FORTBILDUNG Mechanische lumbale Traktion zur Schmerztherapie bei Spinalkanalstenose* M. Brüderlin, B.Sc., M.Sc. Rückenschmerzen haben eine Vielzahl von Pathomechanismen als Ursache und stellen einen wichtigen sozio-ökonomischen Faktor dar. Trotz modernster Diagnostik gelten bis heute jedoch rund 80 Prozent der Rückenschmerzen als unspezifisch. Zur Einteilung von Rückenschmerzen wurden verschiedenste Klassifikationen erstellt. Die wichtigste Unterscheidung ist zwischen akuten, episodischen und chronischen Rückenschmerzen. Im Folgenden soll auf die Spinalkanalstenose, welche eine Vielzahl von Ursachen haben kann, als einen spezifischen Schmerzgenerator für chronische Rückenschmerzen eingegangen werden. Des weiteren wird die mechanische lumbale Traktion und deren Wirkungsweise auf die Strukturen, welche die Pathologie verursachen, eingegangen. Zudem soll anhand von Studien deren Wirksamkeit belegt und optimale Traktionsparameter in Bezug auf Lagerung des Patienten und Traktionsstärke gefunden werden. Die klinischen Symptome der Spinalkanalstenose variieren stark. Auch zwischen der Stärke der klinischen Sypmtomatik und dem Ausmaß der Stenosierung konnte keine gute Übereinstimmung gefunden werden (1). Typerischerweise treten Schmerzen im Bereich der lumbo-glutealen Region und einer Ischiadicus-Symptomatik ähnelnde Schmerzen während dem Gehen auf, was als Claudicatio spinalis bezeichnet wird. Auf die Ursachen der Claudicatio spinalis wird später noch genauer eingegangen. Pathoanatomie und Pathomechanik * Nach einer Hauptseminararbeit im Rahmen des Studienganges Bachelor of Science in Präventions-, Therapie- und Rehabilitationswissenschaften der DIU Dresden Als weitere Folge der Bandscheibensinterung kann es zu einem Wirbelgleiten kommen, wobei die Wirbelbögen und die Zygapophysealgelenke weiterhin intakt sind. Gleitet der obenliegende Wirbelkörper nach ventral, so werden die im Spinalkanal liegenden Strukturen gegen die obere, hintere Kante des untenliegenden, stabilen Wirbelkörpers gedrückt. Klinische Symptome Die Spinalkanalstenose Die Spinalkanalstenose bezeichnet die Einengung der im Spinalkanal befindlichen Strukturen auf Grund einer temporären oder persistenten Verringerung des Lumens des Spinalkanals. Durch degenerative Prozesse kommt es zu einer geringeren Wasserbindungskapazität der Bandscheiben, was zu einer Höhenabnahme dieser führt. Dadurch nähern sich der obenliegende und der untenliegende Wirbelkörper einander an. Der Anulus der Bandscheibe wölbt sich symmetrisch vor, was in der englischsprachigen Literatur als bulging disc bezeichnet wird. Dies führt zu einer Entspannung des Ligamentum flavum, welches jeweils zwischen den Wirbelbögen von cranial nach caudal verläuft. Infolgedessen kommt es zu einer Vorwölbung des Ligamentum flavum, was als Pseudohypertrophie bezeichnet wird. Auch die wirkliche Hypertrophie des Ligamentum Facettenknorpel und osteophytäre Randanbauten. Alle diese pathologischen Vorgänge können zu einer Kompression der angrenzenden Nervenwurzel führen. flavum kann Ursache für eine Spinalkanalstenose sein. Klinisch lassen sich diese beiden Phänomene dadurch unterscheiden, dass das Ligamentum flavum bei Flexion der Wirbelsäule auf Spannung kommt und im Falle einer Pseudohypertrophie durch die Spannung des Ligaments die Symtome geringer werden, wohingegen eine echte Hypertrophie auch bei Flexion der Wirbelsäule weiterhin klinische Symptome auslöst. Die Verringerung der Bandscheibenhöhe führt zu einer segmentalen Instabilität, wodurch eine höhere Belastung auf die Zygapophysealgelenke übertragen wird, was letzlich hier ebenfalls zu degenerativen Prozessen führt. Folgen davon sind Kapselverdickungen, arthrotische Veränderungen der Wird zum Beispiel auf Grund von osteophytären Anbauten die Nervenwurzel selbst direkt komprimiert, so treten typische radikuläre Symptome wie Hyp- oder Parästhesien, neurologische Muskelausfälle beziehungsweise Muskelschwäche im jeweiligen, der Etage der Kompression entsprechenden Dermatom oder Kennmuskel auf. Claudicatio spinalis – Stenose oder Ischämie Als Claudicatio spinalis wird die klinische Symptomatik beschrieben, wenn das Gehen von längeren Strecken für die betroffenen Patienten nicht mehr möglich ist. Der Begriff ist von der Claudicatio intermittens aus der inneren Medizin abgeleitet. Porter (7) sieht als Ursache der Claudicatio spinalis den durch die Stenose hervorgerufenen 4|15 PHYSIOTHERAPIE 131 FORTBILDUNG verminderten venösen Abfluss des Blutes, was gleichermaßen zu einer Abnahme des arteriellen Zustroms führt. Somit wird die betroffene Nervenwurzel arteriell unterversorgt. Porter (8) spricht von einem sogenannten “venous pooling” beziehungsweise einer“vascular compression theory”. Diese Theorie besagt, dass bei einer multisegementalen Stenose, zum Beispiel auf Höhe L3/4 und L4/5 es zu einer venösen Stauung zwischen diesen beiden Etagen kommt. Bei einer zusätzlich bestehenden arteriosklerotischen Veränderung der Gefäße kann keine Vasodilatation der Gefäße mehr stattfinden, was dazu führt, dass bei körperlicher Aktivität die typischen Beschwerden auf Grund der Unterbrechung der Nervenleitung auftreten. Durch das Stehenbleiben, eventuell in Kombination mit einem Abstützen in flektierter Position, kommt es zur Blutversorgung, und somit erlangt der Nerv seine Funktion zurück. Dadurch kann der Patient nach einer Pause wieder eine kurze Strecke gehen, bis die Beschwerden erneut auftreten. Somit liegt der Claudicatio spinalis eine Ischämie-Theorie als Folge einer Stenose zu Grunde. Operative oder konservative Therapie Keine der beiden Therapiemethoden ist grundätzlich zu bevorzugen. Die Wahl zwischen einer konservativen und einer operativen Therapie muss immer individuell und symptombezogen getroffen werden. Simotas et al (11) konnten zeigen, dass eine forcierte, nicht-operative Therapie für manche Patienten eine gute Behandlungsmöglichkeit darstellt. Starke neurologische Symptome, vor allem motorischer Art, sind eher Indikationen für eine operative Therapie als für eine konservative Therapie. ■ Multimodale Schmerztherapie bei chronischen Schmerzen Chronische Schmerzen sind für die Betroffenen mit einer großen Einschränkung der Lebensqualität verbunden. Häufig stehen chronische Schmerzen im direkten Zusammenhang mit Problemen am Arbeitsplatz oder im sozialen Umfeld; teilweise causal, teilweise als Folge daraus entstanden. Die Schmerztherapie hat die Aufgabe, den Prozess der Chronifizierung zu verhindern oder die Chronifizierung, wenn mög132 PHYSIOTHERAPIE 4|15 lich, rückgängig zu machen. Da die Ursachen häufig nicht rein somatischer Natur sind, ist hierfür ein interdiziplinäres Expertenteam erforderlich. So arbeiten bei der modernen, multimodalen Schmerztherapie Ärzte, Schmerztherapeuten, Psychologen, Sozialarbeiter, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und weitere Berufsgruppen eng abgestimmt zusammen. Ein wichtiger Teil kommt dabei neben der ärztlichen medikamentösen Therapie der physiotherapeutischen Behandlung mittels Manueller Therapie, Krankengymnastik, physikalischer Therapie und (apparativer) Bewegungstherapie in den Bereichen Kraft, Ausdauer und Koordination zu. Speziell für Patienten mit Spinalkanalstenose scheint hierbei der manuellen lumbalen Traktion mittels Traktionsgeräten im Bereich der Physiotherapie eine immer größere Bedeutung beigemessen zu werden. Hierbei wird auf die lumbale Region mittels eines Traktionstisches oder eines Seiles Zug ausgeübt, wobei der Zug über ein Seil im Alltag praktikabler erscheint. Die Lehrgruppe Manuelle Therapie der VPT Akademie in Fellbach-Schmiden (12) empfiehlt für einen Patienten mit Spinalkanalstenose folgende drei Basisbestandteile der Therapie: 1. Epiduralsanästhesie zur Behandlung der lokalen Entzündungen 2. lumbaler Dauerzug, täglich durchgeführt zur Revaskularisation 3. Übungen für die untere Extremität in ektierter Position Als weitere Therapie kann mittels manueller Therapie das Segement oberhalb der Stenose in Extension, die betroffenen Segmente selbst in Flexion mobilisiert werden. Zudem wird eine Mobilisierung der Hüftextension empfohlen, um eine Kompensation der LWS beim Gehen in Extension zu verhindern. Wichtig ist darauf hinzuweisen, dass die lumbale Traktion aus dem Bereich Physiotherapie des großen multimodalen Konzeptes nur einen kleinen, aber dennoch wichtigen und bisher wenig untersuchten Bereich darstellt. Im Folgenden sollen die lumbale Traktion, deren Wirkungsmechanismus und praktische Durchführung sowie mögliche Risiken dargestellt werden. ➜Die mechanische lumbale Traktion – Patientenlagerung Kaisarly (5) beschreibt in ihrer Dissertation die entlordosierte Stufenlagerung als Basistherapie, da diese den Wirbelkanal weitet und zumindest kurzfristig den Druck auf die neuronalen Strukturen mindert. Des weiteren fand sie heraus, dass durch zusätzliche axiale Traktion in dieser Position eine weitere Schmerzlinderung erreicht werden kann. Auch Lee et al (6) kommen zu dem Schluss, dass die Fowlers Position, also die Stufenlagerung, die klinisch effektivste Position zur Applikation der axialen Separation ist. ➜Optimale Traktionsstärke und Risiken In keiner der Studien war von Risiken der axialen Separation die Rede. Santos et al (9) untersuchten die Wirkung von verschiedenen Stärken der lumbalen Traktion und fanden heraus, dass bei 15-minütigem Dauerzug mit 50 Prozent des Körpergewichts die Zunahme der Körpergröße signifikant größer war als bei gleicher Dauer mit 10 Prozent des Körpergewichts. Auch der Effekt nach Beendigung der Traktion hielt noch bis zu zehn Minuten nach Traktion mit 50 Prozent des Körpergewichts an, wohingegen der Effekt bei 10-prozentigem Zug nur fünf Minuten anhielt. Daraus lässt sich schließen, dass die Traktion bis zu 50 Prozent des Körpergewichts des Patienten betragen kann, ohne negative Auswirkungen zu haben. Eine mildere Traktion ist dann nötig, wenn diese Traktionsstärke vom Patienten nicht toleriert werden kann. ➜Patientencharakteristika Cai et al (2) versuchten herauszufinden, ob es eine bestimmte Patientengruppe gibt, welche besonders gut auf die lumbale Traktion anspricht. Sie kamen zu dem Schluss, dass Personen, welche nicht stark körperlich arbeiten müssen, ein niedriges Level beim “fear avoidance beliefs” und keine neurologischen Ausfälle haben sowie über 30 Jahre alt sind, besonders gut auf die lumbale Traktion ansprechen. Diese Gegebenheiten erhöhten die Chance auf eine positive Auswirkung der Traktion von 19.4 auf 69.2 Prozent. ➜Ziele, Wirkung und Ausführug Die lumbale axiale Traktion hat das Ziel, die Ligamenta flava und den dorsalen Anulus des Discus zu straffen, um so während der gehaltenen Traktion die Vaskularisation auf Grund des Raumgewinns FORTBILDUNG zu normalisieren. Die Traktion sollte täglich durchgeführt werden, um durch eine Revaskularisation die Selbstheilung zu beschleunigen. Zusätzlich kann die Beweglichkeit der Nervenwurzel mittels dynamischer neuraler Mobilisation während der Traktion, durchgeführt mittels dynamischer, wechselnder Knieextension bei Plantarflexion des Fußes, erhalten oder verbessert werden (12). Mögliche Lagerung des Patienten während der Traktion mittels Seil ■ Weitere Anwendungsgebiete der mechanischen lumbalen Traktion Auf Grund des straffenden Effektes der lumbalen Traktion auf den dorsalen Anulus der Disci intervertebralia kommt diese auch bei dorsalen Bandscheibenprotrusionen und Bandscheibenprolapsen zum Einsatz (10). Auch Hahne et al (4) fanden eine leicht stärkere Verbesserung der Beschwerden beim zusätzlichen Einsatz von Traktion zur normalen physiotherapeutischen und ärztlichen Behandlung, bestehend aus Manipulationen, Laser, Ultraschall, Elektrotherapie und Medikamentengabe. Gagne et al (3) beschreiben in ihrer Fallstudie einen Patienten, bei dem durch den Einsatz von Traktion zusätzlich zu Extensionsübungen bei einem Bandscheibenprolaps positive Ergebnisse erzielt wurden (Oswestry 36 Prozent auf 0 Prozent, BPFS 33/60 auf 57/60, NPRS 7/10 auf 0/10). Somit scheint die axiale Traktion auch bei Bandscheibenpathologien im Sinne einer Vorwölbung in Richtung des Spinalkanals einen positiven Effekt zu haben. Zusammenfassung Die mechanische lumbale Traktion der Lendenwirbelsäule eignet sich zur Behandlung der Spinalkanalstenose und birgt keine Risiken. Als beste Position zur Lagerung des Patienten während der Traktion hat sich die Stufenlagerung mit 90 Grad Hüftflexion und 90 Grad Knieflexion erwiesen, wobei der Patient nicht nur liegen sollte, sondern eine dynamische Knieextension bei Plantarflexion des Fußes ausführen sollte. Die Lagerung in Bauchlage ist auf Grund der Extensionskomponente, welche dabei in der Lendenwirbelsäule entsteht, nicht empfehlenswert. Die Traktion kann entweder über einen speziellen Tisch, bei welchem zwei Platten deviieren, oder aber mittels Seil durchgeführt werden. Das Seil ist für die Praxis besser geeignet, da es sich leicht installieren lässt und an jeder Behandlungsbank zum Einsatz kommen kann. Wichtig dabei ist, dass die Reibung zwischen Patient und Bank ausreichend hoch ist, damit dieser vom Zug nicht über die Behandlungsliege hinweggezogen wird. Die Traktionsstärke sollte sich nach der Toleranz des Patienten richten und in jedem Fall als angenehm empfunden werden. In der Literatur werden Traktionsstärken bis zu 50 Prozent des Körpergewichts des Patienten empfohlen. Der Zug sollte möglichst lange, mindestens über eine Dauer von 15 Minuten kontinuierlich aufrecht erhalten werden. Rückentraining. Von Frederik DEEMTER. 376 S., 149 farb. Abb., gebunden, 79,99 EUR. ISBN 978-3-13-165061-0 Georg Thieme Verlag, Stuttgart Die Erkenntnisse zur Rückentherapie haben sich in den letzten Jahrzehnten fundamental erweitet. Dabei hat sich die Therapie von passiven Behandlungsmethoden mehr zur aktiven Therapie gewandelt. Der Autor Frederik Deemter versucht, die Aspekte rund um ein erfolgreiches Rückentraining zu berücksichtigen: Von Trainingslehre über Betreuung, Organisation bis zu wirtschaftlichen Aspekten. Darüber hinaus will er eine weitere Professionalisierung der aktiven Rehabilitation anstoßen, um in Zukunft eine ernsthafte Alternative zu Methoden wie Medikamente, Operationen und Infiltrationen zu werden. Das zentrale Thema dieses Buches ist der Umgang mit nicht belastbarem Gewebe. Sind doch eine große Anzahl der Patienten notorische Nicht-Sportler. Und Die meachanische lumbale Traktion bildet somit ein weiteres wertvolles Puzzlestück in der multimodalen Behandlung von akuten, episodischen und vor allem chroischen Schmerzpatienten und kann den Bereich der Physiotherapie, welcher aus einer Vielzahl von aktiven, manuellen und physikalischen Therapiemethoden besteht, ergänzen. Zudem ist der materielle, personelle und räumliche Aufwand für den Nutzen, welchen der Patient erhalten kann, sehr gering und sicherlich für viele Therapeuten leicht umsetzbar. Literaturverzeichnis und vollständige Arbeit beim Verlag. Michael Brüderlin, B.Sc., M.Sc. Reha-Zentrum Brüderlin Forschungs- und Bildungszentrum Brüderlin Ulrichstr. 21, 73033 Göppingen www.bruederlin.de gerade auch Unterbelastung führt ebenso zu Beschwerden wie Überlastung. Auch die Bedeutung der Therapieansätze auf kortikaler Ebene werden ebenso thematisiert wie die Prozesse auf der Gewebeebene. Außerdem finden sich Tests und Analyseverfahren wie Red und Yellow Flags, Backsupport, Quickscan, Beliefs und Chronifizierung, apparative und klinische Diagnostik. Zum Thema Therapie und Training finden sich Rückentriathlon, Graded Activity, Nocebo und Placebo, Optimierung von Therapietreue, Gruppentraining, „Gewebetraining”, sinnvolle Trainingsdosierung, lokale Stabilisatoren und globales Training. Die Therapiegrundlagen werden dargestellt anhand Matrix-Building, Coping, Eigenverantwortung und Patientenzufriedenheit. Abgerundet werden die Themen mit speziellen Tests und Übungen wie den 9 Rückenbasics und dem Langhanteltraining. Zahlreiche Fotos und Grafiken veranschaulichen die Tests und Übungen. Zweifellos wird hier ein praxisnahes, evidenzbasiertes und effektives Rückentraining beschrieben. Hans Ortmann, München 4|15 PHYSIOTHERAPIE 133
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