PROJECT EUROPE – EINMAL UM DEN GANZEN KONTINENT Von meiner eigenen Türschwelle aus beschleunigte ich mein Velo Richtung Welt. 376 Tage lang fuhr ich alleine 17’500 Kilometer durch 36 verschiedene Länder und streifte dabei die Kontinente Afrika und Asien. Eine Reise als Begegnung mit mir selber und der unverfälschten Realität um uns herum, so nah und doch so weit weg. TEXT UND BILDER: JOËL BAZELLI E s ist Sommer. Die Sonne wirft ihre Strahlen auf den noch immer klatschnassen Asphalt. So ganz unschuldig durch dringen sie die eben aufgerissene Wolkendecke, so als ob sie mich nie verlassen hätten. Auf dem Wasserfilm der Strasse reflektierend, erzeugen sie ein schillerndes Blitz spektakel aus tausenden, glühend erscheinenden Punkten, die zusammen als Glitzerwolke vor mir funkeln. Feinste Wassertröpfchen umhüllen die zarten Halme der Gräser und Büsche um mich herum. Sie hocken da, warten und erwärmen sich langsam am scheinenden Licht. Einige von ihnen schaffen es schliesslich, mit der Kraft der Sonne in die Luft emporzusteigen um diese mit feinen Ne belschwaden zu erfüllen. Es ist ruhig. Noch nicht einmal die Vögel scheinen aus ihren Verstecken herausgeflogen zu sein. Zu hören ist nur mein Atem und das Gleiten des Gum mis auf dem feuchten Untergrund. Soeben hat mich ein heftiger Platzregen erfasst. Inner halb von wenigen Minuten, ohne Vorwarnung, haben sich einige Wolken zusammengeschlossen und sich zu einer schwarzen Wand getürmt. Es blieb mir nicht einmal die Zeit, nach einem Unterstand Ausschau zu halten, einer Scheune vielleicht oder einem Bushäuschen. Und auch wenn ich die Zeit dafür gehabt und gesucht hätte, fündig wäre ich hier mitten in diesem Talabschnitt auf der Strasse 71, irgendwo bei Kilometer 50, Richtung Sinaia, niemals geworden. Denn Scheunen gibt es hier in den tiefen, menschenleeren Tälern Rumäniens am Fusse des Karpatengebirges, drei Tages etappen nordwestlich von Bukarest, nicht mehr. Busse verkehren zwar, wo es aber keine Weiler und Dörfer gibt, stehen bekanntlich auch keine Bushäuschen, die dem vor beikommenden Veloreisenden vor einem Sommerregen Schutz bieten könnten. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als mich diesem dunklen Wolkenmonster zu stellen. So schnell jedoch es mich verschlang, so rasch spuckte es mich auch wieder heraus. Und so fahre ich nun zusammen mit zwei Pfützen in den Schuhen und der funkelnden Glitzerwolke vor mir weiter Richtung Kilometer 60. Eine Reise so vielfältig wie die Länder, durch welche sie führt In den letzten 11 Monaten folgte ich der Weinroute des El sasses, bestaunte die schillernden Banken in Luxemburg, erlag dem belgischen Bier, fuhr entlang den nicht endenden holländischen Kanälen, trank in England von früh bis spät Tee, überquerte bei Sturm und Regen die schottischen Highlands, schloss in Irland Freundschaft mit tausenden von Schafen, verstand in Wales die Leute wegen ihres für meine Ohren fürchterlichen Dialekts nicht, durchquerte dann ganz Frankreich von der Normandie bis nach Biarritz, ass in Spanien zu viele Tapas, lernte in Portugal surfen, schiffte mit der Fähre über die Strasse von Gibraltar und 6 REPORTAGE AKTUELL HERBST 2016 Angekommen am Sandstrand in Schottland. Links: Quer durch Bosnien und Herzegowina. AKTUELL HERBST 2016 REPORTAGE 7 erkundete den Norden Marokkos. Zurück in Spanien durch fuhr ich Andalusien und verliebte mich in Madrid in eine wunderbare Frau. Nach einem Monat Pause überquerte ich die schneebe deckten Pyrenäen in Andorra auf über 2400 Metern und rollte zurück ans Mittelmeer. Darauf folgte ich der Côte d’Azur entlang bis nach Italien und dann den Stiefel abwärts über Sizilien bis nach Malta. Auf dem Rückweg sah ich im Vatikan den Papst und in San Marino fiel ich in einen Bach. In Slowenien besuchte ich ein Musikfestival der Extra klasse, übernachtete in Kroatien zusammen mit Kühen in einer Scheune, rettete in Serbien einer Schildkröte das Leben, wurde in Bosnien mit den Spuren des Krieges kon frontiert, fand in Montenegro die spektakulärsten Natur landschaften, folgte in Albanien dem Adler bis nach Maze donien und ass im Kosovo für umgerechnet 2 Franken die günstigste Pizza meines Lebens. Nachdem ich dann in Bulgarien mehr als nur einmal unter den Tisch getrunken worden war und in Griechenland erneut einer Schildkröte das Leben gerettet hatte, schiffte ich über das Ägäisches Meer hinüber auf den asiatischen Teil der Türkei. So fuhr ich in den letzten Wochen zurück Richtung Nordwes ten, badete im Schwarzen Meer, überquerte den Bosporus zurück nach Europa und befinde mich eben nun auf dieser rumänischen Strasse 71 Richtung Sinaia. 2 9 1 7 8 «Ich entschied mich dafür, ein fast perfektes Leben hinter mir zu lassen.» Ein Moment des Mutes So vieles liegt nun schon zwischen mir und dem Moment, als ich die Haustür zum letzten Mal geschlossen, dem Stückchen Erde, welches ich Heimat nenne, den Rücken gekehrt habe. Kein Pedalentritt zuvor hat mich so viel Kraft gekostet wie jener, mit dem ich mein Rad von der Tür schwelle aus in Richtung Welt beschleunigte. Ein Tritt, welcher so viel Mut brauchte, dass ich heute noch erstaunt bin, ihn gemacht zu haben. Und doch drückte ich die Peda le nach unten. Ich entschied mich dafür, ein fast perfektes Leben hinter mir zu lassen. Ein Leben, in dem die sauber geölte Kette geräuschlos und präzise von einem in den an deren Gang schaltete, ein Leben, in dem wahrscheinlich keine Pannen die genussvolle Weiterfahrt unterbrochen hätten. So war schlussendlich auch dieser Umstand, wie ich mühelos und selbstverständlich durch die Tage und Jahre schritt, der Grund für meine Reise. Meine Realität und die der anderen Vieles habe ich nun schon erlebt, Schönes aber auch Trau riges gesehen. Ich habe meine Zeit mit Leben gefüllt und sie so schier unendlich lange werden lassen. Ich habe Men schen und ihre Geschichten kennengelernt, vieles über ihre Sorgen und Ängste, aber auch über ihre Träume erfahren. Ich habe realisiert, dass in manchen Teilen Europas Häuser mit fliessend Wasser und Stromanschluss Luxus sind, dass 8 REPORTAGE es viele Menschen gibt, die mit 5 Franken am Tag überleben müssen, dass eine einzige Milchkuh manchmal noch das ist, was einem geblieben ist. Mit meinem Velo war es mir möglich, den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. Ich reiste mit derselben gemächlichen Geschwindigkeit wie sie durch den Tag glitten. Oft schien es, als wäre ich einer von ihnen. So wie sie stundenlang reglos auf selbstgezimmer ten Bänken sitzend in den Tag hineinatmeten, sass auch ich auf meinem Sattel und atmete den Tag durch meine Lun gen, ohne grosse Pläne, mit den Gedanken im Moment. Zum ersten Mal erlebte ich wie es ist, wirklich alleine zu sein, sich alleine zu fühlen. Ich lernte damit umzugehen und stellte fest, dass in diesem Zustand des Alleinseins oft die inten sivsten Momente entstehen. Ich tastete meine Grenzen ab und überschritt diese manchmal bewusst, um meine Reak tion zu sehen. Ich spürte mich schwitzen, hörte mich lachen Jetzt scannen für mehr Reisefotos und Infos! Oder: www.projecteurope.org AKTUELL HERBST 2016 3 6 1. Zusammen mit meinem Bruder unterwegs im tiefen Balkan. 2. Heiligabend über den Dächern von Tanger in Marokko. 3. Fliessend Wasser und Strom können Luxus sein. 4. Etwas Kitsch im portugiesischen Hinterland. 5. Dieser Schildkröte habe ich das Leben gerettet. 6. Den Stiefel abwärts unter italienischer Flagge. 7. Das persönliche Paradies habe ich auf einer griechischen Halbinsel am Ägäischen Meer gefunden. 8. Die Grenze zweier Kontinente auf dem Bosporus in der Türkei. 9. Ein Veloplus-Laden in Afrika? AKTUELL HERBST 2016 4 5 und sah mich weinen. Doch Tag für Tag lernte ich mich selbst und die Welt, in der ich lebe, etwas besser kennen und fand so Antworten auf Fragen, die ich bis anhin vergebens ge sucht hatte. Was bleibt Es ist still. Draussen ist es schon dunkel. Die Schreibtischlam pe wirft ihr warmes Licht auf mich und ich schreibe die letzten Zeilen dieses Artikels. Es fällt mir nicht leicht zu schreiben, mich zu konzentrieren, denn in meinem Kopf läuft dieser Film, all die Erinnerungen, wie ich sie in Bildern vor mir sehe und die Emotionen in mir auslösen. Ein paar Tage ist es nun her seit meiner Rückkehr. Der Weg zurück nach Hause hat sich noch etwas hingezogen. Der 71 entlang in Richtung Sinaia ging es dann übers Karpatengebirge durch Zentralrumänien nach Ungarn. Via die Slowakei, Österreich, Deutschland und dem Lichtenstein führte mich die Strasse zurück in die Schweiz bis an meine Türschwelle, an den Ort, an dem vor über einem Jahr alles begonnen hatte. Schnell werde ich wohl wieder in schon immer dagewe sene Muster fallen, mich wieder als Rädchen im System integrieren. Doch all das Erlebte, die vielen Geschichten, die Momente, in denen ich mein Limit aufs Äusserste auslotete oder die Augenblicke des vollkommenen Glückgefühls, ich werde sie nicht vergessen, sie gehören von nun an zu mir. Sie verändern meinen Blick auf die Dinge, beeinflussen die Art und Weise, wie ich durchs Leben schreite und lassen meine Reise so nachhaltig werden. Ich bedanke mich bei all jenen, die mich bei diesem Projekt stets unterstützten und ganz besonders bei mei nen Eltern, die immer an mich glaubten und mir auch in den schwierigsten Stunden Mut zusprachen. Danke! REPORTAGE 9
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