Editorial … wenn widersprüchliche Logiken aufeinandertreffen Kennen Sie den? Eine Frau kommt zu Mullah Nasrudin (gewissermaßen der orientalische Till Eulenspiegel) und schildert ihm ihr Leid mit ihrem Ehemann. Nasrudin hört sich die Schilderung an und entscheidet: «Du hast recht!». Wenig später kommt ihr Mann, schildert ihm seinen Kummer, woraufhin er wiederum entscheidet: «Du hast recht». Nasrudins Frau, die beide Gespräche mitgehört hat, fragt ihn daraufhin verständnislos: «Mullah, es kann doch nicht sein, dass beide recht haben!». Woraufhin er ihr entgegnet: «Du hast recht». Was hat das mit heutigen Organisationen zu tun? Die meisten Organisationen sind als Sinngemeinschaften darauf angelegt, in einer einheitlichen Rationalität zu arbeiten: Banken orientieren sich am Wirtschaftssystem, Schulen am Bildungsund Gerichte am Rechtssystem. Sie alle agieren hauptsächlich in einer Logik und blenden andere Aspekte notgedrungen aus. Pluralistische Organisationen wie z. B. Krankenhäuser müssen dagegen verschiedene Rationalitäten unter einem Dach beher bergen (Medizin, Pflege, Wirtschaft, Wissenschaft...). Ihre Leis tungsfähigkeit beruht gerade darauf, gelingende Kooperation zwischen diesen unterschiedlichen Rationalitäten herzustellen. Durch Veränderungen in ihren relevanten Umfeldern sind Organisationen heute zunehmend gezwungen, sich im eigenen Haus mit andern Rationalitäten auseinanderzusetzen: Kranken häuser werden verstärkt über eine leistungsabhängige Finanzie rung wie DRGs gesteuert, Banken geraten durch aufgespannte Rettungsschirme in die «politischen Mühlen». Wie der deutsche Kunsthistoriker Carl Einstein es formuliert: «Die Logik will immer Eines und bedenkt nicht, dass es viele Logiken gibt.» Hilfreich für das Verständnis dieser pluralistischen Kontexte ist das Gespräch mit Prof. Ann Langley: Sie spricht aus, was Be obachter pluralistischer Organisationen immer schon ahnten: Dass diese Organisationen einen Hang zur Trägheit haben und die rasche Umsetzung von Veränderungen hier besonders riskant ist. Das liegt neben den unterschiedlichen Werten ihrer Nr. 2 |2015 Mitglieder daran, dass diese Organisationen typischerweise von der Expertise spezieller Berufsgruppen abhängen und diese Experten häufig Autonomie brauchen, um zu funktionieren. Hinzu kommen eher fließende, weniger hierarchische Macht strukturen, die eine klare Priorisierung zwischen den Ratio nalitäten zusätzlich erschweren. Geradezu ein Paradebeispiel für die Mühen und die emotionalen Achterbahnfahrten zwischen Politik, Wirtschaft und Verwaltung liefert unser Interview mit dem Geschäftsführer der Tempelhof Projekt GmbH. BER, Stuttgart 21 oder die Elbphilharmonie lassen grüßen! Außerhalb des Schwerpunkts dieser Ausgabe erwartet Sie eine breite Themenpalette. Unter anderem schildert Hüseyin Özdemir selbstkritisch die Erfahrungen mit europäischen Organisationsentwicklungsansätzen in China, Joachim Freimuth und Katjana Pieper bieten eine systemtheoretisch inspirierende Neuinterpretation von Schichtübergaben in der Pharmaund Automobilindustrie und Luise Lohkamp zeigt einfühlsam und praxisnah Möglichkeiten der Visionsentwicklung. Wir sind überzeugt, dass diese Ausgabe nicht nur für unsere Leserinnen und Leser in ausgewiesenen pluralistischen Kontexten eine Fundgrube ist. Zuversichtlich stimmt uns, dass in vielen Gesprächen im Vorfeld der Umgang mit anderen Rationalitäten, Interessengruppen und Wirklichkeiten als eine mas siv zunehmende Herausforderung empfunden wurde. Wie Kant schon formuliert: Die eigene Freiheit endet immer noch dort, wo die Freiheit des anderen beginnt. Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre. Herzlich, Ihr Thomas Schumacher 1 Inhalt | OrganisationsEntwicklung Nr. 2 |2015 | 34. Jahrgang 43 J. Mlynek & T. Schumacher Führung in der Spitzenforschung: «Man muss wirklich überzeugen». Ein Gespräch mit dem Präsidenten der Helmholtz-Gemeinschaft über unterschiedliche Rationalitäten Für Wissenschaftler zählt stets das beste Argument. Führung im Forschungs umfeld stellt daher hohe Anforderun gen an die Qualität von Aushandlungs prozessen und Kommunikation. Themenschwerpunkt Das einzig Wahre? 12 18 31 2 Multirationales Management Wenn keiner entscheiden will Vernünfte «Es braucht einen langen Atem» Im «Dazwischen» Ziel: Empathie und Akzeptanz Raum für Konflikte Führung in der Spitzenforschung Vermittler zwischen den Welten G. W. Steindorf & T. Schumacher Wenn keiner entscheiden will. Der ehemalige Flughafen Tempelhof im Spannungsfeld politischer Interessen Die Entwicklung des über 400 Hektar großen Gebiets stellt die Tempelhof Projekt GmbH vor allem angesichts der verschiedenen Stakeholder, die sich in den Prozess einbringen, vor massive Herausforderungen und verlangt einen sensiblen Umgang mit unterschiedli chen Interessen. A. Langley & T. Schumacher «Es braucht einen langen Atem.» Ein Gespräch über die Herausfor derungen für Change Management und Führung in pluralistischen Organisationen Will man in pluralistischen Organisatio nen als Führungskraft etwas bewirken, braucht man vor allem Geduld und sollte das Unerwartete erwarten. R. Bosch & T. Schumacher Ziel: Empathie und Akzeptanz. Ein Gespräch mit Netzvorstand Dr. Roland Bosch über den Umgang mit verschiedenen Rationalitäten Als Wirtschaftsunternehmen im Bun desbesitz ist die Bahn mit zahlreichen Logiken konfrontiert, die das Manage ment anspruchsvoll machen: von ver schiedensten Bürgerinteressen bis Politik, Verwaltung, Recht und Medien. Reflexion Gespräch 4 12 16 18 23 31 35 43 46 Einblick Management jenseits der eigenen Logik 52 M. J. Eppler Systematisch umsichtig: Einblicke in Interessensgruppen Ein Überblick zu so genannten Stake holder Maps, die dabei unterstützen, die Ziele, Interessen und Logiken ver schiedener Anspruchsgruppen bei einem Vorhaben zu berücksichtigen. 4 J. Rüegg-Stürm, K. Schedler & T. Schumacher Multirationales Management. Fünf Bearbeitungsformen für sich widersprechende Rationalitäten in Organisationen Organisationen mit mehreren Rationa litäten unter einem Dach haben beson dere Stärken, stehen aber auch vor speziellen Herausforderungen. Wie die se zusammenspielen und wie sie ihnen praktisch begegnen können, zeigt der konzeptionelle Überblicksbeitrag. 16 H. Roehl Vernünfte. Entscheiden in pluralen Wirklichkeiten Eine Reflexion über den Umgang mit unterschiedlichen Rollen in widersprüch lichen Vernunftwelten. 23 J. O. Meissner, P. Wolf & J. Harboe Im «Dazwischen». Die Reise des Aktionsforschungsprogramms «CreaLab» durch die Multirationalität der Hochschulwelt Wie der Interdisziplinäre Schwerpunkt der Hochschule Luzern bisher unge nutzten sozialen Raum zur Entfaltung von Innovationen nutzt. Nr. 2 |2015 62 L. Lohkamp Die Bedeutung von Visionsarbeit für Organisationen, Teams und Personen Beispiele aus dem konkreten Vorgehen zur Visionserarbeitung auf den ver schiedenen Ebenen — von der Organi sation bis zur Person — verdeutlichen, wie die Entwicklung eines attraktiven Bildes in der Zukunft die Handlungs fähigkeit im Hier und Jetzt verbessert. 35 I. K. Schjold & P. Neff Raum für Konflikte. Wenn bei der Nutzung des öffentlichen Raums verschiedene Logiken aufeinander treffen Die erfolgreiche Konfliktklärung rund um den Bau einer neuen Straße illustriert die Entwicklung zu mehr Mitsprache der Betroffenen bei Fragen des Zusam menlebens. 46 C. Beier Vermittler zwischen den Welten Das Beispiel der GIZ zeigt besonders deutlich das Spannungsfeld der Erwar tungen, in dem Organisationen stehen. Die Organisation bewegt sich seit ihrer Gründung in völlig unterschiedlichen ge sellschaftlichen Subsystemen. 69 H. Özdemir Als OE-Pioniere in China. Ein Organisationsentwicklungsprozess in einem deutsch-chinesischen Unternehmen Offen und selbstkritisch setzt sich der Autor mit einem mehrjährigen OE-Pro zess in China auseinander und beleuch tet die Hürden in einem solchen inter kulturellen Projekt. Nr. 2 |2015 77 P. Scamperle & S. Bohn Die Kompetenz, Veränderungen zu managen. Wie bei Schaeffler Führungs kräfte zu Experten für Change Auf gaben werden Das HR Veränderungsmanagement des Technologieunternehmens unterstützt Führungskräfte bei Veränderungspro jekten — z. B. durch eine Toolbox, Bera tung und Evaluation. Werkzeugkiste J. Freimuth & K. Pieper Schichtübergabe und Kooperation. Eine systemtheoretische Betrachtung von Schichtwechseln in vollkontinuierlichen Fertigungen Die Autoren schildern beobachtete Mängel bei Schichtübergaben und erläutern deren Konsequenzen. Ein drücklich zeigen sie, was ein Verände rungsprozess zur Optimierung dieses Vorgangs für Effizienz, Effektivität und Sicherheit der Anlagen bedeutet. 83 M. Haussmann 43. Das Bild als Weg — Strategische Visualisierung in Veränderungspro zessen Ein Überblick zu Hintergründen, Poten zialen und Ausdrucksformen von stra tegischer Visualisierung. Bildlandschaf ten, welche zentrale Erkenntnisse aus Veränderungsprojekten bündeln, bieten eine Reflexionsfläche für ein gemein sames Verständnis aller Beteiligten. Klassiker 54 90 H. Nauheimer Klassiker der Organisationsforschung (16): Peter M. Senge. Systemdenken — Das große Ganze erkennen Zum 25-jährigen Jubiläum des Erschei nens von «Die Fünfte Disziplin» — eines der Standardwerke für Organisations entwickler — lohnt der Blick auf die Ideen von Peter Senge und das Konzept der «Lernenden Organisation». Service Erfahrung OrganisationsEntwicklung Nr. 2 |2015 | 34. Jahrgang 95 103 113 114 118 120 | Inhalt Perspektiven Bücher Impressum Inserate Veranstaltungen Kolumne Ortmanns Ordnung: Institutionen = Organisationen? Eine Widerrede Anregungen zu dieser Ausgabe? Wir freuen uns auf den Dialog! 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