Stückemarkt-Broschüre 2015

Stückemarkt 2015
Hose Fahrrad Frau
Der Staat / The State
TALKING STRAIGHT Festival
Zersplittert
Another great year for fishing
Inhalt
2
Einführung
4
Grußworte
6
Scheiße, was ist denn mit den Typen los? Über die diesjährige Auswahl
8
Die Jury
10
Stückemarkt I: Stefan Wipplinger, „Hose Fahrrad Frau“
12
Stückemarkt II: Alexander Manuiloff, „Der Staat / The State“
14
Stückemarkt III: Daniel Cremer/TALKING STRAIGHT
„TALKING STRAIGHT Festival“
16
Stückemarkt IV: Alexandra Badea, „Zersplittert“
18
Stückemarkt V: Tom Struyf, „Another great year for fishing“
20
Gespräche und Workshops
21
Stückemarkt Revisited: Chris Thorpe, „Confirmation“
22
Leseproben
Flaschenpost für die Zukunft
Die neue Dramatik in all ihren Facetten prägt in diesem Jahr
das Theatertreffen. Man könnte sagen: Sie ist endlich dort
angekommen. Eine Auswahl mit so vielen lebenden Autor*innen gab es noch nie, und es konnte auch noch kein Jahrgang
eine größere Vielfalt an Textformen vorweisen.
2
Die Suche nach zukunftsweisenden Autor*innen, ihren Stücken
und ihren individuellen Schreibweisen bleibt Auftrag des
Stückemarkts. Gleichzeitig stellen wir dabei grundsätzliche
Fragen nach innovativen Formen der Autor*innen- und
Urheber*innenschaft im Theater: Wer ist überhaupt der/die
Autor*in eines Stückes? Ab wann ist ein Stück ein Stück?
Wer ist an seiner Entstehung beteiligt, wer füllt es mit Leben
und bringt es zur Erscheinung? Und wie wirkt sich die Form
der Autor*innenschaft auf die Theatertexte aus?
2012 hat der Stückemarkt einen Prozess der Öffnung begonnen,
um die Vielfalt zeitgenössischen Schreibens für das Theater
zu fördern und insbesondere Theatersprachen zu entdecken,
die sich noch nicht unter den Begriffen Autor*innenschaft
und Stück durchgesetzt haben. Denn als unabhängiger Wettbewerb für neue Stücke kann der Stückemarkt frei von den
Produktionszwängen des Betriebs ausprobieren, zur Diskussion
stellen und seinen Blick in Richtungen lenken, die abenteuerlustig, visionär und vielleicht ein bisschen größenwahnsinnig
sind – frei mit Heiner Müller gesprochen: eine Flaschenpost
an die Zukunft schicken.
2015 zeigen wir neue Stücke – Theatertexte, Text- und Sprachentwicklungen –, die auf unterschiedliche Weise entstanden
sind, vereinfacht gesagt: am Schreibtisch (Stefan Wipplinger),
durch Recherche (Alexandra Badea), während des Probenprozesses (Tom Struyf), durch die Performance selbst (Daniel
Cremer) oder aus einer Mischung aller Vorgehensweisen
(Alexander Manuiloff). Die Notationsformen der Stücke sind
aufgrund des Zeitpunkts ihrer Fixierung sehr unterschiedlich
und fallen auch nicht alle in die Kategorien „geschriebenes
Wort auf Papier“ oder „nachspielbar“. Die Gemeinsamkeit
der Stücke besteht vielmehr darin, dass ihre Autor*innen die
Urheber*innen des in der Inszenierung „gesprochenen“ Wortes
sind. Die Auswahl des Stückemarktes zeigt in diesem Jahr eine
experimentierfreudige Generation neuer Autor*innen, die
völlig selbstverständlich mit vielfältigen Formen, Sprachen
und Mitteln umgeht. Viel wichtiger als die kategorische Frage
danach, wer wie warum Autor*in ist oder nicht ist, erscheint
uns die Bedeutung einer bewussten Wahl von Formen, Mitteln
und Prozessen des Erzählens für das Theater selbst. Das Bewusstsein über diese Wahl, welches die Stückemarkt-Autor*innen
in besonderem Maße zeigen, fasziniert an ihren Arbeiten. Es
zeigt sich bei jedem der ausgewählten Stücke ein praktisches
Wissen darum, dass das Medium bereits die Botschaft ist – dass
die Frage nach der Form der Autor*innen- und Urheber*innenschaft nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine
politische ist. Die Autor*innen entwickeln Strategien, die
auch die Verfasstheit der Kunst selbst und deren politisches
Potential in den Fokus rücken.
Christina Zintl
Dramaturgin Theatertreffen / Stückemarkt
Der Stückemarkt wird gefördert durch die Heinz und Heide Dürr Stiftung und
die Karl Schlecht Stiftung. Er findet in Kooperation mit der Bundeszentrale für
politische Bildung statt.
3
Der Stückemarkt soll ein Labor sein, das diese Tendenzen untersucht, und in dem ein Austausch zwischen den Autor*innen,
anderen Künstler*innen, Vermittler*innen und dem Publikum
entstehen kann. Der Diskurs, die Vernetzung und das Prozesshafte sind hierbei genauso wichtig wie die Präsentation des
Fertigen. Deshalb laden wir Sie zu vielfältigen Begegnungen
mit den Autor*Innen ein – in szenischen Lesungen, Gastspielen,
Workshops und Gesprächen.
Grußwort
Gemeinsam mit dem Stückemarkt des Theatertreffens
haben wir uns die Förderung unentdeckter Autoren
und neuer Stücke zur Aufgabe gemacht. Ein schöner
Erfolg für unsere Arbeit ist es daher, dass in diesem
Jahr der ehemalige Stückemarkt-Autor Wolfram Lotz
mit seinem Stück „Die lächerliche Finsternis“ neben
der prominentesten Autorin des Stückemarkts, nämlich Elfriede Jelinek, in die Zehnerauswahl des Theatertreffens eingeladen wurde.
4
Der Stückemarkt ist den Autoren und der Suche nach
starken Texten treu geblieben. Wir freuen uns auf
einen Jahrgang mit ganz unterschiedlichen Autoren,
starken Stoffen und mutigen Ansätzen. Den vielen
interessanten Vorstellungen, dem Austausch und
den Diskussionen blicken wir gespannt entgegen.
Die Heinz und Heide Dürr Stiftung unterstützt die
Entwicklungen des Stückemarkts seit 2009, seit
dem Jubiläumsjahr 2013 gemeinsam mit der Karl
Schlecht Stiftung. Dabei haben wir uns viele Fragen
gestellt und oft genug unerwartete und überraschende
Antworten erhalten. Deshalb freuen wir uns, dass
der Stückemarkt auch in diesem Jahr mit frischem
Blick wichtige Debatten eröffnet: wie Stücke entstehen,
was für Formen der Autorschaft es geben kann, wie
es mit dem Stückmarkt weiter gehen soll.
Wir sind als Förderer gerne mit dabei und wünschen
Ihnen für den Stückemarkt 2015 Überraschungen,
aufregende Fragen und viele neue Antworten.
Heinz und Heide Dürr
Dr. Katrin Schlecht
Förderer des Stückemarkts
Grußwort
„Es ist unmöglich, Staub aufzuwirbeln, ohne dass einige Leute husten.“
Erwin Piscator
Das Theater ist seit jeher ein Ort, an dem brisante zeitgenössische Fragen
verhandelt werden, die den einzelnen Menschen, die Gesellschaft und die Politik
betreffen. Bis heute versteht sich das Theater in dieser Weise: als ein Forum, in
dem aktuelle Themen, die den Leuten unter den Nägeln brennen, reflektiert
und Bedürfnisse, Wünsche und Ängste der Gesellschaft offen gelegt werden.
Um seinen hohen Stellenwert zu behaupten, braucht das Theater auch zeitgenössische Autorinnen und Autoren, die politische und gesellschaftliche Themen
auf außergewöhnliche Art erfahrbar machen, die neue Formen der Autorschaft
erproben und innovative Theatersprachen entwickeln. Der Stückemarkt 2015
möchte dem Publikum das Spektrum aktuellen Szenischen Schreibens vorstellen.
Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb unterstützt den Stückemarkt
der Berliner Festspiele seit vielen Jahren und ist immer wieder gespannt auf die
Impulse, die von ihm ausgehen.
Thomas Krüger
Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung
5
Damit das Theater seine gesellschaftliche Relevanz auch zukünftig aufrechterhalten kann, muss es das Ohr am Puls der Zeit haben und auf die sich stetig
wandelnde Gegenwart adäquat reagieren. Wachsende globale Konflikte und
soziale Ungleichheiten beschäftigen die Menschen zunehmend und führen in
großen Teilen zu Verunsicherungen. Die digitale Revolution, die wir augenblicklich
erleben, verändert in atemberaubender Geschwindigkeit sämtliche Lebensbereiche grundlegend: unsere Arbeit, unser Freizeitverhalten, auch unsere
Produktions-, Denk- und Rezeptionsweisen. Um als zentraler Reflexionsraum
unserer Gesellschaft bestehen zu bleiben, muss das Theater diese Umbrüche
miteinbeziehen. Es muss sich mit den veränderten Lebensbedingungen und
Verhaltensweisen auseinandersetzen und daraus neue künstlerische Darstellungsweisen entwickeln.
Scheiße, was ist denn mit den Typen los?
6
Unter Pop-Soziologen gibt es neuerdings ein – so finde ich – sehr smartes
Konzept: das sogenannte „Massenoriginal“. Der Begriff beschreibt das
hinlänglich bekannte Phänomen, dass
der Kulturmensch sich immer dann
am originellsten fühlt, wenn er genau
das tut oder gut findet, was alle anderen
auch tun und gut finden. Denken wir
ans Pete-Doherty-Hütchen: Mitte der
Nullerjahre tauchte das Mini-Ding
plötzlich auf allen Köpfen auf, trotz
seiner kaum zu übertreffenden Lächerlichkeit. Und genauso schnell war es
auch wieder weg.
Was bei Hütchen Form und Farbe, ist
bei Theaterstücken Sound und sogenannter „Entstehungsprozess“. Als ich
in den 1990ern nach Berlin kam, war
gerade die neue englische Dramatik
en vogue: schnell getimte, gewalttätige, naturalistische Stücke, die – so sagte
man – „filmisch“ seien. Etwas später
trat die gute alte Postdramatik, die man
bereits Anfang der 1990er abgeschrieben hatte, in der Person von René
Pollesch zu ihrem letzten strahlenden
Lauf an. Ein, zwei Saisons später erwachte urplötzlich das dokumentarische Theater aus seinem Dornröschenschlaf, und etwa gleichzeitig wurde
das „Kollektiv“, gerade noch als Höhepunkt kleinbürgerlicher Verschnarchtheit verspottet, wieder salonfähig.
So ging es weiter bis zum heutigen Tag,
Saison für Saison. Und kaum trat ein
neues Format auf den Plan, war das
Massenoriginal nicht weit. Ob „postmigrantisches Theater“, „theatrale
Ausstellung“ oder „neue Ernsthaftigkeit“: Jeder Theaterjahrgang hat sein
Pete-Doherty-Hütchen, das sich alle
Dramaturgien, Preisjurys, Feuilletonredaktionen und Schreibschulen wie
auf geheimen Führerbefehl aufsetzen.
Als ich letzten Winter in die diesjährige
Jury des Stückemarkts eingeladen
wurde, fragte ich mich: Was ist dieses
Jahr das große Ding? Das neo-postdramatische Schwurbel-Ungetüm?
Das postironische Berliner BohèmeStück? Der politisch engagierte Fußgängerzonen-Exhibitionismus? Das neue
Volksstück? Das bürokratisch durchgetaktete Well-Made-Play? Okay:
Das war natürlich alles dabei. Es gab
auch in den diesjährigen StückemarktEinsendungen Genres, es gab die
„englischen Stücke“ (aus London und
der UdK) und die „postdramatischen“
(aus Gießen und Osteuropa). Es gab
Dokumentarisches und Projekthaftes,
es gab megalomane Spracherforschungsungetüme und ordentliche
Recherche-Projekte. Es gab Wagner
und John Cage, Crazyness und Genauigkeit, Dichtung und Wahrheit. Was es
aber – und, so scheint mir: vor allem
– gab, waren besessene, hochabstrakte,
hysterische, ja: schlicht eigenartige
Machwerke, die wir uns alle gemeinsam anguckten und dachten: „Aha,
was fangen wir denn jetzt damit an?“
Natürlich: Diese fünf Beispiele, die wir
hier in einer Reihe aufstellen, bezeichnen
letztlich nur eine Handvoll zufälliger
Haltepunkte in der Text- und Projektebene, die wir in den vergangenen
Wochen durchwandert haben – Helgard,
Lutz, Tim, Yvonne und ich. Ich hoffe
jedoch, dass unsere Auswahl einigermaßen repräsentativ ist für diesen
(wie ich ebenfalls inständigst hoffe)
Todesjahrgang der albernen AutorenDiskussion, die den Stückemarkt
begleitet. „Freund ist der, vor dem man
erschrickt“, sagt ein Dichter irgendwo.
Und so geht es der Jury mit dem
europäischen Theater, mit diesen 280
Stücken und Projekten, die wir uns in
den vergangenen Monaten reingezogen haben, und die uns mehr als
einmal den Ausruf abnötigten, angesichts von so vielgestaltiger Schönheit
und Verbohrtheit: „Scheiße, was ist
denn mit den Typen los?“
Milo Rau
Juror Stückemarkt 2015
7
Ich weiß nicht, wie es den Jurys der
vergangenen Jahre ging, aber vielleicht
ist das Jahr 2015 das Jahr, in dem der
Autorbegriff sich endgültig von all den
Fesseln befreit hat, die seine selbsternannten Verteidiger ihm immer wieder
anzulegen versuchen. Projekt oder
Stück, Verteidigung einer Form oder ihre
Kritik: Mir scheint, wir sind an einem
Punkt der Theatergeschichte angekommen, an dem das keine Rolle mehr
spielt. Was soll man zum Beispiel über
einen Daniel Cremer sagen, diesen
verrückten, genialen Typen, der sich
noch einmal voll gerüstet aufs Streitross
der postmodernen Ironie setzt und
doch tatsächlich ein ganzes Festival
geschaffen hat, auf dem anhand einer
erfundenen mitteleuropäischen Sprache
das Theater und all seine Rituale
(Publikumsgespräche, Ibsen-Adaptionen, sogar die Indie-Bands im Abendprogramm) in das überführt werden,
was sie sind: kompletter Unsinn und
erhaben ragende Gipfel der Weisheit
der europäischen Urbevölkerung? Ist
es nicht faszinierend, ja fast verstörend,
dass im Jahr 2015 noch – oder wieder?
– so tiefenentspannt geplottete und
sprachlich klare Werke der Kapitalismuskritik entstehen wie „Hose Fahrrad
Frau“ von Stefan Wipplinger oder
„Zersplittert“ von Alexandra Badea?
Und sind „The State“ von Alexander
Manuiloff oder „Another great year for
fishing“ von Tom Struyf nun klassisch
oder avantgardistisch zu nennen, sind
es die Arbeiten von Autor-Regisseuren
oder von Autoren, die keine Regisseure
mehr brauchen, sondern nur noch ein
Publikum? Vollenden all diese Arbeiten
ihr Genre oder verabschieden sie sich von
ihm? Und falls zweites zutrifft: wohin?
Und von welchem Genre überhaupt?
8
Jury
„Ich fand es faszinierend,
das enorme Spektrum
der Stücke und Projekte
zu erleben, die für den
Stückemarkt eingereicht
wurden: jede Menge
starke Ideen, unerschrockene Ansätze, wilde
Variationen und neue
Tänze mit der Idee und
der Praxis des Theaters.“
„Ich habe mich gern
versenkt und umgeschaut auf diesem
Marktplatz der Theatertexte – Highlights für
mich waren Stücke, die
immer neu entstehen,
spielerisch, aber mit
klarem Regelwerk.
Stücke, die sich mit
gegebenen Strukturen
beschäftigen, sie aber
Tim Etchells, Autor, Regisseur
und Performer (Forced
Entertainment)
performativ und
sprachlich neu greifen
und umsetzten – Stücke,
die immer aussehen
werden wie eine Probe,
obwohl ihr Konzept
schon das eigentliche
,Werk‘ ist. Mehr davon
und mehr mit mehr
Dringlichkeit behandelte
politische Stoffe wünsche
ich dem Stückemarkt.“
Helgard Haug, Autorin und
Regisseurin (Rimini Protokoll)
„Tendenzen waren nicht
erkennbar (was immer
ein gutes Zeichen ist:
keine literarische Mode
regiert). Natürlich gab es
das Überambitionierte,
Naive, VerschraubtAkademische, die
Festivaldramatik und die
Lutz Hübner, Autor
in meinem Kopf immer
zusammenhängen mit
den Gesichtern der
Menschen, die mir
zwischen Châtelet und
Nanterre zufällig
gegenübersaßen.“
Milo Rau, Autor und Regisseur
„Der Stückemarkt ist
seit jeher die Innovationsplattform des
Theatertreffens. Seit
2012 haben wir ihn aus
seiner alten Form
heraus kontinuierlich
weiterentwickelt. Jetzt,
2015, sind wir da! Ein
weites Spektrum des
zeitgenössischen
szenischen Schreibens
war unter den Einsendungen zu finden. Das
erzeugte bei der Suche
eine Spannung, die uns
kritischer fragen ließ,
was ein gutes Stück ist
und brachte eine
Auswahl hervor, die
vielseitiger in Form,
Ästhetik und Inhalt
nicht sein könnte.“
Yvonne Büdenhölzer, Leiterin
Theatertreffen
9
Klugscheißerprojekte –
aber auch die Stoffe, die
faszinieren, verstören
und, ja, glücklich machen.
Und davon mehr als die
ausgewählten Fünf.
Winzer würden sagen:
ein guter Jahrgang.“
„Der Zufall wollte es, dass
ich fast im gesamten
Zeitraum der Lektüren
auf Reisen war. ,The State‘
las ich im Vorzimmer
eines ostkongolesischen
Lokalministers, ,Zersplittert‘ in der Metro in Paris.
Und so geht es mir wie
meinen Schauspielern
(die sich auf der Bühne
an den Park oder das
Kanalufer erinnern, wo
sie ihre Texte lernen):
,The State‘ wird für mich
immer auch ein Stück
sein übers Warten im
Vorzimmer eines Ministers, ,Zersplittert‘ wird
Stückemarkt I
Stefan Wipplinger
Hose Fahrrad Frau
10
(Österreich) – Szenische Lesung
Michaela möchte ein
Kind mit ihrem
Freund Alf und da
sie keines bekommen kann, fragt sie
ihre beste Freundin
Janne, ob sie als
Leihmutter zur
Verfügung steht.
Ein Mann ist nach
Deutschland
gekommen, um
seine Schwester zu
suchen, die als
junges Mädchen
nach einer Vergewaltigung dem
© Matthias Müller
Täter verkauft wurde
und nun fünf Kinder
mit ihm hat. Tom möchte mit Janne
die Wohnung tauschen, aber sie will sich
nur darauf einlassen, wenn auch die
Möbel getauscht werden. Ein Penner
braucht eine neue Hose, aber er will
sie bei der Bahnhofsmission nur im
Tausch gegen ein Buch mitnehmen,
das dem Spender der Hose überbracht
werden soll. Diese Hose hat Alf gehört,
weil Michaela der Meinung war, dass
er sich auch mal von Dingen trennen
sollte. Tom wiederum, der an der
Rezeption eines Hostels arbeitet, wird
vom Bruder der Frau bedrängt, ihm
kostenlos einen Schlafplatz zu geben,
während Janne beschließt, sich auf
den Vorschlag ihrer besten Freundin
einzulassen… „Hose Frau Fahrrad“
ist ein Reigen von Geschichten, die
geschickt miteinander verwoben sind
und die Themen Besitz, Teilen und Tausch
verhandeln. Was besitzt man, was
möchte man besitzen und wie viel
braucht man, um zufrieden zu sein?
Welchen Preis ist man bereit zu zahlen
und wie lange gehört einem noch das,
was man verloren hat? Will Michaela
ein eigenes Kind nur, damit sie etwas
hat, das zu ihr gehört? Hat der Mann,
der von seiner Frau verlassen wird,
nachdem ihr Bruder sie gefunden hat,
noch Ansprüche auf sie und ihre Kinder?
Wipplinger liefert keine einfachen
Antworten, er verhandelt seine Fragen
nicht als trockene Seminarprosa über
Ökonomie, sondern schreibt federleichte, lakonische Dialoge. Seine Figuren
sind Schauspielerfutter, die Situationen
immer theatralisch und die eingestreuten Monologe bieten einen oft
überraschenden Wechsel der Perspektive. Wipplinger beweist so in einem
Sonntag, 3. Mai 2015 17:00 Uhr
Gespräch mit Stefan Wipplinger und
Lutz Hübner im Anschluss / Haus der
Berliner Festspiele, Seitenbühne / 10 €
11
Stück über Ökonomie auch ein Gespür
für die Ökonomie der Theatermittel.
Er bearbeitet ein großes Thema, ohne
didaktisch damit herumzufuchteln, er
erzählt Geschichten, die scheinbar
alltäglich wirken, aber eine philosophische Dimension haben: Was brauchen
wir zum Leben und was wollen wir von
anderen Menschen? Janne und Tom
werden ein Paar, mit einem Kind, dessen
Vater er nicht ist, Michaela und Alf
verabschieden sich von Träumen, die
sie unglücklich machten und ein Mann
will herausfinden, ob man ohne Besitz
leben kann. Alle verändern ihr Leben,
Dinge geraten in den Tauschkreislauf
und ein geklautes Fahrrad wechselt
wieder einmal den Besitzer.
Lutz Hübner
Einrichtung: Jan-Christoph Gockel
Dramaturgie: Sonja Anders
Musik: Anton Bermann
Ausstattung: Julia Kurzweg
Besetzung
Tom: Elias Arens
Alf: Christoph Franken
Michaela: Lisa Hrdina
Janne: Kathleen Morgeneyer
Penner: Wolfgang Michael
Bruder: Aleksandar Radencović
Schwester/ Mitarbeiterin Bahnhofsmission: Almut Zilcher
Dritter: Ernest Allan Hausmann
Ehemann: Felix Römer
Huda, Aylin und Amelie vom
Rollschuh Paradies Berlin e.V.
© privat
Stefan Wipplinger wurde 1986 in Oberösterreich
geboren, studierte an der Kunstuniversität Linz
zunächst Experimentelle Gestaltung und arbeitete
als Regieassistent an einem kleinen Linzer Theater
und in der Freien Szene. Nach einigen Bewerbungen, unter anderem für Schauspiel und Filmregie,
zog er zum Studium der Theaterwissenschaft
nach Berlin, das er kurz darauf gegen Szenisches
Schreiben an der UdK tauschte. Sein Kurzfilm „Es
wird sicher passieren“ lief 2013 auf Internationalen
Filmfestivals, 2014 wurde er vom Grips-Theater
für eine Stückentwicklung beim Berliner Kindertheaterpreis ausgewählt. Sein erstes abendfüllendes
Theaterstück „Hose Fahrrad Frau“ wird seit Januar
vom Verlag der Autoren vertreten.
Stückemarkt II
Alexander Manuiloff
Der Staat / The State
(Bulgarien) – Performance
Aus dem Englischen von Hannes Becker
12
Alexander Manuiloffs einfache, aber
fesselnde Arbeit „The State“ wird nicht
als Stück bezeichnet, sondern als Textgestaltung. Sie besteht aus einer Sequenz von 63 kurzen Statements. „The
State“ ist konzeptionell im weiteren
Sinne Arbeiten wie „OK OK“ (2011) von
Ant Hampton und Gert-Jan Stam oder
„We Are Still Watching“ (2012) von Ivana
Müller in Zusammenarbeit mit Andrea
Bozic, David Weber-Krebs und Jonas
Rutgeerts zuzuordnen. Das Publikum
wird aktiv in die Erschaffung des Dramas
© Stefan Stefanov
einbezogen; es werden denjenigen
Rollen und Stimmen verliehen, die
einem früheren Verständnis von Theater zufolge „nur“ Zuschauer geblieben
wären. Die Forderung Brechts, der
Schauspieler solle seine Distanz zu den
Entscheidungen und Äußerungen der
Figuren zeigen, braucht hier nicht weiter
betont zu werden, da jeder spielende
Zuschauer deutlich auf die Kluft zwischen dem gedruckten Performanceskript und den Realitäten des eigenen
psychologischen Innern aufmerksam
gemacht wird. Ausformulierte Figuren,
die sich mit dem Drama herumplagen,
die seine Entscheidungen und Umstände ablehnen und über seinen
Mangel an Ehrlichkeit nachdenken,
sind hier heiß begehrt – sie thematisieren die Situation der Performance,
verdoppeln und erweitern sie und fügen
ihr zusätzliche
Ebenen hinzu.
Manuiloffs „The
State“ schlägt auf
diesem Feld einen
mutigen Weg ein,
denn die Arbeit
basiert auf einem
wirklichen Ereignis:
der ungeklärten
Selbstverbrennung
des 36-jährigen
Bulgaren Plamen
Goranov im Februar 2013. Ausgehend
von dieser Geschichte beginnen
Manuiloffs Zuschauer-Schauspieler eine Erzählung, die Goranovs
öffentlichen Selbstmord als einen
Akt (eine Performance) behauptet,
der noch nicht stattgefunden hat,
und kündigen ihren Beginn in einer
spezifischen Anzahl von Stunden und
Minuten an. Gleichzeitig dienen andere Zuschauertexte als angebliche
Tim Etchells
Ausstattung: Eva Veronica Born
Sonntag, 3. Mai 2015 20:00 Uhr
Gespräch mit Alexander Manuiloff
und Johanna Freiburg im Anschluss
Haus der Berliner Festspiele, Seitenbühne und Hinterbühne / 10 €
13
Ich-Äußerungen von Goranov, Statements, die die Vorbereitungen auf seinen
Selbstmord nacherzählen und gleichzeitig genau die Art von Erklärungen
für seine Tat wagen, die Goranov selbst
verweigerte. Verschiedene Ebenen
realer und struktureller Gewalt ziehen
die Leser ins Geschehen hinein und
machen sie zu Beteiligten einer Art
beeindruckenden, aber aus zweiter
Hand erfahrenen Dramas. Man wird
zunehmend gespannt auf einen Akt,
der ironischerweise bereits stattgefunden hat. Als Zuschauer-Schauspieler
sind wir nicht nur im „Stück“ gefangen,
sondern im historischen Narrativ, der
Tatsache eines Todes. Wir sind nicht
nur am Ablauf eines Dramas beteiligt,
sondern auch an einer Kultur von Korruption, wirtschaftlichem Elend, politischem Stillstand und Entrechtung,
die den Rahmen für die Selbstverbrennung Goranovs und zahlreicher
anderer bildete. Mit „The State“ reisen
wir in eine Grenzregion des zeitgenössischen Theaters – eine Konzeptarbeit,
die sich mit den Bedingungen von
Performance beschäftigt und gleichzeitig die Kraft des Narrativs dazu
nutzt, sich wirklichen politischen Fragen
zu stellen.
© Zdravko Yonchev
Alexander Manuiloff wurde in Sofia geboren und
studierte Literatur an der Universität Sofia sowie
Drehbuch an der Neuen Bulgarischen Universität.
Er arbeitet als Autor, Dramaturg und Journalist.
2012 nahm er am Austauschprogramm der
Drama League, New York, teil. Für „Film“ (2004)
erhielt er den Preis des bulgarischen Schriftstellerverbands für das beste fiktionale Debüt und war
Stipendiat der Karls-Universität Prag (1999). Er
ist Gründungsmitglied von Litourne, einem
Förderprogramm für junge bulgarische Schriftsteller, sowie des ersten Independent Theatre
Festival in Sofia (2011). Seine eigenen Theaterstücke
wurden in Sofia, Prag, Baltimore und Berlin
inszeniert. Seit 2012 publiziert Alexander Manuiloff
seine Stücke, Romane, Drehbücher und Artikel im
Internet. Eine erste Version von „The State“
entstand im Februar 2014 im Rahmen des Mini
Art Fest Fo in Sofia.
Stückemarkt III
Daniel Cremer / TALKING STRAIGHT
TALKING STRAIGHT Festival
14
(Deutschland) – Gastspiel
Neulich Abend saß ich in einem hot pot
in Reykjavik: der Körper in 39 Grad
heißem Wasser, darüber der Kopf im
Eisregen. Um mich herum Isländer,
jung wie alt, dick wie dünn, alle hellhäutig und munter miteinander plaudernd, in einer Sprache, die ich nicht
beherrsche. Dennoch war alles gestochen scharf, ich hatte das Gefühl, durch
die Sprache hindurch alles verstehen
zu können – fast schon schmerzhaft.
Ich bin Teil davon – mag es klingen, wie
es will, es wird nach den gleichen Regeln
gespielt: auch meine Haut ist hell.
Daniel Cremer hat für das Theater eine
neue Sprache entwickelt; eine wilde
Mischung fremder Vokabeln in erprobter Syntax. Während des „TALKING
STRAIGHT Festivals“ wird nichts als diese Sprache gesprochen. Versucht man
sie zu lernen, wird man schnell feststellen, dass man
sie bereits kann: die
Codes, Rituale, Abläufe und Zuweisungen unserer
westlichen Welt
wurden uns in die
Wiege gelegt: Die
Vokabeln sind austauschbar, die
Muster und Inhalte
vertraut. Durch
den Gebrauch der
Fremdsprache werden diese Sicherheit
spendenden Übereinkünfte und Verabredungen haarfein nachgezeichnet. © Vincent Stefan
„TALKING STRAIGHT Festival“ ist aber
nicht nur ein – auf ein Standardmaß
zugeschnittener – Ausflug, die neue
Sprache wird auf der Bühne, wie an
der Bar kultiviert, sie wuchert in alle
Bereiche des Festivalapparats hinein,
infiziert sich an sich selbst und überschreibt die gängigen Sprachen (Deutsch
wie Festival-Englisch). So ist es eine
Reise in die eigenen Welt, die mit der
„Akkreditierung und feierlichen Eröffnung unter Anwesenheit aller wichtigen
Menschen“ beginnt. Die Besucher
tragen Badges mit willkürlich zusammengestellten Namen und weiter geht
es, in absehbarer Folge mit Grußworten,
Nennung der Sponsoren. Das BühnenStück bildet den Mittelteil, Publikumsdiskussionen und gemütliches Beisammensein den Abschluss des Tages,
um am nächsten Tag erneut mit einer
großen Ernsthaftigkeit auf dieser Neuordnung zu insistieren. Es ist also kein
billiger Ulk, es geht nicht darum, das
Theater als sinnentleert bloßzustellen,
der Arbeit liegen sehr präzise Beobachtungen und Analyse dessen zugrunde,
was unsere gegenseitige kulturelle Verabredung beinhaltet.
Wer spricht, wer schweigt, wer hört zu,
wer lacht – wie eloquent spricht der
Dramaturg, wie grenzt sich die Regie
dagegen ab, wie die Akteure, wie bringen sich Zuschauer ein...
Während also schnell die Erkenntnis
einsetzt, dass man sich auf vertrautem
und deshalb gesichertem Terrain bewegt, die Binnengrenzen also überwunden hat, zeichnen sich die Außengrenzen umso klarer ab und das wird
zur entscheidenden Frage: Wer ist nicht
Teil dieses Arrangements, wer fehlt?
Montag, 4. Mai 2015 16:00 bis 0:00 Uhr
16:00 Eröffnung, Auftaktperformance,
HEN ZEK
(musikalischer Rezitationsabend)
18:00 Young Talent Campus, Workshops,
NARO (Gastspiel).
Im Anschluss Publikumsgespräch
20:30 Szenische Lesung, Jazz in
der Lounge, Young Talent Campus,
LOFIKH! (a panel of love)
ab 23:30 Feier
language no problem / Haus der
Berliner Festspiele / Einzeltickets 10 €,
Festivalpass 25 €
Helgard Haug
15
Konzept: Daniel Cremer /
TALKING STRAIGHT
Ausstattung: Daniel Cremer und
Romy Kiessling
Von und mit Alicia Agustín, Daniel
Cremer, Lisa Heinrici, Anja Herden,
Sébastien Jacobi, Romy Kiessling,
Lina Krüger, Nils Amadeus Lange,
René Michaelsen, Tamer Fahri
Özgönenc, Antje Prust, Fabian Raabe,
Dr. Tucké Royale, Vincent Stefan, Alisa
Tretau, Hans Unstern, Anton Weil u.a
Premiere 30. Januar 2014,
Maxim Gorki Theater, Berlin
© privat
Daniel Cremer wurde 1983 in Mönchengladbach
geboren. Er arbeitet als Autor, Regisseur und
Soloperformer in verschiedenen Kunstsparten,
zuletzt unter anderem am Jungen Schauspielhaus Düsseldorf und dem HAU 1, außerdem in
der Berlinischen Galerie und der NGbK, an der TU
Berlin sowie der Viadrina-Universität in Frankfurt/
Oder. Zu den Strategien seiner Performances zählen
Simulation, Re-enactment, Travestie und besonders das Verflüssigen und Verzerren von Sprache.
Unter dem Label „TALKING STRAIGHT“ hat er
bereits Coaching-Seminare, Konferenzen,
religiöse Rituale und Stadt- und Museumsführungen verarbeitet, in gebrochenem Englisch,
falschem Deutsch und „Fremdsprache“, einer
von ihm entwickelten Geheimsprache. „TALKING
STRAIGHT Festival“ entstand im Januar 2014 im
Studio des Maxim-Gorki-Theaters.
Stückemarkt IV
Alexandra Badea
Zersplittert
(Rumänien/Frankreich) – Szenische Lesung
Aus dem Französischen von Frank Weigand
16
Alexandra Badeas „Zersplittert“
(Pulvérisés) wirkt auf den ersten Blick
wie eine Aneinanderreihung isolierter
Lebensläufe, jeder davon ein Solitär
an weit verstreuten Orten der Welt.
Szenen wechseln im Tempo des um die
Welt jettenden Head of Quality und
© Zhan Youbing
rinnen dem Leser wie Staub durch die
Finger. Gerade noch in einer Fabrik in
Shanghai, findet man sich gleich darauf in einem Bukarester Büroturm
wieder, um von dort in ein Callcentre
in Dakar geworfen zu werden. Ein Dialog der Figuren oder nur ein Austausch
zwischen Dakar, Shanghai und Bukarest
scheinen undenkbar.
Was wie eine formverliebte und fade
Aufbereitung der gängigen Globalisierungsklischees wirken könnte ist jedoch eine dicht gewebte und komplexe
Textur von höchster Musikalität. Denn
die Lebensläufe der vier Figuren sind
keineswegs solitär, sie beeinflussen
sich gegenseitig und entfalten im Zusammenspiel einen originären Rhythmus. Themen wie kulturelle und soziale
Differenz, das Verhältnis zur eigenen
Arbeit und die Verortung als Individuum
werden en passant
gestreift und sind
doch für den ganzen
Text ein bestimmendes Merkmal.
Das Mittel der Wahl,
um diese Intensität
zu erreichen, ist
für Alexandra Badea
die direkte Ansprache des Lesers oder
Zuschauers, der so
zur fünften Figur des
Stückes wird. Trotz
aller Unterschiede
zu den präsentierten
Figuren wird jedes
Schicksal durch das
wiederholte „Du“
zum eigenen, jede existentielle Frage
muss an der eigenen Existenz geprüft
werden. Dies gibt den aufgeworfenen
Fragen die Fähigkeit, Zündstoff zu sein,
jenseits aller moralischen Zeigefinger
(die der Zuschauer für sich selber finden
kann), aber auch jenseits aller Lösungsvorschläge (die der Zuschauer für sich
selber finden muss). Ständig zurückgeworfen auf das eigene Ich, kann man
sich dem Sog des Textes nicht entziehen
und die Lektüre wird mehr und mehr
zu einer Selbstbefragung: Wo will man
sich wiedererkennen und wo nicht, in
Dienstag, 5. Mai 2015 18:00 Uhr
Gespräch mit Alexandra Badea und
Falk Richter im Anschluss / Haus der
Berliner Festspiele, Kassenhalle / 10 €
17
welche weltumspannenden Netze ist
man selbst eingebunden und wie geht
man mit zunehmend komplexen Zeitund Raumstrukturen um, ohne sich in
ihnen zu verlieren?
Die fragmentarische Struktur von
„Zersplittert“ ist dabei nie akademisch
oder didaktisch. Sie fängt eine um sich
greifende Desorientierung ein und bleibt
trotzdem klar genug, große Fragen und
Themen zu vermitteln, ohne auf Kitsch
und pessimistische Parolen zurückgreifen zu müssen. Denn der Text ist nicht
nur ein Spiegel für den Leser, der ununterbrochen Fragen aufwirft, sondern auch eine Bestätigung, eine
Vergewisserung, dass man da ist und
lebt, egal wie.
Yvonne Büdenhölzer
Einrichtung: Anne Lenk
Dramaturgie: Andrea Koschwitz
Musik: Camill Jammal
Ausstattung: Eva Veronica Born
Besetzung
Head of Quality, Zulieferung, Lyon:
Hans Löw
Teamleiter Kunden-Center, Dakar:
Camill Jamall
Fertigungskraft Shanghai:
Kathrin Wichmann
Versuch- und Entwicklungsingenieur
Bukarest: Jenny Schily
© Liova Jedlicki
Alexandra Badea wurde 1980 in Rumänien geboren
und studierte Regie an der Nationaluniversität
für Theater- und Filmkunst Bukarest. Seit 2003
lebt sie in Paris und arbeitet als Autorin, Regisseurin
und Drehbuchautorin, ihre Stücke schreibt sie
auf Französisch. Sie inszenierte unter anderem
Stücke von Biljana Srbljanovic, Sarah Kane, Igor
Bauersima und Nicoleta Esinencu wie auch ihre
eigenen Stücke, die seit 2009 bei L’Arche Editeur
in Paris verlegt werden. „Pulvérisés“ (Zersplittert)
ist ihr viertes Stück. 2014 wurde es am Théâtre
National de Strasbourg uraufgeführt und als
Hörspiel bei France Culture sowie dem Saarländischen Rundfunk ausgestrahlt.
Stückemarkt V
Tom Struyf
Another great year for fishing
18
(Belgien) – Gastspiel
Aus dem Flämischen von Uwe Dethier und Katrin Lohmann
„Another great year
for fishing“ von Tom
Struyf gehört zum
Genre der Lecture
Performance. Es
gibt einen Ausgangspunkt (eine
Beziehungskrise,
gefolgt von einem
Burnout), ein Thema
(die Sinnsuche in
der Multioptionsgesellschaft) und
eine Form (die des
klassischen Storytelling, verknüpft mit
Video und Tanz).
© Clara Hermans
Struyf tritt selbst
als Interpret seines
Stücks auf, sekundiert von der großartigen Tänzerin Nelle Hens und einer
ganzen Reihe von Spezialisten auf Video.
Allein schon die soziologische Präzision
der Geschichten und Statements, die
Tom Struyf erzählt und einspielen lässt,
die geradezu altmodische existenzielle
Empfindsamkeit des Autor-Performers
gepaart mit seinem Humor würden
genügen, den Abend zum Stückemarkt (und überhaupt zu jedem Festival)
einzuladen. Struyfs Rhythmusgefühl
ist perfekt, er schreibt und performt
mit der poetischen Klarheit eines
Romans von Paul Auster, und zweifellos ist er einer der besten Erzähler, die
die europäischen Bühnen zwischen
Rejkjavik und Kairo zu bieten haben.
Aber all diese technische Perfektion
dient – wie übrigens vor allem Nelle
Hens‘ Tanz, der zu Beginn der Perfor-
mance rätselhaft oder gar dekorativ
erscheinen mag – , einer viel weiterführenden Absicht: die Zuschauer in
einen Raum jenseits aller Informationen
und aller Geschichten zu führen, in
einen Raum der Erschöpfung (Struyfs
hellblaues Hemd ist am Ende des
80minütigen Abends dunkel vor Schweiß)
und damit der Ruhe. Das Stück von
Tom Struyf ist, wie man dann plötzlich
merkt, zugleich ein Essay (der sich ein
Problem greift und es umkreist) und ein
Ritual (das dieses Problem bearbeitet
und es, wenn auch nur im Raum der
Kunst, aufhebt). Neben der Tatsache,
dass Tom Struyf einen wunderbaren,
unendlich schönen, wahren, geduldigen
und weisen Theaterabend geschaffen
und unser Wissen über die Welt und die
Menschen erweitert hat, ist „Another
great year for fishing“ so ein – man
entschuldige den religiösen Terminus –
erlösendes Ereignis. Wer sich von Struyfs
Schlussmonolog, in dem er sich eine
(noch) schrecklichere Welt (in der
scheiternde Beziehungen nicht mit
Therapiesitzungen, sondern zwangsläufig mit dem Tod eines der Partner
ausgehen würden) und eine bessere
vorstellt (aus der man hinaustreten,
komplett und körperlich ins All hinaustreten könnte, um „tatsächlich nachzudenken“), wer sich davon nicht
berühren lässt, der hat schlicht und
einfach kein Herz.
Dienstag, 5. Mai 2015 20:30 Uhr
Gespräch mit Tom Struyf und
Christina Zintl im Anschluss
Haus der Berliner Festspiele,
Seitenbühne / 10 €
Milo Rau
19
Konzept, Text und Spiel: Tom Struyf
Tanz: Nelle Hens
Dramaturgie: Willem De Maeseneer
Kamera und Montage:
Geert De Vleesschauwer
Premiere 23. Oktober 2014
Monty Kultuurfaktorij, Antwerpen
In Koproduktion mit
detheatermaker,
Vlaams Cultuurhuis, De Brakke Grond
en deBuren, Provinciaal domein
Dommelhof en C-Mine
© Tine Struyf
Tom Struyf wurde 1983 geboren und studierte
Schauspiel in Maastricht (NL). Er arbeitet als
Autor, Schauspieler und Regisseur unter anderem
mit fABULEUS, Theater Artemis, HETPALEIS,
Grand Theatre, Onafhankelijk Toneel und detheatermaker. Seine Performances „The Tatiana Aarons
Experience“ (2010) und „Act to forget“ (2012)
wurden zu Het Theaterfestival eingeladen. In
„Another great year for fishing“ arbeitete er erstmals zusammen mit der Tänzerin Nelle Hens, die
Produktion entstand im Oktober 2014 und tourt
seitdem durch Belgien und die Niederlande.
Eröffnung, Gespräche und Workshops
Stückemarkt Eröffnung
Impuls Thomas Oberender
Jurygespräch mit Yvonne Büdenhölzer, Helgard
Haug, Lutz Hübner und Christina Zintl
Sonntag, 3. Mai 2015 16:00 Uhr
Haus der Berliner Festspiele, Camp / Eintritt frei
Stefan Wipplinger und Lutz Hübner im Gespräch
Sonntag, 3. Mai 2015 18:30 Uhr
Haus der Berliner Festspiele, Camp / Eintritt frei
Alexander Manuiloff und Johanna Freiburg
im Gespräch
Sonntag, 3. Mai 2015 21:30 Uhr
Haus der Berliner Festspiele, Camp / Eintritt frei
Alexandra Badea und Falk Richter im Gespräch
Dienstag, 5. Mai 2015 19:30 Uhr
Haus der Berliner Festspiele, Camp / Eintritt frei
20
Tom Struyf und Christina Zintl im Gespräch
Dienstag, 5. Mai 2015 22:00 Uhr
Haus der Berliner Festspiele, Camp / Eintritt frei
What if...
ANFANGEN.WEITERMACHEN.FERTIGWERDEN.
Workshop mit Stefan Wipplinger und Lutz Hübner
„What if...“/ „Was wäre wenn...“ – Das ist der
Beginn von fiktivem Erzählen, ein Grundimpuls,
Wirklichkeit zu befragen und zu eigenen Entwürfen
von Wirklichkeit ins Verhältnis zu setzen. Das ist
dem dramatischen Schreiben allein freilich nicht
vorbehalten, aber doch nach wie vor sehr nützlich. Ausgehend von kurzen Aufgaben versuchen
wir, Fantasien für Figuren und Situationen zu
entwickeln, weiterzugeben, weiterzuentwickeln.
Und was das Fertigwerden betrifft, werden wir wohl
nur Mutmaßungen anstellen können, uns die
Frage stellen: Was braucht man tatsächlich und
was kann man streichen?
Zwei Autoren, die in ihrem Schreiben eine Verwandtschaft fanden, machen sich auf die Suche nach
den Unterschieden. Der eine mit der Erfahrung von
über 40 Stücken, der andere mit einem bodenlosen Fass voll Fragen, zwischen den Stühlen sitzend,
von Studium und Beruf, Form und Inhalt, Genres,
Medien und Disziplinen. Wie entscheidet man sich
für das Richtige? Kann man auch einfach alles
machen, vielleicht nicht gleichzeitig aber wenigstens hintereinander?
Montag, 4. Mai 2015 12:00 Uhr
Haus der Berliner Festspiele, Camp / Eintritt frei
Anmeldung erforderlich unter
[email protected]
Dramaturgy of Restrictions
Workshop mit Alexander Manuiloff
The workshop will explore how various forms of
constraints may be used as an artistic way of
expression. The process may include physical
activities so, please, bring comfortable shoes
and clothes.
Montag, 4. Mai 2015 14:00 Uhr
Haus der Berliner Festspiele, Camp / Eintritt frei
Anmeldung erforderlich unter
[email protected]
Another great workshop
Workshop mit Tom Struyf, Nelle Hens und Willem
De Maeseneer
We will talk about the origins of “Another great
year for fishing” and about how a production is
created by intuitively bringing together diverse
elements (interviews on video, dance, narration)
without knowing in advance what the result should
look like. A conversation about the power of personal stories, the narrow line between fiction and
reality, about narrating experiences of reality in
a theatrical context and about cooperation.
Together with dancer Nelle Hens, we will put the
connection between the various disciplines to
practice and explore the interplay of two bodies
in combination with a personal story.
Dienstag, 5. Mai 2015 12:00 Uhr
Haus der Berliner Festspiele, Camp / Eintritt frei
Anmeldung erforderlich unter
[email protected]
Writing from an actuality image
Workshop mit Alexandra Badea
How can we react to what we are seeing? How can
we talk about the contemporary world? What are
our possibilities to reinvent the reality, to imagine
other possibilities? We’ll choose one picture from
the flux of images that circulate on the internet and
this will be the starting point of the writing process.
The form is free. Everything will be reinvented.
Dienstag, 5. Mai 2015 14:00 Uhr
Haus der Berliner Festspiele, Camp / Eintritt frei
Anmeldung erforderlich unter
[email protected]
Stückemarkt Revisited
TALKING STRAIGHT.
In A Meeting With Daniel Cremer
Workshop und Coaching
Vedh’s mendern hen Succes? Ode val Restsobbe por
mîn olsdrath gar med Raber’n, gorndod Theaten
olschag-hor. Daniel Cremer gardet usming
Rablarge, var sekh serzet Holsmarg. Aber werst
ums Midra sin! Gedlo ornd Üramins rodder. Migst
hen Theaten, hen Kunst, Mosd, hen Spirits, hen
Entertainment: urnd par vödh-humensist Regimesind glöd megen Futur’ne. Ens Workshop mar
sadgermen Müdesig.
Montag, 6. Mai 2015 15:00 Uhr
Haus der Berliner Festspiele, Camp / Eintritt frei
Anmeldung erforderlich unter
[email protected]
Der Stückemarkt zeigt Inszenierungen seiner
ehemaligen Teilnehmer*innen. In diesem Jahr
kehrt der britische Autor Chris Thorpe (Stückemarkt 2014) zurück nach Berlin. Das Gewinnerstück des Edinburgh Fringe-Festivals 2014 geht
den Fragen nach, warum wir glauben, was wir
glauben, wie es möglich ist, in einen aufrichtigen
Dialog mit jemanden zu treten, dessen Ansichten
wir verachten, und wie standhaft eine extreme
Überzeugung bleibt, wenn sie sich permanent
erklären muss. Für „Confirmation“ führte Thorpe
Gespräche mit einem Neonazi und Holocaustleugner. Den daraus entstandenen Text performt
er selbst.
Regie: Rachel Chavkin
Mittwoch, 13. Mai 2015 bis Samstag, 16. Mai 2015
20:00 Uhr / Autorengespräch am 14. Mai im
Anschluss an die Vorstellung / English Theatre
Berlin/International Performing Arts Center / 18 €
Mittwoch, 6. Mai 2015 17:00 Uhr
Haus der Berliner Festspiele, Camp / Eintritt frei
Wolfram Lotz, Hannes Becker:
Bring das Zeug von draußen ins Theater! Aber fix!
Ein gemeinsamer Workshop des Internationalen
Forums und des Stückemarkts
Alle Teilnehmenden bringen ein Textstück, einen
Zeitungsbericht, ein Bild, ein Objekt oder sonst
etwas mit, das eine gesellschaftliche Wirklichkeit
außerhalb des Theaters bezeichnet. Dann wird nach
der Verbindung zum Mitgebrachten gefragt. Es dient
als Grundlage für Theaterarbeiten, die im Laufe des
Workshops kollektiv entwickelt werden. Die Autoren
Wolfram Lotz und Hannes Becker schreiben Theaterstücke, Gedichte, Essays, Hörspiele und Prosa.
Gemeinsam formulierten sie das Vorhaben eines
„Unmöglichen Theaters“, mit dem sie das Verhältnis
von Text, Bühne und Wirklichkeit befragen.
Präsentation am Samstag, 9. Mai 2015 16:30 Uhr
Haus der Berliner Festspiele, Camp / Eintritt frei
Anmeldung erforderlich unter
[email protected]
Chris Thorpe © Armin Friess
21
Politisches Schreiben heute – Abschlussgespräch
zum Stückemarkt 2015
In Kooperation mit der Bundeszentrale für
politische Bildung (bpb)
Mit Yvonne Büdenhölzer (Leiterin Theatertreffen),
Daniel Cremer (Autor, Regisseur und Performer
Stückemarkt 2015), Valerie Göhring (Bloggerin
Theatertreffen 2015), Thomas Krüger (Präsident
der Bundeszentrale für politische Bildung), Ewald
Palmetshofer (Autor, Juror Stückemarkt 2012)
Moderation Christine Wahl
Chris Thorpe
Confirmation
Stefan Wipplinger
Hose Fahrrad Frau
U-Bahn (Penner/Tom)
Tom
22
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Wieso starren Sie mich so an?
Gehen Sie weiter.
Ich starre Sie nicht an.
Etwas an mir starren Sie an.
Hätten Sie die Güte –
Ich hab nichts.
Wissen Sie, was ein Déjà-Vu ist?
Ja weiß ich.
Was verstehen Sie darunter?
Lassen Sie mich in Ruhe.
Bitte antworten Sie.
Was? Was wollen Sie –
Was ist ein Déjà-Vu?
Na. Das ist, wenn man etwas schonmal erlebt hat.
Wenn man etwas ein zweites Mal erlebt.
Das ist falsch.
Aha.
Ihre Antwort ist äußerst interessant.
Ja. Danke.
Tatsächlich ist das, was Sie beschreiben, nämlich das Gefühl, das bei diesem Phänomen
entsteht. Statistisch gesehen ist es aber extrem unwahrscheinlich, eine Situation zweimal
zu erleben.
Bitte. Ich hab noch 50 Cent. Ok? Mehr hab ich nicht.
Daher ist viel mehr anzunehmen und übrigens auch wissenschaftlich erwiesen, dass die
Erfahrung eines Déjà-Vus das Ergebnis einer qualitativen Gedächtnisstörung ist.
Ja toll. Das wusste ich nicht. Es interessiert mich aber auch nicht.
Also eine Täuschung. Eine Täuschung des eigenen Hirns.
Ihr Hirn funktioniert aber auch nicht einwandfrei oder?
Was!?
Nichts. Nichts für ungut.
Nein, nein sprechen Sie weiter. Sie haben nicht unrecht.
Eben deshalb spreche ich sie an.
Aha.
Weil mir diese Situation sehr bekannt vorkommt und ich herausfinden wollte, ob es ein
Déjà-Vu ist.
Alles klar. Und es ist ganz offensichtlich eins. Tut mir leid.
Nein nein nein, das ist es eben. Das hier ist keines.
Ist keines.
Nein.
Ich glaube, Sie haben das Phänomen doch noch nicht ganz verstanden.
Es gehört ja eben zum Déjà-Vu dazu, dass Sie glauben, es sei echt.
Das weiß ich.
Sehen Sie. Ein Déjà-Vu. Herzlichen Glückwunsch. Genießen Sie‘s. Und jetzt –
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Penner
Tom
Jemand sein altes Fahrrad wiedererkennen würde. Nicht wahr? Hochinteressant.
Sie können nicht von mir erwarten –
Keineswegs. Machen Sie sich keine Sorgen. Wirklich verblüffend.
Was ist denn so verblüffend?
Dass ich genau weiß, was Sie sagen. Es ist, als hätte ich dasselbe schon einmal gesagt.
Ja. Ein Déjà-Vu. Bestimmt.
Außerordentlich faszinierend. Nicht wahr? Guten Tag.
Hallo? Warten Sie.
23
Tom
Penner
Tom
Das Besondere an meinem Déjà-Vu ist, dass ich diese Situation zwar kenne, aber aus
einer anderen Perspektive.
Wow. Dann scheinen Sie ganz außerordentlich begabt zu sein.
Sie verstehen mich immer noch nicht.
Nein. Da haben Sie völlig recht. Lassen Sie mich endlich in Ruhe.
Sie sind sehr unfreundlich.
Sie sind sehr anstrengend.
Erlauben Sie mir noch eine Frage.
Eine Frage.
Woher haben sie dieses Fahrrad?
Was? Was geht Sie das an?
Sehen sie? Genau so habe ich auch reagiert damals.
Wovon zur Hölle reden Sie?
Ihr Fahrrad. Sie haben es vor kurzem erst gekauft. Oder gestohlen.
Jetzt reicht‘s. Hauen sie ab.
Und das weiß ich, weil es bis vor kurzem noch mir gehört hat.
Weil es ein bisschen immer noch mir gehört. Verstehen Sie?
Es hat nicht aufgehört mir zu gehören. Ich hab es nicht verkauft oder gespendet. Ganz
sicher hab ich es Ihnen auch nicht geschenkt. Es wurde mir geklaut. (lange Pause)
Das... das kann doch jeder sagen.
Ist das so?
Lassen Sie den Scheiß. Es gibt tausend Fahrräder, die so ähnlich aussehen, Sie könnten
sich irren.
Könnte sein.
Sehen Sie?
Es besteht kein Zweifel.
Beweisen Sie das erst mal.
Das ist nicht nötig. Ich weiß es ja.
Unglaublich. Wirklich faszinierend.
Hören Sie mal. Ich klaue nicht. Ich hatte keine Ahnung.
Wovon hatten Sie keine Ahnung?
Na, dass der Typ... das war auf so einem Markt... dass der geklaute Räder vertickt.
Tatsächlich?
Woher soll ich denn wissen ...
Na, ich gebe zu, der Gedanke stand mal im Raum, woher der die hat, aber ich hätte doch
niemals gedacht, dass…
24
Alexander Manuiloff
Der Staat / The State
Ich bin Plamen. Plamen heißt „Flamme” auf
Bulgarisch. Was für ein böser Zufall! Ich hätte
nie gedacht, dass ich das tun würde. Ich hätte
nie gedacht, dass ich das Leben ablehnen könnte.
Aber jetzt muss ich. Ich muss anderen zeigen,
dass es noch einen Ausweg gibt. Und ich muss
einen Brief schreiben. Ich muss diesen Brief
schreiben und sie wissen lassen, dass es einen
Grund dafür gibt, dass ich es tue.
25
Ich bin Plamen. Das letzte Mal, als ich glücklich
war… Ich dachte auf einmal, ich muss mich
erinnern, wann das letzte Mal, als ich glücklich
war, war … Das letzte Mal, als ich glücklich war,
ist… ist heute eigentlich. Als ich den Entschluss
fasste, wurde alles langsamer. Ich bin voll da.
Ich bin in der Lage, so viele Dinge auf einmal
wahrnehmen: Dinge, die sonst unbemerkt an
meinen Bewusstsein vorüberziehen. Gerüche,
Farben, feine Variationen in den Stimmen der
Menschen, die so viel zum Ausdruck bringen, Musik,
das Singen der Vögel, weils gerade Frühling wird.
Das unfassbare Grün der Bäume. Das Leben.
Daniel Cremer / TALKING STRAIGHT
TALKING STRAIGHT Festival
Grußwort
Dr. Tucké Royale
(Schirmherm des Festivals)
Vödhödest Grososen, Ersbangern, en mift honorabelen Gritten, Hermen Grobvoss,
Langhoff – en, vòsodest: Herm Farbarjewitch, kolst migsen Master ar hen
Studiokurmst! Velkom.
26
Velkom Herm Krobenstropp en sisal, poften Fafst Mitterer, Grauck, Hock, Sobben,
Mopti, Frega Mohn, ensoden gipf ar hons subsern Finanzhoggen: Sáliss ar
Berstelsmarm Nogdsôr, Mosd Stift, Kussel Migsdrath en Ogga Mirsvothen ar
hen Initaititve Nyhen Sozialfakh ar vödhen Markprapt, Hen Gersosenbank,
Gorki Theat op hen Megasponsor TOTALIS.
Herm Sentator, Kuroren – en schunsrinsdest: mîn vödhest org Publikum!
Olvodd' hübbe hen Schirmhermft lobhoden ar mîn hochkrathen Dimond nar
sobstbrad'hen Kurmstscene: hen TALKING STRAIGHT FESTIVAL, en Zechtfreege
ar kiesen voft dorm eminente Ilmen: Kollektsen orb Kunstesten umst hen
diversteven Vödh-Uppen: Performance, Kiese, Theaten, Musa, Worpe en Kimo.
Mar ogfe hen Publikhoggen, Theorecken, hen Selholmigher en Kuroren - kolvoggen podg hendern vödhe Humen. So, himst ar hogden par hen Festivals trem
Degen jullen interssanter Kontakten ar sobridh kin Jinden.
En var gedhest Koften, varbek ar Herm Bonsel Grobvoss.
Alkid sieden oft Usmangen rin pobbt. Son Sentator, mogen Hömmer, urs laubt
ar hen Kurmst, Justiz, en kraften Bauweest. Üphel singdem ens dett Kirvak.
Sáliss ar Herm Grobvoss umst Gengen. En pluus. En pluus. En Pluss.
27
Alexandra Badea
Zersplittert
28
Teamleiter Kunden-Center, Dakar (männlich)
Du steigst über den schlafenden Körper auf der gegenüberliegenden Seite deines
Betts Du durchquerst das Nachbarzimmer
Andere Körper schlafen/
Du gehst raus in den Hof
Du öffnest den Wasserhahn und hältst deinen Kopf unter das Wasser
Eine Minute lang bleibst du so
Kopf unter Wasser/
Nach einer Nacht voller Alpträume von Telefonklingeln und blinkenden
Bildschirmen atmet dein Gehirn endlich auf
Du bleibst unter Wasser und könntest noch stundenlang dort bleiben
Doch die Zeit verrinnt, und du musst sie aufholen/
Du ziehst Shorts und ein T-Shirt an
Stopfst dir den verbrannten Reis von gestern Abend rein
Und wühlst in deinem Kopfkissen nach ein paar Scheinen /
Dein Nachbar schläft noch, also kannst du in Ruhe suchen
Die Fülle des Geldes macht dir Angst
Höchste Zeit, die Hälfte des Kopfkissens in Euros umzutauschen
Du zögerst, dein Nachbar dreht sich in deine Richtung
Das ist riskant
Er könnte jeden Moment die Augen öffnen
Also lässt du es und gehst/
Du rennst
Der Reis kommt dir beinahe hoch, doch du rennst weiter
Der Expressbus Sainte Marie-Bonne mère fährt genau in dem Augenblick an, als du
ihn beinahe erwischt hast
Dein Herz klopft
Wut steigt hoch
Du ballst die Fäuste und bist still
Du setzt den Kopfhörer auf und hörst
„Die Zeit der Wunder ist nicht vorüber
Die Blinden sehen
Die Lahmen gehen
Die Wahnsinnigen kommen wieder zu Verstand
Die Toten erwachen zu neuem Leben
Jesus ist die Lösung
für Krankheiten und Probleme aller Art
Und wenn auch du willst, dass er in dein Leben eingreift
Dann setze deinen Glauben ein
Glaube an Wunder
Glaube an Jesus
Denn er wird bald wiederkehren“
Beim vierten Stück der auf CD aufgezeichneten und von deiner Kirche für 5000
Franc CFA verkauften Predigt mit der Schwarzweiß-Kopie des Predigers auf dem
Cover kommt der Expressbus Société musulmane –La vérité vorbei
Du nimmst ihn nur ungern, doch die Zeit verrinnt, und du musst sie aufholen/
Du setzt dich auf die Außentreppe des Busses und während der einstündigen Fahrt
hörst du:
„Gott kann dich spirituell erfüllen
Gott kann dich emotional erfüllen
Gott kann dich mit Intelligenz erfüllen
Gott kann dich an diesem Morgen mit einem Plan erfüllen
Dem Plan, der dir fehlt, um vielleicht eine Tür in deinem Leben zu öffnen“
Fertigungskraft, Shanghai (weiblich)
29
Du hörst deinen Namen/
Er kommt von weit weg
Als käme er aus deinem 3700 Kilometer entfernten Dorf
Als würde ihn deine 35 Zugstunden entfernte Großmutter sagen
Als würde ihn der Atem der Toten tragen, die die Erde deiner Eltern fruchtbar
machen
Du hörst deinen Namen, und dein Fleisch fühlt sich an wie durchgeschüttelt von
Insektenbeinen /
Du öffnest die Augen
Fünf Frauenkörper sind um das Bett herum zu Gange
- Da-Xia Da-Xia
- Du bist spät dran.
- Steh auf
- Wasch dich
- Schnell
- Sonst 5 Yuan
- Oder 10
- 5 pro Minute
- Wenn zehn Minuten, dann der ganze Morgen
- Und sie ziehen dir den halben Tag ab
- Los
- Mach schon
- Hoch mit dir
- Schlafen kannst du nachher.
Wann, nachher? Nach was?
Schwachsinnige Fragen, die durch dein mit Müdigkeit vollgesogenes Gehirn
geistern.
Du tauchst deinen Kopf in einen Eimer Wasser
Drei Zahnbürstenbewegungen
Du ziehst deine neongelbe Uniform Made in China über und verlässt den Schlafsaal /
Keine Zeit, dein Gesicht zu betrachten, das ein bleibendes Ekzem übel zugerichtet
hat
Du reihst dich in den gemeinsamen Marsch ein
Du durchschneidest den Raum mit deinen herunterhängenden Armen und atmest
durch/
300 Meter weit geht ihr an den 17 Kilometern Laufbändern entlang
an den Gittern, die rund um die Uhr von Wachleuten in Militäruniform bewacht
werden
an der Liebesquelle
an der Buddhastatue
an der abgesperrten Kantine, und ihr seid da /
Eine Plakattafel in leuchtenden Farben lächelt euch zu
„Wir wünschen Ihnen einen schönen Tag“
Tom Struyf
Another great year for fishing
Kay
30
Joris
Noël
Alles wird gut, ist meine Ansicht. Alles wird gut, denn wir sterben alle.
Das Leben ist, wie es ist: man wird geboren, man lebt, und man stirbt –
manche früher als andere. Also, alles wird gut. Aber: Probleme können
auch schön sein. Es können Herausforderungen sein, wenn man sich
ihnen stellt, darüber nachdenkt, Dinge verändert.
Man sitzt im Flugzeug und sieht durch das Fenster einen der Motoren
abstürzen. Und man denkt: „Wow, das ist nicht gut!“ Also sagt man’s
seinem Nachbarn und der sagt: „Nein, Mann, so schlimm kann’s nicht
sein, wir sind in guten Händen.“ Ich trau dem Braten nicht. Alle sitzen
bei einem Drink, beschäftigen sich mit ihren Handys und gucken Fernsehen. Die Stewardess sagt: „Jetzt setzen Sie sich erst mal gemütlich
hin.“ Und ich: „Nein, ich will denPiloten sprechen! Wir haben einen
Motor verloren!“ „Bleiben Sie ruhig. Sind Sie sicher, haben Sie das wirklich
gesehen?“ „Ja, hab ich wirklich!“ Und du gehst weiter, am Air Marshal
vorbei, der dich vor Entführungen schützen soll, und du machst die Tür
auf … und in dem Cockpit sitzt niemand. Das ist die Wirklichkeit.
Während die Optimisten glauben: „Da ist ein Schurke im Cockpit, und
dann kommt der Held, der den Schurken packt, und dann kommt ein
Journalist und erzählt die Geschichte, und dann ist alles wieder gut.“
Die Realität ist, dass viele Dinge durcheinander passieren, dass da nicht
immer Logik hinter steckt, dass es nicht immer eine klare Ursache und
Wirkung gibt, und dass am Ende nicht immer klar ist, wer gewonnen hat,
oder verloren. Was das angeht, gleicht Realität eher einem Schwedischen
Film, als einem Amerikanischen Actionfilm.
(Stille. Bewegungssequenz.)
Tom
31
Keine vierundzwanzig Stunden später werde ich wach auf einer Matratze
in einem Hotel. Ich weiß nicht wo ich bin. Es ist superwarm. Stimmen
auf dem Flur, in einer Sprache die ich nicht verstehe. Kopfschmerzen.
Muskelkater. Und langsam, ganz langsam kommt alles zurück:
schmutzige Toilette, Gehen, der Zug zum Flughafen Brüssel. Ja. Ich wollte
so schnell wie möglich, so weit wie möglich weg. Ja. Ich liege auf einer
Matratze in einem Hotel in Kapstadt. Südafrika. Ich sammle mich und
suche im Labyrinth von Fluren den Weg zur Rezeption. Ein kleiner,
schwarzer, kahler Mann fängt an zu lachen und zu rufen, sobald er mich
sieht. „Goodmorning Sir! How are you? You like South-Africa?“ Ich
sage, dass ich gerade angekommen bin und frage, ob ich einen Kaffee
bekommen kann, aber er ist nicht zu stoppen. „Of course my friend!
What would you like to do? Clubbing, diving, hiking, township-tour,
Robben-Island, Table Mountain?“ „Äh“, ich komme nicht mit. „Äh,
nothing“, sag ich. „Just nothing.“ Ich erzähle kurz, wie ich hierhergekommen bin und das findet er scheinbar unglaublich – er schlägt mit
der flachen Hand auf den Tisch und lacht, hoch und schrill und ruft:
„You crazy Europeans! Crazy Europeans!“ Ich lache ein bisschen mit ihm
mit. „Yeah.“ „But my friend“, sagt er. „You´re searching for the end of
the world, aren´t you? But that´s not here, I´ll show you, wait. “ The end
of the world ... Wenn man auf der Höhe Belgiens langsam aber sicher
anfangen würde zu sinken. Würde man dann hier wieder auftauchen?
Das Ende der Welt – ja, stimmt, denke ich. Genau das suche ich.
Impressum
Leitung Theatertreffen: Yvonne Büdenhölzer
Dramaturgie Theatertreffen / Stückemarkt:
Christina Zintl
Mitarbeit Dramaturgie / Produktion:
Katrin Schmitz
Praktikantin: Raffaela Phannavong
Ausstatterinnen: Eva Veronica Born,
Christiana Symeonidou (Assistenz)
Regieassistenz: Philipp Urrutia
Stückemarkt-Jury 2015
Tim Etchells, Autor, Regisseur und Performer
(Forced Entertainment)
Helgard Haug, Autorin und Regisseurin
(Rimini Protokoll)
Lutz Hübner, Autor
Milo Rau, Autor und Regisseur (International
Institute of Political Murder)
Yvonne Büdenhölzer (Leiterin Theatertreffen)
Die Berliner Festspiele werden gefördert durch
Das Theatertreffen wird gefördert durch die
32
Festivalbüro: +49 30 25489 233
[email protected]
Stückemarkt-Broschüre
Herausgeber: Berliner Festspiele
Redaktion: Barbara Behrendt, Christina Tilmann
Übersetzung: Elena Krüskemper
Graphik: Ta-Trung, Berlin
Schrift: LL Brown
Papier: PlanoPlus, Circle offset white
Herstellung: enka-druck GmbH, Berlin
Copyright 2015 Berliner Festspiele und Autoren
Stand: April 2015
Veranstalter
Berliner Festspiele
Ein Geschäftsbereich der
Kulturveranstaltungen des Bundes GmbH
Gefördert durch die Beauftragte der
Bundesregierung für Kultur und Medien
Intendant: Dr. Thomas Oberender
Kaufmännische Geschäftsführerin:
Charlotte Sieben
Leitung Redaktion: Christina Tilmann
Leitung Marketing: Stefan Wollmann
Leitung Presse: Claudia Nola
Ticket Office: Ingo Franke
Hotelbüro: Heinz Bernd Kleinpaß
Protokoll: Gerhild Heyder
Berliner Festspiele
Schaperstrase 24, 10719 Berlin
T +49 30 254 89 0
berlinerfestspiele.de
[email protected]
Medienpartner
Der Stückemarkt wird gefördert durch
In Kooperation mit
Wir bedanken uns für die freundliche Unterstützung von
Außerdem danken wir dem Maxim Gorki Theater und
dem Deutschen Theater Berlin
Haus der Berliner Festspiele
3.5.
So
Andere Spielorte
16:00 Camp
Eröffnung Stückemarkt
mit Yvonne Büdenhölzer, Helgard Haug, Lutz Hübner,
Thomas Oberender, Christina Zintl
17:00 bis 18:15 Seitenbühne
Stückemarkt I: Hose Fahrrad Frau von Stefan
Wipplinger
im Anschluss Gespräch mit Stefan Wipplinger und
Lutz Hübner
20:00 bis 21:30
Stückemarkt II: Der Staat / The State
von Alexander Manuiloff
im Anschluss Gespräch mit Alexander Manuiloff
und Johanna Freiburg
4.5.
Mo
12:00 bis 14:00 Camp
What if...
Workshop mit Stefan Wipplinger
14:00 bis 16:00 Camp
Dramaturgy of Restrictions
Workshop mit Alexander Manuiloff
16:00 bis 0:00
Stückemarkt III: TALKING STRAIGHT Festival
von Daniel Cremer / TALKING STRAIGHT
5.5.
Di
12:00 bis 14:00 Camp
Another great workshop
Workshop mit Tom Struyf, Nelle Hens und
Willem De Maeseneer
33
14:00 bis 16:00 Camp
Writing from an actuality image
Workshop mit Alexandra Badea
18:00 bis 19:15 Camp
Stückemarkt IV: Zersplittert von Alexandra Badea
im Anschluss Gespräch mit Alexandra Badea und
Falk Richter
20:30 bis 21:45 Seitenbühne
Stückemarkt V: Another great year for fishing
von Tom Struyf
im Anschluss Gespräch mit Tom Struyf
und Christina Zintl
und Abschlussfeier
6.5.
Mi
15:00 bis 17:00 Camp
TALKING STRAIGHT. In A Meeting With Daniel
Cremer
Workshop und Coaching
17:00 bis 18:30 Camp
Politisches Schreiben heute – Abschlussgespräch
zum Stückemarkt 2015
in Kooperation mit der Bundeszentrale für
politische Bildung (bpb)
9.5.
Sa
13.5.
Mi –
16.5.
Sa
16:30 Uhr Camp
Wolfram Lotz, Hannes Becker: Bring das Zeug von
draußen ins Theater! Aber fix!
Workshop-Präsentation
20:00 bis 21:20 English Theatre Berlin/
International Performing Arts Center
Stückemarkt Revisited
Confirmation von Chris Thorpe
Regie Rachel Chavkin
Am 14.5. im Anschluss Autorengespräch
www.berlinerfestspiele.de
Aus: Another great year for fishing
© Clara & Wies Hermans