Ein schlechtes Gewissen ist kein gutes Ruhekissen

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Hamburger Abendblatt
M
eine
Tochter
stand vor mir,
dieser blonde
Dreikäsehoch,
und
erzählte
von ihrer Schule, und dass bei
einem
Streit
zwischen ihren Freundinnen im Eifer
des Gefechts wieder einmal die
Freundschaft aufgekündigt worden
war. Wieso, weshalb, warum konnte sie
am Ende ebensowenig sagen wie die
Frage nach der Schuldigen beantworten. Nicht glücklich über die Situation,
aber auch ohne größeres Schuldbewusstsein, schaute sie mich an. Je länger wir uns anblickten, umso unsicherer wurde die anfängliche Unschuldsmiene, bis sie schließlich fragte: „Muss
ich jetzt ein schlechtes Gewissen haben?“
Nein, ein schlechtes Gewissen haben musste sie nicht. Entweder hatte
sie eines oder nicht. Und ob dies oder
jenes der Fall war, konnte nur sie allein
wissen. Als Vater hatte ich das nicht zu
beurteilen, schon gar nicht hatte ich ihr
einzureden, sie müsse ein schlechtes
Gewissen haben. Das meldet sich schon
Ein schlechtes Gewissen i
Was meldet sich da in unserem Herzen? Was lässt uns
ruhe­ und rastlos werden, wenn wir uns schuldig fühlen? Stephan Loos über die religiösen, philosophischen und ganz alltäglichen Erklärungen zum inneren Kontrollorgan
von alleine: als Grummeln in der Magengegend, Ruhelosigkeit beim Einschlafen oder bohrender Zweifel, dass
es einem ganz unwohl und schwer ums
Herz wird.
Was aber meldet sich da genau?
Oder anders gefragt: Was ist das
(schlechte) Gewissen? Wer so fragt,
stellt schnell fest, dass es sich mit dem
Gewissen so verhält wie mit anderen
Grundworten der menschlichen Existenz, wie zum Beispiel dem Guten oder
der Wahrheit: Wir wissen immer
schon, was damit gemeint ist, bis zu
dem Moment, da wir danach gefragt
werden und mit einem Mal alles ungewiss ist.
Vielleicht kann die Verwendung
des Begriffes in der Alltagssprache helfen. Wann sprechen Menschen heute
von ihrem Gewissen? Zum Beispiel,
wenn Abgeordnete des Bundestages bei
grundlegenden ethischen oder weltan-
schaulichen Entscheidungen des Parlaments die Freiheit ihres Gewissens für
sich in Anspruch nehmen und nicht an
den Fraktionszwang gebunden sein
wollen. Die Debatten über den Schwangerschaftsabbruch, die Präimplantationsdiagnostik oder ganz aktuell die
Diskussion über die Sterbehilfe verdeutlichen dies. Dass Abgeordnete
nach Artikel 38 des Grundgesetzes
nicht nur in diesen besonderen Entscheidungen, sondern grundsätzlich
„nur ihrem Gewissen unterworfen
sind“, scheint dabei im öffentlichen Bewusstsein verloren gegangen zu sein.
In der Kirche gab es Tendenzen, Gewissen und Gehorsam gleichzusetzen
Bisweilen dient die Berufung auf
das individuelle Gewissen in ethischen
Konfliktsituationen aber auch der
Selbstimmunisierung: Statt die eigene
Entscheidung an allgemeinen ethi-
schen Normen auszurichten oder sich
zumindest selbst kritisch zu prüfen und
von ihnen hinterfragen zu lassen, signalisiert man mit dem Verweis auf das
eigene Gewissen die Unantastbarkeit
der eigenen Position. Wer so das Gewissen versteht, sieht darin nur die
Verlängerung der persönlichen Meinung und des eigenen Willens und reklamiert für sich das Recht zu denken
und zu handeln, wie er es für richtig
hält. Die Aussage, nicht gegen das eigene Gewissen handeln zu können, wird
dann zum Vorwand, hinter dem sich
ein Relativismus verbirgt, der keine
moralischen Regeln anerkennt außer
den eigenen.
Neben dieser Vorstellung gibt es
ein weiteres Missverständnis des Gewissens, das bei genauerer Betrachtung
nur die Kehrseite des ersten ist. Es ist
eine Haltung, in der das Gewissen mit
Gehorsam gleichgesetzt wird: Derjenige handelt gewissenhaft, der gehorsam
bestimmte gesellschaftlich definierte
ethische Normen befolgt. Das Gewissen ist dann nichts anderes als das
Kontrollorgan einer Moral und der sie
artikulierenden Institutionen, die die
Freiheit des einzelnen ignorieren. Das
n ist kein gutes Ruhekissen
schlechte Gewissen und die mit ihm
verbundenen Schuldgefühle dienen als
Druckmittel, mit dem der Einzelne diszipliniert und manipuliert werden soll,
der Gruppenmoral zu folgen. Und es
gehört zur Ehrlichkeit einer Aufarbeitung der Kirchengeschichte, sich einzugestehen, dass es in der Kirche immer wieder Tendenzen gab und gibt,
Gewissen und Gehorsam gegenüber der
Institution gleichzusetzen, den Menschen ein schlechtes Gewissen zu machen und sie sozial zu disziplinieren.
Aber beide Vorstellungen werden
dem Gewissen nicht gerecht. Das Gewissen ist keine Instanz, die den Einzelnen beschuldigt oder entschuldigt.
Diese beiden Auffassungen markieren
ein falsches Verständnis des Gewissens,
weil sie die Spannung ignorieren, die
für das Gewissen zentral ist: In jeder
Gewissensentscheidung geht es einerseits um die nicht delegierbare Verantwortung des Einzelnen und nicht um
die eines Kollektivs, andererseits aber
sieht sich der Einzelne gleichzeitig mit
einem Anspruch konfrontiert, der ihn
verpflichtet, aber nicht aus ihm selbst
kommt. Jeder kann diesen Anspruch
des Gewissens übergehen und ihn im
eigenen Handeln unberücksichtigt lassen, aber loswerden wird er ihn nicht.
Im Gewissen sehe ich mich von ethischen Normen herausgefordert, die ich
in meinem Handeln konkretisieren
kann und muss. Dabei bilden die Normen den Rahmen meiner Entscheidungsfreiheit, aber (noch) nicht die
konkrete Ausübung meiner Freiheit.
Ich muss diesen Rahmen erst mit Leben füllen.
Dabei ist die Sache des Gewissens
älter als der Begriff. Alle Religionen
kennen mehr oder weniger ausgeprägt
die Unterscheidung von Gut und Böse
und damit auch das schlechte Gewissen
– jenes Gefühl, das sich bei dem einstellt, der nicht das Gute, sondern das
sittlich Schlechte getan hat. Aber ein
differenziertes Verständnis des Gewissens hat sich erst im europäischen
Kontext entwickelt, maßgeblich geprägt durch das Christentum. Die Auseinandersetzung der anderen Weltreligionen mit dem europäischen Denken
sorgte dann für eine Berücksichtigung
der Terminologie des Gewissens.
Diese Stimme in mir, die ich
aber nicht selbst bin, noch die
Eltern oder Umwelt, bringt
den Sinn für das sittlich Richtige zum Ausdruck.
So kennt beispielsweise die Bibel
keinen eigenen Begriff für „Gewissen“,
aber die inneren Organe, insbesondere
das Herz, werden als Ort der moralischen Erfahrung angesehen und genannt: Wo die Menschen nicht dem
Willen Gottes und seinen Geboten entsprechend handeln, wird ihr Herz zu
Stein (vgl. Ez 36,26). Der Herzschlag
wird zum Ausdruck des Gewissens. Dabei stellt sich schlechtes Gewissen immer dann ein, wenn der Mensch sich
von Gott und seinen Weisungen entfernt. Sowohl das Alte als auch das
Neue Testament wissen um die oben
beschriebene Gefahr der Funktionalisierung des Gewissens, wenn der
Mensch nicht mehr auf sein ihm eigenes Gewissen hört, sondern sich allein
leiten lässt von den von Menschen gemachten Gesetzen. So ist die Geschichte des barmherzigen Samariters als die
Geschichte eines Mannes zu lesen, der
angesichts der Not des Anderen seinem
Gewissen und nicht den rituellen Ge-
boten entsprechend handelt. Im Laufe
der westlichen christlichen Tradition
wird das Gewissen weniger mit dem
Herzen in Zusammenhang gebracht,
sondern zunehmend als „Raum für das
Zwiegespräch zwischen Gott und der
Seele“ oder gar als „Stimme Gottes“ gedacht. Dabei wird zwischen dem UrGewissen, das die grundsätzliche Moralfähigkeit des Menschen meint, und
dem konkreten Anwendungsvorgang
des Gewissens unterschieden. In dem
zusammengesetzten Wort für Gewissen – con-scientia – deutet sich an, dass
das Gewissen zwar auf die individuelle
Entscheidung zielt, dass es sich aber
um ein Mit-Wissen handelt, ein sittliches Bewusstsein, das in der Entscheidung des Einzelnen immer schon den
Anderen und seine Rechte mitberücksichtigt.
In der philosophischen Tradition
wird das Gewissen als Bewusstsein
eines inneren Gerichtshofes im Menschen (Kant) oder als die „Stimme in
mir, die ich selbst bin“ (Jaspers) verstanden. Diese Stimme in mir, die ich
aber nicht selbst bin, noch die Eltern,
Umwelt oder Gesellschaft, bringt den
Sinn für das sittlich Richtige zum Ausdruck, aber auch den Sinn für die Verpflichtung, die mit dieser Erkenntnis
verbunden ist. Dass ich sie vernehmen
kann, ist nicht erst Ergebnis der Erziehung oder Sozialisation, sondern ist
dem Menschen mit seinem Menschsein
aufgegeben. Nur dann kann sie mich
innerlich überzeugen. Aber welchen
Raum ich dieser Verpflichtung gebe,
wie sehr ich ihr nachkomme oder ob
ich sie gar überhöre, entscheide ich
selbst. Bisweilen ist es lästig oder anstrengend, auf das Gewissen zu hören.
Einer meiner theologischen Lehrer
war der Überzeugung, dass ein schlechtes Gewissen ein guter Freund sein
könne, weil es uns an unsere besseren
Möglichkeiten erinnert. Zum einen an
unsere Möglichkeit, dass wir in unserer
liberalen Gesellschaft im Modus der
Unentschiedenheit nicht weit kommen, sondern dass ein jeder herausgefordert ist, im Angesicht der anderen
das zu tun, was niemand sonst tun kann
und was er gerade als seine jetzige, alleinige Aufgabe übernehmen kann.
Der Philosoph Max Müller sagte
dazu: „In ihm erfährt der Mensch den
an ihn jetzt, individuell ergehenden,
einmaligen Anspruch des Gewissens.“
Wir müssen immer wieder zwischen
verschiedenen Möglichkeiten wählen
und uns in der jeweiligen Entscheidung
binden, um etwas, vor allem uns selbst,
zu gestalten. Dabei geht es nicht darum, unser Handeln nur am eigenen
Interesse auszurichten, sondern vor
dem unbestechlichen Blick des Gewissens zu verantworten, so als ob uns ein
Freund anschaute und uns voller Zutrauen und Wertschätzung an unsere
besseren Möglichkeiten erinnerte. Ein
so verstandenes schlechtes Gewissen
ist freilich etwas ganz anderes als jenes
schlechte Gewissen, das wir anderen
einreden oder das wir von anderen eingeredet bekommen. Denn dabei geht es
immer nur darum zu verurteilen,
Macht auszuüben und zu manipulieren. Viel wichtiger wäre es, das schlechte Gewissen als Erinnerung an die noch
nicht eingelöste Möglichkeit des Guten
zu verstehen. Das so verstandene Gewissen eignet sich nicht als sanftes Ruhekissen.
Apropos Zutrauen: Der blonde
Dreikäsehoch kam am nächsten Tag
sichtlich vergnügt aus der Schule und
ließ mich kurz und knapp wissen: „Ich
habe mir ihr geredet und jetzt ist alles
wieder gut.“
Dr. Stephan Loos ist Direktor der Katholischen Akademie Hamburg
Christian Ender Marcelo Hernandez