Was wäre, wenn… - Siemens

Highlights
46
Pioniere in der Provinz
Vorbild für Deutschland? In Wildpoldsried regelt ein intelligentes Stromnetz die Balance zwischen Angebot
und Nachfrage. Das Allgäuer Dorf
produziert doppelt soviel Öko-Strom,
wie es selbst verbraucht – ohne ein
Smart Grid würde die Netzstabilität
schnell an ihre Grenzen kommen.
49
Wendung zum Guten
Energiewende: Warum wir derzeit in
Deutschland einen weltweit einmaligen Umbauprozess erleben, der auch
in seiner Komplexität einzigartig ist,
erklärt Stephan Kohler, der Chef der
deutschen Energieagentur dena im
Interview.
50
Bürger ins Boot holen
Große Infrastrukturprojekte sind
nicht nur technisch kompliziert. Auch
wenn es um die Umsetzung geht,
türmen sich oft hohe Barrieren auf –
denn wer will schon ein Kraftwerk
oder eine Sondermülldeponie direkt
vor der Haustüre haben? Wie sich dieser gordische Knoten einvernehmlich
durchtrennen lässt, haben etwa die
Schweizer vorgemacht.
60
Wechselwirkungen simulieren
Mit einer neuen Software-Plattform
können Siemens-Forscher mit wenigen Klicks ganze Straßenzüge in einer virtuellen Stadt entstehen lassen.
Das System zeigt ihnen, welche
Folgen die Bauschritte auf die Umgebung haben werden – das reicht vom
Verkehr über die Energiebilanz bis
hin zur lokalen Beschäftigungsrate
oder der Wirtschaftsleistung.
Komplexität beherrschen | Szenario 2040
Was wäre, wenn…
Eine chinesische Megacity im Jahr 2040: Im Labor für Stadtentwicklung untersuchen Li und sein Kollege Shi die Auswirkungen eines Neubauprojektes auf ein altes, bislang kaum
berührtes Viertel. Li taucht dabei tief in die Materie ein …
D
ie Dunkelheit ist ebenso allumfassend wie
die Stille. Leichter Schwindel überfällt Li
und raubt dem jungen Chinesen die Orientierung. Die mahnenden Worte des leitenden Ingenieurs kommen ihm in den Sinn – „halte die
Augen beim Daten-Upload geschlossen, sonst
verschmutzt Du mein teures Labor.“ Li befolgt
den Rat von Shi, der das neue Zentrum für
Stadtplanung entwickelt hat. Langsam kommt
sein Gleichgewichtssinn wieder in die Balance.
Die Luft ist warm, trocken und riecht etwas steril.
„Programm fertig geladen“, flüstert eine Stimme
in Lis Ohr. „Öffnen Sie nun bitte die Augen.“
Eine laue Brise weht ihm ins Gesicht. Sie
duftet leicht nach Geflügelbrühe und Hühnermist. Die sonnenüberflutete Straße ist gesäumt von Bäumen, dahinter reihen sich traditionelle Holzbauten. Alte Männer sitzen vor
der Türe, spielen Mah-Jong und rauchen. In einem der Hinterhöfe bellt ein Hund. Li spaziert
die Straße entlang. Unter seinen Füßen spürt
er den rissigen Asphalt und stolpert beinahe
über eine der großen Bodenwellen. Shis holographische Simulation ist einfach perfekt – so
perfekt, dass es schon fast unheimlich ist. Und
das ist auch gut so, denkt sich der junge Stadt-
2040
Blick in die Zukunft: Mitten in einer chinesischen Metropole befindet sich ein altes traditionelles Viertel, dessen Infrastuktur nicht
mehr „kompatibel“mit dem Rest der Megacity
ist. Ein neuer Hightech-Gebäudekomplex soll
den Anschluss an die Moderne herstellen. Vor
dem Baustart prüft der Stadtplaner Li die
Auswirkungen des Projekts. Sein Instrument
der Wahl: ein neues holographisches Labor,
wo die Zukunft realitätsgetreu simuliert wird.
40
Pictures of the Future | Frühjahr 2012
Pictures of the Future | Frühjahr 2012
41
planer, denn nur wenn jedes kleinste Detail abgebildet ist, lassen sich alle Auswirkungen des
Bauprojektes auf das alte Viertel exakt simulieren. Das Quartier ist in den letzten Jahrzehnten
ein wenig in Vergessenheit geraten – und mit
seiner überholten Infrastruktur ist es auch
nicht mehr ganz „kompatibel“ mit dem großen
Rest der hypermodernen Megacity. Bei so einer
Rarität muss man also ganz besonders vorsichtig sein: Eingriffe in das gewachsene System
können unabsehbare Folgen haben.
Lautlos kommt Li ein einsames Elektrofahrrad entgegen. Instinktiv weicht er auf den Bürgersteig aus und stößt dort beinahe mit einer
jungen Frau zusammen. „Verzeihung“, murmelt Li. Das Mädchen lächelt. „Ich habe nicht
für zehn Millionen Yuan ein Flirtprogramm entwickelt“, brummt Shis Stimme aus dem Off.
„Glaub mir, sie ist buchstäblich unantastbar –
wie alle anderen auch. Lass uns endlich mit der
Arbeit beginnen.“ Li blickt sich irritiert nach Shi
um, sieht aber nur einen alten Mann mit einer
Pfeife zwischen den Zähnen. „Computer“, befiehlt er. „Planungsprogramm abfahren.“
Wie in einem überdimensionalen Videospiel baut sich am Ende der alten Gasse in Sekundenschnelle ein imposanter Gebäudekomplex auf. Stück für Stück stapeln sich wie von
Geisterhand riesige verspiegelte Quader, die
das Sonnenlicht reflektieren. Li blinzelt. Die
kleine Straße ist in gleißendes Licht getaucht
und es ist merklich wärmer geworden.
„In Ordnung, Shi“, sagt Li. „Erster Kritikpunkt:
Wir müssen die Architektur überarbeiten. Es ist
zu hell, zudem ist die Umgebungstemperatur
um zwei Grad gestiegen.“ Li deutet auf eine
Temperaturskala, die sich in den leeren Raum
einblendet. „Ist notiert“, kommt Shis Stimme
aus dem Off. „Ich starte nun den Zeitraffer von
der Stunde Null bis zwei Jahre nach Fertigstellung des Baus.“ In atemberaubender Geschwindigkeit versinkt die Sonne hinter den Häusern,
legt sich die Nacht über das Viertel und wird
wieder vom Tageslicht vertrieben. Wolken rasen über den Himmel und die Menschen sausen wie Furien durch die Straßen. Der Verkehrsstrom verwandelt sich in eine gleißende,
bunte Bahn, die mitten durch Li hindurchrast.
„Stop!“, ruft er leicht gehetzt, „ich denke,
das reicht. Verschaff mir mehr Überblick, Shi.“
Die Welt um den Stadtplaner scheint auf einmal zu schrumpfen. Wie ein Riese steht er
plötzlich zwischen den Häusern, die höchsten
Gebäude reichen ihm gerade bis zu den Knien.
Das Leben um Li läuft indessen normal weiter.
„Es ist neun Uhr vormittags, genau eineinhalb
Jahre nach der Einweihung“, konstatiert Shi.
„Du brauchst übrigens nicht so vorsichtig die
Füße heben, Du kannst hier nichts beschädigen. Wie gefällt Dir das Leben in der Zukunft?“
In den engen Gassen unterhalb von Li drängt
sich der Verkehr, unzählige Autos suchen hu-
42
Pictures of the Future | Frühjahr 2012
pend eine Lücke und blockieren den schmalen
Bürgersteig. „Erinnert mich an die Verkehrssituation vor 30 Jahren“, wundert er sich. „Dieses Aufkommen hatten wir so nicht erwartet.
Offenbar ist durch den Bau die Attraktivität des
alten Viertels enorm gestiegen, obwohl es sich
nur um einen neuen Gebäudekomplex handelt.
Computer, zeig mir den aktuellen Mietspiegel.“
Eine Grafik erscheint am Himmel. „Die Mieten
sind ziemlich gestiegen“, stellt Li fest. „Auf den
Straßen sind nun auch sehr viel mehr junge,
modern gekleidete Leute zu sehen. Klarer Fall
von Gentrifizierung.“ Er zeigt auf ein paar Straßenecken. „Hier brauchen wir neue Metroanschlüsse, die alte Buslinie reicht definitiv
nicht mehr aus. Computer: Metrolinie verlängern und Simulation erneut starten.“ An den
Stellen wachsen selbstständig mehrere U-BahnStationen wie Pilze aus dem Boden. Der Verkehr dünnt sich daraufhin wieder aus.
„Shi, zoom mich wieder ins Geschehen“, bittet Li. Während er auf Normalmaß schrumpft,
tritt die junge Frau aus einem Hauseingang
und wendet sich an Li. „Seit ihr uns den neuen
Klotz vor die Haustür gestellt habt, fällt dreimal
pro Woche der Strom aus“, schimpft sie. „Zudem
steigt unsere Wasserrechnung in den
Himmel.“ Li mustert bewundernd das
stänkernde Hologramm. „Tolle Idee,
Shi, die digitalen Bewohner selbst zu
Wort kommen zu lassen. Zeige mir
bitte die Energieflüsse im Viertel.“
Sekunden später manifestiert
sich ein detailreicher Netzplan vor Lis
Nase. „Ich habe das Problem“, sagt Shi
aus dem Off. „Das Stromnetz im Viertel
wurde noch nicht erneuert, zugleich hat
der Individualverkehr zugenommen – es laden
zu viele Elektrofahrzeuge zur gleichen Zeit.“ Li
befiehlt dem Computer, ein Smart Grid einzurichten, um das Stromnetz zu stabilisieren.
„Scanne auch das Wassernetz“, sagt er. „Ich
habe den Verdacht, dass sich durch den MetroBau viele kleine Lecks gebildet haben, zudem
ist mit dem verstärkten Zuzug wohl auch der
Wasserbedarf enorm gestiegen.“ Die junge
Frau lächelt Li dankbar an. „Hör auf, mit meiner Software zu flirten“, funkt Shis Stimme dazwischen. „Schließe lieber die Augen, wir brechen jetzt ab und machen morgen weiter.“
Als Li die Augen wieder öffnet, ist die kleine
Welt mit ihren Gerüchen, den alten Häusern
und ihren Bewohnern verschwunden. Er steht
in einem weißen, kontrastlosen Raum. Wände
und Decke kann Li nicht erkennen, nur eine
Tür, die sich einige Meter vor ihm öffnet. Shi
steckt den Kopf herein. „Komm, wir gehen jetzt
Abendessen. Ich habe noch eine Bekannte eingeladen – hoffe, das geht in Ordnung.“ Als die
beiden das Lokal betreten, sitzt eine junge Frau
an der Bar. Sie lächelt Li an. Es ist das Mädchen
aus dem Hologramm.
Florian Martini
G
roßbreitenbach als Teil eines der revolutionärsten und komplexesten Projekte der
Welt? Das würde den Einwohnern der 2.700Seelen-Gemeinde im Thüringer Wald wohl weniger in den Sinn kommen. In dem beschaulichen Erholungsort ist man vielmehr stolz auf
seine prominenten Töchter: die WintersportLegenden, Olympiasiegerinnen und Weltmeisterinnen, Manuela und Andrea Henkel. Im
Sommer ist der heimische Kräutermarkt das
Gesprächsthema, mitunter auch die Wahl der
„Thüringer Olitätenmajestät“.
Seit einiger Zeit ist die Stimmung jedoch
getrübt, was mit einer Entscheidung der deutschen Bundesregierung zusammenhängt – die
will das deutsche Energiesystem schrittweise
auf erneuerbare Energien umstellen. Bis 2020
Komplexität beherrschen | Trends
Ein komplexes Puzzle
Je größer und dichter unsere Städte, unsere Energie-, Wasser- oder Verkehrsnetze
werden, desto mehr Computerunterstützung brauchen wir, um der Komplexität Herr zu
werden – eine Aufgabe, wie geschaffen für die Forscher und Ingenieure bei Siemens.
soll der Ökostromanteil auf 35 Prozent steigen,
bis 2050 auf 80 Prozent. Und 2022 sollen im
letzten Kernkraftwerk die Lichter ausgehen.
„Wir erleben derzeit einen weltweit einmaligen
Umbauprozess, der in seiner Komplexität einzigartig ist“, sagt Stephan Kohler, Chef der
deutschen Energieagentur (S.49). Das Problem: Wer die Energiewende will, muss auch
Ja sagen zum Ausbau von Stromnetzen, Speichersystemen und Windkraftanlagen.
Die Großbreitenbacher, vor deren Haustür
eine der großen Starkstromtrassen entstehen
soll, die die grüne Energie von Windparks im
Norden in die Verbrauchszentren im Süden
transportiert, haben erst einmal Nein gesagt –
und Bürgerinitiativen gegründet. Doch alles
hängt mit allem zusammen: der Windpark in
der Nordsee, das Dorf in Thüringen und der Erfolg der grünen Zukunftsvision. „Das macht die
ganze Sache so kompliziert“, sagt Kohler.
Während die Großbreitenbacher die ihnen
zugedachte Rolle bei der Energiewende kritisch sehen, sind die Wildpoldsrieder im 400
Kilometer entfernten Allgäu fleißig dabei,
selbst ein komplexes Stück Zukunft zu erproben. Die 2.500-Seelen-Gemeinde nimmt vieles
vorweg, was in Deutschland erst in ferner Zukunft Realität werden kann: Bereits heute produziert das Dorf mit seinen Dutzenden Photovoltaik-, Biomasse- und Windanlagen doppelt
soviel Strom, wie es selbst verbraucht. Die großen Ökostrom-Überschüsse bringen das kom-
munale Netz allerdings an seine Grenzen – so
kommt es je nach Sonne und Wind zeitweise
zu Leistungsunterschieden von 40 Megawatt
innerhalb einer halben Stunde.
Um das Netz stabil zu halten, testen die Allgäuer Überlandwerke zusammen mit Siemens
ein Smart Grid (S.46). Ein solch intelligentes
Stromnetz ist ein wichtiger Baustein des künftigen Energiesystems, denn nur so können die
vielen komplexen Vorgänge innerhalb eines
Netzes mit vielen erneuerbaren Energiequellen
ausbalanciert werden. In Wildpoldsried soll ein
Energieautomatisierungssystem mit Hilfe von
Software-Agenten selbstständig den Stromfluss steuern und Einspeisung und Verbrauch
im Gleichgewicht halten. Im weiteren Verlauf
des Forschungsprojekts sollen zudem noch 32
Elektroautos integriert werden. Interessierte
Wildpoldsrieder können die kleinen Elektroflitzer leasen – und zugleich sollen sie als Zwischenspeicher für Überschuss-Strom dienen.
Doch nicht nur unser Energiesystem wird
immer komplizierter. Auch in Städten formen
Infrastrukturen vielfach miteinander verwobene
Gebilde. Je mehr Menschen sich in den Ballungsräumen drängen, desto unübersichtlicher wird
das System. So wird es 2015 weltweit mindestens 25 Großstädte mit mehr als zehn Millionen
Einwohnern geben – die größten Ameisenhaufen mit ein paar Millionen Insekten sind dagegen bescheiden in ihrer Komplexität. Entsprechend groß können die Konsequenzen sein,
Pictures of the Future | Frühjahr 2012
43