Wie verstehen wir einander?

Wie verstehen wir einander?
Die non-verbalen Grundlagen unserer Beziehungen
Thomas Fuchs
Einleitung:
Sprache und Körpersprache
„Zwischenleiblichkeit“
(„intercorporéité“, Merleau-Ponty 1960)
Verbale und nonverbale Kommunikation
„Man lügt wohl mit dem Munde; aber mit dem Maule,
das man dabei macht, sagt man doch die Wahrheit.“
Friedrich Nietzsche
Aktuelle Konzepte der sozialen
Kognitionswissenschaften
„Theory of Mind“, „Mind-reading“, Mentalisieren:
- Erschließen der Bewusstseinszustände anderer
auf Basis allgemeinen Wissens über Absichten,
Wünsche, Überzeugungen anderer
- soziale Wahrnehmung als Beobachtung
- soziale Module im Inneren des Gehirns
Zwischenleiblichkeit
Soziales Verstehen beruht primär auf einem interaktiven
und zwischenleiblichen Prozess, in den beide Partner
einbezogen sind.
a) Koordination von Ausdruckssignalen
b) Leiblich-affektive Resonanz
Überblick
(1) Zwischenleibliche Kommunikation
(2) Primäre Intersubjektivität in der frühen Kindheit
(3) Konsequenzen für Psychiatrie und Psychotherapie
(1) Zwischenleibliche
Kommunikation
(a) Dynamische Koppelung und Koordination
- Phasengleiches oder –verschobenes Verhalten
- Imitation, Resonanz, rhythmische Ko-Variation von
Ausdruckssignalen
- synchronisierte Mikrobewegungen (Condon &
Ogston 1966, 1975)
- Dyade als emergentes System mit neuen
Prozesseigenschaften
Motion Energy Analysis (MEA): Bewegungsanalyse
von Videodaten
(Ramseyer & Tschacher 2011)
ROI = Region of
Interest
Ergebnisse
70 Patienten, schemaorientierte Psychotherapie
(34% Angststörungen, 29% affektive Störungen, 11.4% Anpassungsstörungen,
8.6% Persönlichkeitsstörungen, 17% andere)
• Synchronie in Psychotherapie-Sitzungen
ausgeprägter als in Zufallsinteraktionen
• Synchronie positiv korreliert mit Therapiebeziehung
und Bindungsstil
• Synchronie positiv korreliert mit Resultat
(Symptomreduktion, Selbstwirksamkeit)
Ramseyer & Tschacher (2011) JCCP
(b) Zwischenleibliche Resonanz und Inkorporation
- Phasengleiches oder –verschobenes Verhalten
- Imitation, Resonanz, rhythmische Ko-Variation von
Ausdruckssignalen
- synchronisierte Mikrobewegungen (Condon &
Ogston 1966, 1975)
- Dyade als emergentes System mit neuen
Prozesseigenschaften
(b) Zwischenleibliche Resonanz und Inkorporation
Eigenleibliche
Resonanz
A
Zwischenleibliche
Resonanz
B
Eigenleibliche
Resonanz
B spürt A “am eigenen Leib”.
Embodiment: Verkörperte Wahrnehmung
Wechselseitige Inkorporation
Beiderseitige Ausdehnung der Körperschemata
bzw. der leiblichen Aktionsfelder
Er freut
sich.
„Theory of Mind“
ToM
Verkörperter und handlungsbezogener Ansatz
Wahrnehmen
Interaktionskreis
freudig,
„zu umarmen“
Handeln
Zwischenleiblichkeit
Interaffektivität
Wechselseitige Inkorporation (Fortsetzg.)
- leibliche Resonanz: Imitationstendenz
- wechselseitige handlungsbezogene Wahrnehmung
“Die Kommunikation und das Verständnis von Gesten entsteht
durch die Wechselseitigkeit zwischen meinen Intentionen und
des Gesten des anderen, zwischen meinen Gesten und den
Intentionen, die ich im Verhalten anderer wahrnehmen kann.
Es ist, als ob die Intentionen des anderen meinen Leib
bewohnten, und meine Intentionen den seinen.“
(Merleau-Ponty 1966)
Zusammenfassung
Soziale Wahrnehmung beruht primär auf der
Zwischenleiblichkeit:
- Koordination
- leibliche Resonanz, wechselseitige Inkorporation
(2) Primäre Intersubjektivität
in der frühen Kindheit
Der frühe Dialog
Angeborene
Fähigkeit zur
AusdrucksImitation
(Meltzoff & Moore 1989)
Frühe Imitation: Grundlage der Empathie
Leibliche Resonanz
•
Proto-Konversationen
(Trevarthen 1986)
•
Musikalische Qualitäten
(„crescendo“, „decrescendo“,
fließend, weich, explosiv etc.)
•
Affektabstimmung, „gemeinsame
Bewusstseinszustände“, „gemeinsamer Tanz“
(Daniel Stern)
Implizites Beziehungswissen
(Lyons-Ruth, Stern et al. 1998)
- Entstehung emotional-interaktiver Schemata aus
dyadischen Interaktionssequenzen („schemes of
being-with“, „schemes of interacting-with)
- Implizites Gedächtnis (prozedurales Gedächtnis):
Verankerung wiederkehrender leiblicher Erfahrungen
als Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster
- neuronal v.a. subkortikal organisiert
- „zwischenleibliches Gedächtnis“
„Still-Face“-Experiment
•
2 Minuten lange starre Mimik der Mutter im Verlauf
einer Spielsituation
 irritierte, oft beunruhigte Reaktion des Säuglings
•
Unterscheidung der Kinder von Müttern mit
- sensiblem, aktivem Interaktionsverhalten
- eher unsensiblem, passivem Verhalten /
Depression (häufige Folge: Bindungsstörung)
Entwicklung des zwischenleiblichen Gedächtnisses
Implizites
Beziehungswissen
acting
Leibliche Persönlichkeitsstruktur
-
„eingefleischte“ Haltungen und Verhaltensweisen:
z.B. Unterwürfigkeit
-
Leibliche Haltungen sind Ausdruck von schemes
of being-with oder acting-with, d.h. ein bestimmtes
Angebot zum Umgang mit anderen.
-
„Erster Eindruck“ als Ausdruck der Persönlichkeit
(3) Konsequenzen für Psychopathologie
und Psychotherapoe
Zwischenleiblichkeit
in der psychiatrischen Diagnostik
-
„atmosphärische Diagnostik“ im Erstkontakt
-
Diagnose aus der Störung der leiblichen
Kommunikation (z.B. „Präcox-Gefühl)
Zwischenleiblichkeit in der Diagnostik
Video-Mikroanalyse von psychiatrischen Explorationen (Heller 1997):
-
Ca. 60 Patienten, drei Tage nach Suizidversuch
-
Mimik- und Gestik-Analyse bei Psychiaterin und Patienten: Prädiktion
künftiger Suizidalität?
-
Eigene Einschätzung des Suizidrisikos durch die Psychiaterin
Katamnese nach einem Jahr:
Vergleich von 10 Re-Suizidenten mit 11 Nicht-Suizidenten
Resultat: Körpersignale der Psychiaterin waren signifikant mit
erneuten Suizidversuchen korreliert (81%)
eigene Einschätzung der Psychiaterin lag nur auf
Zufallsniveau (17%)
Zwischenleiblichkeit in der Psychotherapie
-
Psychotherapie-Prozessforschung: Bedeutung der
Körpersprache und der Spiegelung
-
Veränderung impliziter Beziehungsmuster durch die
Therapie: „prozessuale Aktivierung“ (Grawe 2000)
-
„Momente der Begegnung“ (D. Stern u.a.)
-
„korrektive emotionale Erfahrung“ (Alexander 1950)#
-
Körpertherapeutische Ansätze
-
Leibliche Gegenübertragung
Resümee
Zwischenleiblichkeit, leibliche Resonanz und Interaffektivität als Grundlage des sozialen Verstehens
Zwischenleiblichkeit in der Psychotherapie
Das Unbewusste im gegenwärtigen Raum der
Beziehung
Psychotherapie und Neurobiologie
Das Gehirn als Beziehungsorgan:
- Funktionen eingebettet in Beziehungen
- Struktur geprägt und modifiziert durch Beziehungen
„Wir selbst sind das Instrument, das die Tiefen der Seele des
Patienten sondiert, das mit seinen Gefühlen mitschwingt, seine
verborgenen Konflikte entdeckt und die Gestalt seiner wiederkehrenden Verhaltensmuster erkennt“ (Nemiah 1989)
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!