> < Sonntag/Montag, 3./4. Mai 2015 70 JAHRE KRIEGSENDE 61 Mit Krücken auf der Flucht nach Westen Das Geschenk eines Toten Bis 1943 hat er für die Wehrmacht gekämpft. Erst in Frankreich, dann in Russland, Griechenland, dann wieder in Russland. Erzählen möchte Heinz Duncklau von seinen Erlebnissen an der Front nicht. „So was erzählt man heute lieber nicht“, sagt der 91-Jährige. „Nein, nein. Lieber nicht.“ Nur so viel, dass ihn an der Ostfront ein russischer Panzer getroffen hat und er seitdem auf Krücken angewiesen war. „Oberschenkel- und Unterschenkeldurchschuss. Mit den Folgen habe ich heute noch zu kämpfen.“ Auch während der Flucht vor der Roten Armee. Es war der 30. April 1945 – der 54. Geburtstag seiner Mutter Berta –, als der damals 22-Jährige mit seiner Familie in Güstrow in einen Zug Richtung Lübeck gestiegen ist. Von ihrer Heimatstadt Küstrin im heutigen Polen war die Familie die rund 300 Kilometer nach Güstrow gelaufen. Drei Tage und drei Nächte hat dann die Zugfahrt nach Lübeck gedauert. „Wegen der Angriffe von Tieffliegern kamen wir immer nur Stück für Stück weiter.“ Am 2. Mai erreichten sie den Hauptbahnhof in Lübeck – etwa eine Stunde, bevor die Engländer einmarschierten. „Wir waren gerade am Bahnhof angekommen, dann kam die Durchsage: Alle von dem Zug runter und in den Bunker! Der Engländer marschiert gleich ein.“ Wir sind dann vom Bahnhof in den Bunker, das muss im Steinrader Weg gewesen sein. Dort stapelten sich die Menschen. Nach einer Weile kam ein Mann herein, ein Engländer. „Alle Soldaten raus hier!“, hat er geschrien. Unruhe machte sich breit. Heinz Duncklau, der mangels anderer Kleidung noch seine Wehrmachtsuniform trug, bekam Angst. „Ich wusste ja nicht, was die mit Soldaten machen. Ich hatte zwar meinen Entlassungsbescheid in der Tasche, aber den konnte der ’Tommy’ ja nicht verstehen.“ Sofort zog er seine Uniform aus. „Warte, ich habe etwas für dich“, sagte eine Frau, die mit demselben Zug aus Güstrow gekommen war. Sie hat ihm eine Jacke gegeben, andere Flüchtlinge gaben ihm eine Hose. „Ich habe mich im Luftschutzbunker vom kurfürstlich-brandenburgischen Obergefreiten zum Zivilisten verwandelt. Deswegen konnte ich bei meiner Familie bleiben.“ Seitdem wohnt Heinz Duncklau in Lübeck. han Im Dezember 1943 klingelten zwei Männer an der Tür und gratulierten Dieter Morawskis Mutter. Ihr Mann, sagten sie, sei an der Front den Heldentod gestorben. Die Familie lebte damals in Templin in der Uckermark, und es sollte noch anderthalb Jahre dauern, bevor sie sich auf den Weg nach Westen machte, nach Lübeck. Einen Tag nach ihrer Flucht aber stand die Rote Armee in der Stadt und ihr Haus in Flammen. Die Flucht begann auf der Ladefläche eines Traktorgespanns, ab Teterow ging es zu Fuß weiter mit einem Handwagen und einem Lebensmittelkorb – Mutter, Großmutter und Dieter Morawski, damals neun Jahre alt. Begleitet wurden sie von einer Bekannten, deren Kindern und einer Hausangestellten. Irgendwann nahm sie ein Lastwagen mit, beladen mit Munition. Sie kamen durch brennende Dörfer, molken herrenlose Kühe, übernachteten in verlassenen Häusern und fanden in einem Gutshof einen hellen Staubmantel. „Hitler“ stand handgeschrieben im Futter. Tiefflieger feuerten aus Bordkanonen, tote Pferde boten Schutz. Irgendwann schafften sie es nach Bad Kleinen, wo der Bahnsteig bedeckt war von wertlosem Notgeld. Den 36. Geburtstag der Mutter feierten sie in einem Flüchtlingslager auf Gut Plüschow, ein Fliederstrauß stand in einer rostigen Blechdose. Schließlich erreichten sie Lübeck, völlig erschöpft, den Handwagen noch dabei. Und als sie in der Moltkestraße klingelten, wo die Schwägerin der Großmutter wohnte, fragte man sie: „Wo kommt ihr denn jetzt erst her?“ Er hat die Flucht als „Abenteuerreise“ erlebt, schreibt Dieter Morawski in einem Buch, seinen Erinnerungen. Er habe den „Ernst der Lage“ nicht begriffen, nicht verstanden, wer die Menschen waren, die man in gestreifter KZ-Kleidung über die Straßen trieb. Von Toten und Verwundeten habe er nichts gesehen, nur einen Mann, den man an einen Baum gelehnt hatte, das Gesicht mit einem Taschentuch bedeckt. Es war Krieg, und Neunjährige liefen durch diese sich auflösende Welt und wussten nicht, was geschah. Und es konnte ihnen wie Dieter Morawski passieren, dass sie zu Weihnachten 1943 ein Päckchen vom Vater erhielten, der schon gefallen war, im Osten an der Front – das Geschenk eines Toten. Die „Cap Arcona“ (Foto) und die „Thielbek“ wurden am 3. Mai 1945 mit mehr als 7000 KZ-Häftlingen an Bord vor Neustadt versenkt. Foto: dpa „Mit jeder Welle trieb eine Leiche an den Strand“ Ursula Küpper hat gesehen, wie die „Cap Arcona“ und die „Thielbek“ gesunken sind. Von Hannes Lintschnig S ie stand in der Nähe vom Bahnhof in Scharbeutz. Mit ihrer Mutter, die zu dem Zeitpunkt hochschwanger war, wollte sie Lebensmittelmarken gegen Butter und Käse eintauschen. Von dort hatte sie freie Sicht auf die Ostsee, denn damals war der Ort noch ein kleines, gemütliches Fischerdorf ohne große Hotels an der Küste. „Wir haben die Schiffe in der Lübecker Bucht gesehen“, sagt Ursula Küpper, die damals 16 Jahre alt war. Es waren die „Cap Arcona“ und die „Thielbek“. Ein ehemaliger Luxusliner und ein Frachtschiff, die die SS in schwimmende Konzentrationslager verwandelte. Tausende von KZ-Häftlingen waren an Bord. „Die Schiffe hatten weiße Flaggen gehisst. Meine Mutter sagte, dass sie sich ergeben haben. Das hat uns beruhigt.“ Doch plötzlich wurde es laut. Britische Tiefflieger flogen direkt über Ursula Küpper hinweg. „Ich habe mich in die Büsche geworfen und ein bisschen gewartet, was passiert.“ Dann ist sie aufgestanden und schaute wieder auf die Lübecker Bucht hinaus – und sah schreckliche Bilder. „Die Schiffe haben gebrannt. Nach kurzer Zeit sind sie in der Mitte gebrochen und versunken. Es war entsetzlich. Die sind einfach eingesackt“, sagt Küpper. Wahrscheinlich drang die Warnung des Roten Kreuzes nicht zu den Briten durch, die die KZ-Schiffe für Truppentransporter hielten. Schnell ist sie wieder zurück auf den Bauernhof gelaufen, auf dem sie mit ihrer Familie untergekommen war. Denn die gebürtige Hamburgerin hatte bei dem Bombenangriff 1943 ihr Zuhause verloren und war mit ihrer Familie nach Scharbeutz geflohen. „Wir wussten nicht, wer auf uns zukommt, der Engländer oder der Russe. Deswegen haben wir uns so beeilt.“ Denn vor „dem Russen“ hatten sie Angst – besonders die Frauen. „Ich habe mich gemeinsam mit der Bauerstochter auf dem Dachboden versteckt.“ Dann kamen Soldaten auf den Hof, in der Hand Maschinengewehre. „Es waren die Engländer. Und wir waren erleichtert.“ Zur Lübecker Bucht ist Ursula Küpper einige Zeit nicht mehr gegangen, obwohl sie den Strand und das Meer geliebt hat. Erst nach etwa sechs Wochen war sie wieder dort. „Ich wusste, dass Badeverbot angesagt wurde. Trotz- Ursula Küpper Ende 1944 am Strand von Scharbeutz. Foto: privat dem wollte ich dahin. Es war schließlich Sommer.“ Doch als sie erkannte, was die Wellen an den Strand trugen, drehte sie wieder um. „Mit jeder Welle kam so etwas Weißes an den Strand geschwemmt“, erinnert sich Küpper. Erst wusste sie nicht, was es ist. Dann hat sie es erkannt. „Es waren aufgequollene Leichen, sie lagen überall rum.“ Insgesamt sind rund 7000 KZ-Opfer in der eiskalten Ostsee ertrunken. Ein Fischer erzählte ihr, dass er eine Leiche gefunden habe, die noch an einem Stuhl festgebunden war. „Ich wollte das alles nicht sehen. Die ganzen toten Körper. Ich bin sofort weggelaufen.“ Weggelaufen wäre ihr Bruder gewiss auch gerne. Allerdings musste er – gerade aus dem Krieg heimgekehrt – den Strand von den Leichen befreien. „Er hat von beißendem Gestank erzählt“, erinnert sich Küpper. „Und die Leichen hat er in ein Massengrab nach Timmendorfer Strand gebracht.“ „Im Sommer hätte mich der Russe erwischt“ Anna-Elise Faerber ist alleine aus Ostpreußen geflüchtet. In Stockelsdorf hat sie ihre Familie wiedergesehen. Obergefreiter Heinz Duncklau im Jahr 1944. Auf Krücken flüchtete er vor der Roten Armee. Foto: privat Das Artilleriefeuer der Roten Armee hatte sie schon oft gehört. Schließlich lebte Anna-Elise Faerber während des Zweiten Weltkriegs nur sechs Kilometer entfernt von der russischen Grenze, im östlichsten Ostpreußen. Im Oktober 1944 musste sie ihren Hof verlassen.„Es ging nicht mehr. Der Russe war vier Kilometer entfernt. Wir mussten alles stehen und liegen lassen“, sagt Faerber. Die ersten Wochen ist sie zusammen mit ihrer Familie geflüchtet – mit Pferdewagen und Fahrrad haben sie es bis nach Seeburg im masurischen Seengebiet geschafft. Dann wurden sie getrennt. „ Mein Chef hat mich mit nach Rössel ge- # nommen, wo er einen Wagen voll Kleidung stehen hatte, den ich verkaufen und betreuen sollte.“ Im Januar 1945 hat ihr Chef dann eine Möglichkeit gefunden, zu Floh über das zugefrorene Haff: Anna-Elise Faerber (90). flüchten. Mit der restlichen Kleidung könne Faerber machen, was sie wolle, sagte er, floh und ließ die damals 20-Jährige allein zurück. „Jeder war sich selbst der Nächste. Das war nun mal so.“ Im Januar 1945 hat dann ihre lange Flucht im kalten Winter begonnen, die erst nach rund 1200 Kilometern enden sollte. Sie hat sich bis zur Ostsee nach Frauenburg durchgeschlagen. Die Rote Armee ist zu dem Zeitpunkt schon in das nicht weit entfernte Elbing einmarschiert. Für Anna-Elise Faerber gab es nur noch einen Ausweg – über das Wasser. „Im Sommer hätte mich der Russe erwischt. Aber das Frische Haff war zugefroren. So bin ich bis nach Kahlberg gekommen.“ Viele Flüchtlinge, die alles hinter sich gelassen hatten, liefen über das Eis. „Ich habe einige in Pelze eingewickelte Babys liegen sehen. Was sollten die Mütter machen, als sie zurückzulassen?“ Mit ihrer Mutter hatte sie abgesprochen, dass sie sich in Bad Kösen an der Saale treffen, dort hatten sie Verwandtschaft. Faerber ist dort im Februar angekommen und hat einen Brief ihrer Mutter gefunden. „Sie schrieb, dass sie bei einer Gärtnerei in Stockelsdorf untergekommen ist. Ich bin sofort dahin. Es war so schön, als ich sie wiedersah.“ han 9. April, 23 Uhr. Der SS-Oberscharführer Theodor Bongartz tötet Georg Elser im KZ Dachau mit einem Genickschuss. Dieter Morawski hat ein Buch über die Flucht geschrieben. Foto: Ulf-Kersten Neelsen
© Copyright 2025 ExpyDoc