon lange überhöhte Kohlenstoffdioxidkonzentrationen in der Atmosphäre vorliegen haben, da ja alle Tiere und Menschen dieses Gas
ausatmen? ...“.
5. Fazit
Anwendungsorientierung im Biologieunterricht ist im Hinblick auf die Tatsache,
dass im Unterricht der allgemeinbildenden Schulen keine Biologen, sondern (möglichst) biologisch grundgebildete Bürger ausgebildet werden unverzichtbar. Biologische Prozesse reichen in alle Lebensbereiche hinein, werden im Alltag jedoch oft
nicht bewusst. Zur Entwicklung von Umwelt- und Gesundheitsbewusstsein und einer verantwortlichen Grundhaltung ist es notwendig, dass biologisches Verständnis
bereits in der Schule (wo sonst?) mit einem Bezugsrahmen vermittelt wird, der die
Einordnung biologischer Wissensbestände in den eigenen Erfahrungshorizont erlaubt. In der Studie der BILDUNGSKOMMISSION NRW (1995, S. 30ff.) wird betont,
dass „Bildung ... in erster Linie ein Können, kein bloßes Sich-Auskennen in Bildungsbeständen [ist]. WILHELM VON HUMBOLDT hat noch immer recht. Für ihn ist
der Gebildete derjenige, der ‚soviel Welt als möglich zu ergreifen, und so eng, als
er nur kann, mit sich zu verbinden‘ sucht. ... Schulisches Lernen in der Gesellschaft
der Zukunft muss Kompetenzen vermitteln, die den Anforderungen an einen vernünftigen Umgang mit den Entwicklungschancen und den Problemen der modernen
Welt genügen. ... Das bedeutet nicht, dass es keine stabilen Bildungsbestände mehr
gäbe. Zu diesen Beständen gehört nach wie vor ein großer Teil des disziplinären
und fachlichen Wissens. ... Der Generalist ohne disziplinäre und fachliche Kompetenzen ist auch in der Schule kein Bildungsideal. Unterricht sollte dabei sowohl
fundamental als auch exemplarisch sein und neben dem fachlichen Lernen auch überfachliches und soziales Lernen einschließen“.
Durch die Einbeziehung angewandter Aspekte in den Biologieunterricht kann seine
Bildungsrelevanz in diesem Sinne deutlich werden – sie sollten auch in den Lehrplänen stärkere Berücksichtigung finden. Vorschläge für den Bereich der Bildungsplanung, die auf Unkenntnis und völliger Fehleinschätzung beruhen, wie die des
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Hamburger Erziehungswissenschaftlers PETER STRUCK (1996, S. 227) würden dann
hoffentlich der Vergangenheit angehören (er schreibt: „Das Computerlernen und
die immer wichtiger werdenden Schlüsselqualifikationen einer Info-Gesellschaft
werden dazu führen, dass die bisherigen Fachlehrpläne, die Kreativität töten, ... zu
Lernbereichslehrplänen vernetzt werden, ... mit dem Computer kann man rechnen,
schreiben, lesen ... und sich biologische, chemische, ... Wissenselemente abholen
und darüber hinaus noch deren Vernetzung, mit der die meisten heutigen Lehrer
überfordert sind“). Derartige Horrorszenarien entstehen nicht zuletzt dadurch, dass
die Biologie als die Wissenschaft, die sich mit den am meisten vernetzten Systemen beschäftigt, ihre Relevanz für Schlüsselprobleme und Schlüsselqualifikationen
(vgl. BILDUNGSKOMMISSION NRW 1995) in der Schule bisher nicht deutlich genug
gemacht hat und damit in hohem Maße unterschätzt wird.
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