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OPTOMETRIE
Störungen des Binokularsehens
Einblicke in die anglo-amerikanische Sichtweise
Teil 1
Einleitung
Im deutschsprachigen Raum ist die Mess- und Korrektionsmethode nach Haase für die Bestimmung und Korrektion
von Heterophorien weit verbreitet. Dabei wird die binokulare
Korrektion meist nur für die Ferne und in einer statischen Testsituation bestimmt. Das dynamische Wechselspiel von Akkommodation und Konvergenz wird nicht erfasst. Der anglo-amerikanische Ansatz ist ein anderer. Das Zusammenspiel von
Akkommodation und Konvergenz spielt hier eine ganz wesentliche Rolle. Im natürlichen Umfeld kann hochwertiges Binokularsehen mit Fusion und räumlichem Sehen nur durch eine aufwändige Kopplung von Akkommodation und Konvergenz erzielt
werden. Ein komplexer Regelkreis stellt sicher, dass sich die beiden Fixierlinien im jeweils betrachteten Objektpunkt schneiden,
auch unter unterschiedlichsten Kopfhaltungen, Blickrichtungen
und Sehentfernungen.
Zur Beschreibung von Störungen des Binokularsehens wird
im anglo-amerikanischen System der AC/A-Quotient genutzt.
Der AC/A-Quotient ist ein Maß für die Kopplung von Akkommodation und Konvergenz. Er gibt an, wie stark die Konvergenz
durch einen bestimmten Akkommodationsbetrag angeregt wird.
Der AC/A-Quotient wird mit dissoziierenden Heterophorietests
bestimmt. Es gibt zwei Methoden, die zur Bestimmung des
AC/A-Quotienten genutzt werden. Die erste Methode ist die
Heterophoriemethode, die auch als kalkulierter AC/A-Quotient
bezeichnet wird. Kern der Methode ist, dass die Änderung der
Akkommodation und damit auch der Konvergenz über eine
Änderung der Prüfentfernung erfolgt. Zunächst wird die Heterophorie für Ferne und Nähe bestimmt. Ferner wird die Pupillendistanz (PD) benötigt. Der AC/A-Quotient berechnet sich dann
wie folgt:
Kalkulierter AC/A-Quotient (cm) = PD in cm + Nahabstand
in m · (Nahphorie – Fernphorie in cm/m).
Die zweite Methode ist die Gradientenmethode. Im Gegensatz zur Heterophoriemethode bleibt die Prüfentfernung hier
konstant. Die Änderung der Akkommodation wird über Messgläser erzeugt. Nach der Bestimmung der Heterophorie, vorwiegend der Nahphorie, wird die Messung unter Vorsatz von Minusgläsern wiederholt. Gängig ist ein Vorsatzglas von –1,00 dpt. Der
AC/A Gradient ergibt sich aus:
AC/A-Gradient (cm) = (Prismen mit Vorsatzglas – Prismen
ohne Vorsatzglas in cm/m) / Brechwert des Vorsatzglases in dpt.
Bei guter Kontrolle der Testsituation ergeben beide Methoden reproduzierbare Ergebnisse. [1] Damit ist vor allem
gemeint, dass der Proband das Sehzeichen jederzeit klar und
deutlich sehen muss. Der Normwert des AC/A-Quotienten für
Nicht-Presbyope liegt bei 4 cm mit einer Standardabweichung
von ± 2 cm. [2] Beide Messmethoden ergeben bei derselben Per-
son oft unterschiedliche Werte, wobei der AC/A-Gradient in der
Regel niedriger ausfällt. Als eine Ursache wird die proximale
Konvergenz diskutiert, die beim kalkulierten AC/A-Quotient eine
Rolle spielt, da hier in zwei Entfernungen gemessen wird. Die
proximale (psychische) Konvergenz wird nur durch die Vorstellung der Nähe hervorgerufen und beeinflusst damit den
kalkulierten AC/A-Quotienten. [3] Scheimann und Wick gehen
davon aus, dass der kalkulierte AC/A-Quotient im Vergleich zum
AC/A-Gradienten den geeigneteren Wert darstellt, da in natürlichen Sehsituationen die proximale Konvergenz ebenfalls eine
Rolle spielt. [2]
Was bedeutet nun normaler, hoher oder niedriger AC/AQuotient? Bei einem normalen AC/A-Quotienten (4 cm ± 2 cm)
ist die Heterophorie in Ferne und Nähe nahezu gleich groß. Es
kommt beim Wechsel von Ferne auf Nähe physiologisch zu einer
leichten Verschiebung in Richtung Exophorie. [4] Bei einem zu
hohen AC/A-Quotienten (> 6 cm) konvergiert die Person zu stark
im Verhältnis zur auslösenden Akkommodation. Aus einem hohen AC/A-Quotienten ergibt sich, dass die Person in der Nähe
stärker esophor ist als in der Ferne. Binokularstörungen mit hohem AC/A-Quotienten werden als Exzess bezeichnet. Bei einem
niedrigen AC/A-Quotient (< 2 cm) fällt dagegen die Konvergenz
im Verhältnis zur Akkommodation zu gering aus. Im Vergleich
zur Fernphorie ist die Nahphorie deutlich in Richtung Exophorie
verschoben. Binokularstörungen mit einem niedrigen AC/AQuotienten werden als Insuffizienz bezeichnet.
Bestandteile einer vollständigen
Binokularprüfung
Die Voraussetzungen für eine Binokularprüfung sind das Abklären des Gesundheitsstatus der Augen, die bestmögliche Fernkorrektion und eine auf binokulare Sehstörungen ausgerichtete
Anamnese, die vor allem Naharbeit wie zum Beispiel Lesetätigkeiten hinterfragt.
Die Prüfung des Binokularsehens nach anglo-amerikanischem System umfasst die Heterophoriemessung für Ferne und
Nähe, die Messungen der Vergenzamplitude und -flexibilität,
aber auch Messungen zum Akkommodationsvermögen, wobei
nicht nur der maximale Akkommodationserfolg sondern auch
die Genauigkeit und Flexibilität erfasst werden. Hinzu kommen
Verfahren zur Prüfung des Nahkonvergenzpunktes, der Augenbeweglichkeit und der Stereopsis. Allgemein werden alle Tests,
außer der Messung des maximalen Akkommodationserfolges,
binokular durchgeführt. Die Standardprüfentfernung für die
Nähe liegt bei 40 cm. In Tabelle 1 sind die Normwerte der einzelnen Tests aufgeführt. Im Folgenden werden einige Testverfahren kurz vorgestellt, die in der deutschen Augenoptik weniger
verbreitet sind.
u
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Abbildung 1: Messung der Vergenzflexibilität mit zwölf Prismen Basis
außen und drei Prismen Basis innen.
Abbildung 2: Messung der positiven relativen Akkommodation am
Phoropter.
Zu Beginn einer Binokularprüfung wird der Cover/Uncovertest für Ferne und Nähe durchgeführt. Es schließt sich ein
Heterophorietest ebenfalls in Ferne und Nähe an. Häufig genutzte Verfahren sind das Graefe-Prisma und der modifizierte
Thorington-Test, der zurzeit als zuverlässigstes dissozierendes
Verfahren gilt. [5] Für die Dissoziation wird beim modifizierten
Thorington-Test der Maddox-Zylinder genutzt. Die Testkarte
besteht aus einer Reihe Buchstaben oder Zahlen. In der Mitte
der Karte befindet sich ein Loch für die Lichtquelle. Auch dem
anglo-amerikanischen Optometristen sind die Nachteile dissoziierender Verfahren bekannt. Daher wird besonders dann,
wenn eine Prismenkorrektion geplant oder das Ergebnis des
dissoziierenden Verfahrens unklar ist, ein assoziierender Heterophorietest oder Fixationsdisparationstest genutzt.
Die Messung der fusionalen Vergenz gehört nach angloamerikanischer Sichtweise zu einer vollständigen Binokularprüfung dazu. Die fusionale Vergenz gibt Auskunft über die
Vergenzamplitude, folglich bei welchen Vergenzanforderungen
immer noch Fusion hergestellt werden kann. Sie wird gemessen,
indem Prismen vorgeschaltet und langsam verstärkt werden bis
der Proband entweder angibt das Sehzeichen verschwommen
oder doppelt zu sehen. Dieser Test wird ebenfalls für Ferne und
Nähe durchgeführt. Fusionale Vergenz wird unterteilt in positive,
negative und vertikale fusionale Vergenz. Hinter der positiven
fusionalen Vergenz (PFV) verbirgt sich die Konvergenzreserve,
hinter der negativen fusionalen Vergenz (NFV) die Divergenzreserve. Positive fusionale Vergenz wird mit Prismen Basis
außen und negative fusionale Vergenz mit Prismen Basis innen
geprüft. Die vertikale fusionale Vergenz (VFV) wird geprüft, indem vor dem rechten Auge zuerst Prisma Basis oben vorgeschaltet und verstärkt wird bis der Proband angibt doppelt zu
sehen. Danach wird der Ablauf mit Prisma Basis unten vor dem
rechten Auge wiederholt.
Zusätzlich wird das Vergenzsystem auf seine Flexibilität
geprüft. Dafür werden zwei Prismen abwechselnd vor ein Auge
gehalten. Gängig sind drei Prismen Basis innen und zwölf Prismen Basis außen, siehe Abbildung 1. Die Prüfentfernung bleibt
konstant bei 40 cm. Der Proband gibt an, wann das Sehzeichen
mit dem jeweiligen Prisma fusioniert hat, er also die Sehzeichen
einfach und deutlich sieht. Gemessen wird, wie oft die Prismen
in einer vorgegebenen Zeit gewendet werden können.
Das Akkommodationsvermögen spielt bei der Beurteilung
des Binokularsehens eine wesentliche Rolle. Neben der
Messung des maximalen Akommodationserfolges wird das
Akommodationsvermögen über die Messung der positiven und
negativen relativen Akkommodation, der Bestimmung der
akkommodativen Flexibilität und der Genauigkeit geprüft. Die
Messung der positiven und negativen relativen Akkommodation
(NRA und PRA) entspricht in ihrer Vorgehensweise der direkten
Messung zur fusionalen Vergenz in der Nähe. Die Akkommodationsanforderung wird durch das Vorschalten von Plusgläsern
(NRA) und anschließend von Minusgläsern (PRA) verändert,
siehe Abbildung 2. Gesucht wird das stärkste Plus- und Minusglas mit dem jeweils das Sehzeichen noch deutlich und einfach
gesehen wird.
Die Prüfung der akkommodativen Flexibilität wird mit
Hilfe von sphärischen Flippern durchgeführt, meistens
+2,00 / –2,00 dpt. Die Prüfentfernung ist auch hier auf 40 cm
festgelegt. Der Flipper wird vor beiden Augen gewendet und
der Proband soll angeben, wann er einfach und deutlich sieht.
Gemessen wird, wie oft der Flipper in einer vorgegebenen Zeit
vor dem Auge gewendet werden kann. Beim Vorhalten der
Minusgläser muss der Proband akkommodieren, was mit einer
Konvergenz verbunden ist, die durch negative fusionale Vergenz
kompensiert werden muss. Die Bestimmung der akkommodativen Flexibilität wird binokular gemessen. Nur wenn die
binokulare akkommodative Flexibilität (BAF) einen zu niedrigen
Wert ergibt, wird die monokulare akkommodative Flexibilität
(MAF) bestimmt. Falls auch das Ergebnis des monokularen Tests
zu niedrig ist, spricht dies für eine akkommodative Störung.
Falls der monokulare Test dagegen normal ausfällt, liegt die
Ursache im Vergenzsystem.
Die MEM-Skiaskopie (Monocular Estimate Method) ist eine
dynamische Skiaskopiemethode. Ziel ist es, die Genauigkeit der
Akkommodation zu prüfen. Die Akkommodationsreaktion auf
ein nahes Objekt kann größer, gleich oder niedriger sein als der
auslösende Akkommodationsreiz. Wenn die Akkommodationsreaktion geringer ausfällt als der Akkommodationsreiz wird ein
positiver Wert bei der MEM-Skiaskopie gefunden, das heißt der
Proband akkommodiert nicht auf das Testobjekt sondern auf
eine weiter weg gelegene Ebene. Voraussetzung für die MEMSkiaskopie ist die bestmögliche Fernkorrektion. Der Proband
schaut binokular auf eine am Skiaskop angebrachte Testscheibe
mit Sehzeichen, die er vorlesen soll, siehe Abbildung 3. Die
Skiaskopie wird unter normaler Raumbeleuchtung durchgeführt. Wichtig für die Durchführung ist, dass das Messglas nur
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Abbildung 3: MEM-Skiaskopie.
sehr kurz vor das Auge gehalten wird, um die Akkommodation
nicht zu beeinflussen. [6] Die MEM-Skiaskopie liefert sowohl
Informationen über die Akkommodationsgenauigkeit als auch
über das Vergenzsystem. Sind die Messwerte zu niedrig, spricht
es für eine zu hohe Akkommodation, eine hohe Exophorie
und/oder eine verminderte positive fusionale Vergenz. Ein
zu hoher Wert deutet dagegen auf eine zu geringe Akkommodation, eine hohe Esophorie und/oder eine verminderte negative
fusionale Vergenz hin.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass bei Akkommodations- und Vergenztests das jeweils andere System indirekt
mit geprüft wird, zum Beispiel führt das Vorhalten von Plusgläsern auch immer zu einer Messung der positiven fusionalen Vergenz. Das Vorhalten von Minusgläsern führt dementsprechend
zu einer indirekten Messung der negativen fusionalen Vergenz.
Eine akkommodative Störung wird Auffälligkeiten bei Vergenz-
messungen ergeben und umgekehrt. Die Frage, ob eine akkommodative Störung oder eine Vergenzstörung vorliegt, ist in manchen Fällen nicht eindeutig. Es sollte darauf geachtet werden,
wo die größeren Schwierigkeiten bestehen.
Binokularprüfungen, welche die eben erläuterten Tests beinhalten, ergeben ein umfassendes Bild des Binokularsehens, da
alle wichtigen Aspekte vor allem aber das Zusammenspiel von
Akkommodation und Konvergenz geprüft werden. Ein möglicher Kritikpunkt könnte sein, dass einige der verwendeten Testverfahren keine hohe Reproduzierbarkeit aufweisen. In einer
Studie von Rouse et al. wurden wichtige Binokulartests auf ihre
Reliabilität untersucht. [7] Für die Heterophoriemessung mit
dem Graefe-Prisma in der Nähe, der Messung des Nahkonvergenzpunktes und der Messung des maximalen Akkommodationserfolges ergab sich eine gute bis sehr gute Zuverlässigkeit
der Messdaten. Nur die Messung der positiven fusionalen Vergenz ergab eine durchschnittliche Zuverlässigkeit.
Gruppierung der Ergebnisse
Im anglo-amerikanischen Raum sind mehrere Systeme verbreitet, um die erhobenen Daten auszuwerten. Wichtige Vertreter
sind die normative Analyse nach Morgan, die Fixationsdisparationsanalyse, die Auswertung nach dem Optometric Extension
Program (OEP) und die integrative Analyse nach Scheimann und
Wick. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die integrative Analyse.
Die Auswertung der Ergebnisse setzt sich bei der integrativen
Analyse aus drei Schritten zusammen. Als erstes werden die Ergebnisse mit den Normwerten verglichen, die in Tabelle 1 aufgeführt sind. Danach werden die Ergebnisse in Gruppen eingeteilt
und abschließend erfolgt die Klassifizierung der Anomalie.
u
Test
Normwert
StdtAbw.
Heterophorie Ferne
1 cm/m B.i.
± 2 cm/m
Heterophorie Nähe
3 cm/m B.i.
± 3 cm/m
AC/A Quotient
4 cm
± 2 cm
Fusionale Vergenz (cm/m)
Blur/Break/Recovery
Basis außen Ferne
9/19/10
± 4/± 8 /± 4
Basis innen Ferne
x/7/4
± 3/± 2
Basis außen Nähe
17/21/11
± 5/± 6/± 7
Basis innen Nähe
13/21/13
± 4/± 4/± 5
Nahkonvergenzpunkt mit Sehzeichen
5/7 cm
± 2,5 /± 3 cm
Mono. akkommodative Amplitude
18 -1/3 x Alter
± 2 dpt
Negative relative Akkommodation (NRA)
+2,0 dpt
± 0,50 dpt
Positive relative Akkommodation (PRA)
–2,37 dpt
± 1,00 dpt
MEM-Skiaskopie
+ 0,50 dpt
± 0,25 dpt
Binokulare akkommodative Flexibilität (BAF)
8 Runden pro Minute
±5
Mono. akkommodative Flexibilität (MAF)
11 Runden pro Minute
±5
Vergenzdynamik
15 Runden pro Minute
–
Tabelle 1: Normwerte nach Scheimann & Wick. Die Werte der fusionalen Vergenz beziehen sich auf Messungen mit dem Phoropter und einem
Prismenkompensator (smooth vergence) [2].
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Die integrative Analyse ist so aufgebaut, dass ein einzelnes
auffälliges Ergebnis nicht zu einer Einstufung führt. Dafür muss
zuerst eine festgelegte Gruppe von Daten auffällig sein. Die
erhobenen Daten werden den folgenden Gruppen zugeordnet:
1. Motorische Ausrichtung & Interaktions Gruppe (MAITGruppe)
Die Ergebnisse des Uncover-Tests, Heterophorie-Tests und/oder
des Fixationsdisparationstests werden in die MAIT-Gruppe eingeordnet. Auch die Messung des AC/A-Quotienten wird dieser
Gruppe zugeordnet.
2. Positive Fusionale Vergenz Gruppe (PFV-Gruppe)
Hierzu zählen alle Testergebnisse, die sich auf das Konvergenzvermögen beziehen. Zu den direkten Verfahren zählt die Messung der positiven fusionalen Vergenz und der Vergenzdynamik
mit Prisma Basis außen. Indirekte Messungen erfolgen über
akkommodative Tests, die Plusgläser nutzen (NRA, BAF). Auch
der Nahkonvergenzpunkt und die MEM-Skiaskopie werden zur
Auswertung herangezogen.
3. Negative Fusionale Vergenz Gruppe (NFV-Gruppe)
Die Gruppe besteht aus den Testergebnissen, die eine Aussage
über das Divergenzvermögen ermöglichen. Zu den direkten
Tests zählen die Messung der negativen fusionalen Vergenz und
die Vergenzdynamik mit Prisma Basis innen. Indirekte Messungen erfolgen über akkommodative Tests, bei denen Minusgläser
vorgehalten werden (PRA, BAF) und die MEM-Skiaskopie.
4. Akkommodations-Gruppe (ACC-Gruppe)
Die ACC-Gruppe setzt sich aus den erfassten Daten zum Akkommodationsvermögen zusammen. Dazu zählen der maximale
Akkommodationserfolg, die monokulare und binokulare Akkommodationsflexibilität, die negative und positive relative Akkommodation und die MEM-Skiaskopie.
5. Augenbeweglichkeitsgruppe
Hier werden die Testergebnisse zusammengefasst, die für eine
Anomalie der Augenbeweglichkeit sprechen, zum Beispiel auffällige Folgebewegungen oder Sakkaden.
6. Vertikale Fusionale Vergenz Gruppe (VFV-Gruppe)
Zur VFV-Gruppe gehören die Messung der vertikalen fusionalen
Vergenz und Heterophorie- und oder Fixationsdisparationstests,
die die vertikale Komponente prüfen.
Klassifizierung der Ergebnisse
Scheimann und Wick nutzen die folgende Einteilung, um nichtstrabismische Störungen des Binokularsehens zu klassifizieren:
1. Binokulare Anomalien (Vergenzsystem)
2. Akkommodative Anomalien
3. Okulomotorische Anomalien
4. Vertikalphorien
Im Folgenden werden nur die binokularen und akkommodativen Anomalien näher erläutert. Wicks Klassifikation der binokularen Anomalien ist in Abbildung 4 aufgeführt. Diese werden
nach der Fernphorie und dem AC/A-Quotienten eingestuft. Es
ergeben sich daraus neun mögliche Diagnosen.
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Binokulare
Anomalien
Niedriger AC/A
Normaler AC/A
Hoher AC/A
Ferne: Orthophorie
Ferne: Orthophorie
Konvergenzinsuffizienz
Fusionale Vergenz
Dysfunktion
Konvergenzexzess
Ferne: Exophorie
Ferne: Exophorie
Reine Exophorie
Divergenzexzess
Ferne: Exophorie
Konvergenzinsuffizienz
Ferne: Esophorie
Divergenzinsuffizienz
Ferne: Orthophorie
Ferne: Esophorie
Ferne: Esophorie
Reine Esophorie
Konvergenzexzess
Abbildung 4: Einteilung der horizontalen binokularen Anomalien
nach Wick.
1.1. Niedriger AC/A-Quotient
Binokulare Anomalien mit einem niedrigen AC/A-Quotienten
sind die Konvergenz- und die Divergenzinsuffizienz. Die Konvergenzinsuffizienz ist dabei die häufigste binokulare Anomalie.
Die Prävalenz in der allgemeinen Bevölkerung wird mit 2,25
bis 8,3 Prozent angegeben. [8, 9, 10] Symptome einer Konvergenzinsuffizienz sind ein zu weit entfernter Nahkonvergenzpunkt, eine Exophorie, die in der Nähe größer ist als in der Ferne
und eine herabgesetzte Konvergenzreserve insbesondere in der
Nähe. Zusätzlich fallen Tests mit Plusgläsern, zum Beispiel die
Messung der negativen relativen Akkommodation, niedrig aus.
Eine Divergenzinsuffizienz ist sehr selten und wird charakterisiert durch eine Esophorie in der Ferne. Aus dem niedrigen
AC/A-Quotienten ergibt sich, dass die Esophorie in der Ferne
signifikant größer ist als in der Nähe. Ein weiteres Zeichen der
Divergenzinsuffizienz ist eine reduzierte Divergenzreserve in
der Ferne.
1.2. Normaler AC/A Quotient
Bei einem normalen AC/A-Quotienten werden die reine Exo- und
Esophorie und die fusionale Vergenzdysfunktion unterschieden.
Die reine Exo- und Esophorie zeichnen sich dadurch aus,
dass die Heterophorie in Ferne und Nähe annähernd gleich groß
ist. Bei einer Exophorie findet sich zusätzlich eine herabgesetzte
positive fusionale Vergenz in Ferne und Nähe, bei einer Esophorie eine reduzierte negative fusionale Vergenz. Der MEM-Wert
ist bei einer Exophorie niedrig, bei einer Esophorie hoch.
Bei einer fusionalen Vergenzdysfunktion findet sich eine
Orthophorie in Ferne und Nähe oder eine geringe horizontale
Heterophorie. Auffällig ist eine reduzierte fusionale Vergenzfähigkeit, die sowohl bei Prismen Basis außen als auch bei
Prismen Basis innen zu finden ist. Besonderes Merkmal einer
fusionalen Vergenzdysfunktion ist, dass der Wiedervereinigungspunkt weit vom Diplopiepunkt entfernt ist, das heißt es
treten Schwierigkeiten auf, das Bild nach aufgetretener Diplopie
wieder zu fusionieren. Ferner ist die binokulare akkommodative
Flexibilität gering. Die monokulare akkommodative Flexibilität
ist dagegen normal.
1.3. Hoher AC/A Quotient
Binokulare Anomalien mit einem hohen AC/A-Quotienten sind
der Konvergenz- und Divergenzexzess. Der Konvergenzexzess
ist neben der Konvergenzinsuffizienz die häufigste binokulare
Anomalie. [11] Er zeichnet sich dadurch aus, dass die Esophorie
in der Nähe größer ist als in der Ferne. Typisch ist eine signifikante Esophorie in der Nähe. Die Divergenzreserve in der Nähe
ist herabgesetzt. Akkommodative Tests mit Minusgläsern fallen
ebenfalls niedrig aus.
Bei einem Divergenzexzess liegt in der Ferne eine Exophorie,
in manchen Fällen sogar eine intermittierende (zeitweilige) Exotropie, vor. In der Nähe ist die Exophorie geringer und kann
sich sogar in Richtung Orthophorie oder leichte Esophorie verschieben. Eine verbreitete Richtlinie ist, dass der Unterschied
zwischen Fern- und Nahphorie bei mindestens zehn cm/m Basis
innen liegen sollte. [12] Die Konvergenzreserve fällt in Ferne
und Nähe normal aus.
2. Akkommodative Anomalien
Mehrere Studien, die die Prävalenz von Binokularstörungen untersuchten, ergaben, dass akkommodative Anomalien häufiger
auftreten als Anomalien des Vergenzsystems. [6, 13, 14] Akkommodative Anomalien werden unterteilt in die akkommodative Insuffizienz, den akkommodativen Exzess und die Akkommodationsinflexibilität. Akkommodative Störungen können isoliert oder in
Kombination mit binokularen Anomalien auftreten. Als Ergebnis
der Interaktion zwischen Akkommodation und Konvergenz kann
ein Exzess oder eine Insuffizienz der Konvergenz eine Überoder Unterreaktion der Akkommodation auslösen und umgekehrt.
Die akkommodative Insuffizienz ist die häufigste akkommodative Anomalie. [15, 14] Bei der akkommodativen Insuffizienz
sind diejenigen Tests außerhalb des Normbereichs, bei denen
die Akkommodation angeregt wird. Daraus ergibt sich einerseits
ein niedriger maximaler Akkommodationserfolg und andererseits ergeben Tests, bei denen Minusgläser vorgehalten werden,
wie zum Beispiel die Messung der positiven relativen Akkommodation und der monokularen und binokularen akkommodativen
Flexibilität, zu niedrige Werte. Ein weiteres wichtiges Merkmal
ist ein zu hoher MEM-Wert.
Der akkommodative Exzess zeichnet sich dadurch aus, dass
Tests, die eine Entspannung der Akkommodation erfordern,
niedrig ausfallen. Beim Vorhalten von Plusgläsern kommt es zu
Schwierigkeiten, die Sehzeichen deutlich und einfach zu sehen.
Daher sind die Messwerte der negativen relativen Akkommodation und der monokularen und binokularen akkommodativen
Flexibilität gering. Ein weiteres wichtiges Merkmal ist, dass die
MEM-Skiaskopie einen negativen Wert ergibt.
Bei der Akkommodationsinflexibilität ist der Großteil der
akkommodativen Tests außerhalb des Normbereichs, das heißt
die Akkommodation kann weder angespannt noch entspannt
werden. Schwierigkeiten bestehen vor allem beim Wechsel von
Akkommodationszuständen. Es können weder Plus- noch Minusgläser deutlich gestellt werden und das weder binokular
noch monokular. Nur der maximale Akkommodationserfolg ist
altersentsprechend. Die Werte zur positiven und negativen relativen Akkommodation sind wiederum auffällig.
u
OPTOMETRIE
Test
Proband 1 (16 Jahre)
Proband 2 (13 Jahre)
Visus Ferne unkorrigiert
R und L: 1,0
R und L: 0,8
Fernrefraktion
R: +0,50, Visus 1,0
L: +0,50, Visus 1,0
R: +0,25 –0,50 175°, Visus 1,0
L: +0,25 –0,75 14°, Visus 1,0
Nahkonvergenzpunkt
7 cm
20 cm
Uncovertest Ferne
Orthophorie
Orthophorie
Uncovertest Nähe
2 cm/m Esophorie
10 cm/m Exophorie
Heterphorietest Ferne
Orthophorie
Orthophorie
Hetreophorietest Nähe
2 Esophorie
11 cm/m Exophorie
Kalkulierter AC/A
6,4 cm
1,6 cm
Basis außen Ferne (cm/m)
X/18/10
7/17/8
Basis innen Ferne (cm/m)
X/7/4
x/7/3
Basis außen Nähe (cm/m)
15/17/10
10/12/4
Basis innen Nähe (cm/m)
9/20/12
14/22/14
Vergenzflexibilität
14 Runden pro Minute
6 Runden pro Minute (Basis außen)
NRA
+2,50 dpt
+1,25 dpt
PRA
–1,00 dpt
–2,00 dpt
Maximaler Akkommodationserfolg
R und L: 7 dpt
R und L: 13 dpt
MAF
R und L: 0 Runden pro Minute (Minusgläser)
R und L: 11 Runden pro Minute
BAF
0 Runden pro Minute (Minusgläser)
6 Runden pro Minute (Plusgläser)
MEM
R und L: +1,50 dpt
R und L: plan
Tabelle 2: Beispiele aus Clinical Management of Binocular Vision, Scheiman & Wick, 2nd Edition [2].
Beispiele
In Tabelle 2 finden sich die Daten zweier Probanden, die eine
Binokularprüfung durchlaufen haben. Welche Binokularstörungen
würden Sie anhand der Daten vermuten? Im zweiten Teil des
Artikels, der im nächsten Heft erscheint, folgt die Auflösung. Der
Schwerpunkt wird dann in der Behandlung von binokularen und
akkommodativen Anomalien nach anglo-amerikanischer Sichtweise liegen. Der AC/A-Quotient spielt weiterhin eine wesentliche
Rolle, da er die Vorgehensweise entscheidend beeinflusst. n
Ivonne Krawczyk, Dipl. AO/O, M.Sc.
Fielmann Akademie Schloss Plön, Schloss, 24306 Plön
Hans-Jürgen Grein, Prof. Dr. med. Dipl.-Ing (FH)
Fachhochschule Lübeck / Fielmann Akademie Schloss Plön
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Die DOZ veröffentlicht unter der Rubrik Optometrie Beiträge,
die vom Wissenschaftlichen Beirat der DOZ begutachtet, auf
ihre fachwissenschaftliche Tragfähigkeit überprüft und freigegeben wurden. Nähere Auskünfte erteilt Dr. Andreas Berke
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