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Bereicherung für Ost und West
Das freiwillige soziale Jahr im Ausland ist oft der Anfang für ein lebenslanges Engagement im sozialen Bereich
Für ein Jahr ins Ausland zu gehen, ist der Traum vieler Jugendlicher. Für manche geht dieser Traum in Erfüllung.
Von den rund 13.200 jungen Menschen, die einen sechs- bis 18-monatigen freiwilligen Dienst im sozialen,
ökologischen oder kulturellen Bereich leisten, gehen rund 500 pro Jahr ins Ausland.
„Das war einer der besten Entschlüsse meines Lebens“, sagt Julia Müller rückblickend. Die 20-Jährige war
für ein Jahr in England. In Westerham, hat sie in einer Internatsschule für körperlich behinderte Kinder und
Jugendliche gearbeitet. Trotz der anstrengenden Arbeit hat sie ihren Entschluss nicht bereut. Fasziniert hat sie
vor allem die Energie und Lebensfreude der an Muskelschwund erkrankten Kinder und Jugendlichen. „Obwohl
sie genau wussten, dass sie nur noch wenige Jahre zu leben haben, strahlten sie pure Lebenslust aus“, sagt
Julia. Das hat sie tief beeindruckt.
Ähnlich erging es Ina Jähne, die ihr freiwilliges soziales Jahr (FSJ) ebenfalls in Südengland in einer Schule für
blinde und geistig bzw. körperlich behinderte Kinder absolvierte. „Die Arbeit mit Behinderten war definitiv eine
große Bereicherung“, sagt sie. Und durch die Arbeit mit Blinden habe sie ihre Gesundheit mehr zu schätzen
gelernt. Seit dem Freiwilligendienst hat Ina nach eigener Einschätzung mehr Geduld und macht „aus kleinen
Problemen keine großen mehr“.
Frankreich und Großbritannien sind die Haupteinsatzländer des FSJ, gefolgt von Polen, Russland und Irland.
Finanziell sind die Teilnehmer/innen im Ausland mit ca. 120 Euro im Schnitt um ein Drittel schlechter gestellt als
diejenigen, die ein freiwilliges Jahr in Deutschland absolvieren. Dennoch sind 60 Prozent laut einer Umfrage mit
ihrer finanziellen Situation zufrieden oder sehr zufrieden. Die Entscheidung für einen sozialen Dienst im Ausland
basiert meist auf verschiedenen Motivationen wie z.B. Hilfsbereitschaft, Verbesserung der Sprachkenntnisse,
Einblick in fremde Kulturen, Überbrückung der Zeit bis zum Berufs- bzw. Studienantritt oder Anerkennung der
Tätigkeit als Praktikum für die weitere Ausbildung.
Sara Polat, die inzwischen Sozialpädagogik studiert, wird ihr soziales Jahr als Vorpraktikum anerkannt. Sie hat
in Preston (Nordengland) im Haushalt von vier schwer geistig behinderten Frauen gearbeitet. Nach anfänglichen
Verständigungsproblemen („Die Engländer sind auf eine andere Art und Weise direkter als die Deutschen.“) hat
Sara dort nicht nur Arbeitskollegen, sondern „Freunde und Beistand“ gefunden.
So ging es auch Ina Jähne. In die Schule in Sevenoaks in der Nähe von London wurde sie sehr schnell integriert.
Sie half den behinderten Kindern beim Lösen von Schulaufgaben und bei der Körperpflege und den blinden
Kindern, sich selbständig in der Schule zurechtzufinden. Außerdem war sie einmal wöchentlich im Kindergarten.
Dort erlebte sie den Tod eines Vierjährigen, der aufgrund seiner schweren Behinderung kurz nach Weihnachten
starb. „Das warf in mir einige grundsätzliche Fragen auf“, erinnert sich Ina. „Aber auch diese Erfahrung war eine
Bereicherung!“
Obwohl Ina Jähne keinen sozialen Beruf ergreifen wird (sie studiert Japanologie mit Recht und Soziologie
im Nebenfach), will sie auch künftig dem sozialen Dienst erhalten bleiben. Darüber freut sich Hejo Held,
Referent Freiwilligendienst beim DRK. „Wir haben natürlich die Hoffnung, dass die Jugendlichen auch nach
dem freiwilligen sozialen Jahr gesellschaftliche Verantwortung übernehmen“, räumt er ein. Im Vordergrund steht
jedoch die Bildungsmöglichkeit für die Freiwilligen. Seit 1995 bietet das DRK das FSJ in England an. Bis zu
500 Bewerbungen erhält Hejo Held jedes Jahr für bis zu 30 Auslandsplätze. Seit 2002 bietet das DRK die
Möglichkeit, ein freiwilliges soziales Jahr in der Ukraine oder in Rumänien zu absolvieren. Das FSJ in England
musste aus sozialversicherungsrechtlichen Gründen ausgesetzt werden.
Bei den Freiwilligendiensten im Ausland macht sich laut Hejo Held deutlich die Ost-West-Tendenz bemerkbar.
Während junge Osteuropäer sehr aufgeschlossen für den sozialen Dienst im Westen sind, kamen aus England
in den letzten Jahren jeweils nur vier oder fünf Freiwillige nach Deutschland.
Den „Drang in den Westen“ kann Gebhard Ruess, pädagogischer Leiter der Initiative Christen für Europa
(ICE), bestätigen. Die Initiative ist Träger des freiwilligen sozialen Jahres in Belgien, Estland, Frankreich,
Großbritannien, Italien, Litauen, Niederlande, Polen, Rumänien, Russland, Schweden, Slowakei, Tschechien,
Ukraine und Ungarn.
Nach Ruess’ Erfahrung ist es immens wichtig, die Bewerber aus den osteuropäischen Ländern eingehend
aufzuklären. „Wer nach Deutschland kommen will, um viel Geld zu verdienen, ist bei uns an der falschen
Adresse“, sagt Ruess, „das soziale Engagement muss da sein.“ Dann können die Jugendlichen eine große
Bereicherung für die Aufnahmestellen in Deutschland sein.
Auf umgekehrtem Weg verhält es sich genauso. Die Mehrheit der deutschen Jugendlichen will zunächst ein FSJ
im westlichen Ausland ableisten. Nach einem Orientierungsseminar des ICE, bei dem die einzelnen Projekte
der unterschiedlichen Länder vorgestellt werden, sind dann allerdings viele bereit, in den Osten zu gehen. „Sie
merken, dass die Sinnhaftigkeit eines sozialen Dienstes im Osten mindestens genauso hoch ist wie im Westen“,
sagt Ruess. Die Sterberate behinderter Kinder in Russland wäre beispielsweise effektiv höher, wenn keine
Freiwilligen dort Dienst machen würden.
Weit über die Hälfte der Freiwilligen hat sich durch das soziale Jahr in ihrer Berufsentscheidung beeinflussen
lassen. Das geht aus den Fragebögen hervor, die Teilnehmer/innen des ICE zu Beginn, während und nach
Beendigung des Sozialdienstes ausfüllen. Auf Julia Müller trifft dies auch zu. Sie studiert inzwischen Lehramt
für Englisch und Religion in Paderborn. „Das hätte ich mir vorher nie vorstellen können“, sagt sie. In den
Semesterferien will sie weiterhin in sozialen Projekten mitarbeiten. Sie ist, wie so viele andere ehemalige FSJler/innen „infiziert“ vom Virus, anderen zu helfen.
Das freiwillige soziale Jahr im Ausland wird vom Bund bzw. von der Europäischen Union finanziell unterstützt
und ist an genaue rechtliche Vorgaben gebunden. Die meisten Träger setzen ein Mindestalter von 18 Jahren
voraus. Das Höchstalter beträgt 27 Jahre. Besonders im Bereich der Sozialversicherung bietet das FSJ noch
gewisse Vorteile z.B. im Vergleich zum „Europäischen Freiwilligendienst (EVS)“.
Beim FSJ im Ausland muss es sich laut Gesetzgeber um eine ganztägig geleistete Tätigkeit handeln; eine
pädagogische Seminarbegleitung durch die Träger muss gegeben sein; Unterkunft, Verpflegung, Arbeitskleidung
und angemessenes Taschengeld müssen gewährt werden und der Hauptsitz des Trägers muss im Inland sein.
Vor allem die letzte Einschränkung lässt nur wenige potenzielle Einrichtungen zu, die sich oft auf wenige
Länder „spezialisiert“ haben. So bietet beispielsweise die Arbeiterwohlfahrt ein FSJ in Frankreich an. Hier sind
Grundkenntnisse der französischen Sprache unbedingt erforderlich. Dies ist bei anderen Projekten meist keine
Bedingung. Neben den bereits genannten Trägern hat der Internationale Bund ein FSJ-Projekt in Italien, die
Jesuit European Volunteers (JEV) setzen Freiwillige in Belgien, Bosnien, Mexiko, Österreich und Rumänien ein.
Und das Jugendaufbauwerk Berlin bietet ein FSJ in Russland an.
Die meisten der Jugendlichen, die einen Auslandsdienst absolvieren, sind laut Statistik weiblich, haben Abitur
und kommen aus einer Großstadt. Doch das FSJ bietet auch älteren Bewerberinnen und Bewerbern ohne Abitur
gute Chancen. Um sozial benachteilige Jugendliche über die Möglichkeiten eines freiwilligen sozialen Jahres
im Ausland zu informieren, haben erst kürzlich vier ehemalige Teilnehmerinnen des FSJ beim DRK in Hamburg
eine Beratungsstelle ([email protected]) gegründet. Sie wollen auch junge Männer ermutigen, sich für
ein soziales Jahr zu bewerben.
„Alles in allem glaube ich, dass mich das Jahr selbständiger und in meinem Selbstbewusstsein stärker gemacht
hat“, fasst Nora Mandel (21) die Erfahrungen ihres sozialen Jahres in England zusammen. „Ich würde jedem
empfehlen, solch ein Jahr zu absolvieren.“