Klein und fein - Avenir Suisse

GRAUBÜNDEN
Fre i t a g , 1 0. M ä r z 2 0 1 7
«Klein und fein» genügt nicht
Der Strukturwandel im Berggebiet hat viele Gesichter. Die Studie von Avenir Suisse zu diesem Thema gibt
viele Denkanstösse, wie die ausführliche Diskussion am BT-Stammtisch gezeigt hat.
▸ ▸NO R B E R T WA S E R ( T E X T )
YA N I K B Ü R K L I ( F O T O S )
W
Kernwerte der Marke Graubünden
Stefan Forster, als Leiter der Fachstelle für Tourismus und Nachhaltige Entwicklung der ZHAW in Wergenstein tagtäglich mit Entwicklungsprojekten im Berggebiet konfrontiert, macht darauf aufmerksam, dass man allein schon aus demografischen Gründen darauf angewiesen sei, dass neue Leute von
aussen in die Täler zuziehen. Das be-
BARBARA JANOM STEINER
«Vorarlberg ist ein schönes Beispiel, wie ein
solches Regionalmanagement funktionieren
RICO TUOR
kann.»
«Von der Zentrumsfunktion von Thusis haben wir
ROBERT HEINZ
im Avers überhaupt nichts.»
«Ich habe immer noch gleich viel Arbeit wie
früher, aber weniger in der Kasse.»
WALTER VON BALLMOOS
«Der Staat hat schon lange einen grenzüberschreitenden Erfahrungsaustausch, und es gibt über die
Arge Alp auch gemeinsame Projekte.»
BARBARA JANOM STEINER
«Wir können auf die Digitalisierung warten oder
jetzt schon mit dem arbeiten, was in der Talschaft
RICO TUOR
bereits vorhanden ist.»
«Es braucht auch ‘klein und fein’, das ist Identität,
aber es braucht auch ein Fundament, und dieses
ALOIS VINZENS
ist morsch.»
«Klein, aber fein» ist gut und recht
seien nicht Initiativen, die den Kanton auf jener Ebene weiterbringen,
die dafür sorgen können, dass Familien weiterhin in den Tälern wohnen
könnten, Arbeit finden – wenn
möglich für beide Partner – und ihre
Kinder dort in die Schule schicken
können. Er sei nicht gegen «klein
und fein», betont Alois Vinzens, das
sei gleichsam die Konfitüre auf dem
Brot. Es brauche aber auch ein Fundament, dieses sei aber vielerorts
morsch, daran müsse man arbeiten.
Vinzens ist überzeugt, dass eine digitalisierte Struktur in Disentis, das
die Ansiedlung von neuen Firmen
ermöglichen könnte, letztlich auch
in die Täler ausstrahlen würde.
«Wir haben in vielen Bereichen nicht mehr die
Handlungsfreiheit, die wir uns wünschen.»
«Wenn man in Graubünden nicht im grossen Stil
investieren will, bezeichnet man das dann als
ALOIS VINZENS
‘klein, aber fein’.»
Wie weiter im Berggebiet? Die
Schlussrunde am BT-Stammtisch
zur Studie von Avenir Suisse hat mit
einer pointierten Aussage von Alois
Vinzens als Präsident des Wirtschaftsforums Graubünden zum
Thema «Klein und fein», einem Praxisbeispiel im Umgang mit dem
Strukturwandel in der Val Medel
und mit einem Blick über die Landesgrenzen von Studienautor Daniel Müller-Jentsch nochmals die
ganze Themenpalette aufgetischt.
BT-Stammtisch
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WORTWÖRTLICH
B T- STA M M T I S C H (5/5)
Alois Vinzens vermisst den Mut,
einmal etwas Grosses anzupacken.
Wenn man nicht richtig investieren
wolle, dann sage man dem in Graubünden «klein, aber fein». Man pflege dann kleine Sachen und besetze
Nischen. Man habe zum Beispiel
wunderbare
landwirtschaftliche
Produkte, er sei auch selbst im Programm «Graubünden Viva – Genuss
aus den Bergen» involviert, aber das
B ü n d n e r Ta g b l a tt
Den Strukturwandel im Berggebiet ausgiebig diskutiert: Studien-Autor Daniel Müller-Jentsch im Gespräch
mit Exponenten aus Politik und Wirtschaft des Kantons Graubünden.
dinge auch eine gewisse Offenheit
der Einheimischen. Was die Thematik «klein und fein» betrifft, weist er
auf die noch immer unterschätzte
Bedeutung der Marke Graubünden
mit ihren Kernwerten «wahr, wohltuen, weitsichtig» hin. Auch wenn
ein Salsiz allein nicht die grosse
Wertschöpfung bedeute, so stifte
dieser doch Identität, die auch für
die Industrie, Dienstleistungen oder
auch die GKB von Bedeutung sei.
Das Hotel «Capricorns» in Wergenstein oder das Gasthaus «zum Brunnen» in Valendas seien zwei Beispiele, die diese Thematik beispielhaft bespielten. Es brauche aber
auch die Ehrlichkeit zu sagen, dass
es Täler gebe, für die man keine
Ideen habe. Dieses Bewusstsein fördere die Studie mit dem Ansprechen
eines «geordneten Rückzugs».
Hilfe zur Selbsthilfe
Wie man mit dem Potenzial, das bereits in den Talschaften vorhanden
ist, Wertschöpfung erzielen kann,
zeigt Rico Tuor mit dem Hotel «Me-
«Man muss auch
dazu stehen, wenn
es für ein Tal mal
keine Idee gibt»
S T E FA N F O R S T E R
delina» in Curaglia. Als Mitkämpfer
für den an der Urne gescheiterten
Parc Adula bedauert er, dass bei den
Diskussionen über dieses Projekt
der Schutzgedanke höher gewichtet
wurde als das Potenzial. Wenn man
in den Talschaften nichts mache,
dann sei in wenigen Jahren ein
Grossteil der Bevölkerung über 70
Jahre alt, und das führe dann
zwangsläufig zu einem ungeordneten Rückzug. Er nennt viele kleine
Initiativen in der Gemeinde Medel/
Lucmagn, die über ein Dutzend
Arbeitsstellen geschaffen und neue
Leute ins Tal gebracht haben. Das sei
«Strategien sind
wunderbar, man
muss sie nur
auch umsetzen»
BARBARA JANOM STEINER
für ein Dorf mit 300 Einwohnern
und einer einzigen Geburt in den
letzten sieben Jahren von grosser
Bedeutung.
Kritisch äussert sich der Avner
Grossrat Robert Heinz zur Strategie
mit den regionalen Zentren und lokalen Wirtschaftsförderern. Von der
Zentrumsfunktion von Thusis habe
das Avers gar nichts, und das Gezänke um ein paar Stellenprozente für
die lokale Wirtschaftsförderung sei
überhaupt nicht effizient. In diese
Richtung gehe auch die Dreisprachigkeit, die vielfach hemmend
wirke und auf den Ausgang von
Volksabstimmungen grossen Einfluss haben könne.
Kein geordneter Rückzug
Regierungsrat Jon Domenic Parolini
betont noch einmal, dass der in der
Studie als «Ultima Ratio» angedachte «geordnete Rückzug» aus
dem Berggebiet für die Bündner
Regierung kein Thema ist. Es werde
weiter am Grundsatz der dezentralen Besiedlung festgehalten. Um
diese aufrechterhalten zu können,
brauche es aber auch eine kritische
Grösse an Einwohnern. Vorrangig
gehe es darum, Wege zu finden, um
den drohenden Schrumpfungsprozess zu verhindern.
Architektur als Exportartikel
Sieht die Marke Graubünden als identitätsstiftende Klammer:
Stefan Forster, Leiter Fachstelle Tourismus und Nachhaltige Entwicklung.
In der Studie wagt Autor Daniel
Müller-Jentsch auch einen Blick
über die Landesgrenze nach Vorarlberg. Diese Region sei in vielerlei
Hinsicht mit Graubünden vergleichbar. Es gebe eine starke handwerkliche Tradition, vor allem im
Holzbau, und habe eine starke Baukultur, alles Qualitäten, die auch
Graubünden habe. Es gebe lokal
eine grandiose traditionelle Architektur, viele gute Beispiele für mo-
derne Bauten und Architekten von
Weltruf. Mit diesem Fundus müsste
man viel stärker wuchern, sei das
doch ein potenzieller Exportartikel.
Um Konzepte und Ideen zu entwickeln, rät Müller-Jentsch zu einer
mehrtägigen Studienreise mit
wichtigen Entscheidungsträgern
nach Vorarlberg. Aus dem Kontakt
mit den Akteuren vor Ort könnte
man sicher auch für Graubünden einiges lernen. Eine Stärkung der
Architektur-Fakultät an der HTW
Chur könnte ein Ansatz sein, um das
vorhandene Potenzial noch besser
nutzen zu können. Dazu müssten
auch Bündner Architekten wie Gion
A. Caminada oder Peter Zumthor
eingebunden werden, um gute Studenten zur Ausbildung nach Graubünden zu locken.
Rico Tuor kennt Vorarlberg bereits aus eigener Erfahrung und
sieht diese Region als Vorbild in Sachen Regionalmanagement. Auch
Regierungspräsidentin Janom Steiner verweist auf die bestehenden
guten Kontakte zu Vorarlberg, die
man seit Jahren auch über die Arge
Alp grenzüberschreitend pflege.
«Für ein Dorf mit 300 Einwohnern und einer
Geburt in den letzten sieben Jahren sind 16 neue
RICO TUOR
Arbeitsstellen von Bedeutung.»
«16 neue Arbeitsstellen in der Val Medel sind, wie
wenn Google nach Zürich kommt.»
STEFAN FORSTER
«Der geordnete Rückzug ist für die Bündner Regierung
kein Thema»: Jon Domenic Parolini.
«Es gibt auch Naturoasen ohne Parklabel und
Bundesauflagen.»
ROBERT HEINZ
«Ich kann jedem Kommunalpolitiker nur
empfehlen, die Zweitwohnungseigentümer gut
zu behandeln und sie in den Dialog miteinzubeziehen.»
JON DOMENIC PAROLINI
«Es gibt auch Gegenden mit anderen Qualitäten;
ins Albulatal muss man nicht eine Glasfaser ziehen
und 15 Antennen aufstellen.»
WALTER VON BALLMOOS
Die Stammtischteilnehmenden
Am BT-Stammtisch zur Publikation
«Strukturwandel im Schweizer
Berggebiet» von Avenir Suisse in
der Loungebar «Schall und Rauch»
in Chur diskutierte der Autor
Daniel Müller-Jentsch mit Regierungspräsidentin Barbara Janom
Steiner, Vorsteherin Departement
Finanzen und Gemeinden, Regierungsrat Jon Domenic Parolini,
Vorsteher Departement Volkswirtschaft und Soziales, Alois Vinzens,
Präsident des Wirtschaftsforums
Graubünden und CEO Graubündner
Kantonalbank, Stefan Forster,
Leiter Fachstelle für Tourismus und
Nachhaltige Entwicklung, ZHAW,
Wergenstein, Peter Peyer, Gewerkschaftssekretär, Grossrat und
SP-Regierungsratskandidat, Trin,
Rico Tuor, VR-Präsident Medelina
SA, Wirtschaftsförderer, Medel/
Lucmagn, Walter von Ballmoos,
Bergführer, Unternehmer, Grossrat
GLP, Davos, Robert Heinz, Bergbauer, Grossrat BDP, Avers-Cresta,
und Jürg Kessler, Rektor Hochschule für Technik und Wirtschaft
HTW Chur. Die Gesprächsleitung
hatte Norbert Waser, stv. Chefredaktor «Bündner Tagblatt». (NW)
«Wenn wir nichts machen, dann gibt es in ein paar
Jahren einen ungeordneten Rückzug»: Rico Tuor.
«Wir haben zwar viele Pärke im Kanton, aber oft
fehlt diesen ein Wertschöpfungskonzept.»
ALOIS VINZENS
«Man müsste 30, 40 Entscheidungsträger aus dem
Kanton mal für drei Tage auf eine Studienreise
nach Vorarlberg schicken.»
DANIEL MÜLLER-JENTSCH
«Wenn in einem Tal die Leute fehlen, die Ideen
umsetzen können, muss man das auch
akzeptieren.»
STEFAN FORSTER
«Mir macht mehr Mühe, wenn Ideen im Tal durch
Bürokratie nicht umgesetzt werden können und
übergeordnete Schutzinteressen höher gewichtet
ROBERT HEINZ
werden.»