SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Tandem Fassung vom: 8.12.2016 Autorin: Friedrich Ani Redakteurin: Katrin Zipse Regisseurin: Ulrich Lampen Tabor Süden und die verschwundenen Frauen Hörspiel Sendung am: 28.2.2017 um 19:20 Uhr Besetzung: Tabor Süden, Detektiv Edith Liebergesell, Chefin der Detektei Heide Sell, ältere Frau Elena Sell, ihre Tochter, Mitte 40 Paul Anneke, älterer Mann Diese Kopie wird nur zur rein persönlichen Information überlassen. Jede Form der Vervielfältigung oder Verwertung bedarf der ausdrücklichen vorherigen Genehmigung des Urhebers. © by the author 1. Erste Szene – Café Xeng – Mittwochnacht 1 SÜDEN (Erzähler) Jeden Abend stand ich am Fenster meiner Katerschmiede, dem Café Xeng an der Tegernseer Landstraße, schaute hinaus, wo die Straßenbahnen vorüberfuhren, und dachte darüber nach, was ich tun würde, wenn ich meinen Job endgültig verlor. Kneipenmusik, Stimmengebrumm, das Klingeln einer Straßenbahn. In der Detektei, für die ich arbeitete, gingen kaum noch 2 Aufträge ein, und meine Chefin, Edith Liebergesell, hatte angekündigt, mir das Monatsgehalt zu streichen, wenn die Dinge sich nicht änderten. Was also tun? Keine Antwort, in keinem Winkel meines Kopfes. Ich könnte zum Waldfriedhof fahren und mit meinem Freund aus Kindertagen und ehemaligen Kollegen Martin Heuer die Dinge besprechen, er sah die Welt mit anderen Augen, von der anderen Seite her und hatte vielleicht eine Idee … Er trinkt. 3 Oder besser, ich bestellte mir noch ein Bier, schaute weiter aus dem Fenster und dachte nicht mehr nach, sondern … sondern … Da war sie wieder! Auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Eine ältere Frau in einem grünen Wollmantel. 1 Sie stand vor der beleuchteten Apotheke, die Hände vor dem Bauch gefaltet. Wenn ich mich nicht täuschte, hielt sie ein paar weiße Blätter in der Hand. Schon vor zwei oder drei Tagen hatte ich sie vor dem Postamt stehen sehen, sie sprach Passanten an und drückte ihnen einen Zettel in die Hand. Ich saß in der Straßenbahn und hätte aussteigen können. Aus Mangel an Neugier war ich weitergefahren, obwohl ich kein Ziel hatte. Seit Tagen durchquerte ich auf diese Weise die Stadt, und wusste nicht, wohin. 2. Zweite Szene – Straße – Mittwochnacht 4 HEIDE SELL Kennen wir uns? 5 SÜDEN (Erzähler) Ich hatte mich neben sie gestellt, schweigend. Hin und wieder torkelte ein Gast aus dem Café Xeng, ich war froh, an der Luft zu sein und weniger bebiert als in den vergangenen Tagen. Die Frau im grünen Mantel trug gelbe, ausgebleichte Schuhe, ihre graubraunen Haare waren vom Wind zerzaust, ihre Augen blau und groß. Reglos, wie wir dastanden, hätten wir zwei Zeugen Jehovas sein können, die ihren Auftrag übertrieben und noch mitten in der Nacht ihre Botschaft unters Volk bringen wollten. Der Gedanke amüsierte mich. 6 HEIDE SELL Worüber schmunzeln Sie? 7 SÜDEN Ich schmunzele nicht. 2 8 HEIDE SELL Sie schmunzeln. 9 SÜDEN Sie verteilen Zettel. Geben Sie mir auch einen. 10 HEIDE SELL 11 SÜDEN Wenn Sie versprechen, Ausschau zu halten. Unbedingt. Sie gibt ihm einen Zettel. 12 SÜDEN Sie suchen Ihre Tochter. Das Gesicht auf dem Foto ist leider nur schemenhaft zu erkennen. Wie alt ist sie? 13 HEIDE SELL Sechsundvierzig. 14 SÜDEN Und wie alt sind Sie? 15 HEIDE Müssen Sie das fragen? SELL Klingeln einer vorüberfahrenden Straßenbahn. 16 SÜDEN Da steht der Name Ihrer Tochter: Elena Sell. Wie heißen Sie? 17 HEIDE SELL Auch Sell. Schweigen. Heide Sell. 18 SÜDEN Ich bin Tabor Süden. 19 HEIDE Wohnen Sie in der Nähe? SELL 20 SÜDEN Ja. 3 21 HEIDE SELL Wie ich. 22 SÜDEN Seit wann suchen Sie Ihre Tochter? 23 HEIDE Lang schon. SELL 24 SÜDEN Sie waren nicht bei der Polizei. 25 HEIDE Nein. SELL Schweigen. 26 SÜDEN Ich arbeite in einer Detektei, ich suche Verschwundene, vielleicht kann ich Ihnen helfen. 27 HEIDE SELL Sie schwindeln. 28 SÜDEN Ich schwindele nicht. 29 HEIDE Sie schwindeln wie Sie schmunzeln. SELL 30 SÜDEN Weder das eine noch das andere. 31 HEIDE Tauchen hier plötzlich in der Nacht auf! Behaupten, Sie SELL wären Detektiv und wollen Geld von mir. 32 SÜDEN Ich will kein Geld. 33 HEIDE Da steckt ein Trick dahinter. SELL 34 SÜDEN Nein, Frau Sell. 35 HEIDE Und Sie heißen Süden? So heißt niemand. SELL 36 SÜDEN Das ist mein Name. Tabor Süden. 4 37 HEIDE SELL Wo kommen Sie denn her? 38 SÜDEN Aus dem Lokal gegenüber. 39 HEIDE Pffft. SELL 40 SÜDEN Geboren bin ich in Taging. 41 HEIDE Taging am See? SELL 42 SÜDEN Erzählen Sie mir etwas von Ihrer Tochter. 3. Dritte Szene – Wohnung Liebergesell – Donnerstag sehr früher Morgen Das Klingeln eines Festnetztelefons. Edith Liebergesell geht dran, sie ist verschlafen. 43 EDITH Liebergesell. 44 SÜDEN (am Telefon) Ich bin’s, Edith. 45 EDITH Optimaler Zeitpunkt. Und: Nein, wir haben noch keinen neuen Auftrag. 46 SÜDEN Ich habe eine Frau getroffen, die ihre verschwundene Tochter sucht. 47 EDITH Ach was. Wo hast du sie getroffen? In der Kneipe am Tresen? 5 48 SÜDEN Kannst du bitte eine Telefonnummer überprüfen? Ich habe da gerade angerufen, aber es heißt, die gewählte Nummer ist ungültig. Warum? Die Frau will doch angerufen werden. Du musst rausfinden, zu wem diese Nummer früher gehört hat. 49 EDITH Weiß die Frau, dass wir 65 Euro in der Stunde verlangen? 50 SÜDEN Nein. 51 EDITH Bitte? 52 SÜDEN Sie ist alt und hat vermutlich kein Geld. 53 EDITH Ich bin müde, verarsch mich morgen wieder. 54 SÜDEN Wir müssen ihr helfen, es ist wichtig. 55 EDITH Sagt das die Stimme in deinem Bierbauch, dass es wichtig ist? 56 SÜDEN Wenn du keine Zeit hast, kümmere ich mich allein drum. 57 EDITH Ach, Süden. Schweigen. Gib mir die Nummer. Wie heißt die Frau? Und die angeblich verschwundene Tochter? 6 4. Vierte Szene – Straße – Mittwochnacht Aus der Entfernung hört man eine Kneipentür, die geöffnet wird. Stimmen und Musik wehen heraus. Die Tür wird wieder geschlossen. Eine Straßenbahn fährt vorüber. 58 HEIDE SELL Elena war schon oft verschwunden. Vierzehn Mal ist sie umgezogen, in einer einzigen Stadt. 59 SÜDEN Aber den Kontakt zu Ihnen hat sie nie abgebrochen. 60 HEIDE Das stimmt. SELL 61 SÜDEN Trotzdem machen Sie sich jetzt Sorgen. 62 HEIDE Mach mir immer Sorgen, mein ganzes Leben lang. Immer SELL Sorgen, immer. 63 SÜDEN Sie leben allein. Schweigen. Ohne Elenas Vater. 64 HEIDE SELL Er lebt nicht mehr, seit … Ist lang her, zwölf, dreizehn Jahre. So lang schon. 65 SÜDEN Sie vermissen ihn. 66 HEIDE Ich vermiss Elena. SELL 67 SÜDEN Wo hat sie zuletzt gewohnt? 68 HEIDE Herzogstraße 114. SELL 69 SÜDEN Morgen früh mache ich mich auf den Weg. Ich rufe Sie an. 7 70 HEIDE SELL Woher wissen Sie meine Telefonnummer? 71 SÜDEN Die steht auf dem Zettel. 72 HEIDE Hab ich vergessen. SELL 73 SÜDEN Sie sind so spät noch unterwegs. 74 HEIDE Wie Sie. SELL 75 SÜDEN Ja. 76 HEIDE Haben Sie nicht Frau und Kind? SELL 77 SÜDEN Nein. 78 HEIDE Warum nicht? SELL 79 SÜDEN Soll ich Sie nach Hause begleiten, Frau Sell? 80 HEIDE Ich schaff das schon. SELL Mit schlurfenden Schritten geht sie davon. 81 SÜDEN (Erzähler) Eine Zeitlang betrachtete ich noch das verwaschene Gesicht auf dem Zettel, die unbeholfene Schrift. Dann dachte ich, dass ich die alte Frau unbedingt einholen musste, weil es viel zu spät war, um sie allein nach Hause gehen zu lassen. Aber als ich um die Ecke bog, an der sich ein Matratzenladen und der Übergang zum Postamt befanden, sah ich sie nirgendwo. Ich ging zur U-Bahn hinunter, und die Bahn fuhr gerade ab. In beunruhigter Stimmung machte ich mich auf den 8 Heimweg. Und weil ich nicht einschlafen konnte, rief ich meine Chefin, Edith Liebergesell, an. Am nächsten Morgen ging ich in der Detektei vorbei. 5. Fünfte Szene – Detektei – Donnerstag 82 EDITH Bis vor elf Monaten war der Anschluss auf Heide Sell in der Warngauer Straße gemeldet. 83 SÜDEN Die Straße ist nicht weit von der Kreuzung entfernt, wo ich die alte Frau getroffen habe. 84 EDITH Willst du wirklich keinen Tee? Du siehst aus, als könntst du einen gebrauchen. 85 SÜDEN Mein Kaffee genügt mir. 86 EDITH Du musst mehr Wasser trinken. Ist wichtig für deine Gesundheit. 87 SÜDEN Was hat die Nachbarin erzählt? Edith schenkt sich Tee ein. 88 EDITH Sie sagt, dass Frau Sell seit fast einem Jahr nicht mehr in dem Haus wohnt. Sie sei zu ihrem Bruder gezogen. 89 SÜDEN Wo wohnt der? 9 90 EDITH Das wollt sie mir erst nicht sagen. Lieber redete sie vom Kartenspielen. Sie haben regelmäßig Mau-Mau gespielt, die beiden Damen, jeden Mittwoch und Samstag. 91 SÜDEN Kennt sie die Tochter von Heide Sell? 92 EDITH Nein. Angeblich hat die Tochter ihre Mutter nie besucht. Heide Sell hat zwar oft von ihr gesprochen, aber sie hatten wohl seit langem keinen Kontakt. 93 SÜDEN Mir hat sie das Gegenteil erzählt. Wie lange wohnte die alte Frau Sell in dem Haus? 94 EDITH Mehr als dreißig Jahre. 95 SÜDEN Und Elena Sell, die Tochter, war nie da. 96 EDITH Die Nachbarin sagt, Heide Sell besaß nur ein einziges Foto ihrer Tochter, und das war schon ganz vergilbt und zerknittert. 97 SÜDEN Was hält sie von der Suchaktion? 98 EDITH Sie meint, das mit dem Zettel sei Unsinn, weil Heide doch gar nicht mehr in der Stadt sei, sondern längst bei ihrem Bruder an der Nordsee. Ich hab sie gefragt, wo genau. Erst nannte sie die Stadt Büsum, dann Husum, dann Büsüm, sie wusste es nicht mehr. Ich hab sie nach dem Namen des Bruders gefragt, und sie antwortete: Herr Sell … 99 SÜDEN Dann hast du recherchiert. 10 100 EDITH Sicher, du hast mich ja gezwungen, diesen lukrativen Auftrag anzunehmen. Weder in Husum noch in Büsum noch in einer anderen Stadt in Schleswig-Holstein oder im Kreis Nordfriesland hab ich im Internet einen Herrn oder eine Frau Sell gefunden, auch nicht über die altehrwürdige, profane Auskunft. 101 Aber: Die Nachbarin, die Kartlerin Frau Westenrieder, erzählte mir noch, dass Heides Bruder seine Schwester mit einem alten, schmutzigen, weißen Mercedes abgeholt hat. Und einen Tag vorher schaffte eine Entrümpelungsfirma das gesamte Hab und Gut von Frau Sell aus der Wohnung, und zwar bis auf den letzten Nachttopf, wie Frau Westenrieder sich ausdrückte. 102 Die Nacht bis zum endgültigen Auszug verbrachte Frau Sell auf der Couch ihrer langjährigen Freundin, ohne was zu erzählen oder Erklärungen abzugeben. Frau Westenrieder fand dieses Verhalten gemein und fast beleidigend. Ihre Freundin habe nicht mal Lust gehabt, noch eine letzte Runde zu karteln. Ohne eine Adresse zu hinterlassen, stieg sie am nächsten Morgen in den Mercedes ihres Bruders und fuhr weg. Das war’s. 103 SÜDEN Hat die Nachbarin aufs Autokennzeichen geschaut? 104 EDITH Sie glaubt, dass NF auf dem Schild stand. 105 SÜDEN NF könnte der Landkreis Nordfriesland sein. 11 106 EDITH So ist’s. Deswegen hab ich in dem Landkreis auch besonders nach dem Namen gesucht. Fehlanzeige. Die alte Frau ist verschwunden, und niemand weiß, wohin. Oder ist sie doch nicht verschwunden? Steht plötzlich nachts auf der Straße oder am Tag vor dem Postamt. Oder war das womöglich jemand anderes? Was denkst du, Süden? 107 SÜDEN (Erzähler) Warum, fragte ich mich, hatte die Frau eine abgemeldete Telefonnummer auf den Zettel geschrieben und diesen dann verteilt? Was bezweckte sie mit der Suchaktion in Wirklichkeit? Und wenn sie noch in der Stadt war, warum entrümpelte sie erst komplett ihre Wohnung, in der sie dreißig Jahre lang gelebt hatte, um dann im selben Stadtteil zu bleiben? Musste sie nicht befürchten, erkannt zu werden und ihrer Nachbarin zu begegnen? Und wohin war sie in der Nacht so spurlos verschwunden? Obwohl ich keinen Beweis dafür hatte, glaubte ich nicht, dass sie in die U-Bahn gestiegen war. Ich musste an den Ausgangspunkt zurückkehren. 12 6. Sechste Szene – Straße / Hinterhof – Donnerstagnacht Süden geht durch die Straßen. Aus der Ferne das Hupen eines Autos, das metallische Geräusch einer fahrenden Straßenbahn. Vereinzelt Stimmen. 108 SÜDEN (Erzähler) Wieder stand ich vor der beleuchteten Apotheke, beobachtete das Kommen und Gehen im Café Xeng gegenüber, sah, wie mir jemand von drinnen zuwinkte, und ich winkte zurück, ohne das Gesicht der Person erkennen zu können. 109 Angenommen, Heide Sell war nicht zur U-Bahn hinuntergegangen, welchen Weg hatte sie stattdessen eingeschlagen? Die Straße hatte sie nicht überquert, dann hätte ich sie bestimmt noch laufen sehen. Vermutlich, so überlegte ich, hatte ich das Naheliegende übersehen. Also bog ich beim Matratzenladen um die Ecke und ging durch die Einfahrt nebenan in den Hinterhof. Ich roch den süßen Duft von Flieder. 110 Tatsächlich: da stand ein heruntergekommener weißer Mercedes mit dem Kennzeichen NF-PA 3112. Das Fahrzeug parkte neben zwei anderen Autos vor der Pension, die sich an den Hinterhof anschloss. Ich dachte daran, eine Bekannte aus dem Vermisstendezernat bei der Kripo anzurufen und sie zu bitten, den Halter des Wagens zu ermitteln. Aber um diese Zeit war sie vermutlich nicht mehr im Büro. Dann 13 betrachtete ich das Kennzeichen. P-A. Ich ging zur Tür. Auf dem Klingelschild fand ich keinen Namen mit dem Anfangsbuchstaben P, allerdings gab es einen Mieter oder eine Mieterin mit dem Anfangsbuchstaben A. Anneke. Auf gut Glück klingelte ich. Das Rasseln einer alten Hausklingel dringt durch ein geöffnetes Fenster. 111 ANNEKE (vom zweiten Stock aus) Wer sind Sie? 112 SÜDEN Ich suche Heide Sell. 113 ANNEKE Wen? 114 SÜDEN Eine ältere Dame. Ist das Ihr Mercedes? 115 ANNEKE Was wollen Sie? 116 SÜDEN Ich würde gern ein paar Worte mit Frau Sell wechseln, wegen ihrer Tochter Elena. Mein Name ist Tabor Süden, ich habe Frau Sell versprochen, nach Elena zu suchen, ich bin Detektiv. Schweigen. 117 ANNEKE Und so spät noch im Dienst … 14 7. Siebte Szene – Wohnung Anneke – Donnerstagnacht 118 ANNEKE Sie hat mir verboten, einen Arzt zu rufen. Obwohl es immer schlimmer mit ihr wird. Oft läuft sie die halbe Nacht draußen rum, und ich darf nicht mitkommen. Sie will das so. Schweigen. 119 SÜDEN (Erzähler) Die Frau lag schlafend im Bett, bis zum Kinn mit einer weißen, geblümten Decke zugedeckt, ihr graues, schmales Gesicht sah ruhig und friedvoll aus. 120 ANNEKE Auch ein Bier? 121 SÜDEN (Erzähler) Der Mann – er hieß Paul Anneke – war ungefähr so alt wie Heide Sell. Er trug einen grauen Rollkragenpullover, der mich an die Standardkleidung meines Freundes Martin Heuer erinnerte, der sommers wie winters in solchen Pullovern herumgelaufen war und im Dienst lieber geschwitzt hatte, als sich umzuziehen. In der Nacht, als er sich eine Kugel in den Kopf jagte, trug er einen ähnlich ausgefransten Pullover wie Paul Anneke. 122 ANNEKE Ich bin aus Husum, hatte eine Autovermietung dort. Hab sie verpachtet und bin nach Bayern gezogen, vor zehn Jahren. Ich wollt noch mal ein paar Berge in meinem Leben sehen. 123 SÜDEN Warum? 15 124 ANNEKE Was? 125 SÜDEN Was fasziniert Sie an Bergen? 126 ANNEKE Der Ausblick, die Möglichkeiten zum Wandern, das Naturschauspiel. 127 SÜDEN (Erzähler) Für mich waren Berge seit jeher nichts als stumpfsinnige Bauklötze eines verwirrten Gottes. Aber das sagte ich natürlich nicht. 128 SÜDEN Sie sind nicht Heides Bruder. 129 ANNEKE (nach einem Schweigen) Hätt sie rumerzählen sollen, sie hat sich in einen Mann verguckt? In ihrem Alter? Das wollt sie auf keinen Fall. So hat sie sich die Geschichte mit dem Bruder ausgedacht. Ich hab mitgespielt. Die Heide hatte doch nie eine richtige Familie. Prost. 130 SÜDEN Möge es nützen! Sie stoßen mit den Bierflaschen an, trinken. 131 ANNEKE Ihre Tochter, die Elena, hat sie allein groß gezogen, aber seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Wir haben uns im Postamt kennengelernt. Sie stand vor mir in der Schlange, und bevor sie drankam, ist sie wieder gegangen. Sie wollt eben dazugehören, irgendwo. Wo die sich schon überall angestellt 16 hat! An der Kasse vom Supermarkt an einem Samstag mit hundert anderen Leuten. Am Gemüsestand auf dem Viktualienmarkt. Auf sämtlichen Ämtern, wo man Nummern ziehen muss, bis man drankommt. Das war ihr Hobby, ihr Spiel, ihr Vergnügen. 132 Ich hab sie angesprochen, in der Post, weil nichts voranging, und so kamen wir ins Gespräch. Dann hat sie gesagt, sie geht jetzt, und da bin ich mitgegangen. Obwohl ich dringend einen Brief an die Versicherung abschicken musste. Hab ich dann irgendwie vergessen gehabt. Wir sind aus dem Postamt raus, und ich hab sie gefragt, ob sie einen Kaffee möcht, und sie hat ja gesagt. Dann sind wir rüber ins Café, und so kam’s. 133 SÜDEN So kam’s, dass Sie ein Liebespaar wurden. 134 ANNEKE Wenn Sie das so ausdrücken wollen. 135 SÜDEN Und dann hatte sie die Idee mit dem Bruder. 136 ANNEKE Und ist bei mir eingezogen, ein paar hundert Meter von ihrer alten Wohnung entfernt. Ihre Möbel und alles hat sie auf den Sperrmüll bringen lassen, sie hatte nichts mehr, als sie hier ankam. Und jetzt liegt sie da, und ihr Herz macht nicht mehr mit, und sie will keine Hilfe. 137 SÜDEN Rufen Sie trotzdem einen Arzt, warten Sie nicht länger. 138 ANNEKE Ich darf nicht, Sie hat’s mir verboten. 17 Schweigen. Sie stoßen mit den Bierflaschen an, trinken. 139 SÜDEN Sie wussten von der Suchaktion. 140 ANNEKE Ja. Schweigen. Sie war immer so gern draußen und unter Leuten. In den letzten Wochen auch in der Nacht. 141 SÜDEN Rufen Sie einen Arzt. Schweigen. Sie haben keine Ahnung, wo Heides Tochter sich aufhält. 142 ANNEKE Nein. 143 SÜDEN Ich kann einen Arzt rufen, mir hat sie es nicht verboten. 144 ANNEKE Sie möcht nicht. Und ich versteh’s. 18 8. Achte Szene – Zimmer – Nacht 145 HEIDE SELL (zitiert mit leiser, schwacher Stimme ein Rilke-Gedicht) „Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn, wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören, und ohne Füße kann ich zu dir gehen, und ohne Mund noch kann ich dich beschwören. Brich mir die Arme ab, ich fasse dich mit meinem Herzen wie mit einer Hand, halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen, und wirfst du in mein Hirn den Brand, so werd ich dich auf meinem Blute tragen.“ 9. Neunte Szene – Vor einer Villa – Samstag 146 SÜDEN (Erzähler) Wie Heide Sell mir bei unserer nächtlichen Begegnung gesagt hatte, hatte ihre Tochter eine Weile in der Herzogstraße in Schwabing gewohnt. Eine Mieterin, die Krankenschwester Luisa Horn, erzählte mir, dass Elena schon vor ungefähr fünf Jahren aus dem Haus ausgezogen war. Elena habe immer wieder Jobs angenommen, am Theater als Kostümbildnerin, beim Film als Komparsin. Sie sei ein wankelmütiger Mensch, meinte Luisa, unstet und unnahbar. Zu ihrer Mutter hatte Elena anscheinend keinen Kontakt. 19 147 Als ich Luisa den Zettel mit der Suchmeldung zeigte, erschrak sie, weil sie Elena auf dem verwaschenen Foto nicht wiedererkannte, das Bild müsse uralt sein, erklärte sie. Nach Aussage der Krankenschwester beendete Elena Sell eine Ausbildung zur Augenoptikerin, arbeitete aber nur kurze Zeit in dem Beruf. Dann fiel Luisa ein, dass sie ziemlich sicher noch die Nummer eines Freundes von Elena habe. Die Nummer habe sie aufbewahrt, weil der Mann ihr mal eine sehr zuverlässige Putzfrau vermittelt habe. 148 So geriet ich an eine Familie im Villenviertel Solln. Die Putzfrau, von der Luisa Horn gesprochen hatte, berichtete, sie habe Elena vor einiger Zeit an das Ehepaar Rossfeld vermittelt, weil Elena wieder mal pleite war und dringend einen Job brauchte. Und so viel sie gehört habe, sei die Familie mit ihrem neuen Kindermädchen äußerst zufrieden. Vogelgezwitscher. Das Rascheln von Blättern. 149 Das einstöckige Haus lag zurückversetzt in einem gepflegten Garten mit Nadelbäumen und einem Swimmingpool und wirkte in der von Villen und schlossartigen Anwesen geprägten Gegend beinah schlicht und unauffällig. Die Einrichtung war auf ein Minimum reduziert und bot viel Platz für Wettrennen und andere Kinderspiele. Überall lagen Spielsachen und Kinderbücher herum. Auf den ersten Blick sah es so aus, als spielten Erwachsene in dem Haus keine Rolle. Der Hausherr, Peter Rossfeld, entwickelte 20 Computerspiele für Kinder und Jugendliche und galt, wie er auf Nachfrage zugab, als einer der erfolgreichsten Spieledesigner weltweit. Er führte mich in ein großes Wohnzimmer, über dessen Parkettboden vier rechteckige Teppiche in bunten Farben verteilt waren. Auf einer schwarzen Ledercouch gegenüber dem an der Wand befestigten Flachbildfernseher erwartete mich eine Frau in einem roten Kimono. Sie saß aufrecht da, mit auf dem Polster gekreuzten Beinen, die Hände im Schoß, wie bei einer Meditation. 10. Zehnte Szene – Villa – Samstag 150 ELENA Nehmen Sie doch Platz. 151 SÜDEN Ich stehe lieber. Sie sind Elena Sell. 152 ELENA Und Sie suchen nach mir. 153 SÜDEN Das ist ein Foto von Ihnen. Er gibt ihr das fotokopierte Blatt. Sie nimmt es, schaut es lange an. 154 ELENA Ein Suchblatt. Warum tut sie das? 155 SÜDEN Das weiß ich nicht. 156 ELENA Haben Sie sie nicht gefragt? 157 SÜDEN Nein. 21 158 ELENA Warum denn nicht? 159 SÜDEN Sie schläft. Sie wird vermutlich sterben. 160 ELENA Ist sie im Krankenhaus? 161 SÜDEN Sie ist bei einem Freund. 162 ELENA Bei einem Freund? Meine Mutter? Von mir aus. Und was wollen Sie jetzt von mir? 163 SÜDEN Sie leben neuerdings in diesem Haus. 164 ELENA Ich betreue die Kinder. Luca ist acht, Leander zehn, ich mach die Wäsche, ich sorge mich um den Haushalt, alles, was anfällt. Ja, ich lebe hier. Und ich werde hier bleiben, bis die Kinder aus dem Haus sind. Ich gehör zur Familie. 165 SÜDEN Sie hatten nie eine eigene Familie. 166 ELENA Meine Mutter hat meinen Vater verscheucht und später alle meine Freundinnen und Liebhaber. Ich werf ihr nichts vor, ich hätt mich wehren können, aber ich war zu feig. Oder zu müd. Oder zu blöd. Seit dreizehn Jahren hab ich sie nicht mehr gesehen. 167 SÜDEN (Erzähler) Ich erinnerte mich an die Aussage von Heide Sell, ihr Mann sei vor dreizehn oder vierzehn Jahren gestorben. Vielleicht meinte sie gar nicht ihn, sondern ihre Tochter … 22 168 ELENA Ich hab sie nicht mehr angerufen, wollte nicht wissen, wie sie lebt. 169 SÜDEN Von Ihnen hatte Ihre Mutter nie eine Adresse oder wenigstens eine Telefonnummer. 170 ELENA Und? Und jetzt läuft sie rum und verteilt solche Zettel. Ist schon rührend. Richten Sie ihr einen schönen Gruß von mir aus. Ich hab mein Leben, ich hab endlich eine Zukunft, alles ist gut. 171 SÜDEN Sie könnten sie besuchen, bevor es zu spät ist. 172 ELENA Herr Rossfeld hat mir gesagt, Sie sind Detektiv. Hat meine Mutter Sie beauftragt, mich zu suchen? 173 SÜDEN Nein. 174 ELENA Nicht? Aber wieso … Wieso … 175 SÜDEN Auf Wiedersehen, Frau Sell. 11. Elfte Szene – Café Xeng – Samstagnacht Stimmengewirr. Kneipenmusik. 176 EDITH Elena Sell hat also jetzt eine Zukunft, schön für sie. 177 SÜDEN Eine Zukunft mag sie haben, aber nicht im Haus Rossfeld. 178 EDITH Wie meinst du das? 23 179 SÜDEN Bei der Verabschiedung vertraute mir der Hausherr an, dass er mit seiner Familie nach Kalifornien ziehen wird, er bekam dort einen Job bei einer namhaften Computerfirma, den Namen habe ich vergessen. Freunde hätten ihm bereits eine Nanny empfohlen, er wolle Elena auf keinen Fall mitnehmen. Sie weiß noch nichts davon. Rossfeld sagte, er werde ihr ein exzellentes Zeugnis schreiben. 180 EDITH Also keine Familie mehr für Elena, wieder allein, wieder auf der Suche. Ach ja. Zum Wohl, Süden. 181 SÜDEN Möge es nützen. Sie stoßen mit den Gläsern an. Die Tür wird geöffnet, jemand kommt von der Straße herein. 182 ANNEKE Stör ich Sie beide? 183 SÜDEN Natürlich nicht. Das ist Herr Anneke, Edith. Meine Chefin, Edith Liebergesell. 184 ANNEKE Moin. Herr Süden hat mir von Ihnen erzählt. 185 SÜDEN Wie geht es Ihrer Lebensgefährtin? 186 ANNEKE Sie ist gestern Nacht sanft eingeschlafen. In ihrem Testament, das ich nicht gekannt hab, steht, dass sie auf See bestattet werden möcht. In der Nordsee. Dann werden wir das mal so machen. Haben Sie die Tochter gefunden, Herr Süden? 24 187 SÜDEN Nein. 188 ANNEKE Verstehe. Dann schlag ich vor, wir trinken jetzt einen Korn zusammen. Erst einen und dann noch zwei oder drei. Musik. ENDE 25
© Copyright 2024 ExpyDoc