Eine Befreiung, die nicht ganz nach Plan verläuft

Eine Befreiung,
die nicht ganz nach Plan verläuft
Pikkofinte und Otto von Plüsterich kreisten in großer
Höhe über der Eisenhai, so dass sie keine Aufmerksamkeit
erregen würden.
So ein hässliches Schiff hab ich ja noch nie gesehen,
dachte Pikko. Kein einziges Segel an den viel zu kurzen
Masten und kein einziges Stück Holz an Deck, dafür aber
zwei hässliche Schornsteine und eine stinkende Dampfmaschine. Schauerlich!
Nun trat eine Gruppe von Menschen an Deck. An ihren
Uniformen konnte Pikko erkennen, dass es Matrosen und
der Kapitän waren. Die Matrosen ließen ein Boot zu Wasser und setzten sich an die Ruder. Dann kam ein kleiner,
eckiger Mann mit Gehrock, Hut und Spazierstock. Selbst
von hier oben aus war sein mürrisches Gesicht zu erkennen.
»Das muss der Bollerwasser sein«, rief Pikko.
»Tsä, mir doch egal!«, machte Otto und tat wie üblich
gelangweilt.
Gemeinsam mit Herrn Bollerwasser waren auch ein langer dünner Mann mit einer Schreibmappe und ein Riese
mit tätowierten Armen erschienen. Letzterer konnte nur
Egon sein. Und der hatte ja den Schlüssel.
Zum Glück stieg Egon nicht mit ins Ruderboot, sondern
blieb als Einziger an Bord. Während Bollerwasser und die
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Übrigen zur Werft hinüberruderten, sollte er wohl das
Schiff und die Gefangene bewachen. Aber Egon schien die
Gelegenheit, allein und unbeobachtet zu sein, auf andere
Art nutzen zu wollen. Er kramte eine Angel, einen Kescher
und einen Eimer hervor. Damit setzte er sich auf die Reling
und ließ die Beine und den Angelhaken außenbords baumeln.
»Schnell!«, rief Pikko nach oben. »Er ist abgelenkt. Das
kann nur gut für uns sein.«
Sie landeten ein Stückchen hinter Egon.
»Kannst du nicht endlich diesen Sklavenknoten aufmachen?«, krächzte der Möwerich und begann mit dem
Schnabel nach dem Tampen an seinen Füßen zu picken.
»Kräää, ich will wieder frei sein!«
Aber Pikko schüttelte den Kopf. »Ich brauche dich noch.
Schon vergessen? Und jetzt sei leise. Du machst ihn noch
auf uns aufmerksam!«
Aber Egon war ganz in seine Angelei vertieft.
»Am besten, du wartest in der Luft, bis ich mit Fippi zurück bin. Das ist sicherer.«
»Pääääh!«, machte Otto.
Damit flatterte er auf und stieg in den
blauen Himmel über dem Schiff. Pikko sah
ihm kurz hinterher. Er wusste, dass der
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Möwen-Stek dafür sorgen würde, dass Otto tat, was er ihm
gesagt hatte.
Dann besann er sich auf das, was er vor sich hatte. Rasch
griff er in die Tasche und knotete einen Kuddelmuddel in
sein Klabauterschnürchen. Unsichtbar schlich er sich von
hinten an Egon heran. Als er näher kam, konnte er den
großen Schlüsselbund sehen, den Egon mit einem Karabiner an seinem Gürtel befestigt hatte. Daran würde sich bestimmt auch Fippis Zellenschlüssel befinden. Pikko nahm
all seinen Mut zusammen und pirschte sich so nah heran,
dass er nur noch den Arm nach den Schlüsseln ausstrecken
musste.
»Hooo!«, machte Egon in diesem Moment, und Pikko
erschrak heftig. Aber dann bemerkte er, dass der Mensch
gar nicht ihn meinte, sondern einen Fisch an der Angel
hatte.
Das war die Gelegenheit! Während Egon die Zunge in
den Mundwinkel steckte und eifrig an seiner Angel kurbelte, griff Pikko zu. Er öffnete den Karabiner, löste ihn
von Egons Gürtel und sprang rasch damit zur Seite. Der
Muskelmann hatte nichts bemerkt.
Rasch lief Pikko zum nächsten Niedergang, um Fippeline zu befreien. In diesem Augenblick schleuderte Egon
seinen Fang nach hinten an Deck. Der Angelhaken hatte
sich durch den Schwung vom Maul des Fisches gelöst, und
nun zappelte und schlidderte er munter über das Metalldeck. Plötzlich war von oben ein spitzer Möwenschrei zu
hören.
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»Otto, nicht!«, rief Pikko und blieb erschrocken stehen,
aber da hatte sein Möwenfreund sich bereits auf den Fisch
gestürzt.
»He, du diebische Elster, das ist meiner!«, schrie Egon.
»Krahh, tsäääh!«, kreischte Otto von Plüsterich der VII.
»Jetzt nicht mehr!«
Aber selbst für einen stattlichen Möwerich wie Otto war
der Fisch ziemlich groß. Bevor er ihn in den Schnabel nehmen und türmen konnte, hatte Egon bereits seinen Kescher in der Hand und stülpte ihn über die Möwe und den
Fisch. Otto war gefangen.
»Dir werd ich die Flügel stutzen!«, drohte Egon.
Voller Entsetzen sah Pikko, wie der Muskelmann mit
seinen grobschlächtigen Pranken nach Otto griff und ihn
aus dem Netz zerrte. Otto kreischte vor Wut hell auf,
konnte sich aber nicht befreien. Denn sofort hatte Egon
ihn am Hals und einem der Flügel gepackt.
Pikko erstarrte. Er konnte doch unmöglich mit ansehen,
wie es seinem Freund an den Kragen ging. Er ließ den
Schlüsselbund fallen und rannte mit einem lauten Klabauterangriffsschrei nach vorne. Noch immer unsichtbar,
sprang er aus vollem Lauf
hoch und warf sich in
Egons Arm. In Ermangelung einer anderen Waffe
biss er zu.
Egon schrie laut auf,
ließ sofort von Otto ab
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und griff nach Pikko, den er zwar nicht sehen, dafür aber
umso deutlicher fühlen konnte.
»Und was ist das für ein unsichtbares Gespenst?«,
fauchte Egon.
Während Otto kreischend das Weite suchte, war es nun
mit einem Male Pikko, der vergeblich zappelte und schrie.
Aber es half alles nichts, der Griff des Seemanns war wie
ein Schraubstock. Egon klemmte sich Pikko unter den Arm
und tastete ihn mit der freien Hand Stück für Stück ab.
»Ich will verflucht sein, wenn das nicht noch einer von
diesen kleinen grünen Plagegeistern ist!«, rief er. Dann
fand er zu allem Unglück das Ende von Pikkofintes Knotenschnürchen. Ein Kuddelmuddel ist, wie bereits bekannt, kein besonders dauerhafter Knoten. Egon brauchte
nur einmal am losen Ende zu ziehen, und schon ging der
Unsichtbarkeitsknoten auf.
»Na also!«, tönte Egon, als Pikko sichtbar wurde. »Wenn
das nicht ein viel dickerer Fisch ist, der mir da ins Netz gegangen ist? Das wird den Chef freuen!«
Keine zwei Minuten später fand sich Pikkofinte neben
seiner erschrockenen Schwester in der Gefängniszelle der
Eisenhai wieder. Was jedoch am allerschlimmsten war:
Egon hatte Pikkos Klabauterhandbuch gefunden, das ihm
aus der Tasche gefallen war, als
der Muskelmann ihn durchgeschüttelt hatte.
»Was? Er hat den Eisenbart?«,
fragte Fippeline entsetzt, als Pik68
kofinte es ihr beichtete. Dann stöhnte sie auf und erzählte
von Bollerwassers teuflischem Plan mit den Schiffsbohrwürmern. Mit dem Wissen aus Eisenbarts salzwasserfestem Lexikon würde ihn niemand mehr aufhalten können.
»Da hast du was Schönes angerichtet!«, sagte Fippeline
und schüttelte den Kopf.
»Aber ... ich hab ihm das Buch doch nicht freiwillig
gegeben!«, verteidigte Pikko sich empört. »Er hat es mir
abgenommen.«
»Warum hast du den Eisenbart denn überhaupt mitgenommen?«
»Weil ich dachte, ich brauch ihn!«
Verflixt, nun hatte Pikkofinte den ganzen weiten Weg
gemacht und alles getan, um seine Schwester zu befreien.
Und nun musste er sich solche Vorwürfe gefallen lassen.
Das war einfach gemein!
Fippeline sah, dass sie zu weit gegangen war. »Entschuldige, das war doof von mir. Ich bin doch auch gar nicht auf
dich sauer, sondern auf den blöden Bollerkopp. Der hat
uns das schließlich alles eingebrockt.«
Pikkofinte verschränkte demonstrativ die Arme und tat
so, als ob er ihr nicht zuhörte.
»Komm schon!«, machte Fippeline und knuffte ihn, wie
sie es früher immer getan hatte, wenn sie gestritten hatten. »Vertragen heißt vertragen und darf man nicht vertagen.«
Das wirkte, denn unter seiner beleidigten Mine konnte
sie bereits wieder Pikkos Grinsen erkennen.
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