Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn von Dr. Rainer Decker Heimatkundliche Schriftenreihe 14/1983 Volksbank Paderborn Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung . Die Lebensverhältnisse. Der Aufruhr auf dem Lande. - Kreis Paderborn - Kreis Büren . - Kreis Warburg . - Kreis Höxter. Die Ursachen Die politische Haltung des Bürgertums - Republikaner und Sozialisten - Die Liberalen - Die Katholiken. Löhers Verhaftung Das Ende der Revolution . Quellen- und Literaturverzeichnis. © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 1 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn Vorbemerkung Als Träger der Revolution von 1848/49 gilt allgemein das Bürgertum. Daß diese Ansicht nur zum Teil richtig ist, läßt sich gerade am Beispiel des Hochstifts Paderborn verdeutlichen. Daher wird in der vorliegenden Darstellung das Verhalten der Landbevölkerung besonders herausgestellt. Allerdings soll dieses Heft eine noch immer ausstehende wissenschaftliche Erforschung der sozialen Lage auf dem Lande nicht ersetzen. Vielleicht kann es aber einige Anstöße in dieser Richtung geben. Die Lebensverhältnisse 1837 veröffentlichte Dr. med. Wilhelm Ruer, »Director der Irren-, Heil- und Pflegeanstalt für die Provinz Westfalen zu Marsberg", eine "Irrenstatistik für die Provinz Westfalen mit Hinweisung auf die medicinisch-topographischen Verhältnisse sämtlicher einzelnen Kreise derselben". Das Buch gehört der zu jener Zeit beliebten Gattung der medizinischen Topographien an. Diese bilden nicht nur für den Medizin-, sondern auch für den Sozial-Historiker eine wahre Fundgrube, da sie zahlreiche Angaben zu den Lebensverhältnissen gerade auch des einfachen Volkes enthalten. Ruer gibt für jeden Kreis der Provinz Westfalen nach einem festen Schema Informationen zur Fläche, Bevölkerungszahl (einschließlich der religiösen Gliederung), den geographischen und klimatischen Gegebenheiten - die wir übergehen - sowie zu den hier interessierenden Lebensverhältnissen (Ernährung, Kleidung, Wohnung, Erwerbsmöglichkeiten, Bildung, Sittlichkeit, Gesundheit u. a. m.). Die Angaben zum Kreis Paderborn (P.) sind besonders ausführlich, aber auch die für die übrigen Gebiete des ehemaligen Hochstifts sind so aufschlußreich, daß sie hier wiedergegeben werden sollen (B. = Büren, H. = Höxter, W. = Warburg). Nahrungsmittel und Kleidung P.: Fast in allen Klassen der Bewohner große Neigung zum Genuß spirituöser Getränke. In den Städten wird viel Fleisch genossen, auf dem Lande Schweinefleisch, doch bilden auf letzterem bloß Vegetabilien, namentlich Kartoffeln, in den Niederungen besonders Buchweizen und der beliebte, schwer verdauliche Buchweizenpfannkuchen, Puffer genannt, aus Buchweizenmehl und Wasser bestehend, durch Zusatz von Gest (Hefe) locker gemacht und mit Oel oder anderm Fette in der Pfanne gebraten, sowie der sogenannte Pumpernickel die Hauptnahrung. Nicht minder sind die sogenannten Ofenkuchen auf dem Lande beliebt, ein halbgares Kuchenwerk, aus Buchweizenmehl und Wasser bestehend, am © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 2 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn Ofen gebacken. Das Trinkwasser ist durchschnittlich ziemlich rein. - Beim männlichen Geschlechte wird viel wollenes Zeug getragen, die weibliche Kleidung ist jedoch durchschnittlich zu leicht. B.: Nahrung in den höhern Gegenden gesund und hinreichend; in den Niederungen ist sie schlechter, besonders viel Mehlbrei von Buchweizen. Überall fast nur Vegetabilien, meist Brot und Gemüse, unter diesen besonders Kartoffeln. Fleisch wird wegen Armut nicht viel genossen. Milch und Butter wegen Mangel an Wiesen und Futter nicht viel gewonnen. Bier wenig getrunken, desto mehr Branntwein. H.: Nahrung meist vegetabilisch, auf dem Lande fast bloß Kartoffeln, oft außer Speck nie anderes Fleisch; die Ofenkuchen sehr beliebt. Das Wasser enthält viel Kalk. Branntwein wird sehr viel getrunken, meist Kümmel, wenig Kartoffelbranntwein. Bier wird wenig, auf dem Lande fast gar nicht getrunken, ist trübe, schlecht. - Kleidung auf dem Lande sehr leicht, meist Linnen, unter den höhern Ständen viel Luxus. W.: Kartoffeln, grobes Brot, Speckpfannkuchen sind die Nahrung des gemeinen Mannes, dazu viel Branntwein, selbst von kleinen Kindern schon genossen. Beschaffenheit der Gebäude P.: In Städten und geschlossenen Dörfern sind die Wohnungen ziemlich gut, schlechter in den offenen Dörfern, namentlich in den flachen Moorgegenden, wo fast alle Häuser das Ungemach haben, daß die Fenster in den Stuben nicht geöffnet werden können, sondern bloß aus einigen in die Wand eingemauerten Glasscheiben bestehen; Wohn- und Schlafstube sind hier nicht immer getrennt, letztere enthält ein einziges Bett für die ganze Familie. Häufig ist dies zugleich Wohnplatz für das Vieh, und findet man neben dem Bette Kuh und Ziege oder andere nützliche Haustiere angebunden; hier und da finden sich sogar bloß Erdhütten als Wohnung für eine ganze Familie. B.: Diese meist schlecht, dumpf, niedrig, unreinlich. Die Wohngebäude enthalten auch die Wirtschaft, das Vieh und die Fruchte; nur in den wenigen Städten ist es etwas besser. H.: Die Wohnungen an der Weser leiden alle 3-4 Jahre an Überschwemmung, daher oft feucht und an diesen Orten öfter Skorbut als in den trockenen. W.: Die Wohnungen sind dumpf meist unsauber, im Norden und Osten des Kreises im Winter übermäßig heiße Stuben, in den anderen Teilen bei Mangel an Feuerung oft kalt und feucht. Nahrungsstand und Erwerbsquellen P.: In Paderborn selbst ist der Haupterwerb außer dem Ackerbau und den gewöhnlichen Handwerken der Gewinn von der Miete der durch die Beamten bewohnten Häuser. Im allgemeinen ist der Nahrungsstand mittelmäßig. Auf dem © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 3 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn Lande sind Ackerbau, Handel und Krämerei sowie die gewöhnlichen Handwerke die vorzüglichsten Erwerbsquellen. Auch wird viel gesponnen. B.: Im steinigten Teile meist Ackerbau, ebenso im Lehmboden. Im Torfgrunde viel Flachs- und Hanfanbau. In letzter Zeit im allgemeinen Zunahme der Armut. Der Ackerbau, die Haupterwerbsquelle, ist wegen des schlechten Bodens wenig lohnend; keine Fabriken, viele Tagelöhner gehen im Sommer nach Holland und ins Bergische. H.: Nahrungsstand im ganzen schlecht, auf dem Lande große Armut. Auf dem Lande viel Leineweber, dabei Leinwandhandel durch Versendung. - Viel Dachdecker und Korbflechter. An der Weser viel Schiffer. W.: Vorzüglich Ackerbau. Lebensweise P.: Wenngleich im ganzen jeder bei gutem Willen seinen Unterhalt findet, so ist doch besonders unter den mittleren Ständen der Aufwand sehr gestiegen, die Zahl der Bedürfnisse sehr gewachsen und dadurch die frühere Einfachheit der Lebensweise sehr vermindert; auf dem Lande, besonders unter den zerstreut Wohnenden, die Kultur noch sehr gering. B.: keine Angaben H.: Freundliches, artiges, zuvorkommendes Wesen, auch bei der unteren Volksklasse. W.: Harte Arbeit, Leben in freier Luft, grobe, schwere Kost, Mißbrauch des Branntweins. Sittlichkeit P.: Infolge der durch die guten Schulen gehobenen Kultur auch im Zunehmen. B.: Im ganzen gut. H.: In der letzten Zeit gestiegen. Zu Vörden noch große Roheit, die Schiffer oft sehr demoralisiert. W.: Bei den niedern Ständen nicht die beste, von 100 Ehen haben gewiß 90 schon vorher längere Zeit vertrauten Umgang gehabt. Wenig Gefühl für Ehre! Der Dieb wird, eben aus dem Zuchthause entlassen, gleich wieder von seinen alten Bekannten aufgenommen. Die Geschwächte (Geschändete) findet einen ordentlichen Mann, wenn sie Geld hat. Volksbelustigung P.: Tänze, Schützenfeste sind nur hier und da wieder eingeführt. B.: Jährlich einige Tanzgelage und sonntägliche Besuche der Kriege. H.: Besonders Tanz ziemlich häufig. © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 4 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn W.: Zuweilen Tanzbelustigungen. Ehe P: Im ganzen zufriedenstellend. B.: keine Angaben H.: Friedlich. W.: Meist gezwungen nach physischem Genusse, selten aus wahrer Liebe geschlossen. (Bei den folgenden Aspekten fehlen Angaben aus dem Kreis Warburg) Erziehung und Schulunterricht P.: Für den Unterricht ist sehr viel getan, er befindet sich im besten Flor (Blüte), und auf den regelmäßigen Besuch der Schulen wird streng gehalten. B.: Der Unterricht wird sehr regelmäßig besucht und ist ohne Tadel. H.: Letzterer gut, fleißig besucht. Religiöser Unterricht und dessen Folgen aufs Leben P.: Hang zum Mystizismus nirgends, selbst nicht auf dem Lande, wo die größere Zahl der Einwohner mit großer Strenge an den Vorschriften der Kirche hängt. Aberglaube noch hier und da. B.: Religiöse Bildung gut, Schwärmerei nirgends. H.: Gut. Beschaffenheit der Kirchen und Schulen P.: Die Schulgebäude in sehr gutem Zustande, einige wenige für der Zahl der Schüler zu klein. B.: Schulen geräumig, freundlich und gesund. H.: Schulgebäude meist neu und gesund. Uneheliche Geburten P.: Sind besonders in den größeren geschlossenen Ortschaften ziemlich frequent. B.: Im Durchschnitt auf 20 Geburten eine uneheliche. H.: Auf jeden Ort im Durchschnitt jährlich 2. Selbstmord P.: Sehr selten. © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 5 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn B.: Nicht häufig, in 10 Jahren fünfmal. H.: Selten. Verbrechen P.: Kleine Diebstähle ziemlich B.: Selten. H.: Verhältnismäßig selten. Krankheitskonstitution P.: Durchschnittlich katarrhalisch-gastrisch und sich mehr zum Entzündlichen neigend. In den Niederungen häufig Wechselfieber, Konvulsionen (Schüttelkrämpfe) der Kinder kommen häufig vor; besonders sterben in Paderborn viele Kinder an Trismus (Kieferklemme). B.: Im steinigen, waldigen und gebirgigen Teile ist sie entzündlich und fordert Aderlässe und streng antiphlogistische (entzündungshemmende) Mittel. In dem tiefer gelegenen lehmigen Boden ist sie gastrisch und fordert mehr die auflösende Methode. Im Torfgrunde oft bösartige Krankheiten, vorzüglich Nervenfieber; vor allem aber endemisch das Wechselfieber in allen Formen, ebenso chronische Ausschläge sind Skropheln (Lymphknotenschwellung). - In den höheren Teilen als Kinderkrankheit Kopfausschläge, selbst bösartige Schorfe. Sehr verbreitet unter den Kindern die Krätze, die selten beachtet und höchst nachlässig behandelt wird. H.: Herrschend sind Gicht und Rheumatismus. Merkwürdig ist stehende Anlage zu Skorbut, Neigung zu Verschleimung; oft Wurmübel, nicht selten Bandwurm. W.: Die rheumatischen Krankheiten sind die stationären (verbreiteten). Sehr selten Skropheln und phthisis tuberculosa (tuberkulöse Auszehrung). Häufig sind Rheumatismus, Gicht, Kropf und Asthma. Bei Kindern Rachitis, nicht selten hydrocephalus acutus (Wasserkopf), ebenso häufig bei Kindern Wurmkrankheit und eclampsia (Krampfanfall). Insgesamt bietet dieser Bericht ein erschreckendes Bild der Lebensumstände weiter Teile der Bevölkerung: allgemeine Verbreitung von Krankheiten, die heute bei uns kaum noch dem Namen nach bekannt sind, primitive, unhygienische Wohnverhältnisse, einseitige Ernährung, nur wenige Arbeitsplätze außerhalb der Landwirtschaft. Hier zeigen sich noch agrarisch-vorindustrielle Verhältnisse, wie sie grundsätzlich schon im Mittelalter bestanden hatten. Den Zeitgenossen war aber bewußt, daß sich die soziale Not um 1830 verstärkt hatte (Büren: In der letzten Zeit im allgemeinen Zunahme der Armut). Dies gilt insbesondere für die © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 6 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn unterbäuerliche Schicht der Heuerlinge und Kötter, d.h. nicht-erbende Bauernsöhne und deren Nachkommen, die auf Lohnarbeit in der Landwirtschaft und Nebenverdienste wie Spinnen und Weben angewiesen waren. Der Landrat von Paderborn stellte fest, ihr Schicksal, von jeher traurig habe sich so sehr verschlechtert, daß im Herbst 1837 aus der Gemeinde Westenholz an 30 Familien, von denen viele nicht mittellos, sich aufgemacht hätten, um ihren heimatlichen Penaten am Missouri einen anderen Herd zu bauen. Eine größere Anzahl warte auf Nachrichten von dem Schicksal der Auswanderer, um, sofern es nicht abschrecke, gleichfalls zu übersiedeln, was dann auch bis in die 60erJahre geschah, wobei u. a. in einem Jahr 70 Personen das Dorf Ostenland verließen. Auch aus Brakel wanderten zahlreiche Bewohner nach Amerika aus. Der Ortschronist bemerkte dazu: Könnte man auf einem Landwege nach Amerika kommen, so wurde die Hälfte der Bewohner Brakels dahin auswandern. Die an sich schon bescheidenen Lebensverhältnisse eines großen Teils der Bevölkerung wurden durch Wirtschaftskrisen nachhaltig verschlechtert. Nicht wie im Industriezeitalter konjunkturelle, sondern - typisch für die Agrargesellschaft äußere, besonders klimatische Bedingungen - Dürren, übermäßiger Regen, aber auch Pflanzenkrankheiten - beeinflußten über den aktuellen Ernteausfall und die Lebensmittelpreise den allgemeinen Wohlstand. So segensreich die Einführung der Kartoffel, eines relativ nahrhaften und billigen Nahrungsmittels, gegen Ende des 18. Jahrhunderts gewesen war, führte doch die übermäßige Abhängigkeit von ihr 1846/ 47 in West- und Mitteleuropa zu einer Hungerkatastrophe größten Ausmaßes. Auslöser war die durch einen Pilz verursachte Krautfäule der Kartoffel. Hinzu kam - infolge von Trockenheit - eine Getreide-Mißernte, so daß 1847 die Preise für Roggen und Kartoffeln einen zuvor nie gekannten Höchststand erreichten. Hauptleidtragender war die ländliche Unterschicht, die schon in normalen Zeiten ihren Bedarf nicht durch Eigenwirtschaft decken konnte, jetzt aber die Preisexplosion voll zu spüren bekam. Caritative Maßnahmen des Adels und der Gemeinden sollten die größte Not lindern, lösten aber naturgemäß nicht das eigentliche, strukturelle Problem. Dieses bestand in dem Mißverhältnis zwischen der Zunahme der Bevölkerung seit Beginn des Jahrhunderts, was vor allem auf die Abschaffung der Heiratsbeschränkungen für nicht-erbende Bauernkinder zurückzuführen war, und der stagnierenden Zahl der Arbeitsplätze. Diese Verhältnisse ähneln in mancher Beziehung denen in den heutigen Entwicklungsländern. Im Unterschied zu ihnen bot im 19.Jahrhundert die Auswanderung eine gewisse Abhilfe. Der eigentliche Ausweg aus dieser mit dem Begriff Pauperismus bezeichneten Verarmung breiter unterbäuerlicher Kreise öffnete sich aber erst seit den 50er Jahren mit der Industrialisierung, wodurch zahlreiche neue Arbeitsplätze, besonders im Ruhrgebiet, die zur Abwanderung bereite ländliche Überschußbevölkerung auffingen. © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 7 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn Der Aufruhr auf dem Lande Die Revolution in Frankreich während des Februars 1848, die zur Abdankung des "Bürgerkönigs" Louis Philippe und zur Ausrufung der Republik führte, griff im März auf Deutschland über. Hier bildete die Beseitigung der Kleinstaaterei, die Bildung eines deutschen Nationalstaates, eine der Hauptforderungen des politisch aktiven Bürgertums. Ebenso nachdrücklich verlangte man die Garantierung der Bürgerrechte und des Prinzips der Gewaltenteilung mittels einer geschriebenen Verfassung. Der österreichische Staatskanzler Metternich, dessen System mehr als drei Jahrzehnte lang die Verwirklichung dieser Forderungen verhindert hatte, mußte zurücktreten und emigrieren. Die deutschen Fürsten gaben erstaunlich schnell nach und stimmten dem Wunsch nach allgemeinen Wahlen für eine verfassunggebende deutsche Nationalversammlung zu. In Berlin kam es allerdings am 18. März zu blutigen Auseinandersetzungen, in deren Verlauf 230 Arbeiter und Handwerker von preußischem Militär erschossen wurden. König Friedrich Wilhelm IV. wich aber vor den Aufständischen zurück und legte, um dies zu dokumentieren, ihre schwarz-rot-goldenen Farben an. Unter dem Druck des Volkes ehrte er die Gefallenen, ernannte liberale Minister, versprach Wahlen auch für eine preußische Nationalversammlung sowie die Lösung der nationalen Frage in dem Sinne "Preußen geht fortan in Deutschland auf“. Dieser unerwartete, scheinbar vollständige Zusammenbruch des alten preußischen Herrschaftssystems führte innerhalb weniger Tage zu einem Aufbegehren der Landbevölkerung gegen die bestehende Ordnung. Die Ereignisse im Hochstift Paderborn lassen sich recht anschaulich den Berichten der Landräte sowie der von Aktionen unmittelbar Betroffenen entnehmen. Da diese Quellen bisher nur wenig bekannt sind, sollen sie hier weitgehend im Wortlaut und ungekürzt wiedergegeben werden. Zu berücksichtigen ist allerdings die einseitige Perspektive dieser Darstellungen. Die aus der Unterschicht stammenden Träger des Aufstandes haben, wie so oft in der Geschichte, ihre Sicht der Ereignisse nicht der Nachwelt überliefern können. Kreis Paderborn Im Kreis Paderborn kam es im Unterschied zu den anderen Gebieten des ehemaligen Hochstifts nur vereinzelt zu Ausschreitungen. Der Mindener Regierungspräsident erwähnte Ende März in einem Schreiben an den Innenminister lediglich: In Lippspringe, Kreis Paderborn, haben sich in der Nacht auf den 26. des Monats ungefähr 50 betrunkene Menschen zusammengerottet und das Haus des Gutsbesitzers Tilly zwei Stunden lang bestürmt. Fenster und Türen sind zerschlagen. Den Anlaß hierzu hat die Verkoppelung gegeben, welche schon in © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 8 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn mehreren anderen Orten des ehemaligen Fürstentums Paderborn Ausbrüche von Unzufriedenheit hervorgerufen hat. Die Verkoppelung, auch Separation genannt, beinhaltete die Aufteilung der bisher von Grundherr und Bauern gemeinsam genutzten Wiesen und Forsten sowie die Zusammenlegung getrennter Fluren zu größeren, rationeller zu bewirtschaftenden Flächen. Die vielfach erst in den letzten Jahrzehnten entstandenen Kötter-Höfe sollten zugunsten der Bauern keinen Anteil an der aufzuteilenden Allmende erhalten. Der für die Separation im Kreise zuständige Oekonomie-Kommissarius Hirt schrieb am 31. März aus Paderborn an seine vorgesetzte Dienststelle in Münster: Bei der hier jetzt allgemein herrschenden Aufregung wird namentlich auch gegen die Gemeinheitsteilungen - Verkoppelungen genannt - heftig gestürmt und alles hervorgesucht, um die ohnehin schon unruhigen Gemüter gegen jedes Separations-Verfahren möglichst aufzuregen und in Wut zu bringen. Der Ausbruch einer so aufgeregten Wut wurde gestern abend zwischen 9 und 10 Uhr gegen mich gerichtet, indem eine Menge Tumultuanten eine Deputation, angeblich aus Salzkotten mit dem Eröffnen an mich losschickten, die Salzkottener ließen mir sagen, ich solle mich innerhalb3 Tagen aus Paderborn entfernt haben, oder sie würden mein Haus abbrennen und mich totschlagen. Diese Drohung wurde mir mehrmals wiederholt, obgleich ich versicherte, daß ich in Salzkotten mit der Verkoppelung nichts zu tun habe. Endlich wagte es ein Tumultuant, eine Wagen-Runge nach mir zu schleudern, der augenblicklich 5 andere Holzstücke aus der Rotte folgten. Ich verteidigte mich mit Hirschfänger und Spießgewehr und war dadurch imstande, die Rotte so lange von mir abzuhalten, bis mir infolge eines Schusses die Wache des hiesigen Bürger-Vereins zu Hülfe kam. Die Abneigung gegen die Gemeinheitsteilung ist auch hier in Paderborn auf sehr rohe Weise ausgesprochen worden. Ich habe daher, um mein Leben zu schützen, heute die Provokanten per Currende (Eilpost) zur Zurücknahme des Antrages aufgefordert. Euer Königl. General-Kommission berichte ich dies gehorsamst mit der Bitte, die an die Provokanten gerichtete Aufforderung wegen Zurücknahme des Antrages als durch den Drang der Umstände zur Sicherung meines Lebens erzwungen hochgeneigtest für statthaft zu erklären. Bei der jetzt eingetretenen Aufregung müssen sämtliche Gemeinheitsteilungen unbedingt so lange ausgesetzt werden, bis das Ansehen des Gesetzes wieder durchgreifend hergestellt ist oder sich sämtliche Interessenten mit der Sache einverstanden erklären. Die General-Kommission in Münster teilte dem Oberpräsidenten der Provinz Westfalen am 3. April 1848 mit: Wir haben solches (Hirts Schreiben) dem Königlichen Oberlandesgericht in Paderborn zugestellt, damit nach Ankunft der abgesandten Truppen-Abteilungen die Untersuchung und Entwaffnung der © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 9 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn Tumultuanten angeordnet werden kann. Daß allen Kommissarien im Regierungsbezirk Minden aufgegeben ist, alle Verhandlungen in Auseinandersetzungsangelegenheiten zu sistieren (einzustellen), haben wir bereits anzuzeigen nicht verfehlt. Im übrigen blieb es im Kreise relativ ruhig. Gutsbesitzer aus Nachbargebieten fanden in der Paderstadt Zuflucht. Hier wurde lediglich, wie Landrat Grasso am 27. März meldete, die Zahlung der Schlacht- und Mahlsteuer, einer Verbrauchssteuer auf Fleisch und Mehl, verweigert. Der Landrat bat unter dem gleichen Datum das Armee-Kommando in Münster, der hierselbst gebildeten Sicherheitswehr eine hinreichende Anzahl Gewehre zur Disposition zu stellen. Weit größeren Schrecken verursachten bei Behörden und Gutsbesitzern die Ereignisse im Nachbarkreis Büren. Kreis Büren Die Briefe des Landrates Graf Stolberg an den Oberpräsidenten in Münster vermitteln einen Eindruck von der dramatischen Entwicklung in diesem Gebiet, die in der Erstürmung und Verwüstung des Schlosses des größten Grundbesitzers im Kreise, des Grafen Westphalen zu Fürstenberg, gipfelte. Büren, den 26. März 1848, abends ½ 12 Uhr. Euer Exzellenz muß ich zu meinem größten Bedauern anzeigen, daß seit dem Eintritte der Ereignisse Berlins auch in meinem Kreise eine höchst aufgeregte Stimmung herrscht, welche sich schon in verschiedenen Gemeinden durch die ärgsten Exzesse, als Demolierung von Häusern, selbst durch Angriffe auf Personen und Eigentum, in bedrohender Weise manifestiert hat. Achtung vor dem Gesetze und vor der polizeilichen Gewalt haben aufgehört; an ihre Stelle ist allgemeine Gärung, fast Anarchie getreten, wogegen die Einrichtung von Bürgergarden in den Städten des platten Landes nur wenig Schutz gewährt, während die Dörfer kaum Elemente zur Bildung von Sicherheitsvereinen darbieten. Die Bewegung verfolgt übrigens weniger politische als vielmehr lokale, materielle Interessen. Sie zeigte sich zunächst in Brenken, indem dortige Bauern bei dem Freiherrn von Brenken in Erpernburg in bedrohlicher Weise petitionierten und nur durch Zugeständnisse beschwichtigt wurden. Am 22sten richtete sich die Bewegung in Lichtenau gegen die Begünstiger und vermeintlich Begünstigten der Separation, unter Bedrohung ihrer Personen und Demolierung ihrer Häuser. Einen Tag später, nachdem ich gerade dort gewesen war, um mich über die Stimmung zu informieren und die kräftige Bildung einer Sicherheitswache zu befördern, deren Errichtung übrigens schon früher © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 10 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn angeordnet war, zogen etwa 200 Mann gegen das benachbarte Rittergut Sudheim und zwangen den Gutspächter zum Verzicht auf die Separation und führten ihn dann, jedoch ohne persönliche Beleidigung in ihrer Mitte nach der Stadt, wo er einen schriftlichen Revers ausstellen mußte. Seitdem ist die Ordnung dort nicht wieder gestört. Andere beklagenswerte Ereignisse fanden dagegen in größerer Nähe meines Wohnsitzes (Westheim) statt. In der Nacht vom 25. zum 26. cur. wurde in Essentho die Dienstwohnung des Gräflich von Plettenbergischen Försters, der nur mit genauer Not sein Leben rettete, zum größten Teile demoliert. Er hat sich selbst und seine Familie nach dem nahen Marsberg, wohin sich auch die Gräflich Westphalschen Beamten von Fürstenberg gerettet haben, flüchten müssen; in der Nacht des Ereignisses, nachdem die übrigen Mitglieder der Familie des Försters in Sicherheit gebracht waren, fand ich den Förster selbst unterwegs, wo er sich mir anschloß und bei mir beherbergt wurde. Dieser Vorfall scheint übrigens rein lokaler Natur, da zwischen dem Dienstherrn des Försters und der Gemeinde langjährige, mit vieler Erbitterung geführte Prozesse obschweben, der Förster aber sich durch übertriebene Strenge verhaßt gemacht haben soll. - In derselben Nacht fand ein Aufruhr zu Fürstenberg statt, wobei man das Gräflich Westphälische Schloß und die Wohnung des Amtmanns Langkeld mehr oder weniger demolierte; zur gleichen Zeit teilte ein gleiches Schicksal der Königl. Oberförster in Wünnenberg, dessen Möbel man zertrümmerte, die Dienstakten aber zerstreute und eine Tonne Tabak entwendete. Ähnliche Manifestationen sollen sich in anderen Gemeinden vorbereiten, namentlich um die endliche Regulierung der Forstgerechtsame und besonders das Geschenk des 1/4Domanial-Erbes (Mitbenutzung des. Domänenbesitzes durch die Bauern) zu erreichen; letzteres dürfte, wenn man die Pazifikation (Beruhigung) der Gemeinden erlangen will, keinen Augenblick mehr versagt werden. Mehrere Gemeinden sind in Gärung, ich weiß nicht, wo die Bewegung endet, halte sie aber so weit verbreitet, daß ich Militär-Hülfe nicht ausreichend, vielmehr bedenklich finde, wenn nicht sehr starke Detachements entsandt werden können. Die gesetzliche Autorität hat teilweise aufgehört, der Amtmann Langkeld von Fürstenberg flüchten müssen, und sehr wahrscheinlich würde der Amtmann Mantell in Lichtenau das gleiche Schicksal teilen, wenn er nicht durch seine frühere Opposition gegen das Separationsverfahren in der Gunst der Lichtenauer gestiegen wäre. Dem Mindener Regierungspräsidenten lagen bezüglich der Stadt Lichtenau noch andere Informationen vor. Demnach scharten sich gegen 8 Uhr abends am 24ten des Monats viele Menschen, der unteren Volksklasse angehörend, zusammen und © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 11 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn warfen bei mehreren jüdischen Kaufleuten und bei dem Einnehmer der indirekten Steuern die Fenster ein. Landrat Graf Stolberg wartete am 27. März mittags 12 Uhr mit einer weiteren Hiobsbotschaft auf: Beehre ich mich, Euer Exzellenz in Verfolg meines gestrigen Berichtes gehorsamst mitzuteilen, wie sich die traurigsten Nachrichten über die betrübendsten Vorfälle im Kreise von Stunde zu Stunde häufen. Die gröbsten Exzesse, in fortwährender Steigerung, folgen aufeinander. In vergangener Nacht haben in Fürstenberg rohe Banden, nachdem die Bildung einer Bürgerwehr gescheitert war, abermals das Gräfl. Westphälische Schloß gestürmt, dasselbe zum größten Teile zerstört, das Archivgebäude mit Gewalt erbrochen und durch Feuer verwüstet, zwei nebenstehende Häuser aber in den Grund gerissen. Alles, was nicht zum Bauernstande gehört, hat sich auf die Flucht begeben, der Aufruhr verbreitet sich in der Umgegend; Marsberg ist gegenwärtig der einzig sichere Ort, und sozusagen der Platz der Emigration. Nur durch wiederholte Zureden habe ich bisher den hierselbst drohenden Sturm noch beschworen. In diesem Augenblick schicke ich einen Expressen (Eilboten) nach Paderborn zur Requisition von Militär für den am meisten bedrängten Ort Fürstenberg, wo jetzt auch die großen Bauern für ihr Eigentum die ernstesten Besorgnisse laut werden lassen. Selbst die sonst geachtete, zur Ruhe auffordernde Geistlichkeit ist verhöhnt worden. In dem benachbarten Meerhof und Oesdorf sind durch zügellose Aufwiegler die Gemeinden aufgeboten, um Holzverkauf in dem Königl. Forst Dalheim, wo jene Orte holzberechtigt und mit dem Fiskus in Prozeß sind, gewaltsam zu hindern; das Forstpersonal hat sich durch die Flucht retten müssen, eine Försterwohnung ist bereits demoliert. Euer Exzellenz bitte ich dringendlichst, das hohe Generalkommando um schleunige Verstärkung der in Paderborn stationierten, aber bei weitem unzulänglichen Militärmacht dringendst zu veranlassen. Das Ansehen und die Gewalt der Polizeibebörden haben aufgehört; ich kann nicht meine amtliche Kompetenz, sondern nur meinen persönlichen Einfluß geltend machen. Gebe Gott, daß die laut werdende Besorgnis vor umherziehenden plündernden Rotten sich nicht verwirkliche. Das dritte Schreiben des Bürener Landrates datiert vom 28. März, abends 6 Uhr: Die zum Schluß meines Berichts vom 27ten geäußerte Besorgnis, daß rohe Bauern-Banden plündernd umherziehen würden, scheint sich, wie Euer Exzellenz ich © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 12 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn leider berichten muß, nur zu wahr zu rechtfertigen. Soeben erhalte ich die sichere Nachricht, daß die Fürstenberger zur Verwüstung der in einiger Entfernung vom Orte belegenen Gräflich Westphälischen Güter ausrücken. An die 100 Mann sind bereits in Wolbedacht, 1 Stunde von Fürstenberg, eingetroffen. Der Gutspächter hat das Vieh nach Marsberg gerettet. Die plündernde Bande aber teilt sich bereits in die Produkte. Die Einwohner des nahen Essentho stehen auf den angrenzenden Höhen der Zerstörung Beifall rufend. Wenn diese Volkshaufen sich vereinigen, ist noch Ärgeres zu befürchten. Während ich dieses schreibe, bringt mir der Vorsteher von dem nur ¼ Stunde von hier entfernten Oesdorf persönlich die Nachricht, daß die Einwohner Meerhofs gegen Oesdorf herunterziehen. Andere Nachrichten aus dem Kreise drängen sich. Auch hier hat sich die aufgeregte Stimmung gestern durch gefahrdrohende Zusammenrottierungen kundgegeben, indem helle Volkshaufen an mich die ungerechtesten Forderungen stellten. Nur durch persönlichen Einfluß gelang es, sie von Brutalitäten abzuhalten. Der Regierungspräsident von Borries wußte zusätzlich zu berichten: In Bleiwäsche ist in der Nacht vom 26ten auf den 27ten das Forsthaus niedergebrannt. Überhaupt seien mehrere Königliche Forstetablissements zerstört worden. Die Gemeinde Haaren hat den Oberförster gezwungen, einer jeden Stätte und jedem Einlieger einen Klafter Reiserholz in Summa 232 Klafter verabfolgen zu lassen. Nur durch diese Nachgiebigkeit konnte er größeren Exzessen vorbeugen. Nach einem Berichte des Domänenrentmeisters Weber zu Büren sollen die Landbewohner der Umgegend beabsichtigen, das Haus Büren, worin sich das Schullehrer-Seminar, die Domänen-Rentei, das Gericht pp. befinden, zu verbrennen. Der evangelische Pastor Granier zu Büren sich bereits geflüchtet, so wie andere Personen. Der Amtsrat Engelbrecht, Administrator der Königl. Domäne Dalheim hat das Anstürmen der Volkshaufen aus den Gemeinden Holtheim, Husen und Meerhof nur dadurch abhalten können, daß er ihnen Hudeplätze eingeräumt und versprochen hat, die Zurücknahme einer Separation zu bewirken. In Essentho ist das Gräflich Plettenbergsche Förster-Etablissement zerstört und auch in Wewelsburg sind Beschädigungen des Eigentums, die noch nicht näher constieren (feststehen), vorgekommen. In einem weiteren Bericht des RP Minden heißt es: In der Stadt Büren selbst sind in den Häusern verschiedener jüdischer Handelsleute die Fenster eingeworfen und zertrümmert, und man fing an die Türen zu erbrechen. Der Oberpräsident antwortete dem Bürener Landrat mit Schreiben vom 29. März, es sei bereits Militär in Marsch gesetzt. Es kommt jetzt zunächst darauf an, daß Ew. p. (der Landrat) sich mit dem Herrn Obersten von Schlegel, welchem der © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 13 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn Befehl über diese Kolonnen anvertraut worden ist und der wahrscheinlich schon in Ihrem Kreise eingetroffen sein wird, sowie mit den anderen Herren Landräten schleunigst in Verbindung setzen und unter der Direktion des Herrn Regierungspräsidenten oder des Herrn Oberregierungsrats Rüdiger, indem einer von denselben dort gewiß schon anwesend ist, die zweckmäßigste Disposition über diese militärischen Kolonnen verabreden. Es wäre höchst wünschenswert, wenn die größeren Landgemeinden Ihres Kreises unter dem Schutz dieser Kolonnen ebenfalls Schutzwehren, welche auf die einfachste Weise mit Pieken oder Knitteln zu bewaffnen sein werden, bilden und dadurch die Wirksamkeit der militärischen Kolonnen unterstützen wollten. Der Regierungspräsident konferierte am 30. März in Paderborn mit den Landräten des Hochstifts und dem Oberst v. Schlegel. Der Einsatz von Ulanen (schwere Kavallerie), der wohl nirgendwo auf Widerstand stieß, führte zur Verhaftung von ca. 100 Personen, von denen etwa die Hälfte aus dem Zentrum der Unruhen, der Gemeinde Fürstenberg, stammte. Sie wurden den zuständigen Gerichten übergeben. Über Ablauf und Ergebnis der Prozesse liegen keine Angaben vor. Die preußische Militär-Maschinerie hatte jedenfalls auch in dieser inneren Krisensituation ihre Effektivität bewiesen. Erfreut stellte Landrat Graf Stolberg in seinem Bericht vom 18. April fest, daß fernere Unruhestörungen im Kreise seit der Militär-Exekution, mit einer einzigen Ausnahme, nicht mehr vorgekommen sind. In Fürstenberg und Lichtenau haben gerichtliche Untersuchungskommissionen wegen der stattgefundenen Tumulte ihren Sitz genommen und gegen die Beteiligten entweder die Erkenntnisse erlassen oder nach dem schwereren Grade des Verbrechens die Verhandlungen dem Urteil des ordentlichen Gerichts unterbreitet. Die Achtung vor dem Gesetze sowie für die Sicherheit der Personen und des Eigentums ist zurückgekehrt. In letzterer Beziehung macht nur das Dorf Holtheim die gedachte Ausnahme, indem dieses, von Aufwieglern mißleitet, selbst annehmbare Vergleichsvorschläge seines Gutsherrn Tenge, hinsichtlich streitiger Holz- und Hudegerechtsamen hartnäckig ablehnte und in der Devastation (Verwüstung) sowohl der Tengeschen Forsten als auch der Kormmunalwaldungen durch Behütungen (Viehauftrieb) der Schonungen und dreister Abfuhr der Hölzer nicht nachließ, während 3 Aufwiegler diejenigen bedrohten, welche vor allen ungesetzlichen Handlungen abmahnten. Des moralischen Effekts halber habe ich deshalb vorgestern Militär von Paderborn requiriert, welches dann auch gestern in Holtheim eingerückt ist. Die Aufwiegler sollen sich jedoch der Haftnahme durch die Flucht entzogen haben. Kreis Warburg © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 14 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn Die Unruhen im Kreis Warburg erreichten zwar kein solches Ausmaß wie in dem westlichen Nachbarkreis, waren aber stärker, als in der Forschung bisher bekannt ist. Besonders fällt hier die Gewalttätigkeit gegen Juden auf, die an Brutalität die Ausschreitungen in Büren und Lichtenau übertraf. So heißt es in dem schon herangezogenen Bericht des Regierungspräsidenten vom 30. März: In dem Städtchen Dringenberg sind die Häuser der Juden gestürmt, die Möbeln zerschlagen, die Waren geraubt worden. Der Amtmann Rintelen daselbst ist von den Tumultuanten seines Postens faktisch entsetzt. Der Königl. OberförsterKnautte zu Neuenheerse zeigte auch noch an, daß die Gemeinden Neuenheerse, Asseln, Hakenberg und Schwaney mit ihren Vorständen ihm erklärt haben, daß sein Haus gestürmt werden solle, wenn ihnen die früher zu fürstbischöflichen Zeiten besessenen Waldgerechtsame nicht zurückgegeben würden. Die Unruhen im Kreis Warburg hatten am 24. März in Peckelsheim begonnen, seltsamerweise ausgehend von einem Appell der Militär-Reservisten, der Landwehr. Die Allgemeine Zeitung des Judentums schrieb am 25. 3.: In hiesiger Stadt (Peckelsheim) war gestern große Unruhe. 600 Landwehrmänner aus den umliegenden Ortschaften versammelten sich zum Appell. Nachdem dieser beendigt war, kam eine Horde von Landwehrmännern in die Stadt, durchzog lärmend die Straßen, drang in die jüdischen Häuser ein, plünderte und raubte, was da war, warf die Fensterscheiben ein und zertrümmerte die Möbel. Obgleich nun zur Dämpfung dieses Unfugs 100 Mann genügt hätten, sahen mit Ausnahme einiger Handwerker, Taglöhner, des Schützenkommandanten und Schütz-Adjutanten, welche sich recht brav benommen haben, die hiesigen Bürger es ruhig und lachend mit an, wie von den Auswärtigen ihren jüdischen Mitbrüdern alles zertrümmert wurde. Die Zeitung fragte deshalb: Sind Bürger, die solches tun, zur Freiheit reif? Die Angaben der AZJ werden durch einen Bericht des kommissarischen Landrats Wolf bestätigt, dessen Briefwechsel mit den zivilen und militärischen Oberbehörden die wichtigste Quelle für die Unruhen im Kreis Warburg darstellt. Er schrieb am 24. März an den Oberpräsidenten: Auf heute fand in Peckelsheim ein Appell der Landwehr statt Bei der hier herrschenden Aufregung der Gemüter fürchtete ich Ruhestörungen. Die im hiesigen Kreise stationierten Gendarmen beorderte ich deshalb nach Peckelsheim und beauftragte außerdem den Amtmann zu Peckelsheim, nach Vorschrift der Allerhöchsten Verordnung vom Jahre 1830 unter den Bürgern der Stadt P. einen Sicherheits-Verein zu errichten. Ungeachtet dieser Maßregeln ist es nicht gelungen, die öffentliche Sicherheit aufrecht zu erhalten. Nach beendetem Appell haben sich die Landwehrmänner in die Stadt P. begeben und trotz aller Gegenwehr der Polizeibebörden und Gendarmen die Wohnungen von fast sämtlichen Juden bestürmt und, je nachdem die die Rädelsführer mit Geld oder Waren abgefunden, © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 15 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn deren Mobiliar und Häuser mehr oder minder demoliert. Der errichtete Bürger-Sicherheits-Verein hat sich hierbei durchaus nicht wirksam gezeigt. Nur etwa 5 Bürger sind zur Steuerung des Tumultes herbeigeeilt. Die übrigen Mitglieder haben aus Furcht, daß durch Leistung von Widerstand sie selbst und ihr Eigentum gefährdet würden, sich gar nicht sehen lassen. Tumulte der vorliegenden Art sind nach meiner unvorgreiflichen Ansicht ihrem Prinzipe nach die gefährlichsten, die vorkommen können. Wird ihnen nicht energisch entgegengetreten, so hört ohne Zweifel alle Sicherheit der Person und des Eigentums auf. Die Masse des Volks steht im hiesigen Kreise noch auf so geringer Stufe, daß es durchweg noch gar keine politische Denkweise hat. Nur haben sich leider einige wüste Begriffe des rohsten Kommunismus Eingang verschafft. Wird mit Energie den ersten Ausbrüchen dieses Wahnwitzes entgegengetreten, so ist die vollkommenste Ruhe zu erwarten. Fehlt es dagegen, wie augenblicklich der Fall ist, an der nötigen Gegenwirkung, so sind aber wegen des geringen geistigen Bildungsstandes hier weit gröbere Exzesse zu befürchten als in irgendeinem anderen Teile der hiesigen Provinz. Schon verlautet es, ja ist es sogar bei dem heutigen Tumulte in Peckelsheim offen proklamiert worden, daß es nunmehr auch in Warburg, Borgholz usw. zu gleichen Szenen kommen solle. Da im hiesigen Kreise kein Militär steht und die erwähnten Sicherheits-Vereine aber wegen der hier herrschenden Gesinnungslosigkeit gar keine Bedeutung haben, ist es nicht zu bezweifeln, daß diese ausgestoßenen Drohungen zur Wahrheit werden und noch weit furchtbarere Szenen, als hier stattgefunden, sich einstellen können. Euer Exzellenz muß ich unter diesen Umständen ebenso ehrerbietigst als gehorsamst bitten 1. es gewogentlichst zu veranlassen, daß auf der Stelle zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit mindestens entweder 20 Mann Ulanen oder 40 Mann Infanterie nach Warburg beordert werden und 2. es nachträglich gnädigst zu genehmigen, daß ich heute den Magistrat in der Stadt Warburg autorisiert habe, sofort in Warburg unter der Leitung des Bürgermeisters und eventuell des dort wohnenden Landwehr-Ulanen-Rittmeisters Horn zwanzig zuverlässige Leute mit geladenen Gewehren zu bewaffnen und behufs Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit zum Gebrauch ihrer Waffen zu ermächtigen. Was den Tumult in Peckelsheim betrifft, so ist es, wie ich schließlich zu bemerken mir erlaube, noch geglückt, elf Tumultuanten zu verhaften, welche ich noch heute nacht nach Paderborn transportieren werde. Außerdem habe ich aufgrund des Gesetzes von 1836 beim Königl. Oberlandesgericht auf sofortige Einsetzung einer Tumult-Gerichts-Kommission angetragen und außerdem darum gebeten, daß sofort von den in Paderborn noch garnisonierenden Ulanen mindestens 20 Mann nach Warburg beordert werden. © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 16 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn Dem entsprechend meldete Wolf am 28. März, daß der Herr Major Schütte zu Paderborn auf mein Ansuchen bereits 20 Ulanen unter dem Kommando des Leutnants von Ramin hierhergesandt hat. Daß dieselben noch wenigstens 8 Tage hier verbleiben, halte ich für dringend notwendig. In Warburg läßt sich vielleicht durch die eingerichtete Bürgergarde die gesetzliche Ordnung aufrecht erhalten. Auf dem platten Lande ist dagegen vollständige Anarchie zu fürchten. In Borgholz hat sich in der Nacht vom25. Auf den 26. d. M. das Volk zusammengerottet und angeblich sogar unter Mitwirkung von mehreren Stadtverordneten einige Häuser, namentlich das Haus des von Amelunxen'schen Geschäftsführers Gronewaldt durch Zerschlagen der Fenster, Türen usw. beschädigt. Ferner dringen in vielen Gemeinden des Kreises Männer der arbeitenden Klasse in die Häuser der Juden und anderer wohlhabenden Eingesessenen und erpressen unter gewalttätigen Drohungen Geld und Waren. Außerdem bedroht man anscheinend sogar im Einvernehmen mit ansässigen Bauern verschiedene hiesige große Guter mit Brandstiftung, weil deren Besitzer alle käuflichen Bauern-Grundstücke an sich brächten und der geringe Mann jetzt keine Ländereien mehr erwerben könne, zumal was zu den großen Fideikommßgütern erworben, niemals wieder davon abgetrennt werde. Dieser Geist der Unordnung kann ohne militärische Hülfe nicht gehoben werden. Wolf bat daher den Oberpräsidenten, beim Generalkommando die weitere Stationierung der Ulanen im Kreisgebiet wenigstens bis zum 6. April zu bewirken. Der Kreistag unterstützte in seiner Sitzung vom29. März diese Einschätzung der Lage und bat den Oberpräsidenten per Eilkurier, unbedingt dafür zu sorgen, daß das Militär nicht abgezogen werde, vielmehr möglichst um weitere 20 Ulanen verstärkt werde, damit auch in dem enfernteren Teile des Kreises ein militärischer Schutz aufgestellt werde. Tatsächlich wurde eine Abteilung des 15. Infanterie-Regimentes aus Bielefeld in den Kreis Warburg abkommandiert. Somit konnte Landrat Wolf am 3. April aufatmend berichtend, daß mit Hülfe des vom Obersten v. Schlegel beorderten Militäres es bereits gelungen ist, den ganzen hiesigen Kreis wieder zu beruhigen. Dadurch, daß in allen Gemeinden, wo schon Tumulte vorgekommen, einige Rädelsführer verhaftet sind, ist dem Bauernstande und der arbeitenden Klasse die leider sehr verbreitete Meinung wieder genommen, daß alle öffentliche Gewalt und alle Gesetze im Staate aufgehört haben. Die einzige Gefahr, welche noch droht, besteht darin, daß nach mir eben gewordenen Mitteilung die Direktion der Eisenbahn-Gesellschaft zu Paderborn die sofortige Einstellung der Eisenbahn-Arbeiten bei hiesiger Stadt befohlen hat Da 800 bis 1000 Menschen hierdurch augenblicklich arbeitslos werden, so habe ich den Herrn Obersten v. Schlegel ersucht, für die Tage dieser Arbeits-Einstellung ein Kommando von 50 bis 60Mann Infanterie hierher zu beordern. Geschieht dieses, so zweifle ich nicht, daß die Ruhe im Kreise Warburg dauernd sein wird. © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 17 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn Einige Tage später wurde Landrat Wolf, der das Amt nur kommissarisch verwaltet hatte, von dem Freiherrn v. Spiegel, einem der Großgrundbesitzer des Kreises, abgelöst. Unter ihm flackerten die Unruhen noch einmal anläßlich der für den 1. Mai angesetzten Wahlen zur deutschen und preußischen Nationalversammlung auf, wie er dem Oberpräsidenten am 30. April aus Peckelsheim berichten mußte: Vor einer Stunde hier angekommen, erfahre ich und habe mich selbst überzeugt, daß hier eine große Aufregung unter den Eingesessenen herrscht. Mehrfache Drohungen gegen Beamte pp. sind ausgestoßen und hat sich augenblicklich eine große Masse Volkes auf einem freien Platze vor der hiesigen Stadt versammelt, um zu beraten, was sie morgen nach vollendeter Wahl ausführen wollen. Das Eigentum mehrerer Privatpersonen ist dabei als Zielscheibe gesetzt. Leider überzeuge ich mich auch hier, daß nicht allein hier, sondern auch in vielen benachbarten Gemeinden große Aufregung herrscht. Zu Neuenheerse, wie mir eben der Steuerempfänger Frenz anzeigt, haben die Eingesessenen vorgestern die Einzahlung aller Kommunalsteuern verweigert, ja sogar Tags vorher durch Schellenruf bekannt machen lassen, daß niemand mehr zahlen brauche. In Dringenberg haben die Leute den stellvertretenden Bürgermeister, der einigen vielleicht mißliebig gewesen ist, ohne weiteres abgesetzt und einen Nachfolger erwählt. Auch in Welda, Großeneder und Lütgeneder sind einige Unruhen vorgekommen, die, wenn sie nicht im Entstehen erdrückt werden, sehr bedrohlichen Charakter annehmen. Ich war deshalb schon einige Tage vorher mit mir im Zweifel, ob ich nicht zur Dämpfung dieser Unruhen und zur Abwehr von groben Exzessen und Tumulten Militär requirieren sollte; der hier vorgefundene Zustand und die erhaltenen Anzeigen aus den genannten Orten haben mich sofort bestimmt, zu dieser Maßregel zu schreiten, und habe ich den Herrn Major Schütte ersucht, mir so schleunig als möglich ein Kommando Kavallerie von 40 bis 50 Mann zu schicken, und habe ich einstweilen die Hälfte hierher und die Hälfte nach Warburg dirigiert. Kreis Höxter Die Unruhen im Kreis Höxter unterschieden sich in ihrer Art nicht von denen im südlichen Nachbarkreis. Es kam zu Ausschreitungen gegen Juden (so in Brakel und Steinheim). In Brenkhausen wurde der fürstlich-corveyische Revierförster Linnenbrink gezwungen, Forststrafgelder zurückzuzahlen. Und weiter stellte der Regierungspräsident am 30. März fest: In Ovenhausen sind mehreren Personen Fenster und Türen eingeschlagen. In Vörden wurde von einer Rotte ein Angriff auf die Wohnung des Freiherrn v. Haxthausen gemacht, der sich indes zuvor mit seiner Familie entfernt hatte. © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 18 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn Von dem Vorgehen gegen die v. Haxthausen, die größten Grundbesitzer im Norden des Kreises Höxter, liegen zwei aufschlußreiche Darstellungen aus der Sicht dieser Familie vor. Sie vermitteln - anders als die Berichte der persönlich nicht so sehr betroffenen Landräte - einen Eindruck von der Stimmung und dem Verhalten von Menschen, deren Familie jahrhundertelang zur Führungsschicht des Hochstifts gehört hatte, die aber nun den Verlust ihrer privilegierten Stellung befürchteten. Die erste Schilderung verfaßte, noch unmittelbar unter dem Eindruck des Geschehens stehend, Therese von Droste-Hülshoff geb. von Haxthausen (1772-1853), die Mutter der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff. (Abdruck durch W. Schulte, Volk und Staat, Münster 1954, S.350 f.). Ausführlicher stellte Thereses Schwester Ludowine (1795-1877) die Ereignisse dar. Ihr Bericht wurde allerdings erst etwa 1 '/2Jahre später verfaßt. Er sollte wahrscheinlich vor Gericht verwendet werden, um die Annullierung von Verträgen zu erreichen, welche die v. Haxthausen 1848 unter Zwang mit den Bauern abgeschlossen hatten. Trotzdem dürfte diese Darstellung ziemlich objektiv sein, wie ein Vergleich mit dem persönlichen, nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Brief Thereses zeigt. Zur Charakterisierung Ludowines sei angemerkt, daß sie 1831 und 1856 ein Krankenbzw. Waisenhaus auf der Brede in Brakel und in Bökendorf errichtete. Aus der Brakeler Stiftung gingen das Mutterhaus der Armen Schulschwestern und das heutige Mädchengymnasium hervor. Diese frommen Schenkungen sind aus dem Selbstverständnis des katholischen Adels heraus zu verstehen, für den Mildtätigkeit ein wichtiges Element seines Standesbewußtseins darstellte. Beide Schwestern haben in ihren Berichten die Caritas, die sie bzw. ihre Verwandten während der Hungersnot von 1846/47 gezeigt hatten, hervor. So segensreich diese Maßnahmen auch gewesen sein mögen, der Pauperismus und seine strukturellen Ursachen konnten damit nicht beseitigt werden, wie der - den v. Haxthausen unverständliche - Aufruhr der Bauern beweist. Immerhin kam es nicht zu solchen Gewalttätigkeiten wie gegen das Schloß der Grafen von Westphalen zu Fürstenberg. Den Aufständischen ging es zumeist nicht um eine Vertreibung der Adligen, Beseitigung ihrer Herrschaft, Aufteilung ihres Besitzes oder gar Gewaltanwendungen gegen Personen, auch wenn einige Hitzköpfe mit solchen Parolen um sich warfen, sondern um eine vertragliche Neuregelung der Beziehungen zwischen Gutsherren und Dorfgemeinden zugunsten der letzteren. Ludowines Bericht lautet (gekürzt): Um 11 Uhr abends (25. März) wurde die Burg (Vörden) überfallen, es flogen die Steine in die Fenster, so daß meine arme Nichte aus einer Stube in die andere © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 19 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn flüchtete und sich zuletzt in einer Art von Keller verbarg. Als der Tumult sich gegeben, reisten dieselben noch in der Nacht nach Paderborn zu ihrer Schwiegermutter ab. Kaum hatte auch mein Neffe Guido uns gegen 5 Uhr verlassen, als ich auch meine Schwester (Therese) zur Abreise nach Münster beredete, die auf den anderen Morgen festgesetzt wurde. Meine Angst für die kommende Nacht suchte ich meiner Schwester zu verbergen, sorgte indessen, daß an alle Fenster Lichter gestellt wurden, blieb mit meiner Gehülfin Minna Strunk auf, und es wurde angeordnet, daß (der Verwalter) Herr Meyerheim in den Zimmern meines Bruders schlief. Wir waren indessen doch eingeschlafen, als zwischen 12 und 1 Uhr wir von Bellersen her einen Trupp Menschen unter Trommeln und lautem Geschrei anziehen hörten. Schnell zündete ich mit Minna Strunk alle Lichter an, als ich in der Nähe des Hauses einen Schuß fallen hörte, lief hinunter zu Meyerheim, der aus dem Hause ging, um seine Wachen auszuschicken. Nach einer Zeit verlor sich die wilde Schar und zog nach Abbenburg, wo sie den gleichen Lärm machten. Am anderen Morgen um 5 Uhr kam einer der männlichen Dienerschaft von Vörden, meldete ihren Überfall am Abend und die Abreise in der Nacht. Meine beiden Schwestern rüsteten sich nun zur Abfahrt, ich mußte ihnen versprechen, in die Kaplanei zu ziehen, wenn der Hof bedroht würde. Nachdem ich am Wagen Abschied von ihnen genommen, lief ich durch den Garten, um ihnen noch einmal ein Lebewohl zuzuwinken. Indem ich mit meinen Augen den Wagen verfolgte, machte mich Sander, unser damaliger Gärtner, der neben mir stand, aufmerksam, daß das halbe Dorf von Bellersen heranzöge mit lautem Geschrei und, wie ich glaube, mit einer Trommel. Sie hatten unseren Oberförster Wesseram gezwungen, den Zug anzuführen. . . Ich aber lief nach Hause, schloß dort alle Türen, trat dann aus der Haustüre, neben mir der Verwalter Hottenrott, meine Gehülfin Minna Strunk aus Dortmund und ein junger Mensch aus dem Sauerlande, welcher hier als Jäger im Dienste stand. Ich frug die Leute, was sie denn wollten. Sie frugen mit Ungestüm, wo denn mein Bruder sei, sie wollten ihre Gerechtsame (Holz- und Weiderechte) wieder haben, zeigten dabei eine Schrift, welche mehrere Forderungen enthielt, und drohten mit den Worten, daß kein Stein auf dem anderen bleiben solle und der rote Hahn auf den Dächern krähen würde, wenn sie nicht ihr volles Recht zurückerhielten. Als sie immer wiederholten, das Blut solle wie ein Bach fließen, sagte meine Gehülfin Minna Strunk, sie möchten nicht glauben, daß sie den Tod fürchte, sie möchten sie nur auf der Stelle umbringen, nur nicht halb verstümmelt liegen lassen. Als ich die Menschen durchaus nicht beruhigen konnte, versprach ich, das Blatt, welches sie mir vorgelesen, dem Rentmeister gleich zuzuschicken, der eine Generalvollmacht © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 20 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn von meinem Bruder besitze. Sie drohten aufs neue, wenn bis 4 Uhr nachmittags keine Antwort erfolgt sei, sie keinen Stein auf dem andern lassen würden. Als ich die Leute erinnerte, wie in der Zeit der Hungersnot 1847 täglich über 50 Menschen vom Hofe gespeist wären und die Meinigen überhaupt so viel für die Armen täten, wurde mir die Antwort: ja jetzt erst hätten sie erfahren, daß alles von der Regierung für sie uns zugeschickt sei, und verlangten, darüber Rechnung aufzulegen. Als sie mich hin- und herrissen und ich mich beklagte über ihr unanständiges Auftreten, antworteten sie hohnlachend, das habe auch der König von Preußen sich müssen gefallen lassen. Nach einem Aufenthalt von fast3 Stunden zogen sie wieder ab. Ich mußte ihnen versprechen, sobald der Rentmeister ankommen würde, ihnen Bescheid zu geben... Der Rentmeister Meyer kam. Was derselbe an ihren ungestümen Forderungen erlebt, weiß derselbe am besten auszusagen, ich weiß nur, daß zuerst mit der Gemeinde Bellersen abgeschlossen wurde, dann kam Bökendorf und Altenbergen, jedoch nicht so zahlreich, verlangten aber dasselbe Recht, welches der Gemeinde Bellersen zugestanden und versprochen sei. Wenn ich das laute Schreien und Drohen in dem unter mir gelegenen Zimmer vernahm, schickte ich herunter, ließ den Rentmeister heraufbitten und bat ihn um des Himmelswillen, doch nachzugeben, damit nicht Brand und Blutvergießen das Ende vom Liede sei. Ein Teil der Leute rumorte auf der Entree, beschmutzte auf die unverschämteste Weise Wände und Fußboden, forderte, daß der Weinkeller geöffnet würde. Wein und Branntwein könnten sie so gut gebrauchen als wir; es sei nicht recht, daß der Hof alles allein hätte, es könnten hiervon wohl 1O leben, es müßte alles geteilt werden usw. Die Unruhen im Kreis Höxter wurden ebenso wie in den Nachbarkreisen durch Einsatz von Militär unterdrückt. Die Ursachen Zieht man aus den zitierten Berichten ein Fazit, so ist zunächst festzustellen, daß den Aktionen der Landbevölkerung keine politischen und nationalen Motive zugrunde lagen, sondern sie sich gegen konkrete wirtschaftliche und soziale Verhältnisse am jeweiligen Ort richteten. Aus der Sicht des 20. Jahrhunderts, nach Auschwitz, muß das Vorgehen gegen die Juden besonders bedenklich stimmen. Während die Ursachen für die antijüdischen Ausschreitungen nicht genannt werden, läßt sich der Widerstand gegen Gutsbesitzer und Forstbeamte, die im Dienste des Fiskus oder des Adels standen, leichter deuten. Übereinstimmend wird die Teilung der Allmende (Separation) erwähnt, die zum Verlust von Gerechtsamen für die unterbäuerliche Schicht führte. Der Warburger Landrat lenkt außerdem das Augenmerk auf die Praxis mancher Gutsbesitzer, ihren Betrieb durch Erwerb von Bauernland zu vergrößern. Dieses "Bauernlegen" mußte langfristig besonders dann © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 21 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn zu einer Umschichtung der ländlichen Besitzverhältnisse führen, wenn es sich um die Arrondierung von Fideikommißgütern handelte, denn diese waren unteilbar und unveräußerlich, so daß für die Bauern keine Hoffnung bestand, den Besitzwechsel später wieder rückgängig zu machen. In der Westfälischen Zeitung, dem Organ der Paderborner Liberalen, vom 13. April 1848 hat ein persönlich unbeteiligter, ziemlich objektiv urteilender Beobachter eine Analyse der Bauernunruhen im Hochstift vorgelegt. Der anonym erschienene Artikel stammt möglicherweise von dem Redakteur der Zeitung, dem Gerichtsreferendar Franz Löher, der an der Spitze der bürgerlichen Freiheitsbewegung in Paderborn stand. Der Text mit der Überschrift "Bauernunruhen" lautet: Der jetzigen Bewegung unter dem Landvolke liegt gewiß etwas mehr zu Grunde als eine plötzliche Aufregung durch den politischen Umschwung. Wer das Leben und Denken unserer Bauern seit längerer Zeit beobachtete, dem konnte es nicht entgehen, daß sich in ihnen ein innerer Unmut aufhäufte, welcher entweder in der Auswanderung zum Abfluß oder früher oder später zum Ausbruche kommen mußte. Wie war das möglich? Der Bauernstand hob sich zusehends, Grundstücke, Früchte und Vieh standen hoch im Preise, vortreffliche Einrichtungen wie die Ablösungen und Tilgungskassen erleichterten die Lasten des Landmanns, und eine gute Schulbildung trug dazu bei, seinen Verstand und seine Kenntnisse zu entwickeln. Aber gerade weil ihm die Wohltaten einer menschlicheren Zeit zuteil wurden, welche in ihren Mitteln zwar wohl einmal fehlgreifen mag, ihr Ziel aber, die Menschen alle möglichst frei und glücklich zu machen, stets im Auge hält, weil auch der Bauer deshalb sein natürliches Menschenrecht stärker fühlte, deshalb sah er auch ein, wie wenig Achtung und Genuß er für seine schweren Mühen hatte. Der Geist der Neuzeit war unmerklich auch unter sein Dach gedrungen und hatte seine Blicke geschärft, um die Urheber seiner langgewohnten Bedrängnis sowie das Recht zu erkennen, daß ihm geholfen werden müsse. In drei Arten von Leuten sah der Bauer seine besondern Dränger. Die ersten waren die Händler und Wucherer, welche ihm für kleine, oft entbehrliche Waren Summen borgten, die Schuld anlaufen und ins Hypothekenbuch eintragen ließen, bis zuletzt, wenn der Landwirt sich nicht durch einen starken Entschluß wieder losmachte, sein Gut unter den Hammer des gerichtlichen Verkäufers kam. Daß hier vornehmlich jüdische Händler gemeint sind, steht nach den Berichten der Landräte außer Frage. [Nachtrag 1997: Eine differenziertere Sicht des Verhältnisses von Juden und ländlicher Bevölkerung findet sich jetzt bei Margit Naarmann: Ländliche Massenarmut und „Jüdischer Wucher“. Zur Etablierung eines Stereotyps. In: Region und Gesellschaft im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts, hrsg. von L. Grevelhörster und W. Maron, (Paderborner Historische Forschungen Band 6), Vierow 1995, S. 128-149] © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 22 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn Verhaßt waren ihm weiter die Forstbeamten, welche ihren Anweisungen gemäß ihm vor die Holzungen Gitter und Schloß hingen. Man braucht nicht in die älteren Zeiten zurückgehen, um die allmähliche Schmälerung des Rechts und Herkommens der Bauern in Holzungsgerechtigkeiten einzusehen. Man vergleiche z.B. nur, wie die Bauern in Forsten, über welche das grundherrliche Recht früher Klöstern zustand, damals von jedem Stamm, den sie dem Kloster zuführten, die Äste und Zweige behielten und wie sie bei den Holzfuhren im Kloster selbst eine gute Mahlzeit erhielten. Jetzt dagegen dürfen sie in denselben Holzungen ohne Erlaubnis nicht einmal trocken Holz und Streu sammeln, ja die Kinder sollen sich eine schriftliche Erlaubnis holen zum Beerenlesen, und für den Wegfall der Holzfuhren sollen die Bauern noch besonders gerecht werden. Die Gerichte müssen in Streitigkeiten der Art nach den vorliegenden Gesetzen urteilen, und da diese zum großen Teile noch aus den Zeiten der Adelsherrschaft und der berüchtigten Eigentumsordnungen herrühren, so wird in den meisten Fällen zum Nachteil der Bauern entschieden werden müssen. Überhaupt ist unsre gutsherrlich-bäuerliche Gesetzgebung seit 1819 mit ihren Gemeinheitsteilungen, Verkopplungen und Landgemeindeordnungen, bei aller wohlgemeinten Fürsorge für das Landvolk, dennoch so angelegt, daß der Gutsherr zuletzt den größten Vorteil davon hat. Eine traurig befangene Regierung, welche den ungestümen Drang der Zeit fürchtete, sich seiner aber nicht zu neuen dauernden Schöpfungen zu bemeistern vermochte, glaubte in einem mächtigen Güteradel den besten Anhalt zu finden. Die Lasten des Landvolkes bestanden noch, gewährend die ehemaligen Pflichten der Gutsherren, welche für jene Lasten das Entgelt waren, längst an den Staat übergegangen waren. Der Staat hatte neue Steuern und Lasten fordern müssen, und der Adel klammerte sich mit aller Macht an die Reste an, welche ihm von seiner früheren Guts- und Lehnsherrlichkeit geblieben waren. Das Schlimmste war, daß der große, durch Fideikommisse dem Verkehr entzogene Grundbesitz den Bestand des kleinen Grundbesitzers in seiner Wurzel gefährdete. Die großen Gutsbesitzer, statt ihre Gelder in allgemein nützliche Unternehmungen zu stecken, kauften weg, was nur an Grundbesitz käuflich wurde. Dagegen konnte der Bauer auf die Länge sich nicht mehr halten; er sollte sich auch sein ererbtes Grundstück wegkoppeln lassen und Kosten dazu bezahlen. Der deutsche Bauer ist gern Herr auf seinem Hofe, jetzt mußte er fürchten, nach und nach nur Pächter zu werden. Wir waren in der Tat auf dem besten Wege, irländische Zustände zu erhalten und unsern stammhaften Bauernstand zum Vorteil einiger großen Familien sich abschwächen zu sehen. © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 23 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn Solche Verhältnisse haben die Bewegung unter den Bauern herbeigeführt. Die Wohltätigkeit einzelner Grundbesitzer konnte dagegen nicht schützen, weil das Rechts- und Sicherheitsbewußtsein selbst verwundet war. Wie aber jetzt Rat zu schaffen? Durch Gewalttaten, durch rohen Zwang kann das Recht nie und nimmer wieder festgestellt werden: die Folgen der Gewalttat sind immer schlimmer als das erlittene Unrecht. Wirkliche Abhülfe kann nur auf dem Wege der Gesetzgebung und des Übereinkommens erfolgen. Die politische Haltung des Bürgertums Ein politisch waches und aktives Bürgertum gab es im Gebiet des Hochstifts im wesentlichen nur in Paderborn. Dort traten besonders die an den Gerichten tätigen Juristen hervor. Dies zeigte sich z. B. bei den Wahlen zur deutschen und zur preußischen Nationalversammlung Anfang Mai 1848. Sie bildeten einen Meilenstein auf dem Weg des Paderborner Landes (wie Deutschlands überhaupt) zu demokratischen Verhältnissen. Zuvor hatte es in unserem Raum zu keiner Zeit allgemeine Wahlen für ein gesamtstaatliches Parlament gegeben. Allerdings unterschied sich das 1848 durchgeführte Verfahren noch in mehrfacher Hinsicht von dem bei heutigen Landtags- und Bundestagswahlen: 1. Frauen besaßen kein Wahlrecht (in Deutschland erst 1919 eingeführt), ebensowenig Personen unter 24 Jahren und solche, die Armenunterstützung bezogen. 2. Es gab noch keine politischen Parteien. Somit wurden -auf der Basis von Wahlbezirken - ausschließlich Persönlichkeiten bestimmt. Deren politische Präferenzen waren freilich bekannt. 3. Die Parlamentsabgeordneten erhielten ihr Mandat nicht unmittelbar vom Volk, sondern indirekt, über Wahlmänner. Auf 500 Urwähler entfiel ein Wahlmann. Die Wahlmänner eines Kreises bestimmten ihren Abgeordneten für die preußische Nationalversammlung. Für das Frankfurter Parlament wurden größere Wahlbezirke von jeweils etwa 50.000 Einwohnern eingerichtet. Dazu schloß man den Kreis Höxter mit dem größten Teil von Warburg zu einem Bezirk zusammen, ebenso den Kreis Paderborn mit Teilen des Kreises Büren sowie den Ämtern Warburg und Borgentreich, während die restlichen Gemeinden von Büren mit dem Kreis Lippstadt eine Einheit bildeten. Die Wahlmänner waren an keine Weisungen gebunden. Dieses indirekte Wahlverfahren, das übrigens formell noch den heutigen Präsidentschaftswahlen der USA zugrunde liegt, sollte den unmittelbaren politischen Einfluß des Volkes mindern, den tatsächlichen Volkswillen dadurch "läutern", daß kompetente, von den © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 24 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn Urwählern bestimmte Persönlichkeiten eigentlichen Abgeordneten wählten. kraft ihrer besseren Einsicht die Vor den für den 1. Mai angesetzten Urwahlen entstand so etwas wie ein Wahlkampf. Dabei kristallisierten sich drei politische Richtungen heraus, deren Programme und Vorstellungen im folgenden skizziert werden sollen. Republikaner und Sozialisten Seit 1844 gab der Gütersloher Arzt Dr. Otto Lüning (1818-1868) die politische Zeitschrift "Das Westfälische Dampfboot" heraus. Das Blatt erschien zunächst in Bielefeld und veröffentlichte in dieser Zeit auch einige Beiträge von Karl Marx. Seit 1847 war der Erscheinungsort Paderborn. Am 19. April 1848, wenige Tage vor den Wahlen, las man im "Dampfboot" einen Artikel, der für die politische Richtung dieser Zeitschrift symptomatisch war: Wir reden von der Bourgeoisie, d. h. von der Partei der Geldsäcke. Diese erhebt jetzt überall in den Städten ihr Haupt und möchte die Freiheit, welche das Volk mit seinem Blute gewann, für sich, für ihren Stand ausbeuten. Diese Partei der Geldsäcke führt das Wort Volk immer im Munde, aber sie will nicht die Freiheit für alle, sie will nur die Freiheit für sich allein. Mit der größten Roheit und Unverschämtheit will sie alle von den ihrigen abweichenden Ansichten durch Gewalt unterdrücken. Die Rechte des Volkes (z. B. das allgemeine Wahlrecht) sind ihr ein Dorn im Auge. ... Die französische Bourgeoisie hat das Volk, welches 1830 die Julirevolution machte, um die Fruchte des Sieges betrogen; ihre Herrschaft dauerte bis zum Februar dieses Jahres; da siegte das Volk für immer. Es ist möglich, daß die deutsche Bourgeoisie, welche diesem Vorbilde folgen will, für einen Augenblick die Herrschaft erringt. Aber sie täusche sich nicht! Deutschland ist weiter, als es Frankreich bei der Julirevolution war; der Kampf des Volkes gegen die Bourgeoisie wird nicht erst in 18Jahren beginnen!- Will die Bourgeoisie aber fortfahren, die Freiheit nur für sich auszubeuten und jede ihr mißfällige Meinung mit Gewalt zu unterdrücken oder durch feige Verleumdungen zu verdächtigen, so bereitet sie eine zweite Revolution vor, die gegen sie selbst gerichtet sein wird. Und wenn das geschieht, wer trägt dann die Schuld der Unordnung, des Blutes: Offenbar die Bourgeoisie selbst, die schon jetzt durch ihr fanatisches Geschrei nach Ruhe die Unruhe schafft. Noch ist es Zeit, noch kann die Kluft zwischen den verschiedenen Klassen der Gesellschaft durch eine volkstümliche Verfassung und Gesetzgebung ausgefüllt werden, wenn alle aufrichtig den Grundsatz anerkennen: Freiheit für alle! Freie Erörterung für jede Meinung! Vernichtung aller Unterdrückung! Freiheit für den Arbeiter und Bauer wie für den Bürger! Wohlstand, Bildung für alle! © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 25 1 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn Im einzelnen verlangte Lüning die direkte Wahl der Abgeordneten und das imperative Mandat, die republikanische Staatsform und das Recht auf Arbeit. Die frühsozialistische Ausrichtung des "Dampfbootes" fand in Ostwestfalen nur geringen, im Paderborner Land vermutlich gar keinen Widerhall. Lüning mußte im Mai 1848 wegen zu geringen Leserinteresses das Erscheinen seiner Zeitschrift einstellen. Die Liberalen Führender Kopf der Liberalen in Paderborn war der Gerichtsreferendar Franz Löher (1818-1892). Der Metzgerssohn hatte nach dem Besuch des Gymnasium Theodorianum Jura studiert. Anschließend, 1846, begab er sich auf eine anderthalbjährige Reise durch die USA, wo er in Büchern, Artikeln und Vorträgen vor deutschen Auswanderern seine nationale Gesinnung dokumentierte, und trat nach der Rückkehr 1848 in seiner Heimatstadt den Referendardienst an. In dem Assessor Mekus und den Referendaren Caspari und Gottschalk fand er politisch Gleichgesinnte. Löher gründete im April 1848 die Westfälische Zeitung, deren Redakteur er wurde. Am 19. April beschloß eine Volksversammlung unter seinem Vorsitz folgendes Programm für die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung: 1. Wir verlangen eine wahrhafte Reichsregierung, durch welche Deutschland zu einem Staatsganzen vereinigt werde. 2. Wir verlangen, daß dieser Reichsregierung für alle Zeiten mindestens folgende Gegenstände übertragen werden: Sorge für die Landesverteidigung und Befehl über Heer und Flotte; Vertretung Deutschlands im Auslande; möglichst allgemeines Deutsches Recht und möglichst gleiche Gerichtsverfassung, Sorge für Handel und Gewerbe; Zollverwaltung; Aufsicht und allgemeine Gesetzgebung über Posten, Eisenbahnen, Straßen, Flüsse und Kanäle; Einführung von gleichmäßigen Münzen, Maßen und Gewichten; Leitung und Schutz der Auswanderung. 3. Wir verlangen, daß die Reichsregierung folgende Grundzüge alles deutschen Staatsrechtes feststelle: Konstitutionelle Monarchie auf breiten demokratischen Grundlagen; Gleichstellung der politischen Rechte ohne Unterschied des Glaubensbekenntnisses, Standes und Vermögens; Unabhängigkeit der Kirche vom Staate; Allgemeines deutsches Staatsbürgerrecht; Volle Pressefreiheit; Freies Vereinigungsrecht; Freies Petitionsrecht; © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 26 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn Freigewählte Landesvertreter mit Antragsberechtigung und mit entscheidender Stimme in der Gesetzgebung und Besteuerung, Verantwortlichkeit der Minister; Selbstverwaltung der Gemeinden; Gerechtes Maß der Steuerpflicht nach der Steuerkraft; Gleichheit der Wehrpflicht und des Wehrrechts; Gleiche Berechtigung aller Bürger zu Gemeinde- und Staatsämtern; Unbedingtes Auswanderungsrecht; Gesetzlichen Schutz der persönlichen Freiheit und des Eigentums und Unverletzlichkeit des Hausrechts; Unabhängige öffentliche und mündlicheRechtspflege mit Schwurgerichten in Strafsachen; Schutz gegen Justizverweigerung; Freien Unterricht in den öffentlichen Schulen; Errichtung von Arbeitsministerien und anderen volkstümlichen Anstalten zum Besten von Gewerbe und Landbau. 4. Wir verlangen, daß jeder einzelne deutsche Staat in seiner Verfassung die Grundsätze, welche der Reichstag zu Frankfurt aussprechen wird, vollständig zu den seinigen mache und festsetze, daß Regierung und Volk den Beschlüssen der Reichsregierung zu gehorchen haben. 5. Wir verlangen, daß die unter 3 aufgeführten Rechte und Forderungen des Volkes durch die preußische Verfassung sofort anerkannt werden und insbesondere noch eintrete: Sofortiger Erlaß einer Habeas-Corpus-Akte; Aufhebung der Lehen und Fideikommisse und Beseitigung der bäuerlichen Lasten; Allgemeine Volkswehr und Verminderung des bestehenden Heeres bis auf einen Kern aller Truppengattungen bei gesichertem Frieden; Aufsteigende Einkommensteuer. Die Forderungen entsprachen den Vorstellungen eines gro ßen Teils des deutschen Bürgertums. In dem Ruf nach progressiver Einkommensteuer und Einrichtung von Arbeitsministerien zeigt sich aber auch eine gewisse soziale Komponente. Die Katholiken Neben den Liberalen formierte sich während der 48er-Revolution im Paderborner Land zum ersten Mal der politische Katholizismus. Katholizismus. Bischof Franz © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 27 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn Drepper (1844-1 855) griff am 22. April mit einem Hirtenbrief in den Wahlkampf ein: Soll es besser werden in unseren sorgenvollen Tagen, sollen die schönen Hoffnungen in Erfüllung gehen, mit welchen wir allegegenwärtig in die Zukunft blicken, so lasset uns, jeder nach seinen Kräften, dafür sorgen, daß dem Unglauben und so manchen unchristlichen, verderblichen Grundsätzen der Gegenwart gesteuert werde, daß man die Kirche höre und ihre heiligen Zwecke fördere und unterstütze, daß sie ihre heilbringende Wirksamkeit frei und ungehemmt entfalten könne. Erfüllet Euren Beruf auf würdige Weise; bewahret Euch vor und bei dem wichtigen Geschäfte, das Euch obliegt, vor Gleichgültigkeit, Leichtsinn und Übereilung. Unterziehet Euch demselben, fern von dem Geiste der Aufregung und Streitsucht, mit jener Nüchternheit, Besonnenheit und Überlegung, welche der Wichtigkeit der Sache geziemt. Lasset bei Eurer Wahl Euch nicht bestimmen durch niedrige, menschliche Rücksichten, die der guten Sache schaden und das Gewissen beschweren. Verschließet Eure Ohren gegen die Einflüsterungen und Vorspiegelungen derjenigen, die Ihr entweder nicht kennt oder denen Ihr, nach Zeugnis Eures Gewissens, Euer Vertrauen für den vorliegenden Zweck nicht zuwenden könnt. Glaubet nicht jedem Geiste, sondern prüft die Geister, ob sie aus Gott sind (l. Joh. 4). Wählet solche Männer, von deren Frömmigkeit und Gewissenhaftigkeit Ihr überzeugt seid, denen Ihr mit Beruhigung Eure heiligsten Rechte und teuersten Interessen anvertrauen könnt, die Ihr an ihren Früchten erkannt habt als gute Christen, als wahre Menschen und Vaterlandsfreunde, als treue Staatsbürger. Wählet solche Männer, die nicht die eigene Ehre, nicht den eigenen Vorteil, sondern das Wohl der Gesamtheit im Auge haben, die Einsicht, Erfahrung, Tüchtigkeit, Mut und Geschick besitzen, dasjenige zu erkennen und zu erstreben, das zum Wohle des Vaterlandes in diesen schwierigen Zeitverhältnissen förderlich ist; kurz, lasset Eure Wahl eine solche sein, daß Ihr dieselbe vor Gott und Eurem Gewissen rechtfertigen könnt. Entsendet in die Versammlung, welche das Wohl der Zukunft entscheiden wird, solche Männer, die unserm teueren deutschen Vaterlande nicht zur Verwirrung und zum Fluche, sondern zu bleibenden Frieden und Segen sein werden. Die Ermahnungen der Geistlichkeit riefen den Unmut der Liberalen hervor. Bei der bereits erwähnten Paderborner Volksversammlung vom 19. April behauptete der Referendar Romer, daß die Geistlichkeit den Beichtstuhl benutze, um für ihre Partei zu werben. Daraufhin brach ein Sturm der Entrüstung los, Romer konnte nur mit Mühe aus der Stadt flüchten. Angesichts dieser "Entgleisung" (Landrat Grasso) hatten die Liberalen vorerst ihren Kredit verspielt. Zum Abgeordneten für die preußische Nationalversammlung wurde im Kreis Paderborn Bischof Drepper gewählt, in Büren der Gerichtsrat Spancken, in Warburg Bürgermeister Fischer und in Höxter Gerichtsrat Vennewitz. In das Frankfurter Parlament entsandte der © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 28 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn Wahlbezirk Paderborn den Oberlandesgerichtsrat Schlüter, Höxter den Gerichtsdirektor Versen aus Nieheim und Lippstadt-Büren den Generalmajor und Gutsbesitzer von Radowitz. Den Liberalen kann lediglich der als Vertreter des Paderborner Abgeordneten (Bischof Drepper) gewählte Obertribunalrat Benedikt Waldeck zugerechnet werden, der einige Jahre zuvor Gerichtsrat in Paderborn gewesen war und wegen seiner Vorschläge zur Reform des bäuerlichen Erbrechts populär war. Waldeck war in Berlin und Lippstadt direkt gewählt worden, wobei er das Berliner Mandat annahm. Während und nach der Revolution galt er als einer der führenden Linksliberalen in Preußen. Prominente Vertreter des politischen Katholizismus in Paderborn waren der bischöfliche Justitiar, Justizrat Mantell, und der Oberlandesgerichtsassessor Alfred Hüffer, der in den 60er Jahren zusammen mit seinem Schwager Hermann von Mallinckrodt zu Nordhorchen an der Gründung der Zentrumspartei mitwirkte. Als publizistisches Organ diente ihnen das Westphälische Kirchenblatt für Katholiken, das der Verleger Ferdinand Schöningh seit dem 5. August 1848 herausgab. Seit dem 1. Januar 1849 wurde es mit einer volkstümlichen Beilage versehen, dem Westphälischen Volksblatt. Löhers Verhaftung Im Dezember 1848 kam es in Paderborn noch einmal zu Unruhen. Zu dieser Zeit waren allerdings in Deutschland wieder die alten Mächte auf dem Vormarsch. In Wien wurde die Volksbewegung Ende Oktober militärisch niedergeschlagen, und der preußische König verlegte die ihm unbequeme Nationalversammlung von Berlin nach Brandenburg, um sie schließlich zu vertagen. Aus Protest gegen dieses Vorgehen beschloß ein Teil der Abgeordneten, gegen die Stimmen der Paderborner Delegierten, einen Aufruf zur Steuerverweigerung. Am 18. und 19. November trafen sich Vertreter der liberalen Vereinigungen Westfalens zu einem Demokratenkongreß in Münster. Zu den führenden Rednern gehörte Franz Löher als Repräsentant des liberalen Paderborner Volksvereins. Der Kongreß sprach sich für die Unterstützung des Aufrufs zur Steuerverweigerung aus, gewaltsamer Widerstand wurde aber abgelehnt. Nach Abschluß der Versammlung bahnte sich jedoch ein Meinungsumschwung an, als die Frankfurter Nationalversammlung und der Reichsverweser (vorläufiges Staatsoberhaupt) Erzherzog Johann am 20. und 21. November die Steuerverweigerung ablehnten. Dieser Proklamation schloß sich auch der konservativ geprägte Paderborner Bürgerverein an. Das betreffende Flugblatt vom 24. November unterzeichneten 111 Bürger, u. a. Landrat Grasso, die Bankiers Paderstein und v. Hartmann, Schöningh, Mantell, Hüffer und v. Mallinckrodt. Löher, der das Frankfurter Parlament als oberste Reichsautorität © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 29 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn anerkannte, übernahm schweren Herzens dessen Politik, indem er am 25. November mit seinen Anhängern in einem Extrablatt der Westfälischen Zeitung erklärte: Mitbürger in Stadt und Land! Die höchste Reichsgewalt, welcher die Sorge für die Erhaltung Deutschlands anvertraut ist, hat gesprochen. Ihrer Stimme gehorcht jeder freudig, der es mit dem deutschen Vaterlande redlich meint. Jetzt kein Gedanke mehr an Steuerverweigerung. Um so unverständlicher mußte es der Paderborner Bevölkerung erscheinen, als Löher am 11. Dezember auf offener Straße verhaftet wurde. Von den nachfolgenden Tumulten liegen drei verschiedene Darstellungen vor. Zunächst eine kurze Schilderung des Vorfalls aus der Sicht des Hauptbetroffenen. Löher schrieb am 22. Dezember aus dem Zuchthaus an eine Bekannte: Meine Verhaftung in Paderborn erregte ungeheure Aufregung. Am Abend war das Inquisitoriat (Untersuchungsgefängnis, Ecke Königstraße/Marienstraße) belagert. Es wurden Anfänge von Barrikaden gebaut, um dem Militär den Zugang abzuschneiden; und man setzte Leitern bis an mein Fenster und stieg sogar hinauf, um mich zu befreien, was ich natürlich nicht zuließ. Die Schwadron Ulanen, welche in Paderborn liegt, mußte zweimal die Straßen säubern und die Nacht über das Inquisitoriat bewachen. Die ausführlichste Darstellung findet sich in der Westfälischen Zeitung Nr. 109 vom 14. Dezember 1848: Münster, den 10. Dez. Soeben wurde ganz unerwartet die Verhaftung des Justiz-Kommissars Gierse vorgenommen, Stierlin, Jakobi und andere (allesamt Teilnehmer des Demokratenkongresses) haben vorgezogen, sich auf Reisen zu begeben. Paderborn, den 12. Dez. Gestern abend erlebten wir in unserer Stadt, die sich von jeher durch Ruhe und Gesetzlichkeit auszeichnete, einen Vorfall, der leicht hätte zu traurigen Folgen führen können. Der Redakteur der Westf. Zeitung, Referendar Löher, wurde gestern mittag auf Befehl des Oberlandesgerichts zu Münster verhaftet, um heute nach Münster zur Untersuchungshaft abgeführt zu werden. Das ihm zur Last gelegte politische Vergehen ist uns bis jetzt unbekannt. Man kennt und achtet hier den Referendar Löher allgemein als einen Mann von großer Mäßigung in politischen Besprechungen, und zum Beweise ihrer Anerkennung haben ihn die Bürger noch vor 6 Wochen zum Stadtverordneten gezählt. Seine Verhaftung, deren Kunde mit Blitzesschnelle die Stadt durchlief, brachte eine große Aufregung hervor, und es ging das Gerücht, man beabsichtige auf gestern abend seine Befreiung. Zufällig zwar gestern abend Sitzung des Volksvereins, die auch von sehr vielen Nichtmitgliedern besucht war. Hier gelang es den Anstrengungen mehrerer Redner, die im höchsten Grade © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 30 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn aufgeregten Gemüter zu beruhigen. Großen Eindruck machte namentlich ein Schreiben des Verhafteten, worin er seine Mitbürger dringend vor jeder Demonstration, die ungesetzlich sei und nur schaden könne, abmahnte. Aus der Sitzung begaben sich die meisten ruhig nach Hause. Jedoch sammelte sich gegen 9 ½ Uhr eine große Volksmenge vor dem Inquisitoriate. Die einen brachten dem Verhafteten ein Lebehoch, die andern baten, daß man es ihm erlaube, noch einmal sich zu neigen und ihnen Lebewohl zu sagen. Diese Bitte mußte natürlich von der Behörde abgeschlagen werden. Obgleich dieses einigen Unmut hervorbrachte, so behielt die Menge doch eine gesetzliche Haltung, wenn man das Geschrei der Straßenjugend, welche bei dergleichen Gelegenheiten niemals zu fehlen pflegt, abrechnet. Ernstliche Gewalttat hatte niemand im Sinne. Als sich die Menge nach der üblichen Aufforderung des Landrates, auseinanderzugehen, nicht verlor, erschallte plötzlich der Hufschlag der herbeigezogenen Ulanen, welche mit blinkenden Säbeln todesmutig die Königstraße herabkamen. Nach zweimaligem Trompetensignale wurde Trab geritten, und die Menge zerstob nach allen Seiten, um sich vor den Säbelhieben, die von einigen Soldaten ohne Veranlassung und ohne Kommando geführt wurden, zu retten. Bis jetzt war keine Erbitterung dagewesen, dies aber brachte sie hervor, und durch die schleunige Herbeiziehung des Militärs wurde der Sache ein ernster Charakter aufgedruckt, der ihr vorher nicht beizulegen war. An einigen Stellen sammelten sich wieder Menschenhaufen, und man erzählt sogar von Absperrung einzelner Straßen durch Anfänge von Barrikaden, die sich jedoch nur durch eine sehr unvollkommene Bauart auszeichneten. Zu Verwundungen ist es nicht gekommen; es haben nur die Fensterscheiben in der Königstraße von dem mutigen Säbelschwingen der Soldaten gelitten. Sehr anerkennenswert ist das Benehmen des Kommandeurs des Ulanenregiments, Oberstleutnant Chorus, welcher durch vertrauensvolles Zureden die Menge beruhigte und dadurch weiteres militärisches Einschreiten unnötig und die Ungezogenheiten einzelner Soldaten wiedergutmachte. Die ganze Bürgerschaft Paderborns kann diesem edlen Manne dafür nur dankbar sein. Als gegen halb zwölf Uhr das Militär abzog, verschwand auch die Menschenmenge. Festzuhalten bleibt, daß der Tumult vor dem Gefängnis und der Einsatz der Soldaten leicht in einem Blutbad hätte enden können, wenn die militärische Führung nicht ein großes Maß an Besonnenheit und Zurückhaltung gezeigt hätte. Da das Problem des Umschlagens von Demonstrationen in Gewalt und der Einsatz angemessener polizeilicher Mittel heute noch aktuell ist, soll hier auch der dritte vorliegende Bericht, wenigstens auszugsweise, zitiert werden. Landrat Grasso erwiderte auf die Darstellung der Westfälischen Zeitung in deren folgender Nummer: © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 31 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn Die im vorigen Stücke dieses Blattes enthaltene Erzählung der bedauerlichen Vorfälle, welche hier am 11. d. Mts. stattgefunden, ist im allgemeinen mit der Wahrheit übereinstimmend. Der Behauptung, daß es nicht notwendig gewesen sei, Militär zu requirieren, muß ich jedoch unbedingt widersprechen. Es handelte sich hier nicht um einen gewöhnlichen zufälligen Auflauf, sondern um den Angriff auf ein öffentliches Gebäude, an dessen Sicherheit die ganze Stadt und Gegend im höchsten Grade interessiert war. Schon während des Nachmittags, als der Referendar Löher arretiert war, hat man sich in der Stadt erzählt, daß er während der Nacht gewaltsam befreit werden sollte. Ich selbst sah, als ich am Abend, von einer Reise zurückkehrend, mich auf die Straße begab, mehrere mit Stöcken und Knitteln bewaffnete Leute hin und herlaufen, wodurch gewiß kein friedliches Vorhaben angedeutet wurde. Es ist durchaus nicht wahrscheinlich, daß der Referendar auf seine Befreiung eingegangen sein würde; wohl aber war mit Recht zu befürchten, daß die vielen auf dem Inquisitoriate befindlichen gemeinen Verbrecher die durch einen Angriff auf das Haus entstehende Verwirrung benutzt haben würden, um aus ihren Kerkern zu entweichen. - Es hat sich auch gezeigt, daß ein Angriff auf das Inquisitoriat wirklich im Plane lag. Als die Ulanen zum ersten Male ankamen, zerstreuten sich zwar die meisten Leute, welche sich vor dem Inquisitoriate versammelt hatten, alsbald; als das Militär aber in die Kaserne zurückgezogen wurde und also von einer Irritation keine Rede mehr sein konnte, kehrten viele zurück und fingen nicht nur an, die Straße rückwärts und vorwärts zu barrikadieren, sondern auch die Nebenstraßen zu verrammeln, ganz offenbar in der Absicht, dem Militär den abermaligen Zug nach dem Inquisitoriate völlig abzuschneiden. Gleichzeitig wurde zu wiederholten Malen eine Feuerleiter an das Gebäude gesetzt und von einem Manne aus der Menge erstiegen. Jeder Unbefangene wird es eingestehen, daß die Behörden ihre Pflichten gröblich verletzt haben würden, wenn sie nach den umlaufenden Gerüchten, die durch die nachherigen Tatsachen sich als vollständig begründet erwiesen haben, nicht alle Vorsichtsmaßregeln ergriffen hätten, die ihnen zu Gebote standen. . . Außer den Offizieren und Soldaten ist der Oberstleutnant Chorus dreimal verletzt worden, und ich selber verdanke es nur dem Schutze der Vorsehung und nicht der ruchlosen Hand, welche mit aller Kraft einen Stein auf mich warf, daß ich nicht auf der Stelle getötet wurde. Das Ende der Revolution Während Löher im Zuchthaus zu Münster, wohin er von Paderborn gebracht worden war, auf seinen Prozeß wartete, bereitete sich die Bevölkerung Preußens auf neue © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 32 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn Abgeordnetenwahlen vor, die nach der Auflösung der Nationalversammlung durch König Friedrich Wilhelm IV. notwendig geworden waren. Mit der von ihm am 5. Dezember 1848 ohne Hinzuziehung eines Parlamentes beschlossenen, d. h. oktroyierten Verfassung war der Monarch wichtigen Forderungen des Bürgertums entgegengekommen. Freudig sahen die Paderborner Katholiken darin ein Zeichen der guten Absichten des Königs und kritisierten in einem Aufruf in Nr. 2 des Westphälischen Volksblatts scharf die "Revolution" und die "Freiheit" von der Art des Jahres 1848. Die Wahlen sind vor der Tür... Bekommen wir Kammern, deren Mitglieder der Mehrzahl nach die Revolution lieben und auf dem Wege der Revolution unsere Zukunft bestimmen wollen, so haben wir Verwirrung und Unordnung, Raub und Plünderung und eine Armut sondergleichen zu gewärtigen, und die einzelnen Teile unseres Staates können dazu leicht auseinanderfallen. Dann würde in ganz Deutschland wieder der Aufruhr toben und des Elendes kein Maß und kein Ziel sein. Wir wollen die Freiheit, aber nicht die Freiheit und den Aufruhr. Wir wollen die Freiheit für alle; aber eine dauernde Freiheit, die nicht jeden Augenblick in Gefahr ist, ein Opfer von Menschen zu werden, die nur für sich die zügellose Willkür, für andere aber Angst, Schrecken und Knechtschaft wollen. Wir wollen die Freiheit; aber sie soll nicht jeden Tag Tausende arm und hilflos machen, die bisher anderen helfen konnten und geholfen haben. Wir gehen ja alle in Not und wilder Verzweifelung zugrunde, wenn die Freiheit, wie sie in diesem Sommer in Berlin und Wien und Frankfurt auf dem Throne saß, von neuem wieder ans Ruder kommen soll. - Durch die dargebotene Verfassung hat unser König vor aller Welt gezeigt, daß er nicht mit leeren Versprechungen hat täuschen wollen. Was die, welche seine edle Gesinnung näher kennen, längst wußten, was schon manche einzelne Taten seiner Regierung offenbart hatten, das hat er allen Verleumdungen und Verdächtigungen gegenüber vor ganz Europa dargetan. Unser König liebt sein Volk, liebt die Freiheit seines Volkes, liebt sie mit christlicher Treue und Aufrichtigkeit. Das kann keiner, der Wahrheit will, abstreiten. Jetzt ist es an uns, auch vor ganz Europa zu zeigen, daß wir die Freiheit, die Freiheit für alle lieben, daß wir auf der gegebenen Grundlage weiterbauen, daß wir aufbauen, nicht zerstören und einreißen wollen . . . Dazu muß allerdings kritisch bemerkt werden, daß der hier so gepriesene König im Sommer 1849 das allgemeine und gleiche Wahlrecht aufhob und statt dessen das bis 1918 geltende - Drei-Klassen-Wahlrecht, das die Reichen begünstigte, einführte. Spätestens im Kulturkampf gab es dann für die Katholiken, die 1848/49 so obrigkeitstreu gewesen waren, ein böses Erwachen. Löhers Verhaftung und auch eine gewisse Zersplitterung des konservativen Bürgertums führten bei den Urwahlen am 22. Januar in Paderborn zu einem triumphalen Erfolg der Liberalen. In acht von neun Stimmbezirken setzten sie ihre Kandidaten durch. Bei den nachfolgenden Abgeordnetenwahlen wurden Löher und © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 33 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn der ihm politisch nahestehende Justizrat Groneweg aus Gütersloh als Vertreter des Wahlkreises Paderborn-Büren nach Berlin entsandt; Höxter benannte den liberalen Gutsbesitzer Pieper zu Istrup sowie den konservativen Gerichtsassessor Pape. Löher, der am 17. Februar aufgrund eines ärztlichen Attests aus der Untersuchungshaft entlassen worden war und im Triumphzug nach Paderborn zurückkehrte, schloß sich im preußischen Abgeordnetenhaus der äußersten Linken an, unterstützte aber einen Appell der Kammer an den König, die ihm von der Frankfurter Nationalversammlung (darunter den Paderborner Delegierten) angebotene deutsche Kaiserkrone anzunehmen. Die Weigerung des Monarchen, einen solchen imaginären Reif aus Dreck und Letten gebacken, zu tragen, leitete die letzte Phase der Revolution von 1848/49 ein. Nachdem das preußische Abgeordnetenhaus die Aufhebung des Belagerungszustandes in Berlin gefordert hatte, wurde es am 27. April aufgelöst. Jetzt galt der Grundsatz Gegen Demokraten helfen nur Soldaten. Als die Landwehr (Reservisten) in Paderborn einberufen werden sollte, rief sie der Volksverein durch ein auf Plattdeutsch verfaßtes Flugblatt, „Buer paß upp", auf, nicht auf die eigenen Landsleute zu schießen. Die erstmals nach dem Drei-Klassen-Wahlrecht durchgeführten Neuwahlen am 17. Juli wurden weitgehend boykottiert. In Paderborn gaben von 1857 Urwählern nur 360 ihre Stimme ab, in Lichtenau von 260 nur 29. Dies war eine der letzten Regungen der Revolution im Paderborner Land. Löher wurde 1850 aus politischen Gründen aus dem Referendardienst entlassen, obwohl ihn das Schwurgericht in Hamm bezüglich seiner Rolle beim Münsteraner Demokratenkongreß freigesprochen hatte. Nach der Promotion avancierte er 1855 zum Sekretär des Königs Maximilian II. von Bayern und wurde später Berater von dessen Nachfolger Ludwig II. sowie Archivdirektor. Zusammenfassend ergibt unsere Betrachtung der Ereignisse im Paderborner Land 1848/49 folgendes Bild: Im Grunde genommen ereigneten sich zwei "Revolutionen", die unverbunden nebeneinander standen: der Aufstand von Teilen der Landbevölkerung gegen Gutsbesitzer, Forstbeamte und jüdische Händler (wirtschaftliche Ursachen) einerseits und der Kampf des liberalen Bürgertums für nationale Einheit und politische Freiheit andererseits. Zu einer Aktionseinheit der beiden Gruppen kam es nicht, zumal das Bürgertum Gewaltanwendung ablehnte. Eine weitere politische Zersplitterung trat hinzu. Der politische, konservativ geprägte Katholizismus setzte auf Reformen in Zusammenarbeit mit den alten Mächten. Die Liberalen gewannen dem gegenüber erst im weiteren Verlauf des Jahres 1848 an Boden. © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 34 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn Der Bauernaufstand vom März 1848 wurde sehr schnell mit militärischer Gewalt niedergeschlagen, während das Scheitern der bürgerlichen Bewegung mit den Ereignissen in Berlin, Frankfurt usw. in Verbindung steht. Allerdings ist die Revolution von 1848/49, entgegen einer weit verbreiteten Meinung, nicht völlig erfolglos geblieben. Die nationalstaatliche Einigung Deutschlands wurde zwar nicht erreicht, blieb aber auf der politischen Tagesordnung und fand 1864-1871 ihre Verwirklichung, wenngleich anders, als es das liberale Bürgertum 1848 erhofft hatte. Den Forderungen nach einem freiheitlichen Staats- und Regierungssystem kam die oktroyierte Verfassung in Preußen wenigstens etwas entgegen. Die adligen Patrimonialgerichte wie in Brenken und Fürstenberg wurden abgeschafft, und die noch bestehenden bäuerlichen Leistungen an die ehemaligen Grundherren liefen allmählich aus. Der Durchbruch zur Industrialisierung im Ruhrgebiet während der 50er Jahre schuf die Arbeitsplätze, die fortan die ländlichen Unterschichten anzogen und somit den vorindustriellen Pauperismus beseitigten. Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Ungedruckte Quellen Staatsarchiv Münster, Oberpräsidium, Akten B 684 und B 693 (betr. Unruhen 1848/49, besonders Berichte der Landräte). 2. Gedruckte Quellen und Sekundärliteratur Decker, Rainer: Quellen zur Geschichte des Hochstifts Paderborn, 2. Aufl. Paderborn 1979 (vergriffen). Ewald, Ruprecht: Geschichte der Stadt Brakel. Brakel 1925. Herzig, Arno:Judentum und Emanzipation in Westfalen. Münster 1973. Hohmann, Friedrich Gerhard: Geschichte der Verwaltung des Kreises Paderborn. In: Landkreis Paderborn. Zur Einweihung des Kreishauses 1968 (Paderborn 1968) S. 9-88. ders., 1848. Schwarz-Rot-Gold vom Domturm. Revolution im Paderborner Land. In: Sonderbeilage zum Westfälischen Volksblatt vom 13. Okt. 1973. Hüser, Karl: Franz von Löher 1818-1892. Paderborn 1972. © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 35 Die Revolution von I848/49 im Hochstift Paderborn Kiepke, Rudolf: Die Geschichte der Paderborner Presse von ihren Anfängen bis zum Ausgang des Kulturkampfes 1559 - 1880. In: Westfälische Zeitschrift 89 (1932) II S. 1-75. Klocke, Josef A.: Wirtschaftliche Entwicklung und soziale Lage der Unterschichten in Ostwestfalen 1830 bis 1850. Phil. Diss. Bochum 1972. N. N.: Die Revolution von 1848 in Bökendorf, Bellersen und Vörden. Nach einem handschriftlichen Berichte der Ludowine von Haxthausen im Schloßarchiv zu Vörden. In: Heimathorn 15.Jg. (1935) Nr. 9 S. 34 f. Rempe, Heinrich: Paderborner Gerichtswesen und Juristen im 19.Jahrhundert. Paderborn 1970. Ruer, Wilhelm: Irrenstatistik für die Provinz Westfalen mit Hinweisung auf die medicinisch-topographischen Verhältnisse sämtlicher einzelnen Kreise derselben. Berlin 1837. Schulte, Wilhelm: Volk und Staat. Westfalen im Vormärz und in der Revolution 1848/49. Münster 1954 Waldhoff, Johannes: Die Geschichte der Juden in Steinheim. Paderborn 1980. Das westphälische Dampfboot. Eine Monatsschrift. (Unveränd. Neudr. d. Ausgabe Bielefeld und Paderborn 1845-1848. Glashütten im Taunus 1972). Westphälisches Volksblatt. Beigabe zum Westphälischen Kirchenblatt. l. Jg. 1849. Westfälische Zeitung. l. Jg. 1848. © Rainer Decker - Studienseminar Sek II Paderborn 36
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