Stellungnahme Drucksache 16_13524_Mischkowitz

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Gesendet: Mittwoch, 1. März 2017 13:43
An: I.1_Anhoerung <[email protected]>
Betreff: Evaluation - Anhörung A 14 - 08.03.2017
Sehr geehrte Damen und Herren,
anbei meine schriftliche Stellungnahme.
Mit freundlichen Grüßen
Im Auftrag
Dr. Robert Mischkowitz
Bundeskriminalamt
IZ 33 - Forschungs- und Beratungsstelle Polizeiliche
Kriminalstatistik (PKS), Dunkelfeldforschung
(bis 30. Juni 2016: KI 12)
Telefon: +49 611-55-14058
Telefax: +49 611-55-45055
E-Mail: [email protected]
16
STELLUNGNAHME
16/4626
A14, A09
Stellungnahme zum Antrag der Fraktion der Piraten „Ehrliche und offene Evaluation
kriminalpolitischer Maßnahmen ermöglichen – Kriminalstatistiken reformieren“ vom
22.11.2016 im Landtag Nordrhein-Westfalen (Drucksache 16/13524)
In der Sachverhaltsdarstellung des Antrages wird die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) als ein
Instrument beschrieben, das der Polizei, der Öffentlichkeit und der Politik zur Evaluation und
kritischen Bewertung von Polizeiarbeit und politischen Maßnahmen dient. Gleichzeitig wird
angeführt, dass dieses „vermeintlich objektive Messinstrument“ anfällig für politische Beeinflussung
sei und „massiver Verzerrungen“ unterliege, die durch „die aktuellen Vorgaben und die polizeiliche
Organisationsstruktur begünstigt werden“. Dies führe dazu, dass die Zahlen der PKS, die
öffentlichkeitswirksam von den Innenministern präsentiert und in der öffentlichen Diskussion ihrem
Kontext entrissen werden, ein falsches Bild über Kriminalität und Täterprofile prägten, obwohl die
PKS keine Aussagekraft über begangene Straftaten besitze. Wichtig für eine fundierte Aufgabenkritik
an kriminalpolitischen und konkreten exekutiven Maßnahmen sei es deshalb, „den Erfolg einer
Maßnahme am Gesamtverlauf eines Einzelfalles“ zu messen und hierfür eine „Einheitsstatistik, die
den Verlauf eines Einzelfalles von Beginn (Anzeigeerstattung) bis zu seinem Ende“ abzubilden.
Gefordert wird:
1. „Die Polizeiliche Kriminalstatistik bedarf einer Reform.
2. Eine statistische Auswertung zur Bewertung des Erfolgs von Maßnahmen benötigt
Informationen zum Gesamtverlauf eines Verfahrens bzw. Einzelfalls.“
Zunächst zu Punkt 1) „Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) bedarf einer Reform.“
In den Richtlinien für die Führung der PKS ist festgelegt:
„Die Polizeiliche Kriminalstatistik ist eine Zusammenstellung aller der Polizei bekannt gewordenen
strafrechtlichen Sachverhalte unter Beschränkung auf ihre erfassbaren wesentlichen Inhalte. Sie soll
damit im Interesse einer wirksamen Kriminalitätsbekämpfung zu einem überschaubaren und
möglichst verzerrungsfreien Bild der angezeigten Kriminalität führen.“1
Die Definition macht Folgendes deutlich:
1. Erfasst werden der Polizei bekannt gewordene Straftaten, d.h. die PKS bildet „nur“ das
Hellfeld der Kriminalität ab (Hellfeld-Statistik). Sie bietet keinen unmittelbaren Zugang zur
„Kriminalitätswirklichkeit“. Um Aussagen über die „Kriminalitätswirklichkeit“ machen zu
können, bedarf es eines Mehrs an Informationen, insbesondere bedarf es einer Ergänzung
durch Dunkelfeldforschung, denn nur über die Ermittlung des Anzeigeverhaltens der
Bevölkerung bzw. einzelner Untergruppen der Bevölkerung lässt sich erkennen, ob eine
Verschiebung zwischen Hell- und Dunkelfeld stattgefunden hat. Auch ersetzt die PKS keine
kriminalistisch-kriminologischen Untersuchungen, sondern bildet als Datenbasis
„lediglich“ eine der Grundlagen hierfür.
1
BKA (2016): Richtlinien für die Führung der polizeilichen Kriminalstatistik i.d.F. vom 01.01.2016, S. 5.
2. Die „Beschränkung auf ihre erfassbare(n) wesentliche Inhalte“ soll deutlich machen, dass die
PKS sich auf einen relativ eng begrenzten Bereich an zu erhebenden Merkmalen zum Fall,
zum Tatverdächtigen und zum Oper beschränken muss. Die PKS ist eine Massenstatistik! Als
Grundlage der Erfassung dient kein kriminologischer bzw. sozialwissenschaftlicher
Fragebogen, sondern die vom polizeilichen Sachbearbeiter im Rahmen eines polizeilichen
Ermittlungsverfahrens erhobenen notwendigen Informationen, wie sie z. B. in Bezug auf die
Personaldaten eines Tatverdächtigen im § 111 OWiG geregelt sind. Darüber hinaus muss die
Festlegung der „erfassbaren wesentlichen Inhalte“ über ein Abstimmungsverfahren auf dem
Gremienweg erfolgen. Die Erstellung der PKS ist ein Bund-Länder-Projekt und hat deshalb auf
die IT-Infrastruktur der Länder und auf verschiedene Erkenntnisinteressen unterschiedlicher
Nutzer bzw. Bedarfsträger, die nicht nur auf den Polizeibereich beschränkt sind, Rücksicht zu
nehmen. Dies zeigt sich z. B. bei Gesetzesänderungen, an die der Straftatenkatalog, der die
Grundlage der Fallerfassung bildet, angepasst werden muss. Das Interesse an einer möglichst
differenzierten Erfassung eines Phänomens, wie oft von der Fachseite geäußert, muss mit
den technischen Umsetzungsmöglichkeiten einerseits, aber auch mit der Frage des
arbeitsökonomischen Erhebungsaufwandes andererseits abgeklärt werden. Die Erstellung
der PKS im föderalen Staat ist ein komplexes und kompliziertes Unterfangen in einem
mehrdimensionalen Spannungsfeld, in dem es unterschiedliche Interessen zu
berücksichtigen gilt, um zu einem konsentierten Ergebnis zu gelangen und in dem die
Landeskriminalämter durch entsprechende Kontrollmaßnahmen die Datenqualität zu
gewährleisten haben.
3. Die PKS soll nun des Weiteren „im Interesse einer wirksamen Kriminalitätsbekämpfung zu
einem überschaubaren und möglichst verzerrungsfreien Bild der angezeigten Kriminalität
führen“. Dieses „möglichst verzerrungsfreies Bild“ kann dann als Entscheidungsbasis für
Entscheidungen in unterschiedlichen Bereichen verwendet werden. In den Richtlinien wird
die dienende Funktion der PKS deshalb auch wie folgt beschrieben:
„Im Einzelnen dient die Polizeiliche Kriminalstatistik der
•
Beobachtung der Kriminalität und einzelner Deliktsarten, des Umfanges und der
Zusammensetzung des Tatverdächtigenkreises sowie der Veränderung von
Kriminalitätsquotienten,
•
Erlangung von Erkenntnissen für vorbeugende und verfolgende Verbrechensbekämpfung,
organisatorische Planungen und Entscheidungen sowie kriminologisch-soziologische
Forschungen und kriminalpolitische Maßnahmen.“2
Wie im zweiten Absatz dargelegt, dient sie „zur Erlangung von Erkenntnissen“, sie bietet
diese Erkenntnisse nicht aus sich heraus. Die Zahlen der PKS bedürfen vielmehr der
Interpretation. „Zahlen sprechen nicht für sich“3 lautet der Titel eines Buches von Dörmann,
dem früheren für die PKS-Erstellung Verantwortlichen im Bundeskriminalamt. Kritik an der
PKS hat deshalb zwischen der Kritik am (Erfassungs-)System der PKS als solchem und der
Instrumentalisierung von PKS-Zahlen zur Erklärung von Kriminalität und zur Evaluierung
2
3
Ebd.
Dörmann, Uwe (2004): Zahlen sprechen nicht für sich. München.
kriminalpolitischer Maßnahmen zu unterscheiden. Wenn also eine Reform der Polizeilichen
Kriminalstatistik gefordert wird, so kann dies nach den Darstellungen des Sachverhaltes im
Antrag ein Dreifaches bedeuten, nämlich 1) eine Reform des (Erfassungs-)Systems der PKS, 2)
eine Reform der Verwendung bzw. Instrumentalisierung der PKS im Hinblick auf deren Rolle
für Kriminalpolitik, Polizei und Wissenschaft oder 3) eine Reform des gesamten Systems der
Polizei- und Rechtspflegestatistiken, wie beispielsweise im Gutachten des Rats für Sozial- und
Wirtschaftsdaten zur „Optimierung des bestehenden kriminalstatistischen Systems in
Deutschland“ dargelegt.4
Hinsichtlich einer Reform des (Erfassungs-)Systems der PKS ist anzumerken, dass dieses System
einem ständigen Wandel und dem Zwang der Aktualisierung, der sich im Zusammenhang mit
Gesetzesänderungen, aber auch dem Auftreten neuer Deliktsbegehungsweisen (Stichwort:
„Internetkriminalität“) ergeben, unterliegt. Darüber hinaus wurde das System der PKS in den letzten
zehn Jahren massiv verändert.5 So wurde in den Jahren 2008 / 2009 die Übermittlung von
Einzeldatensätzen an das Bundeskriminalamt eingeführt. Seither liefern die Länder nicht mehr ihre
aggregierten Standardtabellen, sondern fortlaufend Einzeldatensätze in eine Datenbank an das BKA.
Hierdurch werden ganz andere Auswertungsmöglichkeiten als im früheren System eröffnet. Auch
wurde von einem vierstelligen Straftatenschlüssel auf einen sechsstelligen umgestellt, der eine
wesentlich differenziertere Erfassung im Fallbereich ermöglicht. Zudem wurden 2011 neue Kataloge
zur Opfer-Tatverdächtigen-Beziehung und zur Geschädigtenspezifik eingeführt, die z. B. die Basis für
das Lagebild „Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamtinnen und –beamte“ und die vom BMFSFJ und dem
Präsidenten des Bundeskriminalamts im November letzten Jahres auf einer Pressekonferenz
vorgestellte kriminalstatistische Auswertung „Partnerschaftsgewalt“ bilden. Weitere Ergänzungen
bzw. Änderungen des PKS-Systems, z.B. in Bezug auf das Internet, befinden sich in der
Umsetzungsphase. Die Forderung, die Polizeiliche Kriminalstatistik kann als weitgehend erfüllt
angesehen werden, denn das System der PKS befindet sich in einem permanenten Reformprozess.
Anders gestaltet sich die Lage, wenn die Verwendung der PKS betrachtet wird. Zwar dienen die
Zahlen der PKS, wie erwähnt, u. a. auch der Erlangung von Erkenntnissen für kriminalpolitische
Maßnahmen, doch wäre es kurzschlüssig die Bewertung kriminalpolitischer Maßnahmen allein
mittels Daten der PKS vollziehen zu wollen. Die PKS ist als Tat nahe Statistik eine sehr wichtige
Datenquelle. Für die Evaluation von Maßnahmen reicht aber ihre Aussagekraft nicht aus. Dass die
Aussagekraft der der PKS begrenzt ist, wird seit Jahren in den Jahrbüchern der PKS ausgeführt. Dort
heißt es:
„Die Aussagekraft der PKS wird besonders dadurch eingeschränkt, dass der Polizei ein Teil der
begangenen Straftaten nicht bekannt wird. Der Umfang dieses Dunkelfeldes hängt von der Art des
Deliktes ab und kann sich unter dem Einfluss variabler Faktoren im Zeitablauf ändern. Es kann daher
nicht von einer feststehenden Relation zwischen begangenen und statistisch erfassten Straftaten
ausgegangen werden.
Neben der tatsächlichen Änderung des Kriminalitätsgeschehens können sich folgende mögliche
Einflussfaktoren auf die Entwicklung der Zahlen in der PKS auswirken:
4
Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten (Hrsg.) (2009): Optimierung des bestehenden kriminalstatistischen
Systems in Deutschland. Baden-Baden.
5
Mischkowitz, R. und H. Becker (2011): Die neue Polizeiliche Kriminalstatistik. In: Kriminalistik, 65. Jahrgang,
Heft 5, S. 308-313.
•
•
•
•
Anzeigeverhalten (z.B. Versicherungsaspekt)
Polizeiliche Kontrolle
Statistische Erfassung
Änderung des Strafrechts.“
Um kriminalpolitische Maßnahmen evaluieren zu können, bedarf es einer an wissenschaftlichen
Standards ausgerichteten Evaluationsforschung und nicht eines einfachen Rekurses auf die Zahlen
einer einzigen Datenquelle.
Ähnlich verhält es sich bei der Bewertung von Kriminalitätslagen für die vorbeugende und
verfolgende Verbrechensbekämpfung. Die Daten der PKS geben Auskunft über Umfang, Struktur und
Entwicklung von Kriminalität im Hellfeld, aber eben unter den genannten Einschränkungen. Da die
Bewertung von Kriminalitätslagen und -entwicklungen nicht allein auf das Hellfeld, sondern auf die
„Kriminalitätswirklichkeit“ abzielt und zudem auch das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung in den Blick
nehmen sollte, reicht das Argumentieren mit PKS-Zahlen zur Erklärung der Lage und des Erfolges
einzelner Maßnahmen nicht aus. Das Hinzuziehen weiterer Erkenntnisquellen ist dringend geboten.
Die beiden Periodischen Sicherheitsberichte der Bundesregierung 2001 und 2006 z. B. hatten zum
Ziel, unter Einbeziehung verschiedener Datenquellen und Erkenntnisse aus der kriminalistischkriminologischen Forschung eine Gesamtlagebild zu erstellen, um eine fundierter, nicht allein auf
Hellfelddaten basierende Bewertung von Kriminalitätslagen und kriminalpolitischen Maßnahmen
vornehmen zu können. Wenn häufig „nur“ mit Hinweis auf PKS-Daten argumentiert wird, ist dies kein
Anlass für eine Reform der PKS, es mag aber ein Hinweis darauf sein, dass der Umgang mit der PKS
bzw. der Umgang mit Statistiken generell einer Reform bedarf. Die PKS funktioniert m. E. als eine Art
„Seismograph“ der Kriminalitätsentwicklung recht gut - um weitergehende Aussagen über die
„Kriminalitätswirklichkeit“ machen zu können, hat sie aber Defizite und bedarf deshalb sicherlich der
Ergänzung durch andere Erkenntnisquellen.
Dies führt zur Betrachtung des kriminalstatistischen Systems Deutschlands. Wenn eine Reform
gefordert werden kann, dann in erster Linie im Hinblick auf das Gesamtsystem der Kriminal- und
Rechtspflegestatistiken. Die Unzulänglichkeiten des Gesamtsystems sind in zahlreichen Beiträgen von
Heinz detailliert beschrieben worden.6 Im Grunde handelt es sich auch nicht um ein „System“ im
Sinne der Systemtheorie, sondern um ein Konglomerat einzelner Statistiken, die sich historisch relativ
unabhängig voneinander entwickelt haben und die nicht ohne weiteres miteinander in Beziehung
gesetzt werden können. Von den 20 Thesen, die die Arbeitsgruppe „Optimierung des bestehenden
kriminalstatistischen Systems“ 2009 vorgelegt hat, seien hier nur folgende im Hinblick auf eine
Reform aufgegriffen:
1. Die Forderung, regelmäßige, statistikbegleitende Opferbefragung durchzuführen. Diese
liefern, ergänzend zur PKS, Daten über das Dunkelfeld einzelner Deliktsbereiche und zum
Anzeigeverhalten sowie zum Sicherheitsgefühl. Die Forderung ist alt7, wurde in den beiden
6
U.a. Heinz, Wolfgang (2009): Defizite des bestehenden kriminalstatistischen Systems in Deutschland:
Einführung und Überblick, in: Dessecker, Axel; Egg, Rudolf (Hrsg.): Kriminalstatistiken im Lichte internationaler
Erfahrungen, Wiesbaden, S. 17-72.
7
Vgl. zu den Initiativen den Beitrag von Mischkowitz (2015): Betrachtungen zur Geschichte der
Dunkelfeldforschung in Deutschland; in: Guzy, N., Birkel, Ch. und Mischkowitz, R. (Hrsg.) (2015):
Viktimisierungsbefragungen in Deutschland, Band 1. Wiesbaden. S. 29-61.
Periodischen Sicherheitsberichten wieder neu erhoben und führte 2002 zur Einsetzung einer
Arbeitsgruppe des Bundesministeriums des Innern und des Bundesministeriums der Justiz
(BUKS; „Bevölkerungsumfrage zur Kriminalitätswerdung und Sicherheitsgefühl“). Diese legte
ein Konzept für eine solche Opferbefragung vor, das aber bis heute nicht umgesetzt worden
ist.8 Auf den Vorschlägen der BUKS-Arbeitsgruppe konnte jedoch bei der Planung und
Durchführung des im Rahmen des Sicherheitsforschungsprogramms der Bundesregierung
finanzierten BaSiD-Projektes („Barometer Sicherheit in Deutschland“) zurückgegriffen
werden. Ein Modul des BaSiD-Projektes sah eine bundesweite Opferbefragung von über
30.000 Probanden vor. Die Datenerhebung hierzu wurde im Sommer 2012 durchgeführt.9 Die
Opferbefragung, die mittlerweile als „Deutscher Viktimsierungssurvey 2012“ bekannt
geworden ist, soll nun im laufenden Jahr in leicht modifizierter Form wiederholt werden. Es
steht zu hoffen, dass es schließlich gelingen wird, die Basis für eine Verstetigung des Surveys
zu schaffen. Gleichzeitig gibt es auf europäischer Eben Bemühungen, eine Opferbefragung
zum Thema „Violence against Women“ oder „Gender-based Violence“ aufzulegen. Eine Task
Force zur Entwicklung eines Konzepts wurde bereits eingerichtet.
2. Die Arbeitsgruppe war der Meinung, dass im bestehenden kriminalstatistischen System
kriminalpolitisch relevante Merkmale zu Taten, Tätern und Opfern in zu geringem Maße
erfasst würden und schlägt deshalb vor, Merkmale mit kriminologischer Relevanz
einzubeziehen. Dies ist bei der PKS in gewissem Umfang bereits erfolgt. Auf die Einführung
neuer Kataloge wurde oben hingewiesen. Die Einführung solcher Merkmale stößt aber in den
Gremien (z.B. AK II, IMK) nicht immer auf Zuspruch, da sie den Erfassungsaufwand für die
Polizei erhöht. Ohne Zustimmung der Gremien ist aber eine Reform des kriminalstatistischen
Systems nicht durchführbar. Hier stoßen die unterschiedlichen Interessen verschiedener
Nutzer der PKS direkt aufeinander.
3. Dass kriminalstatistische Daten einer sachgerechten Interpretation bedürfen, steht außer
Frage. Lobend hebt die Arbeitsgruppe dabei die in den Jahresberichten der PKS eingebauten
ausführlichen Erläuterungen, grafische Veranschaulichungen und Interpretationsangebote
hervor. Gleichwohl bedauert sie, dass die Periodischen Sicherheitsberichte, die ein
umfassendes Bild der Kriminalitätslage unter Einbeziehung von Erkenntnissen zum
Sicherheitsgefühls boten, eingestellt worden sind und empfiehlt, künftig wieder Periodische
Sicherheitsberichte zu erstellen. Diese Forderung gewinnt in „postfaktischen“ Zeiten, in
denen zahlreiche Mythen über die Kriminalitätslage und -entwicklung durch die Medien
geistern, erhebliche Brisanz. Eine sachlich-nüchtern und umfassende Darstellung und
Bewertung der Kriminalitätslage dürfte inzwischen unter kriminalpolitischen
Gesichtspunkten wohl so wichtig sein wie selten zuvor.
4. Die Empfehlung der Arbeitsgruppe, „…ein statistisches Datenbanksystem aufzubauen, in das
alle relevanten justiziellen Entscheidungen mit pseudonymisierten Personendaten
eingetragen und anschließend miteinander verknüpft werden“10, entspricht in gewissem Sinn
8
Heinz, Wolfgang: Abschlussbericht der Arbeitsgruppe des Bundesministeriums des Innern und des
Bundesministeriums der Justiz „Regelmäßige Durchführung von Opferbefragungen“.
9
Zum Design der Studie und zu den Ergebnissen vgl. Birkel, Ch. et. al (2016): Opfererfahrungen und
kriminalitätsbezogene Einstellungen in Deutschland. Wiesbaden.
10
Rat für sozial und Wirtschaftsdaten (Hrsg), a.a.O. (2009), S.32
der unter II.2 vom Landtag festgestellten Bewertung, nämlich dass eine statistische
Auswertung zur Bewertung des Erfolgs einer Maßnahme Informationen zum Gesamtverlauf
eines Verfahrens bzw. Einzelfalles bedarf. Ohne an dieser Stelle den „Erfolgsbegriff“ zu
problematisieren, sei kurz auf die Forderung eingegangen, den Gesamtverlauf eines
Verfahrens abbilden zu können. Eine Abbildung des Gesamtverlaufs eines Verfahrens ist auf
Basis des bestehenden heterogenen Systems einzelner, unverbundener Statistiken (z. B. PKS;
Strafverfolgungsstatistik) nicht möglich. Die Forderung, eine „Verlaufs- oder
Einheitsstatistik“ zu schaffen ist deshalb auch nicht neu, sondern reicht weit in die
Vergangenheit zurück.11 Bisher ist es jedoch nicht gelungen, eine Verlaufsstatistik zu schaffen,
die es ermöglichen würde, den Verlauf eines einzelnen Verfahrens und über alle Instanzen
hinweg abzubilden. Es ist auch nicht möglich, mittels der amtlichen Statistiken den Weg einer
tatverdächtigen Person von der Anzeige bis zur Erledigung des Ermittlungs- und
Strafverfahrens nachzuvollziehen. Erste Schritte im Hinblick auf die Schaffung einer solchen
Statistik wurden zwar eingeleitet, haben bisher aber noch zu keinem Ergebnis geführt. Die
Einrichtung einer solchen Statistik stellt ein sehr schwieriges Unterfangen dar, da zum einen
für die Erstellung der amtlichen Statistiken unterschiedliche Institutionen zuständig sind (z. B.
Innenministerien, Justizministerien in Bund und Ländern, Bundeskriminalamt, Statistisches
Bundesamt), zum anderen zahlreich fachliche Probleme bewältigt werden müssen, wie z. B.
die Bewertungsunterschiede eines Falles zwischen Polizei und Justiz. Die PKS stünde mit
ihren Daten am Beginn einer solchen Verlaufsstatistik, sieht man einmal davon ab, dass der
PKS die Vorgangsbearbeitungssysteme (VBS) der Polizei mit Ihren Eingangserfassungen
vorgeschaltet sind, die ggf. auch in eine Verlaufsstatistik einzubeziehen wären. Die PKS als
Ausgangsstatistik gibt das polizeiliche Ermittlungsergebnis am Ende des polizeilichen
Ermittlungsprozesses, der bei einigen Deliktsbereichen eine ziemlich lange Zeit in Anspruch
nehmen kann, wieder. Die PKS-Daten stehen also nicht tagesaktuell zur Verfügung. Mit der
Übermittlung der Einzeldatensätze der PKS in eine Datenbank im BKA wurde aber eine
Ausgangsstufe für eine Verlaufsstatistik geschaffen. Darüber hinaus müssen neben den
fachlichen Problemen auch technische Voraussetzungen berücksichtigt werden. Die ITInfrastruktur in Polizei und Justiz im Bund und den Ländern ist ziemlich heterogen, d.h. es
bedarf eines erheblichen Aufwands – und somit auch erheblicher finanzieller Mittel – um ein
entsprechendes IT-System und eine Datenbank einzurichten. Ohne eine gesetzliche
Grundlage dürften die Bemühungen zum Scheitern verurteilt sein. Man muss sich zudem
vergegenwärtigen, dass eine auf Einzeldatensätzen basierende Verlaufsstatistik nicht nur den
Verlauf von Fällen und Personen über die Instanzen der strafrechtlichen Kontrolle hinweg
abbilden, sondern auch das Arbeiten des Gesamtsystems und seiner einzelnen Einheiten (z.B.
Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht) transparent machen würde. Auch datenschutzrechtliche
Aspekte wären in eine Prüfung einzubeziehen, da eine solche Verlaufsstatistik auch
Rückschlüsse auf den Einzelnen zulassen könnte.
11
Vgl. Erster Periodischer Sicherheitsbericht (2001), S. 33
Fazit:
Die Forderung, eine ehrliche und offene Evaluation kriminalpolitischer Maßnahmen vorzunehmen,
verweist zu Recht auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem bestehenden kriminalstatistischen
System Deutschlands. Die amtlichen Kriminalstatistiken bilden eine ausgesprochen wichtige
Datengrundlage der Evaluationsforschung im Bereich der Kriminalpolitik, doch sollte berücksichtigt
werden, dass Evaluationsforschung mehr erfordert, als „nur“ eine Verbesserung der Datengrundlage.
Die Verbesserung ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für eine
sachgerechte, an wissenschaftlichen Standards orientierte Evaluation von Maßnahmen.
Bezüglich des bestehenden „Systems“ heterogener Statistiken ist darauf hinzuweisen, dass die
Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) einem permanenten Reformprozess unterliegt, der nur in
Abstimmung mit den zuständigen Gremien durchgeführt werden kann und die Belange
verschiedenster Bedarfsträger in den Entscheidungsprozess einbeziehen muss. Kritik an der PKS
sollte nicht von unerfüllbaren Erwartungen getragen werden, sondern unter Berücksichtigung der
wesentlichen Merkmale der PKS erfolgen. Diese lassen sich mit den Begriffen Hellfeldstatistik,
Massenstatistik und Ausgangsstatistik umreißen. Der Aussagekraft der PKS sind deshalb relativ enge
Grenzen gesetzt. Im Rahmen dieser Grenzen wurden im Laufe der letzten zehn Jahre durchaus
bedeutende Fortschritte, die Aussagekraft der PKS betreffend, erzielt.
Wenn über Reformen nachgedacht wird, sollte zum einen der Umgang mit Zahlen der amtlichen
Statistiken, zum anderen die Weiterentwicklung des Gesamtsystems der Kriminal- und
Rechtspflegestatistiken kritisch ins Auge gefasst werden. Eine seriöse Interpretation statistischer
Daten ist in „postfaktischen“ Zeiten von zentraler Bedeutung für das Sicherheitsgefühl der
Bevölkerung. Reformen am Gesamtsystem sind in der Tat wünschenswert. Vorschläge hierzu liegen
seit Längerem gewissermaßen „auf dem Tisch“ und werden z. T. auch aufgegriffen. Besonders
hervorzuheben sind hier Bemühungen um eine regelmäßige, statistikbegleitende
Dunkelfeldforschung in Form von Viktimisierungssurveys und Anstrengungen im Hinblick auf die
Schaffung der in der Sachverhaltsdarstellung geforderten „Einheits- bzw. Verlaufsstatistik“.
gez.
Dr. Mischkowitz