BESETZUNG Vocalensemble Darmstadt Sopran: Victoria Braum (Soli), Kristin Bruch, Dörthe Glogner, Petra Hauptmann, Stefanie Nattler, Sylvia Richter, Christina Schank, Christine Suszka, Claudia Unterleider Alt: Eva Dreizler, Christine Gronau, Kristin Günzl, Ulrike Heitkämper, Barbara Keil, Franziska Klügl-Frohnmayer, Anne Müller, Claudia Neumann, Katharina Roß (Soli), Marianne Wilhelm Tenor: Udo Auer, Malte Brandy, Thomas Frohnmayer, Peter Heitkämper, Ronny Rickfelder (Soli), Peter Rottländer, Michael Schmidt Bass: Peter Degenhardt, Kurt Glogner, Reinhard Hund, Felix Kanter (Soli), Patrick Kathage, David Meffert, Julian Mohr, Julian Nockemann, Martin Wahlers (Soli) Maximilian Schnaus, Orgel Jorin Sandau, Leitung -2- PROGRAMM Rudolf Mauersberger 1889-1971 „Wie liegt die Stadt so wüst“ RMWV 4/1 Maximilian Schnaus *1986 Rhapsodie Felix Mendelssohn Bartholdy 1809-1847 Psalm 22 op. 87/2 Johann Sebatian Bach 1685-1750 Präludium und Fuge h-Moll BWV 544 Heinrich Schütz 1585-1672 Aus „Geistliche Chormusik 1648“: „Verleih uns Frieden“ „Gib unsern Fürsten“ William Byrd 1543-1623 Agnus Dei (aus Messe für 5 Stimmen) Knut Nystedt 1915-2014 „Peace I leave with you“ Jehan Alain 1911-1940 Litanies JA 119 Johann Sebastian Bach 1685-1750 Motette „Fürchte dich nicht“ BWV 228 -3- EINFÜHRUNG UND TEXTE Der 70. Jahrestag des Kriegsendes ist wohl darum ein besonderer, weil er möglicherweise das letzte runde Jubiläum ist, zu dem noch zahlreiche Zeitzeugen am Leben sind, die abseits aller wissenschaftlich-historischen Aufarbeitung von ihren persönlichen Erlebnissen berichten können. Vor Kurzem bot sich mir die Gelegenheit, einer älteren Dame vorsichtig und etwas unbeholfen eine Frage zu stellen, die mich angesichts des heutigen Konzertes bewegt, nämlich ob und wie man das Lebensgefühl im Mai 1945 beschreiben könne. Ihre Antwort: „Vor allem Freude darüber, dass es vorbei war!“ Bewundernd höre ich den Bericht des damals sechsjährigen Mädchens, wie es lebensmutig gemeinsam mit den verbliebenen Familienmitgliedern zwischen Trümmern umherging und kann dabei nicht anders, als mir auch große Trauer und Hilflosigkeit angesichts verlorener Angehöriger und einer scheinbar endgültig zerstörten Heimat vorzustellen. Der kürzlich verstorbene ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker formuliert jenes Gefühl des Verlustes in seiner bis dahin beispiellosen Rede am 8. Mai 1985: Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Und nun sollte sich herausstellen: Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient. Erschöpfung, Ratlosigkeit und neue Sorgen kennzeichneten die Gefühle der meisten. Würde man noch eigene Angehörige finden? Hatte ein Neuaufbau in diesen Ruinen überhaupt Sinn? Im Spannungsfeld zwischen Zerstörung und Neuanfang, Verlassenheit und Hoffnung auf Frieden bewegt sich das heutige Konzertprogramm, das Vertonungen biblischer und liturgischer Texte versammelt. Die Motette Rudolf Mauersbergers ist dabei tatsächlich eine Art klingendes Zeitzeugnis, alle anderen Stücke sind mit dem durch den zeitlichen Abstand verschwommenen Blick des 21. Jahrhunderts ausgewählt in der Hoffnung, dem Thema über große zeitliche Distanzen zu entsprechen. Die Texte alttestamentarischer Propheten und Psalmisten dürfen natürlich oft nicht wörtlich auf die historische Situation der Völker nach dem zweiten Weltkrieg übertragen werden. Aber vielleicht vermag ihre sprachliche Schönheit im -4- Verbund mit der Musik, die bekanntlich anfängt, „wo die Sprache aufhört“ (E.T.A. Hoffmann) dennoch etwas in uns anzusprechen, was Menschen zur Zeit des babylonischen Exils ebenso bewegt hat wie im 20. und 21. Jahrhundert. Die Grafik auf dem Deckblatt ist eine Luftaufnahme des im Krieg zerstörten Darmstadt. Dieses Bild berührt uns wahrscheinlich deshalb besonders, weil wir uns in dieser Stadt zu Hause fühlen. Als „klingendes Denkmal“ ist die Stückauswahl des heutigen Konzertes jedoch natürlich von dem Wunsch getragen, allen Völkern, die ihre Heimat durch Krieg und Terror verloren haben, anteilnehmend gegenüberzustehen und, wenn wir es können, irdischer Resonator zu sein für das göttliche „ich stärke dich, ich helfe dir“. Wie liegt die Stadt so wüst, die voll Volks war. Alle ihre Tore stehen öde. Wie liegen die Steine des Heiligtums vorn auf allen Gassen zerstreut. Er hat ein Feuer aus der Höhe in meine Gebeine gesandt und es lassen walten. Ist das die Stadt, von der man sagt, sie sei die allerschönste, der sich das ganze Land freuet. Sie hätte nicht gedacht, daß es ihr zuletzt so gehen würde; sie ist ja zu greulich heruntergestoßen und hat dazu niemand, der sie tröstet. Darum ist unser Herz betrübt und unsere Augen sind finster geworden: Warum willst du unser so gar vergessen und uns lebenslang so gar verlassen! Bringe uns, Herr, wieder zu dir, daß wir wieder heimkommen! Erneue unsre Tage wie vor alters. Herr, siehe an mein Elend! Aus den Klageliedern Jeremiae Die Klagelieder des Propheten Jeremia, aus denen Rudolf Mauersberger den Text seiner Motette im Jahr 1945 zusammenstellte, beklagen die Zerstörung der Stadt Jerusalem und des Tempels im Jahre 586 vor Christus. Angesichts der Trümmerhaufen, in die der Krieg viele Dresdner Kirchen verwandelt hatte und deren Anblick Mauersberger zu seiner Komposition veranlasste, gewin-5- nen die Worte von den „zerstreuten Steinen des Heiligtums“ und dem „Feuer aus der Höhe“ eine bestürzende Unmittelbarkeit. Mauersbergers musikalischer Satz ist stilistisch von einer gemäßigt modernen Tonsprache mit kantabler Stimmführung und klangvollen, leicht dissonanten Akkorden geprägt. Neben Textausdeutung durch Rhythmik und Dynamik, wie beispielsweise die Zunahme von Lautstärke und Geschwindigkeit bei „er hat ein Feuer...“ spielt vor allem die Verwendung verschiedener Tonarten eine sinntragende Rolle: Die düstere Grundtonart f-Moll, in der das Werk beginnt und in die es vor allem resigniert zurückkehrt, schafft eine Atmosphäre der Trauer und Hoffnungslosigkeit. Diese wird tagtraumartig durch wärmeres Des-Dur unterbrochen, wenn von der Erinnerung an Friedenszeiten oder die Hoffnung auf die erneute Zuwendung Gottes die Rede ist. Auch die Verwendung von Zahlensymbolik kann bei einem Komponisten, der sich als Dirigent intensiv mit dem Werk Johann Sebastian Bachs auseinandergesetzt hat, zumindest nicht ausgeschlossen werden. So weitet sich der Satz zum ersten Mal zur Siebenstimmigkeit, wenn vom „Heiligtum“ die Rede ist: das geweihte Gebäude ist zerstört, das Heilige selbst aber bleibt in der Erinnerung der Menschen genauso bestehen wie in Form der heiligen Zahl 7 im musikalischen Satz, der in der zerstörten Dresdner Kreuzkirche am 4. August 1945 zum ersten Mal aufgeführt wurde. Zerstörte Dresdner Kreuzkirche 1945 -6- Seiner 2007 entstandenen Rhapsodie stellt Maximilian Schnaus Verse aus der gleichen biblischen Sammlung in einer ähnlichen Auswahl voran Wie liegt die Stadt so wüst, die voll Volks war! Sie ist wie eine Witwe, die Fürstin unter den Völkern, und die Königin in den Ländern war, muss nun dienen. (Klagelieder 1,1) Der Herr hat ein Feuer aus der Höhe in meine Gebeine gesandt und es lassen walten. Er hat meinen Füßen ein Netz gestellt und mich zurückgeprellt; er hat mich zur Wüste gemacht, daß ich für immer siech bin. (Klagelieder 1,13) Die Güte des Herrn ist’s, daß wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit e Treue ist groß. Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. (Klagelieder 3, 22-24) Im Begleittext zur Ersteinspielung durch Martin Lücker beschreibt Björn Hadem das Werk mit den folgenden Worten: Mit gestischer Radikalität greift [der Komponist] Verse aus den Klageliedern Jeremias auf, um sie in verschiedenen klanglichen Ebenen zu schichten und in einen neuen semantischen Kontext zu stellen. Der emotional aufwühlende Umgang mit den biblischen Versen […] gemahnt – so die Intention des Komponisten – an die Zerstörung der hessischen Stadt Hanau am 19. März 1945. Hierfür erhielt Maximilian Schnaus den 2. Preis beim Hanauer Kompositionswettbewerb 2008. Das „Zurückkehren“ scheint auch für dieses ca. zwölfminütige Stück von Bedeutung zu sein: Es endet in einer Art Reprise, in der es musikalische Gedanken des Anfanges aufgreift. Dies kann als ein Zurückfallen in die Schreckensstarre gehört werden (wie es bei Mauersberger ja recht eindeutig gemeint zu sein scheint). Der aufgewühlte Mittelpart des Stückes, klangliches Abbild der Zerstörung der Stadt, scheint das Motiv jedoch im Rezipienten zu verändern und gemäß der Jeremia-Worte „seine Barmherzigeit hat noch kein Ende“ mag auch eine erste Hoffnung auf ein mögliches Weiterleben nach der Katastrophe gehört werden sowie das Gottvertrauen, dessen es bedurfte (und das uns in Zeiten des Wohlstands Geborenen große Bewunderung abnötigt) um sich der neuen Situation zu stellen. -7- Psalm 22 Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich heule, aber meine Hülfe ist fern. Mein Gott, des Tages rufe ich, so antwortest du nicht; und des Nachts schweige ich auch nicht. Aber du bist heilig, der du wohnest unter dem Lobe Israels. Unsre Väter hofften auf dich; und da sie hofften, halfest du ihnen aus. Zu dir schrieen sie, und wurden errettet; sie hofften auf dich, und wurden nicht zu Schanden. Ich aber bin ein Wurm, und kein Mensch, ein Spott der Leute, und Verachtung des Volks. Alle, die mich sehen, spotten meiner, sperren das Maul auf, und schütteln den Kopf: Er klage es dem Herrn, der helfe ihm aus, und errette ihn, hat er Lust zu ihm. Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Gebeine haben sich getrennt. Mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs. Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt am Gaumen, und du legst mich in des Todes Staub. Denn Hunde haben mich umgeben, und der Bösen Rotte hat sich um mich gemacht; Sie haben meine Hände und Füße durchgraben. Sie teilen meine Kleider unter sich, und werfen das Loos um mein Gewand. Aber du, Herr, sei nicht ferne. Meine Stärke, eile mir zu helfen. Errette meine Seele vom Schwert, meine Einsame von den Hunden. Hilf mir aus dem Rachen der Löwen, und errette mich von den Einhörnern. Ich will deinen Namen predigen meinen Brüdern, ich will dich in der Gemeinde rühmen. Rühmet den Herrn, die ihr ihn fürchtet! Es ehre ihn in aller Same Jacobs, und vor ihm scheue sich aller Same Israels, denn er hat nicht verachtet noch verschmäht das Elend des Armen, und sein Antlitz nicht vor ihm verborgen, und da er zu ihm schrie, hörte er es. Dich will ich preisen in der großen Gemeinde; ich will meine Gelübde bezahlen vor denen, die ihn fürchten. Die Elenden sollen essen, dass sie satt -8- werden; und die nach dem Herrn fragen, werden ihn preisen; Euer Herz soll ewiglich leben. Es werde gedacht aller Welt Ende, dass sie sich zum Herrn bekehren, und vor ihm anbeten alle Geschlechter der Heiden. Denn der Herr hat ein Reich, und er herrscht unter den Heiden. Psalm 22 Gottvertrauen, zunächst aber sprichwörtlich gewordene Gottverlassenheit sind die Themen des 22. Psalms. Christen ist der Text vor allem aus der Passionsgeschichte als Gebet Christi am Kreuz bekannt. Seine Entstehung und seine sprachlichen Bilder sind aber natürlich im Kontext des jüdischen Volkes der Zeit des Alten Testamentes zu untersuchen. Vor diesem Hintergrund ist auch die Rede von den den Beter offenbar seiner Würde beraubenden „Feinden“ zu lesen und das Wort „Heiden“ wird in neueren Bibelausgaben häufig weniger diskreditierend mit „Völkern“ übersetzt. Weniger brisant, aber interessant ist das offenbare Vorhandensein von Einhörnern, die in anderen Übersetzungen aber als „Büffel“ oder auch „Nashörner“ wiedergegeben werden. Der Text ist mit großer Wahrscheinlichkeit aus mehreren Abschnitten verschiedenen zeitlichen Ursprungs zusammengefügt. Selten, aber im Alten Testament nicht ohne Beispiel ist die Beschreibung eines „ewigen Lebens“. Über die Struktur des Klagepsalmes schreibt der Bibelwissenschaftler Erich Zenger: Die Klagepsalmen sind ein Gebetsweg in der Spannung zwischen empfundener Gottverlassenheit und gesuchter Gottesnähe, der die Verwandlung des Beters bewirken will, die darin besteht, dass er sich in die innere Gewissheit hineinbetet, dass Gott – trotz allem – auf seiner Seite steht und ihn retten wird. Und dieser im Gebet vollzogene Perspektivenwechsel ist bereits der Beginn der Rettung, so dass die Klagepsalmen mit dem Dankversprechen enden, das die erflehte Rettung als bereits geschehene Rettung vorwegnimmt. Orientiert an seinem großflächigen Verlauf und ohne die vielen sprachlichen Bilder im Einzelnen auszudeuten, geht Felix Mendelssohns Vertonung diesen Gebetsweg mit. Die „Einsamkeit“ des Vorbeters geht in der Achtstimmigkeit des Doppelchores auf, klagendes e-Moll wendet sich zunächst nach G-Dur -9- („Aber Du bist heilig“) um bei der nächsten Klage („Ich aber bin ein Wurm“) reprisenartig wiederzukehren. Die körperliche und seelische Bedrängnis des Mittelteils wird in mühevoller chromatischer Aufwärtsbewegung und durch zahlreiche Leittöne stark gespannter Harmonik hörbar. Am Schluss wendet sich das Geschick endgültig, das Dankversprechen steht in strahlendem E-Dur, der Satz verläuft harmonisch konfliktarm in freudigem „Assai Animato“. Den Weg von der Klage zur Hoffnung scheint auch Johann Sebastian Bachs wahrscheinlich zwischen 1727 und 1731 Präludium und Fuge h-Moll zurückzulegen. Durch die Tonart h-Moll (von Johann Mattheson 1713 als „BIZARRE, unlustig und MELANCHOLIsch“ beschrieben) und die durch Zweiunddreißigstelnoten geprägte 6/8-Bewegung steht das Präludium der klagenden „Erbarme dich“-Arie aus Bachs Matthäuspassion nahe. Die anfängliche Linie der Oberstimme erzeugt das Bild des Abstürzens, der Orgelpunkt im Pedal das des Gebundenseins. Das Fugenthema besteht in einer kreisenden Aufwärtsbewegung, und obwohl die Tonart bis zum Schlussakkord (den Bach fast immer picardisch nach Dur aufhellt) erhalten bleibt, entsteht doch das Gefühl eines triumphierenden Schlusses. Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten. Es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du, unser Gott, alleine. Martin Luther Gib unsern Fürsten und aller Obrigkeit Fried und gut Regiment, dass wir unter ihnen ein geruhig und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit. Amen. Gebetsstrophe nach 1. Timotheus 2,2 Am Ende eines anderen großen, nämlich des Dreißigjährigen Krieges, brachte Heinrich Schütz seine „Geistliche Chormusik 1648“ heraus. In dieser Sammlung von 29 Motetten kehrt Schütz, der zuvor in Venedig den vom Generalbass und der Mehrchörigkeit geprägten „Stile moderno“ kennengelernt und - 10 - vielfach verwendet hatte, zum unbegleiteten kontrapunktischen Satz der alten Meister zurück. Gründe dafür sind wohl in den in Folge des Krieges schlechteren Aufführungsbedingungen (Mehrchörigkeit und Generalbasspraxis verlangten einen großen Aufführungsapparat) sowie in einer didaktischen Absicht Schütz' zu sehen, der meinte, dass auch jeder moderne Komponist den „Stylo ohne Basso continuum“ beherrschen müsse. Wie die meisten seiner Werke ist Verleih uns Frieden von differenzierter Textausdeutung geprägt. Besonders ohrenfällig ist die aus schnellen Tonwiederholungen bestehende und so Kriegsgeräusche nachahmende Battaglia-Figur bei der Textzeile "der für uns könnte streiten". Ebenso aktuell wie die Bitte um Frieden scheint die Hoffnung auf besonnenes Handeln einer Regierung, wie sie in der folgenden Motette Gib unsern Fürsten zum Ausdruck kommt. Der Text geht auf einen Brief des Apostels Paulus zurück. Die Vorstellung, dass Gott direkt durch eine Obrigkeit wirkt, die zur Zeit des Absolutismus als durch seine Gnade eingesetzt galt, ist heute freilich wohl vielen Menschen fremd. Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis. Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt, erbarme dich unser. Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis. Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt, erbarme dich unser. Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, dona nobis pacem Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt, gib uns deinen Frieden. Die Bitte um Frieden erklingt in jeder katholischen Messe im Agnus Dei, dem Gesang zur Brotbrechung. Das Bild von Jesus Christus (der in der zur Brotbrechung bereits konsekrierten Hostie gegenwärtig ist) als Lamm Gottes geht auf den Ausruf Johannes des Täufers zurück: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ Das den Gesang abschließende „Dona nobis Pacem“ wurde im Mittelalter ergänzt. William Byrd konnte seine lateinische Kir- 11 - chenmusik wohl nur im Rahmen heimlicher Messfeiern aufführen, da der Katholizismus im England des ausgehenden 16. Jahrhunderts unter Elisabeth I. verboten war. Inwieweit Byrd während der englichen durchaus auch gewalttätigen Katholikenverfolgung um sein Wohlergehen zu fürchten hatte oder doch durch einflussreiche Gönner beschützt wurde, kann hier nicht im Einzelnen dargelegt werden. Jedenfalls blieb er auch ohne Konversion ein erfolgreicher und geachteter Komponist. Seine Friedensbitte scheint indes unter der glatten Oberfläche des Kontrapunktes Palestrinascher Prägung eine dringliche gewesen zu sein. Peace I leave with you. My peace I give unto you: Not as the world giveth, Give I unto you, Let not your heart be troubled, Neither let it be afraid. Den Frieden lasse ich euch, Meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, Wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht Und fürchte sich nicht. Joh. 14,27 "Meinen Frieden gebe ich euch": Jesu Antwort und Zusage auf unsere Friedensbitten entstammt den sogenannten Abschiedsreden aus dem Johannesevangelium, die Christus kurz vor seiner Verhaftung seinen Jüngern tröstend zuspricht. Peace I leave with you ist die zweite von drei Motetten aus dem Jahr 1957 des vor 100 Jahren geborenen und im letzten Jahr verstorbenen norwegischen Komponisten Knut Nystedt. Er gilt als einer der wichtigsten Chorkomponisten des 20. Jahrhunderts. Mit der Auswahl seiner vertonten Texte setzte er sich immer wieder bewusst gegen Krieg und Unterdrückung ein. Als praktizierender Chorleiter verstand er es, in seinen Vokalkompositionen kompositorische Mittel der Moderne einzusetzen, ohne dabei die Ausführbarkeit zu gefährden. Sein Stil darf vielleicht als harmonisch gemäßigt und traditionsverbunden beschrieben werden, die Ökonomie der Mittel und die sorgsam ausgehörten Harmonien lassen seine Werke dabei jedoch weder spröde noch sentimental klingen. „Ein Gebet ist keine Klage, sondern ein Tornado, der alles, was sich ihm in den Weg stellt, hinwegfegt…Wenn man am Ende nicht völlig erschöpft ist, - 12 - hat man das Stück weder richtig verstanden, noch so gespielt, wie ich es mir vorstelle.“ Dies schrieb Jehan Alain in einem Brief über seine Litanies, die ihre Uraufführung im Jahr 1938 erlebten. Alain musste zu dieser Zeit eine Fehlgeburt seiner Frau und den Tod seiner Schwester Marie-Odile bei einem Bergunfall verarbeiten. Über den Noten steht folgender Text, der weiteren Aufschluss über die emotionale Intention der Musik gibt. Wenn die christliche Seele in ihrer Verzweiflung keine Worte mehr findet, um die Barmherzigkeit Gottes zu erflehen, so wiederholt sie in ungestümem Glauben unaufhörlich das gleiche Bittgebet. Die Vernunft erreicht ihre Grenze. Der Glaube, ganz allein, setzt seinen Aufstieg weiter fort. Jehan Alain fiel als Soldat am 20. Juni 1940 in einer Schlacht bei Saumur. Fürchte dich nicht, ich bin bei dir; weiche nicht, denn ich bin dein Gott! Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich erhalte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit. Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöset; ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein! Jesaja 41,10 / 43,1 Choral: Herr, mein Hirt, Brunn aller Freuden, du bist mein, ich bin dein niemand kann uns scheiden. Ich bin dein, weil du dein Leben und dein Blut mir zu gut den Tod gegeben. Du bist mein, weil ich dich fasse und dich nicht, o mein Licht, aus dem Herzen lasse! - 13 - Laß mich hingelangen, da du mich und ich dich lieblich werd umfangen Paul Gerhardt Die durch vielfache Wiederholung so insistierend wirkende Bitte in Alains Litanies erhält ihre Antwort und Entsprechung in den Wiederholungen des „Fürchte dich nicht“ in Johann Sebastian Bachs Motette. Entstanden ist sie für eine Trauerfeier unbekannten Anlasses möglicherweise in den 1720er Jahren. Textliche Grundlage sind Verse aus dem zweiten Teil des Jesajabuches, hinter dem wahrscheinlich ein anonymer Prophet (Deuterojesaja) als Urheber steht. Diese Texte sind wie die Klagelieder Jeremiae mit dem Babylonischen Exil in Verbindung zu bringen. Der erste Teil der Komposition, der mit 77 Takten genau gleich lang ist wie der zweite, ist von doppelchöriger Satzstruktur geprägt. Es entsteht der Eindruck, die beiden Chöre riefen sich das „Fürchte dich nicht“ zu wie im Versuch, einander zu übertrumpfen, oder, an achtstimmigen, also gleichzeitig deklamierten Stellen, eilten einander (ganz im Sinne des Textes) zu Hilfe. Der zweite Teil der Motette ist nunmehr vierstimmig, wobei die drei Unterstimmen in einer komplizierten polyphonen und von chromatischen Linien geprägten Struktur den Jesaja-Text fortsetzen. Dazu treten im Sopran zwei Strophen des Paul-Gerhardt-Liedes „Warum sollt ich mich denn grämen“, deren Choralzeilen durch längere Pausen unterbrochen werden, in denen sich der Kontrapunkt der Unterstimmen fortsetzt. Diese Form der Choralbearbeitung geht auf die sogenannte Thüringische Bibelspruchmotette zurück. Bindeglied der beiden Texte ist das „du bist mein!“, das von Bach folgerichtig auch kompositorisch gegenübergestellt wird. Den Beschluss der Motette bildet eine musikalische und textliche Reprise des Anfangs, die dadurch besonders sinnfällig wird, dass sich auch im Jesaja-Text das „Fürchte dich nicht“ an verschiedenen Stellen wiederholt. In den letzten vier Takten ist dem Bass des ersten Chores die Tonfolge G-Fis-A-Gis anvertraut, die um eine kleine Terz höher transponiert die Töne B-A-C-H ergibt und so als musikalische Signatur angesehen werden kann. Jorin Sandau - 14 - INTERPRETEN Der Organist und Komponist Maximilian Schnaus wurde 1986 im fränkischen Bad Neustadt geboren. Nach erstem Orgelund Kompositionsunterricht bei Friedemann Haeßler und Stephan Adam studierte er Kirchenmusik und Orgel in Hannover und Amsterdam, u.a. bei Pier Damiano Peretti und Jacques von Oortmerssen, und erhielt Stipendien der YehudiMenuhin-Stiftung und der Studienstiftung des deutschen Volkes. Im Februar 2014 legte er in der Klasse von Leo van Doeselaar an der UdK Berlin sein Konzertexamen mit Auszeichnung ab. Verschiedene Werke von ihm wurden von namhaften Künstlern und Ensembles uraufgeführt, und bei Kompositionswettbewerben im In- und Ausland ausgezeichnet, u.a. erhielt er 2013 den Paul-Hindemith-Preis des Schleswig-Holstein-Musikfestivals. Seit 2013 ist er Organist der Sophienkirche in Berlin-Mitte. Das Vocalensemble Darmstadt wurde 1995 von Andreas Boltz gegründet. Seit November 2011 liegt die Leitung in den Händen von Jorin Sandau. Die Sängerinnen und Sänger kommen zwei- bis dreimal im Jahr aus der ganzen Region zu Probenphasen zusammen. Außer der A-cappella-Musik des 16. bis 20. Jahrhunderts widmet sich der Chor auch größeren Werken wie Duruflés "Requiem" Bachs "Johannes-/Matthäuspassion" und "Messe h-Moll" (2000) Brahms' "Ein deutsches Requiem" Monteverdis "Marienvesper" Händels „Messiah“, "Israel in Egypt" und "Belshazzar" Mozarts „Requiem“ Bruckners "Messe e-Moll" Charpentiers "Messe de Minuit" und "Te Deum" Mendelssohns "Elias" - 15 - Besondere Aufmerksamkeit erfährt das Vocalensemble Darmstadt mit Programmkonzepten, die ausgewählte A-cappella-Werke einer bestimmten Thematik oder Stilistik miteinander vereinen. Dies waren zum Beispiel: "Crucifixus" - Passionsmusik "Canticum canticorum" - Vertonungen des Hohelieds der Liebe "Ecce“ – Werke zu Verkündigung und Passion Die CD-Einspielungen "Creator Spiritus", "Swinging Christmas", "Heiligste Nacht" und die Produktion der "Messe op. 4" von Camille Saint-Saëns für den Motette-Verlag Düsseldorf, sowie Aufnahmen für den Hessischen und Bayerischen Rundfunk und den Südwestrundfunk haben den Chor auch überregional bekannt gemacht. - 16 - Jorin Sandau schloss die Studiengänge Kirchenmusik A, Historische Interpretationspraxis und Künstlerisches Orgelspiel an der HfMDK Frankfurt ab. Er erzielte Bestnoten in allen Hauptfächern und eine Auszeichnung im Fach Orgelimprovisation. Seine Lehrer waren Martin Lücker (Orgel), Harald Hoeren (Cembalo), Winfried Toll und Uwe Sandner (Dirigieren), Gerd Wachowski und Peter Reulein (Improvisation) sowie Christoph Spendel (Jazzpiano). Ein Erasmus-Stipendium ermöglichte ihm einen Auslandsaufenthalt in der Orgelklasse von Jacques van Oortmerssen am Conservatorium von Amsterdam. Weiteren Unterricht und Kurse besuchte er u.a. bei Harald Vogel, Jean-Claude Zehnder, Ludger Lohmann und Wolfgang Seifen (Orgel und Improvisation) sowie Petra Müllejans, Michael Schneider und Barthold Kuijken (Kammermusik). Jorin Sandau war Stipendiat des Fördervereins Bad Homburger Schloss. Beim Orgelwettbewerb des Fugato-Festivals 2010 gewann er den zweiten Preis. Solokonzerte führten ihn in die Katharinenkirche Frankfurt, zum Wetzlarer Bachfest und auf das Festival Praia a Mare (Italien). Gemeinsam mit dem Main-Kammerorchester und der Kurpfalzphilharmonie interpretierte er Orgelkonzerte von Händel, Haydn, Poulenc und Guilmant. 2010/2011 war Jorin Sandau Assistent des Regionalkantors Gregor Knop an der Kirche St. Georg und der Kindersingschule in Bensheim. Seit 2011 ist er als Regionalkantor für die Dekanate Darmstadt, Dieburg und Erbach mit Dienstsitz an der Innenstadtkirche St. Ludwig Darmstadt tätig. Dort konzertiert er regelmäßig an der Winterhalter-Orgel und führt mit dem Vocalensemble Darmstadt anspruchsvolle A-cappella-Programme und Oratorien auf. - 17 - FÖRDERER Um weiterhin Konzerte mit erstklassigen Musikern durchführen zu können, ist dem Vocalensemble Darmstadt ein Förderverein angeschlossen, der die Projekte organisatorisch und finanziell unterstützt. Außerdem freuen wir uns über das Interesse erfahrener Sänger mit Lust am eigenverantwortlichen Ensemblesingen. Machen Sie mit! Informationen zur Fördermitgliedschaft oder zur aktiven Teilnahme an unseren Projekten erhalten Sie auf den ausliegenden separaten Flyern. Natürlich können Sie uns für alle Fragen auch ansprechen. Förderverein Vocalensemble Darmstadt e.V. Wilhelminenplatz 9 64283 Darmstadt 06151-996816 [email protected] www.vocalensemble-darmstadt.de Anzeige - 18 - - 19 - VORSCHAU Konzerte 2015 in der Innenstadtkirche St. Ludwig Darmstadt (Auswahl) Freitag 22. Mai 2015 | 19.00 Uhr „Solang noch Morgenwinde wehn…“ Orgelsoirée mit Stefan Mann (Eberstadt) Werke von Widor und Improvisationen Freitag 18. September | 20.00 Uhr Orgelnacht "10 Jahre Winterhalter-Orgel" Andreas Boltz, Wolfgang Seifen & Jorin Sandau, Orgel Franz Stüber, Saxophon Samstag 28. November 2015 | 18.00 Uhr Adventskonzert Johann Sebastian Bach: 3. Orchestersuite - Magnificat – Sanctus & Benedictus aus der h-MollMesse – Kantate „Nun komm der Heiden Heiland" Simone Schwark | Katharina Roß Christian Dietz | Stefan Grunwald Vocalensemble Darmstadt Churpfälzische Hofcapelle Jorin Sandau, Leitung Nächstes Konzert in St. Bonifaz Mainz Montag 25. Mai 2015 | 19.00 Uhr mainzer orgel komplet Werke der französischen Orgelromantik Geraldine Groenendijk (Frankfurt) - 20 -
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