SWR2 Tandem

SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 Tandem
Fassung vom:
8.12.2016
Autorin:
Friedrich Ani
Redakteurin: Katrin Zipse
Regisseurin: Ulrich Lampen
Tabor Süden und die verschwundenen Frauen
Hörspiel
Sendung am:
28.2.2017 um 19:20 Uhr
Besetzung:
Tabor Süden, Detektiv
Edith Liebergesell, Chefin der
Detektei
Heide Sell, ältere Frau
Elena Sell, ihre Tochter, Mitte 40
Paul Anneke, älterer Mann
Diese Kopie wird nur zur rein persönlichen
Information überlassen. Jede Form der
Vervielfältigung oder Verwertung bedarf der
ausdrücklichen vorherigen Genehmigung
des Urhebers.
© by the author
1. Erste Szene – Café Xeng – Mittwochnacht
1
SÜDEN
(Erzähler)
Jeden Abend stand ich am Fenster meiner Katerschmiede,
dem Café Xeng an der Tegernseer Landstraße, schaute
hinaus, wo die Straßenbahnen vorüberfuhren, und dachte
darüber nach, was ich tun würde, wenn ich meinen Job
endgültig verlor.
Kneipenmusik, Stimmengebrumm, das Klingeln einer Straßenbahn.
In der Detektei, für die ich arbeitete, gingen kaum noch
2
Aufträge ein, und meine Chefin, Edith Liebergesell, hatte
angekündigt, mir das Monatsgehalt zu streichen, wenn die
Dinge sich nicht änderten. Was also tun? Keine Antwort, in
keinem Winkel meines Kopfes. Ich könnte zum Waldfriedhof
fahren und mit meinem Freund aus Kindertagen und
ehemaligen Kollegen Martin Heuer die Dinge besprechen, er
sah die Welt mit anderen Augen, von der anderen Seite her
und hatte vielleicht eine Idee …
Er trinkt.
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Oder besser, ich bestellte mir noch ein Bier, schaute weiter
aus dem Fenster und dachte nicht mehr nach, sondern …
sondern … Da war sie wieder! Auf der gegenüberliegenden
Straßenseite. Eine ältere Frau in einem grünen Wollmantel.
1
Sie stand vor der beleuchteten Apotheke, die Hände vor dem
Bauch gefaltet. Wenn ich mich nicht täuschte, hielt sie ein
paar weiße Blätter in der Hand. Schon vor zwei oder drei
Tagen hatte ich sie vor dem Postamt stehen sehen, sie
sprach Passanten an und drückte ihnen einen Zettel in die
Hand. Ich saß in der Straßenbahn und hätte aussteigen
können. Aus Mangel an Neugier war ich weitergefahren,
obwohl ich kein Ziel hatte. Seit Tagen durchquerte ich auf
diese Weise die Stadt, und wusste nicht, wohin.
2. Zweite Szene – Straße – Mittwochnacht
4
HEIDE SELL
Kennen wir uns?
5
SÜDEN
(Erzähler)
Ich hatte mich neben sie gestellt, schweigend. Hin und
wieder torkelte ein Gast aus dem Café Xeng, ich war froh, an
der Luft zu sein und weniger bebiert als in den vergangenen
Tagen. Die Frau im grünen Mantel trug gelbe, ausgebleichte
Schuhe, ihre graubraunen Haare waren vom Wind zerzaust,
ihre Augen blau und groß. Reglos, wie wir dastanden, hätten
wir zwei Zeugen Jehovas sein können, die ihren Auftrag
übertrieben und noch mitten in der Nacht ihre Botschaft
unters Volk bringen wollten. Der Gedanke amüsierte mich.
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HEIDE SELL
Worüber schmunzeln Sie?
7
SÜDEN
Ich schmunzele nicht.
2
8
HEIDE SELL
Sie schmunzeln.
9
SÜDEN
Sie verteilen Zettel. Geben Sie mir auch einen.
10 HEIDE
SELL
11 SÜDEN
Wenn Sie versprechen, Ausschau zu halten.
Unbedingt.
Sie gibt ihm einen Zettel.
12 SÜDEN
Sie suchen Ihre Tochter. Das Gesicht auf dem Foto ist leider
nur schemenhaft zu erkennen. Wie alt ist sie?
13 HEIDE
SELL
Sechsundvierzig.
14 SÜDEN
Und wie alt sind Sie?
15 HEIDE
Müssen Sie das fragen?
SELL
Klingeln einer vorüberfahrenden Straßenbahn.
16 SÜDEN
Da steht der Name Ihrer Tochter: Elena Sell. Wie heißen
Sie?
17 HEIDE
SELL
Auch Sell.
Schweigen.
Heide Sell.
18 SÜDEN
Ich bin Tabor Süden.
19 HEIDE
Wohnen Sie in der Nähe?
SELL
20 SÜDEN
Ja.
3
21 HEIDE
SELL
Wie ich.
22 SÜDEN
Seit wann suchen Sie Ihre Tochter?
23 HEIDE
Lang schon.
SELL
24 SÜDEN
Sie waren nicht bei der Polizei.
25 HEIDE
Nein.
SELL
Schweigen.
26 SÜDEN
Ich arbeite in einer Detektei, ich suche Verschwundene,
vielleicht kann ich Ihnen helfen.
27 HEIDE
SELL
Sie schwindeln.
28 SÜDEN
Ich schwindele nicht.
29 HEIDE
Sie schwindeln wie Sie schmunzeln.
SELL
30 SÜDEN
Weder das eine noch das andere.
31 HEIDE
Tauchen hier plötzlich in der Nacht auf! Behaupten, Sie
SELL
wären Detektiv und wollen Geld von mir.
32 SÜDEN
Ich will kein Geld.
33 HEIDE
Da steckt ein Trick dahinter.
SELL
34 SÜDEN
Nein, Frau Sell.
35 HEIDE
Und Sie heißen Süden? So heißt niemand.
SELL
36 SÜDEN
Das ist mein Name. Tabor Süden.
4
37 HEIDE
SELL
Wo kommen Sie denn her?
38 SÜDEN
Aus dem Lokal gegenüber.
39 HEIDE
Pffft.
SELL
40 SÜDEN
Geboren bin ich in Taging.
41 HEIDE
Taging am See?
SELL
42 SÜDEN
Erzählen Sie mir etwas von Ihrer Tochter.
3. Dritte Szene – Wohnung Liebergesell –
Donnerstag sehr früher Morgen
Das Klingeln eines Festnetztelefons. Edith Liebergesell geht dran, sie ist verschlafen.
43 EDITH
Liebergesell.
44 SÜDEN
(am Telefon)
Ich bin’s, Edith.
45 EDITH
Optimaler Zeitpunkt. Und: Nein, wir haben noch keinen
neuen Auftrag.
46 SÜDEN
Ich habe eine Frau getroffen, die ihre verschwundene
Tochter sucht.
47 EDITH
Ach was. Wo hast du sie getroffen? In der Kneipe am
Tresen?
5
48 SÜDEN
Kannst du bitte eine Telefonnummer überprüfen? Ich habe
da gerade angerufen, aber es heißt, die gewählte Nummer
ist ungültig. Warum? Die Frau will doch angerufen werden.
Du musst rausfinden, zu wem diese Nummer früher gehört
hat.
49 EDITH
Weiß die Frau, dass wir 65 Euro in der Stunde verlangen?
50 SÜDEN
Nein.
51 EDITH
Bitte?
52 SÜDEN
Sie ist alt und hat vermutlich kein Geld.
53 EDITH
Ich bin müde, verarsch mich morgen wieder.
54 SÜDEN
Wir müssen ihr helfen, es ist wichtig.
55 EDITH
Sagt das die Stimme in deinem Bierbauch, dass es wichtig
ist?
56 SÜDEN
Wenn du keine Zeit hast, kümmere ich mich allein drum.
57 EDITH
Ach, Süden.
Schweigen.
Gib mir die Nummer. Wie heißt die Frau? Und die angeblich
verschwundene Tochter?
6
4. Vierte Szene – Straße – Mittwochnacht
Aus der Entfernung hört man eine Kneipentür, die geöffnet wird. Stimmen und Musik wehen
heraus. Die Tür wird wieder geschlossen. Eine Straßenbahn fährt vorüber.
58 HEIDE
SELL
Elena war schon oft verschwunden. Vierzehn Mal ist sie
umgezogen, in einer einzigen Stadt.
59 SÜDEN
Aber den Kontakt zu Ihnen hat sie nie abgebrochen.
60 HEIDE
Das stimmt.
SELL
61 SÜDEN
Trotzdem machen Sie sich jetzt Sorgen.
62 HEIDE
Mach mir immer Sorgen, mein ganzes Leben lang. Immer
SELL
Sorgen, immer.
63 SÜDEN
Sie leben allein.
Schweigen.
Ohne Elenas Vater.
64 HEIDE
SELL
Er lebt nicht mehr, seit … Ist lang her, zwölf, dreizehn Jahre.
So lang schon.
65 SÜDEN
Sie vermissen ihn.
66 HEIDE
Ich vermiss Elena.
SELL
67 SÜDEN
Wo hat sie zuletzt gewohnt?
68 HEIDE
Herzogstraße 114.
SELL
69 SÜDEN
Morgen früh mache ich mich auf den Weg. Ich rufe Sie an.
7
70 HEIDE
SELL
Woher wissen Sie meine Telefonnummer?
71 SÜDEN
Die steht auf dem Zettel.
72 HEIDE
Hab ich vergessen.
SELL
73 SÜDEN
Sie sind so spät noch unterwegs.
74 HEIDE
Wie Sie.
SELL
75 SÜDEN
Ja.
76 HEIDE
Haben Sie nicht Frau und Kind?
SELL
77 SÜDEN
Nein.
78 HEIDE
Warum nicht?
SELL
79 SÜDEN
Soll ich Sie nach Hause begleiten, Frau Sell?
80 HEIDE
Ich schaff das schon.
SELL
Mit schlurfenden Schritten geht sie davon.
81 SÜDEN
(Erzähler)
Eine Zeitlang betrachtete ich noch das verwaschene Gesicht
auf dem Zettel, die unbeholfene Schrift. Dann dachte ich,
dass ich die alte Frau unbedingt einholen musste, weil es viel
zu spät war, um sie allein nach Hause gehen zu lassen. Aber
als ich um die Ecke bog, an der sich ein Matratzenladen und
der Übergang zum Postamt befanden, sah ich sie nirgendwo.
Ich ging zur U-Bahn hinunter, und die Bahn fuhr gerade ab.
In beunruhigter Stimmung machte ich mich auf den
8
Heimweg. Und weil ich nicht einschlafen konnte, rief ich
meine Chefin, Edith Liebergesell, an. Am nächsten Morgen
ging ich in der Detektei vorbei.
5. Fünfte Szene – Detektei – Donnerstag
82 EDITH
Bis vor elf Monaten war der Anschluss auf Heide Sell in der
Warngauer Straße gemeldet.
83 SÜDEN
Die Straße ist nicht weit von der Kreuzung entfernt, wo ich
die alte Frau getroffen habe.
84 EDITH
Willst du wirklich keinen Tee? Du siehst aus, als könntst du
einen gebrauchen.
85 SÜDEN
Mein Kaffee genügt mir.
86 EDITH
Du musst mehr Wasser trinken. Ist wichtig für deine
Gesundheit.
87 SÜDEN
Was hat die Nachbarin erzählt?
Edith schenkt sich Tee ein.
88 EDITH
Sie sagt, dass Frau Sell seit fast einem Jahr nicht mehr in
dem Haus wohnt. Sie sei zu ihrem Bruder gezogen.
89 SÜDEN
Wo wohnt der?
9
90 EDITH
Das wollt sie mir erst nicht sagen. Lieber redete sie vom
Kartenspielen. Sie haben regelmäßig Mau-Mau gespielt, die
beiden Damen, jeden Mittwoch und Samstag.
91 SÜDEN
Kennt sie die Tochter von Heide Sell?
92 EDITH
Nein. Angeblich hat die Tochter ihre Mutter nie besucht.
Heide Sell hat zwar oft von ihr gesprochen, aber sie hatten
wohl seit langem keinen Kontakt.
93 SÜDEN
Mir hat sie das Gegenteil erzählt. Wie lange wohnte die alte
Frau Sell in dem Haus?
94 EDITH
Mehr als dreißig Jahre.
95 SÜDEN
Und Elena Sell, die Tochter, war nie da.
96 EDITH
Die Nachbarin sagt, Heide Sell besaß nur ein einziges Foto
ihrer Tochter, und das war schon ganz vergilbt und
zerknittert.
97 SÜDEN
Was hält sie von der Suchaktion?
98 EDITH
Sie meint, das mit dem Zettel sei Unsinn, weil Heide doch
gar nicht mehr in der Stadt sei, sondern längst bei ihrem
Bruder an der Nordsee. Ich hab sie gefragt, wo genau. Erst
nannte sie die Stadt Büsum, dann Husum, dann Büsüm, sie
wusste es nicht mehr. Ich hab sie nach dem Namen des
Bruders gefragt, und sie antwortete: Herr Sell …
99 SÜDEN
Dann hast du recherchiert.
10
100 EDITH
Sicher, du hast mich ja gezwungen, diesen lukrativen Auftrag
anzunehmen. Weder in Husum noch in Büsum noch in einer
anderen Stadt in Schleswig-Holstein oder im Kreis
Nordfriesland hab ich im Internet einen Herrn oder eine Frau
Sell gefunden, auch nicht über die altehrwürdige, profane
Auskunft.
101
Aber: Die Nachbarin, die Kartlerin Frau Westenrieder,
erzählte mir noch, dass Heides Bruder seine Schwester mit
einem alten, schmutzigen, weißen Mercedes abgeholt hat.
Und einen Tag vorher schaffte eine Entrümpelungsfirma das
gesamte Hab und Gut von Frau Sell aus der Wohnung, und
zwar bis auf den letzten Nachttopf, wie Frau Westenrieder
sich ausdrückte.
102
Die Nacht bis zum endgültigen Auszug verbrachte Frau Sell
auf der Couch ihrer langjährigen Freundin, ohne was zu
erzählen oder Erklärungen abzugeben. Frau Westenrieder
fand dieses Verhalten gemein und fast beleidigend. Ihre
Freundin habe nicht mal Lust gehabt, noch eine letzte Runde
zu karteln. Ohne eine Adresse zu hinterlassen, stieg sie am
nächsten Morgen in den Mercedes ihres Bruders und fuhr
weg. Das war’s.
103 SÜDEN
Hat die Nachbarin aufs Autokennzeichen geschaut?
104 EDITH
Sie glaubt, dass NF auf dem Schild stand.
105 SÜDEN
NF könnte der Landkreis Nordfriesland sein.
11
106 EDITH
So ist’s. Deswegen hab ich in dem Landkreis auch
besonders nach dem Namen gesucht. Fehlanzeige. Die alte
Frau ist verschwunden, und niemand weiß, wohin. Oder ist
sie doch nicht verschwunden? Steht plötzlich nachts auf der
Straße oder am Tag vor dem Postamt. Oder war das
womöglich jemand anderes? Was denkst du, Süden?
107 SÜDEN
(Erzähler)
Warum, fragte ich mich, hatte die Frau eine abgemeldete
Telefonnummer auf den Zettel geschrieben und diesen dann
verteilt? Was bezweckte sie mit der Suchaktion in
Wirklichkeit? Und wenn sie noch in der Stadt war, warum
entrümpelte sie erst komplett ihre Wohnung, in der sie
dreißig Jahre lang gelebt hatte, um dann im selben Stadtteil
zu bleiben? Musste sie nicht befürchten, erkannt zu werden
und ihrer Nachbarin zu begegnen? Und wohin war sie in der
Nacht so spurlos verschwunden? Obwohl ich keinen Beweis
dafür hatte, glaubte ich nicht, dass sie in die U-Bahn
gestiegen war. Ich musste an den Ausgangspunkt
zurückkehren.
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6. Sechste Szene – Straße / Hinterhof – Donnerstagnacht
Süden geht durch die Straßen. Aus der Ferne das Hupen eines Autos, das metallische
Geräusch einer fahrenden Straßenbahn. Vereinzelt Stimmen.
108 SÜDEN
(Erzähler)
Wieder stand ich vor der beleuchteten Apotheke,
beobachtete das Kommen und Gehen im Café Xeng
gegenüber, sah, wie mir jemand von drinnen zuwinkte, und
ich winkte zurück, ohne das Gesicht der Person erkennen zu
können.
109
Angenommen, Heide Sell war nicht zur U-Bahn
hinuntergegangen, welchen Weg hatte sie stattdessen
eingeschlagen? Die Straße hatte sie nicht überquert, dann
hätte ich sie bestimmt noch laufen sehen. Vermutlich, so
überlegte ich, hatte ich das Naheliegende übersehen. Also
bog ich beim Matratzenladen um die Ecke und ging durch die
Einfahrt nebenan in den Hinterhof. Ich roch den süßen Duft
von Flieder.
110
Tatsächlich: da stand ein heruntergekommener weißer
Mercedes mit dem Kennzeichen NF-PA 3112. Das Fahrzeug
parkte neben zwei anderen Autos vor der Pension, die sich
an den Hinterhof anschloss. Ich dachte daran, eine Bekannte
aus dem Vermisstendezernat bei der Kripo anzurufen und
sie zu bitten, den Halter des Wagens zu ermitteln. Aber um
diese Zeit war sie vermutlich nicht mehr im Büro. Dann
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betrachtete ich das Kennzeichen. P-A. Ich ging zur Tür. Auf
dem Klingelschild fand ich keinen Namen mit dem
Anfangsbuchstaben P, allerdings gab es einen Mieter oder
eine Mieterin mit dem Anfangsbuchstaben A. Anneke. Auf
gut Glück klingelte ich.
Das Rasseln einer alten Hausklingel dringt durch ein geöffnetes Fenster.
111 ANNEKE
(vom zweiten Stock aus)
Wer sind Sie?
112 SÜDEN
Ich suche Heide Sell.
113 ANNEKE
Wen?
114 SÜDEN
Eine ältere Dame. Ist das Ihr Mercedes?
115 ANNEKE
Was wollen Sie?
116 SÜDEN
Ich würde gern ein paar Worte mit Frau Sell wechseln,
wegen ihrer Tochter Elena. Mein Name ist Tabor Süden, ich
habe Frau Sell versprochen, nach Elena zu suchen, ich bin
Detektiv.
Schweigen.
117 ANNEKE
Und so spät noch im Dienst …
14
7. Siebte Szene – Wohnung Anneke – Donnerstagnacht
118 ANNEKE
Sie hat mir verboten, einen Arzt zu rufen. Obwohl es immer
schlimmer mit ihr wird. Oft läuft sie die halbe Nacht draußen
rum, und ich darf nicht mitkommen. Sie will das so.
Schweigen.
119 SÜDEN
(Erzähler)
Die Frau lag schlafend im Bett, bis zum Kinn mit einer
weißen, geblümten Decke zugedeckt, ihr graues, schmales
Gesicht sah ruhig und friedvoll aus.
120 ANNEKE
Auch ein Bier?
121 SÜDEN
(Erzähler)
Der Mann – er hieß Paul Anneke – war ungefähr so alt wie
Heide Sell. Er trug einen grauen Rollkragenpullover, der
mich an die Standardkleidung meines Freundes Martin
Heuer erinnerte, der sommers wie winters in solchen
Pullovern herumgelaufen war und im Dienst lieber geschwitzt
hatte, als sich umzuziehen. In der Nacht, als er sich eine
Kugel in den Kopf jagte, trug er einen ähnlich ausgefransten
Pullover wie Paul Anneke.
122 ANNEKE
Ich bin aus Husum, hatte eine Autovermietung dort. Hab sie
verpachtet und bin nach Bayern gezogen, vor zehn Jahren.
Ich wollt noch mal ein paar Berge in meinem Leben sehen.
123 SÜDEN
Warum?
15
124 ANNEKE
Was?
125 SÜDEN
Was fasziniert Sie an Bergen?
126 ANNEKE
Der Ausblick, die Möglichkeiten zum Wandern, das
Naturschauspiel.
127 SÜDEN
(Erzähler)
Für mich waren Berge seit jeher nichts als stumpfsinnige
Bauklötze eines verwirrten Gottes. Aber das sagte ich
natürlich nicht.
128 SÜDEN
Sie sind nicht Heides Bruder.
129 ANNEKE
(nach einem Schweigen)
Hätt sie rumerzählen sollen, sie hat sich in einen Mann
verguckt? In ihrem Alter? Das wollt sie auf keinen Fall. So
hat sie sich die Geschichte mit dem Bruder ausgedacht. Ich
hab mitgespielt. Die Heide hatte doch nie eine richtige
Familie. Prost.
130 SÜDEN
Möge es nützen!
Sie stoßen mit den Bierflaschen an, trinken.
131 ANNEKE
Ihre Tochter, die Elena, hat sie allein groß gezogen, aber seit
Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Wir haben uns im Postamt
kennengelernt. Sie stand vor mir in der Schlange, und bevor
sie drankam, ist sie wieder gegangen. Sie wollt eben
dazugehören, irgendwo. Wo die sich schon überall angestellt
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hat! An der Kasse vom Supermarkt an einem Samstag mit
hundert anderen Leuten. Am Gemüsestand auf dem
Viktualienmarkt. Auf sämtlichen Ämtern, wo man Nummern
ziehen muss, bis man drankommt. Das war ihr Hobby, ihr
Spiel, ihr Vergnügen.
132
Ich hab sie angesprochen, in der Post, weil nichts voranging,
und so kamen wir ins Gespräch. Dann hat sie gesagt, sie
geht jetzt, und da bin ich mitgegangen. Obwohl ich dringend
einen Brief an die Versicherung abschicken musste. Hab ich
dann irgendwie vergessen gehabt. Wir sind aus dem
Postamt raus, und ich hab sie gefragt, ob sie einen Kaffee
möcht, und sie hat ja gesagt. Dann sind wir rüber ins Café,
und so kam’s.
133 SÜDEN
So kam’s, dass Sie ein Liebespaar wurden.
134 ANNEKE
Wenn Sie das so ausdrücken wollen.
135 SÜDEN
Und dann hatte sie die Idee mit dem Bruder.
136 ANNEKE
Und ist bei mir eingezogen, ein paar hundert Meter von ihrer
alten Wohnung entfernt. Ihre Möbel und alles hat sie auf den
Sperrmüll bringen lassen, sie hatte nichts mehr, als sie hier
ankam. Und jetzt liegt sie da, und ihr Herz macht nicht mehr
mit, und sie will keine Hilfe.
137 SÜDEN
Rufen Sie trotzdem einen Arzt, warten Sie nicht länger.
138 ANNEKE
Ich darf nicht, Sie hat’s mir verboten.
17
Schweigen.
Sie stoßen mit den Bierflaschen an, trinken.
139 SÜDEN
Sie wussten von der Suchaktion.
140 ANNEKE
Ja.
Schweigen.
Sie war immer so gern draußen und unter Leuten. In den
letzten Wochen auch in der Nacht.
141 SÜDEN
Rufen Sie einen Arzt.
Schweigen.
Sie haben keine Ahnung, wo Heides Tochter sich aufhält.
142 ANNEKE
Nein.
143 SÜDEN
Ich kann einen Arzt rufen, mir hat sie es nicht verboten.
144 ANNEKE
Sie möcht nicht. Und ich versteh’s.
18
8. Achte Szene – Zimmer – Nacht
145 HEIDE
SELL
(zitiert mit leiser, schwacher Stimme ein Rilke-Gedicht)
„Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn,
wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören,
und ohne Füße kann ich zu dir gehen,
und ohne Mund noch kann ich dich beschwören.
Brich mir die Arme ab, ich fasse dich
mit meinem Herzen wie mit einer Hand,
halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen,
und wirfst du in mein Hirn den Brand,
so werd ich dich auf meinem Blute tragen.“
9. Neunte Szene – Vor einer Villa – Samstag
146 SÜDEN
(Erzähler)
Wie Heide Sell mir bei unserer nächtlichen Begegnung
gesagt hatte, hatte ihre Tochter eine Weile in der
Herzogstraße in Schwabing gewohnt. Eine Mieterin, die
Krankenschwester Luisa Horn, erzählte mir, dass Elena
schon vor ungefähr fünf Jahren aus dem Haus ausgezogen
war. Elena habe immer wieder Jobs angenommen, am
Theater als Kostümbildnerin, beim Film als Komparsin. Sie
sei ein wankelmütiger Mensch, meinte Luisa, unstet und
unnahbar. Zu ihrer Mutter hatte Elena anscheinend keinen
Kontakt.
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147
Als ich Luisa den Zettel mit der Suchmeldung zeigte,
erschrak sie, weil sie Elena auf dem verwaschenen Foto
nicht wiedererkannte, das Bild müsse uralt sein, erklärte sie.
Nach Aussage der Krankenschwester beendete Elena Sell
eine Ausbildung zur Augenoptikerin, arbeitete aber nur kurze
Zeit in dem Beruf. Dann fiel Luisa ein, dass sie ziemlich
sicher noch die Nummer eines Freundes von Elena habe.
Die Nummer habe sie aufbewahrt, weil der Mann ihr mal eine
sehr zuverlässige Putzfrau vermittelt habe.
148
So geriet ich an eine Familie im Villenviertel Solln. Die
Putzfrau, von der Luisa Horn gesprochen hatte, berichtete,
sie habe Elena vor einiger Zeit an das Ehepaar Rossfeld
vermittelt, weil Elena wieder mal pleite war und dringend
einen Job brauchte. Und so viel sie gehört habe, sei die
Familie mit ihrem neuen Kindermädchen äußerst zufrieden.
Vogelgezwitscher. Das Rascheln von Blättern.
149
Das einstöckige Haus lag zurückversetzt in einem gepflegten
Garten mit Nadelbäumen und einem Swimmingpool und
wirkte in der von Villen und schlossartigen Anwesen
geprägten Gegend beinah schlicht und unauffällig. Die
Einrichtung war auf ein Minimum reduziert und bot viel Platz
für Wettrennen und andere Kinderspiele. Überall lagen
Spielsachen und Kinderbücher herum. Auf den ersten Blick
sah es so aus, als spielten Erwachsene in dem Haus keine
Rolle. Der Hausherr, Peter Rossfeld, entwickelte
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Computerspiele für Kinder und Jugendliche und galt, wie er
auf Nachfrage zugab, als einer der erfolgreichsten
Spieledesigner weltweit. Er führte mich in ein großes
Wohnzimmer, über dessen Parkettboden vier rechteckige
Teppiche in bunten Farben verteilt waren. Auf einer
schwarzen Ledercouch gegenüber dem an der Wand
befestigten Flachbildfernseher erwartete mich eine Frau in
einem roten Kimono. Sie saß aufrecht da, mit auf dem
Polster gekreuzten Beinen, die Hände im Schoß, wie bei
einer Meditation.
10. Zehnte Szene – Villa – Samstag
150 ELENA
Nehmen Sie doch Platz.
151 SÜDEN
Ich stehe lieber. Sie sind Elena Sell.
152 ELENA
Und Sie suchen nach mir.
153 SÜDEN
Das ist ein Foto von Ihnen.
Er gibt ihr das fotokopierte Blatt. Sie nimmt es, schaut es lange an.
154 ELENA
Ein Suchblatt. Warum tut sie das?
155 SÜDEN
Das weiß ich nicht.
156 ELENA
Haben Sie sie nicht gefragt?
157 SÜDEN
Nein.
21
158 ELENA
Warum denn nicht?
159 SÜDEN
Sie schläft. Sie wird vermutlich sterben.
160 ELENA
Ist sie im Krankenhaus?
161 SÜDEN
Sie ist bei einem Freund.
162 ELENA
Bei einem Freund? Meine Mutter? Von mir aus. Und was
wollen Sie jetzt von mir?
163 SÜDEN
Sie leben neuerdings in diesem Haus.
164 ELENA
Ich betreue die Kinder. Luca ist acht, Leander zehn, ich
mach die Wäsche, ich sorge mich um den Haushalt, alles,
was anfällt. Ja, ich lebe hier. Und ich werde hier bleiben, bis
die Kinder aus dem Haus sind. Ich gehör zur Familie.
165 SÜDEN
Sie hatten nie eine eigene Familie.
166 ELENA
Meine Mutter hat meinen Vater verscheucht und später alle
meine Freundinnen und Liebhaber. Ich werf ihr nichts vor, ich
hätt mich wehren können, aber ich war zu feig. Oder zu müd.
Oder zu blöd. Seit dreizehn Jahren hab ich sie nicht mehr
gesehen.
167 SÜDEN
(Erzähler)
Ich erinnerte mich an die Aussage von Heide Sell, ihr Mann
sei vor dreizehn oder vierzehn Jahren gestorben. Vielleicht
meinte sie gar nicht ihn, sondern ihre Tochter …
22
168 ELENA
Ich hab sie nicht mehr angerufen, wollte nicht wissen, wie sie
lebt.
169 SÜDEN
Von Ihnen hatte Ihre Mutter nie eine Adresse oder
wenigstens eine Telefonnummer.
170 ELENA
Und? Und jetzt läuft sie rum und verteilt solche Zettel. Ist
schon rührend. Richten Sie ihr einen schönen Gruß von mir
aus. Ich hab mein Leben, ich hab endlich eine Zukunft, alles
ist gut.
171 SÜDEN
Sie könnten sie besuchen, bevor es zu spät ist.
172 ELENA
Herr Rossfeld hat mir gesagt, Sie sind Detektiv. Hat meine
Mutter Sie beauftragt, mich zu suchen?
173 SÜDEN
Nein.
174 ELENA
Nicht? Aber wieso … Wieso …
175 SÜDEN
Auf Wiedersehen, Frau Sell.
11. Elfte Szene – Café Xeng – Samstagnacht
Stimmengewirr. Kneipenmusik.
176 EDITH
Elena Sell hat also jetzt eine Zukunft, schön für sie.
177 SÜDEN
Eine Zukunft mag sie haben, aber nicht im Haus Rossfeld.
178 EDITH
Wie meinst du das?
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179 SÜDEN
Bei der Verabschiedung vertraute mir der Hausherr an, dass
er mit seiner Familie nach Kalifornien ziehen wird, er bekam
dort einen Job bei einer namhaften Computerfirma, den
Namen habe ich vergessen. Freunde hätten ihm bereits eine
Nanny empfohlen, er wolle Elena auf keinen Fall mitnehmen.
Sie weiß noch nichts davon. Rossfeld sagte, er werde ihr ein
exzellentes Zeugnis schreiben.
180 EDITH
Also keine Familie mehr für Elena, wieder allein, wieder auf
der Suche. Ach ja. Zum Wohl, Süden.
181 SÜDEN
Möge es nützen.
Sie stoßen mit den Gläsern an.
Die Tür wird geöffnet, jemand kommt von der Straße herein.
182 ANNEKE
Stör ich Sie beide?
183 SÜDEN
Natürlich nicht. Das ist Herr Anneke, Edith. Meine Chefin,
Edith Liebergesell.
184 ANNEKE
Moin. Herr Süden hat mir von Ihnen erzählt.
185 SÜDEN
Wie geht es Ihrer Lebensgefährtin?
186 ANNEKE
Sie ist gestern Nacht sanft eingeschlafen. In ihrem
Testament, das ich nicht gekannt hab, steht, dass sie auf
See bestattet werden möcht. In der Nordsee. Dann werden
wir das mal so machen. Haben Sie die Tochter gefunden,
Herr Süden?
24
187 SÜDEN
Nein.
188 ANNEKE
Verstehe. Dann schlag ich vor, wir trinken jetzt einen Korn
zusammen. Erst einen und dann noch zwei oder drei.
Musik.
ENDE
25