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Zwischen ch ·n und Sein
Die Kunst der Propaganda: David Kings Bildband "Roter Stern über Russland" / Von Claudia Falk
Seit 20 Jahren 1st die Sowjetunion Ge­
schichte.Historische Abhandlungen über
di ese besondere Epoche hat es davor und
danach immer wieder gegeben. Mit sei­
nem Bildband "Roter Stern über Russ­
land" fügl deT britische Fo tojourn.alist
David King nun jedoch ein Werk hinzu,
das neue Wege geht. Seine visuelle Auf­
bereitung ist quasi umfassend - und kaIUl
so den Blick auch iür unbekanntere As­
pekte der Hi torie öffnen.
Über Jahrzehnte bat der ehemalige
Leiter des Kunstressorts beim "Sunday
Times Magazine" dokumentarische und
künstlerische Zeugnisse zusammenge­
tTagen, die die Geschichte der Sowjet­
union bis zum Tod Stalins belegen. Aus­
löser für seine Sammelwut wurde die Su­
che nach Abbildungen Leo Trotzkis, der
ab 1925 auf Geheiß Stalins aus allen of­
fiziellenDokumenten und damit aus dem
sowjetischen Bildgedächtnis getilgt wor­
den war.King forschte nach und legte da­
mit den Grundstein zu einer der größten
Sammlungen russischer revolutionärer
Kunst, deren Entstehung er ebenso wie
seinen persönlichen Bezug zum Th ma in
der Einleitung episodenhafl schildert.
Die Bandbreite seines Schatzes reicht
von Flugblättern über Plakate bi hin zu
Fotograben jeglicher Art: In Buchform
stehen sie gleichberechtigt nebeneinan­
der, stets versehen mit einem kundigen
Kommentar . Chronologisch und zugleich
kaleidoskopartig gibt King Einblick, in­
dem er nicht nur die Ereignisse der Re­
volution und ihre Folgen vernlitielt , son­
dern auch zeigt, wie Agitprop im Kampf
um eine neue Gesellschaftsordnung ein­
gesetzt wurde. Mit dem Anspruch, durch
visuelle Reize revolution äre Inhalte für
alle ansprechend zu machen, entstand ei­
n~ ideologische Kunst, die sich klar an
Zielgruppen wie Frauen, Arbeiter oder
Muslime wenden konnte.
Getreu dem Motto "Die Kunst muss
überall sein" fuhren rundum plakatierte
Agitpropruge (und ein Schilf) mit in­
tegrierten Kinos, Buchhandlungen sowie
Funkstationen dill'ch Russland, um po­
litisch auf die Massen einzuwirken . Ne­
ben solchen Phänomenen klärt King auch
über die Herkunft des Hammer-und-Si­
_ chel-Designs a uf (es stammt von ein er
chilemschen I-Pesos-Mi.inze und prä­
sentiert Persönlichkeiten wie etwa Ana­
toli Lunartscharski, der die Alpbabeti­
sienmg der Bevölkerung erreichte, oder
Clare Sheridan, Nichte Chul-chills und
Bildh auerin, die die führenden bolsche ­
wikischen Köpfe als Büsten modellierte.
Dazwischen finden sich Bilder von
Hungersnöten, Cholera und Krieg, kom ­
munistischer Kinoreklame, Textilent­
würfen und Zahnpastawerbung: Alltag in
der Sowjetrepublik und mehr als einmal
Darstellungen, die unter die Haut gehen .
Wenn die Symbolsprache der Propa ­
ganda und dokumentarische Fotografien
Propaganda karin ästhetisch auc h se hr ansprechen d sein : Dieses Plakat von Josif Gerasimo­
wit sch warb für den Stummf ilm " Die dritte Frau des Mu ll ahs" , gedreht wurde er 1928. Re- - - - -­
gle füh rte- Wjatsche~ldw Wiskow~k l In Len lngrad . Der Film kritiSierte die Unterdrückung der
Frauen im Osten. Erist nicht erhalten geb lieben. Repro : RNZ
n beneinanderstehen, verdeutlicht Kings
vielfältiger lliInd die Wilierspriiche d r
Sowjetunion ganz ohne Worte. So lässt
sich ein Zwiespalt ablesen zwischen pro­
pagiertem Schein und realem Sein, der bis
heute die mediale Inszenierung totalitä ­
rer Systeme prägt.
Dieser visuelle Überblick spricht da­
rum nicht nur Geschichtskenner an, son­
dern dürfte auch für andere Neugierige
interessant sein, denn die Sammlung hilft,
die Vergangenheit Russlands zu illust­
rieren und ru ft zugleich Mechanismen der
MachtauslIl'lung" -im Gedächtnis, die
nachwirken. Wie prägend die Zeit zwi­
schen 1917 und 1953 für Kunst, Pqlitik
und Leben war, beweist dieses bilden­
zyklopädische Werk auf anschauliche und
sehr spannen de Weise.
CD Info: David King: "Roter Stern über
Russland" . Mehring Verlag, Essen
2010. 352 Seiten mit zahlreichen Ab­
bildungen, 39,90 Euro.