Deutschland/Österreich 4 Euro, Schweiz 5 CHF Januar/Februar 1/2017 die internationale Metropolico.org (CC BY-SA 2.0) 2x, European Parliament (CC BY-NC-ND 2.0), Matt Johnson (CC BY-NC 2.0) je von flickr.com MAGA ZIN DER INTERNATIONALEN SOZIALISTISCHEN ORGANISATION RECHTSPOPULISMUS die internationale 1/2017 1 I N H A LT die internationale Editorial 3 Internationale Sozialistische Organisation gegründet 4 Dossier Rechtspopulismus Die Trump-Wahl und die Parallelen zu Europa Die extreme Rechte in Frankreich Hinter dem Erfolg der Dänischen Volkspartei AfD – schillerndes Salz in der Wunde der „Etablierten“ 7 7 17 21 24 Ein neuer Anlauf: DIE LINKE in Berlin als Regierungs partei Warum wir mit Nein stimmen 27 29 Revolutionäre Annäherung. Unsere roten und schwarzen Sterne 31 inprekorr Dossier: Protektionismus in der Arbeiterklasse Können Grenzen die ArbeiterInnen schützen? Freihandel als globalisierte Konkurrenz gegen die Lohnabhängigen Entsandte ArbeiterInnen: Ausgebeutete, keine KonkurrentInnen! Marx und Jaurès über Zollschranken Freihandel und Schutzzölle in der Landwirtschaft Wider den Linksnationalismus 33 33 38 41 42 44 47 Durch welche Tür geht Kuba? 51 Dossier: Bestandsaufnahme der Arbeiterklasse Nur wer lebt, kann kämpfen Die Arbeiterbewegung zwischen Gestern und Heute Der Fragmentationsprozess des Proletariats Zukunft der Arbeit 57 57 58 60 61 Register 2016 63 IMPRESSUM die internationale/Inprekorr wird herausgegeben von der Internationalen Sozialistischen Organisation (ISO, Deutschland), der SOAL (Österreich) und der BfS/MPS (Schweiz). Die internationale/Inprekorr erscheint zweimonatlich. Namentlich gekennzeichnete Artikel geben den Standpunkt und die Meinung der AutorInnen wieder. Redaktion: Edith Bartelmus-Scholich, Tom Bogen, Wilfried Dubois, Jochen Herzog, Matte, Paul Michel, Björn Mertens, Maximilian Sarra, Jakob Schäfer, Michael Weis. v.i.S.d.P. Michael Weis 2 die internationale 1/2017 Abonnements: Einzelpreis: Jahresabo: Doppelabo (je 2 Hefte): Solidarabo: ab Sozialabo: Probeabo (3 Doppelhefte}: Auslandsabo: Gestaltungskonzept: Tom Bogen EUR 4,– EUR 20,– EUR 30,– EUR 30,– EUR 12,– EUR 10,– EUR 40,– www.intersoz.org www.inprekorr.de Konto: Neuer Kurs GmbH, 25761 Büsum Postbank Frankfurt/M, 60320 Frankfurt a.M. IBAN: DE97 5001 0060 0036 5846 04 BIC: PBNKDEFF Verlag, Verwaltung & Vertrieb: die internationale c/o ISO Regentenstr. 57–59 51063 Köln E-Mail: [email protected] Vertrieb: [email protected] Kontaktadressen: Deutschland: ISO, Regentenstr. 57–59, 51063 Köln Österreich: SOAL, Sozialistische Alternative, offi[email protected] Schweiz: BfS/MPS [email protected] E D I TO R I A L EDITORIAL Es kann als gesichert gelten: Der Kapitalismus bietet keine Perspektive für die Lösung der drängenden Probleme, vor denen die Menschheit steht, im Gegenteil. Die Herrschaft des Kapitals verschärft die ökologische Krise, ist verantwortlich für das wachsende soziale Elend in weiten Teilen der Welt, führt zu immer neuen Kriegen, Zerstörungen, Flucht und Vertreibung. Hinzu kommen die bewusste Förderung des latenten Rassismus und der Aufstieg der Rechten und extremen Rechten. Zur Bewältigung der Wirtschaftskrisen wie auch zur Sanierung der Profite wälzt die herrschende Klasse die Lasten auf die Mehrheit der Bevölkerung ab: auf die Lohnabhängigen, die Erwerbslosen, die RentnerInnen, die Bedürftigen … Die Herrschenden können ihre Projekte seit einigen Jahrzehnten vergleichsweise gut umsetzen, weil der Widerstand gegen diese Politik – in den Betrieben wie auch auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene – recht schwach ist. Dies liegt nicht nur an den ökonomischen Kräfteverhältnissen (vor allem der hohen Massenerwerbslosigkeit), sondern auch an der politischen Schwäche der Gewerkschaften und der sozialistischen und ArbeiterInnenbewegung insgesamt. So haben wir es heute mit einem gewaltigen Widerspruch zu tun: Die Probleme häufen sich – so werden in Sachen Klimawandel die Perspektiven immer düsterer –, aber es zeichnet sich (noch) keine Erfolg versprechende Bewegung zur Überwindung der objektiv längst überholten herrschenden Verhältnisse ab. Die bürgerliche Klasse – im Kern sind es die KapitaleignerInnen – sitzt nicht nur materiell (ökonomisch und politisch-militärisch), sondern auch ideologisch fest im Sattel. Gleichzeitig aber mehren sich bei vielen Menschen die Zweifel am System. Sie fragen sich, wie lange das noch so weitergehen kann. Nicht nur in Sachen Klimawandel wird dem Kapitalismus nichts Positives mehr zugetraut. Spätestens hier stellen sich allerdings die Fragen, die sich nicht von selbst beantworten: Wie kann eine gesellschaftliche Alternative zum Kapitalismus aussehen? Was können wir uns unter Ökosozialismus vorstellen? Mit welcher Strategie (mit welcher ökosozialistischen Strategie) kann eine Alternative jenseits des Kapitalismus durchgesetzt werden? Spielt in einer solchen Strategie die ArbeiterInnenklasse weiter die entscheidende Rolle? Wie kann die revolutionäre Linke wenigstens ansatzweise ihre Zersplitterung überwinden? Solchen und ähnlichen Fragen wollen wir in die internationale nachgehen. Wir vertreten einen dezidiert marxistischen Anspruch, den des offenen Marxismus, wie er von der IV. Internationale vertreten wird. Dieses Organ soll offen sein für Debattenbeiträge auch aus anderen Strömungen der revolutionären Linken. die internationale wird von der ISO, Sektion der IV. Internationale in Deutschland herausgegeben. Kooperationspartnerinnen sind in Österreich die SOAL und in der Schweiz die Bewegung für den Sozialismus (BFS/MPS). Für aktuelle Beiträge zu Aktivitäten in den Betrieben, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen usw. verweisen wir auf unsere Website intersoz.org. Mit die Internationale wollen wir die Debatte zur Positionsbildung sozialistischer Politik befruchten. Uns geht es dabei an erster Stelle um realitätstüchtige Analysen, die nicht alle paar Monate umgeschrieben werden müssen. Sie sollen aber auch so konkret und nachvollziehbar sein, dass ihre wesentlichen Inhalte auch in der täglichen politischen Auseinandersetzung einzubringen sind, wohl wissend, dass wir dabei oft gegen weit verbreitete impressionistische Denkschemata argumentieren müssen. Mit der ersten Nummer ist noch nicht die endgültige Form gefunden, weder was die Mischung von Beiträgen angeht, noch im Layout. Beides wird sich – als „work in progress“ – in den kommenden Heften fortschreitend ändern. Aber nicht nur deswegen: Über Rückmeldungen und Anregungen würden wir uns freuen. Die Redaktion die internationale 1/2017 3 ISO INTERNATIONALE SOZIALISTISCHE ORGANISATION GEGRÜNDET Am 3. 4. Dezember 2016 haben sich die internationale sozialistische Linke (isl) und der Revolutionär sozialistische Bund/ IV. Internationale (RSB) zur Internationalen Sozialistischen Organisation (ISO) vereinigt. Sie bilden jetzt gemeinsam die Sektion der IV. Internationale in Deutschland. Daniel Berger Auf der Konferenz in Frankfurt/Main waren neben etwa 70 Mitgliedern eine Reihe von Gästen der IV. Internationale aus dem nahen Ausland sowie einige Gäste aus dem Inland vertreten. Ein Genosse des Büros der IV. Internationale hielt ein Grußwort, auch andere Gäste (etwa von der GAM, der IL oder von Marx21) sprachen ein Grußwort oder beteiligten sich an den Diskussionen. Der Vereinigungsprozess lief über mehr als zweieinhalb Jahre und war nicht ganz einfach, denn beide Organisationen hatten ein recht unterschiedliches Profil, gegründet auf einer anders gearteten Praxis und stellenweise auch unterschiedlichen Arbeitsfeldern. Der Vereinigungsprozess erschien uns aber von Anfang an nicht nur als sinnvoll, sondern auch als machbar, denn als Mitgliedsorganisationen der IV. Internationale hatten beide Organisationen das reiche Erbe der Internationale bewahrt, vor allem was die programmatischen Grundlagen angeht. Darüber hinaus belegte gerade die Arbeit im B&G-Bereich, dass in diesem zentralen Arbeitsfeld einer revolutionär-marxistischen Organisation keine Differenzen zu erkennen waren, die eine getrennte Organisierung rechtfertigen würden. Im Gegenteil: Gerade SOZIALISMUS ODER BARBAREI – WIEDER AKTUELL Auf der Gründungskonferenz der Internationalen Sozialisti- Spanien und Italien, die Sackgasse der Globalisierung des Kapi- schen Organisation (ISO) am 3. 4. Dezember 2016 in Frankfurt talismus sind jedoch undenkbar ohne die Weltwirtschaftskrise /Main waren einige Gäste aus dem In- und Ausland vertreten. von 2008-9 und die seitdem anhaltende Depression der Welt- Wir bringen hier eines dieser Grußworte, das der Autor uns wirtschaft. freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Volkhard Mosler (marx21 in der LINKEN) Politische Instabilität als Krisensymptom ist nicht zu verwechseln mit einem allgemeinen Rechtsruck der Gesellschaft, die Krise der alten politischen Eliten, die sich selbst gern die bürgerlich-de- Wie jedes Jahr haben die Berufsoptimisten für das kommende mokratische Mitte nennen, und die damit verbundene Tendenz Jahr glänzende Voraussagen gemacht. Trotz wachsender poli- der Polarisierung, sind das einzige unabwendbare Gesetz unse- tischer Instabilität seien die Wachstumsaussichten für 2017 gut rer Zeit. In Griechenland, Italien, Spanien, Portugal, Irland und bis sehr gut. So scheinen die Krisensymptome des politischen Großbritannien hat die Polarisierung eher nach links geführt. Überbaus losgelöst von der wirtschaftlichen Entwicklung zu sein. In Deutschland hat die Weltwirtschaftskrise 2008/9 einen Das „Brexit“-Votum in GB, die anhaltenden Regierungskrisen in Aufschwung rassistischer und rechter Bewegungen mit sich 4 die internationale 1/2017 ISO weil die GenossInnen beider Organisationen in der Gewerkschaftslinken wie auch in den diversen gewerkschaftlichen Kampagnen an einem Strang zogen, war eine wesentliche Grundvoraussetzung von vornherein gesichert. Dennoch: Die Gespräche waren kein Selbstläufer. Am einfachsten war die Verständigung auf eine Programmatische Erklärung, die im Verlauf des Jahres 2016 vorgelegt, diskutiert und schließlich mit nur geringsten Abänderungen auf der Gründungskonferenz der ISO angenommen wurde. Etwas schwieriger war die Erarbeitung eines gemeinsamen Selbstverständnisses. Einige meinten noch im Frühjahr 2016, dass hier gar kein gemeinsames Dokument erstellt werden könne. Aber diese Pessimisten wurden dann im Sommer durch die Vorlage eines Textes widerlegt, der sehr wohl den realen Annäherungsprozess beider „Quellorganisationen“ zum Ausdruck brachte. Dass es mit der Erarbeitung eines Statuts dann nicht mehr so schwierig war, leitet sich hieraus wie auch aus der gelebten gemeinsamen Leitungsarbeit in mehr als zwei Jahren ab. Damit waren und sind aber noch nicht alle Unterschiede verschwunden, die die beiden Quellorganisationen gebracht. Die Stationen dieser Entwicklung waren der Buch- lig entgegengesetzte Signale abgesetzt. Während Bartsch der erfolg Thilo Sarrazins („Deutschland schafft sich ab“, 2010), SPD unter Gabriel und den Grünen anbot, Merkel sofort und die Gründung der AfD (2013), die Welle von antimuslimischen bedingungslos zu stürzen – also eine Regierungsbeteiligung der Pegida-Demonstrationen (2014/15), die Spaltung der AfD unter LINKEN unter einem SPD-Kanzler Gabriel anbot – hat Wagen- Führung ihres neofaschistischen „Flügels“ und die anhaltenden knecht wiederholt betont, dass es keine Kriegseinsätze mit der Wahlerfolge der rechts gewendeten neuen Partei. Die AfD ist LINKEN gäbe und dass eine SPD, die der Agenda 2010 verpflich- längst zum Sammelpunkt einer neuen faschistischen Rechten tet bleibt, nicht als Regierungspartner der LINKEN infrage käme. Grundlagentexte geworden, die gute Chancen hat, die Partei zu erobern. In der LINKEN gibt es in allen Landesverbänden aktive Mitglie- Auch das kommende Wahljahr steht im Zeichen des drohen- der, denen bewusst ist, dass es ohne Klassenkämpfe von unten den Rechtsrucks. Die LINKE hält den Schlüssel, dieser Entwick- überhaupt keine nennenswerten Erfolge und Errungenschaften lung Einhalt zu gebieten und sie umzukehren. Allerdings gehen der arbeitenden Klassen gegeben hat und geben wird. Dies gilt in die Meinungen über das „Wie“ weit auseinander. Von Bartsch Krisenzeiten wie heute noch mehr als in den Jahrzehnten des lan- und Gysi bis Klaus Ernst und Michael Schlecht hört man, dass nur gen Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese kritischen eine Rot-Rot-Grüne Regierungsperspektive die Rechte stoppen Kräfte sind teilweise in den bestehenden Strömungen (AKL, SL) kann. organisiert, teilweise – vor allem jüngere Mitglieder – gar nicht. Unter der Bedingung einer anhaltenden wirtschaftlichen De- Gerade auf dem linken Flügel gibt es aber auch Tendenzen des pression, die durchaus in eine neue Krise umschlagen kann, ist „Ökonomismus“. Ich meine damit solche Ansichten und The- das selbstmörderisch, zumal es genügend Beispiele aus der jün- orien, die die Kämpfe gegen Unterdrückung (Sexismus, Rassis- geren Zeit gibt, die zeigen, dass ein Verrat des Linksreformismus mus u.a.) als Nebenwiderspruch vernachlässigen, weil sie die schlimmer ist als Wahlsiege der Rechten und Konservativen. (Das irrige Ansicht vertreten, man müsse nur die Ausbeuterordnung italienische Beispiel der Regierungsbeteiligung von Rifondazione konsequent bekämpfen („soziale Frage“), dann erübrige sich Comunista 2005 unter Führung von Fausto Bertinotti sollte zeit- der antirassistische Kampf. Dem liegt ein mechanisch-materi- gemäß ausgewertet werden). alistisches Weltbild zugrunde, früher nannten es Marxisten die Deshalb sollten Marxisten in der LINKEN sich gegen einen „Widerspiegelungstheorie“, wonach klassenfremde Ideen in den Lagerwahlkampf R2G einsetzen und für einen starken antika- ausgebeuteten Klassen nur Ausdruck des ökonomischen Sys- pitalistischen und antirassistischen Wahlkampf, der den Kampf tems und seiner Krisenhaftigkeit sei. Rassistische und sexistische gegen die Ausbeutung und Verarmung der arbeitenden Klassen Ideen sind zunächst einmal herrschende Ideen, weil es Ideen der mit dem Kampf für eine sozialistische Gesellschaft verbindet und Herrschenden sind. Die Arbeiterbewegung hat eine lange und le- zugleich dem Rassismus in allen seinen schmutzigen Spielarten bendige Tradition, an die wir anknüpfen können. Kämpfe gegen den Kampf ansagt. Unterdrückung und gegen Ausbeutung sind zwei unverzichtbare Die beiden Spitzenkandidaten der LINKEN, Sahra Wagen- Seiten des einen Klassenkampfes. knecht und Dietmar Bartsch, haben in den letzten Monaten völ- die internationale 1/2017 5 ISO ausgezeichnet hatten. Am deutlichsten wurde dies bei der Diskussion für ein Strategiepapier. Hier konnte bis zur Konferenz der Annäherungsprozess noch nicht voll abgeschlossen werden, sodass die Konferenz sich nicht in der Lage sah, sich für einen der beiden Entwürfe zu entscheiden. Hier wird die Diskussion in diesem Jahr fortgeführt, allerdings mit dem Ziel, auf der nächsten ordentlichen Bundeskonferenz ein entsprechendes Dokument zu verabschieden. Die vorgelegte Politische Resolution wiederum hat gezeigt, wie nahe wir uns in der täglichen Praxis und der Analyse der klassenpolitischen Lage sind. Auch dieser Text wurde wie die erst genannten mit sehr großer Mehrheit verabschiedet. Insgesamt war schon erkennbar, dass längst nicht mehr nur entlang ehemaliger Organisationsgrenzen diskutiert wurde. Alle diese Texte sind abruf bar auf der Website der Organisation: www.intersoz.org Bleibt an dieser Stelle noch zu erwähnen, dass als Ausdruck der internationalistischen Verpflichtung der ISO am Abend des ersten Tages eine Spendensammlung zur Finanzierung einer Druckmaschine für die pakistanische Sektion der IV. Internationale durchgeführt wurde. Zusammen mit der zugesagten Spende eines nicht anwesenden Genossen kamen auf diese Weise 1660 Euro zusammen. Die Organisation wird sich am 3. Juni in einer öffentlichen Veranstaltung in Köln mit einem inhaltlichen Programm (Referate, Diskussion, Podiumsdiskussion) und einem abendlichen Fest vorstellen. „Gewandelte Inprekorr“ Zu den Beschlüssen für die Vereinigung gehört die Herausgabe eines Magazins, basierend auf der bisherigen Inprekorr. Demnach wird die Zeitschrift weiterhin Artikel aus der Presse der IV. Internationale übersetzen, gleichzeitig aber den Teil, der bislang unter „die internationale“ firmierte, aufwerten, sodass er etwa die Hälfte des Heftes ausmachen wird. 6 die internationale 1/2017 DOSSIER RECHTSPOPULISMUS DOSSIER RECHTSPOPULISMUS DIE TRUMPWAHL UND DIE PARALLELEN ZU EUROPA Dass so viele Menschen vor allem außerhalb der USA von Trumps Wahlsieg überrascht sind, zeigt, wie wenig die gesellschaftliche Entwicklung reflektiert wurde. Die Parallelen zu den Entwicklungen in Europa sind mehr als nur oberflächlicher Natur. Jakob Schäfer Dass die Trump-WählerInnen sich wenig von Argumenten leiten ließen, sondern mehr von Gefühlen, ist hinreichend klar geworden.1 Auf der Erscheinungsebene Trumps Auftreten und seine „Lösungen“ entsprachen ihrem Bauchgefühl und überzeugten mehr als alles, was ihnen sonst angeboten wurde. Hinzu kam, dass Trump – wegen seiner angeblichen Ferne zum „Establishment“ – besser geeignet schien, einen Kurswechsel herbeizuführen als die mit der Wall Street verbundene Clinton.2 Um nur die markantesten Punkte aus der WählerInnenbefragung herauszugreifen: 79 % der TrumpWählerInnen empfanden die illegale Immigration als ein vordringliches Problem, 74 % den Terrorismus, 63 % die Arbeitsplatzfrage (bezeichnend hier die Formulierung: „Job opportunities for working-class Americans“). Die entsprechenden Zahlen bei den Clinton-WählerInnen sind 20, 42 und 45 Prozent. Ähnlich aufschlussreich ist auch, welche Fragen die Trump-WählerInnen relativ wenig berührten: die Kluft zwischen Arm und Reich: 33%; Schusswaffengebrauch (gun violence): 31%; Klimawandel: 14%. Die Zahlen bei den Clinton-WählerInnen: 72, 73 und 66 Prozent. 53 % der Trump-WählerInnen bevorzugen schnelle Lösungen, auch dann, wenn diese risikoreich sind (gegenüber 16% bei den Clinton-WählerInnen). Damit ist aber noch längst nicht geklärt, wer denn die Trump-WählerInnen sind und erst recht nicht, warum sie auf Trump setzen. Denn es ist gerade nicht so, dass nur die Erwerbslosen oder die prekär Beschäftigten massiv für Trump gestimmt haben. Gewählt wurde er von Angehörigen aller Schichten, den größten Anklang fand er aber nicht bei der sogenannten Unterschicht, sondern bei der unteren Mittelschicht.3 Auch wenn richtig ist, dass die ehemaligen Industriestaaten im Norden und Nordosten (Ohio, Michigan und Wisconsin) im „Rostgürtel“ den Ausschlag gaben: Trump wurde von fast der Hälfte der abgegebenen Stimmen gewählt und zwar letztlich im ganzen Land! Bhaskar Sunkara, Herausgeber von Jacobin, schreibt: „Trump spricht diejenigen an, die – wie das blue collarship – vom Neoliberalismus abgehängt wurden. Das betrifft auch und gerade die Bergarbeiter, denen Trump zusicherte, er werde die Kohlenförderung nicht zurückfahren, weil es gar keine ökologische Krise gäbe. Kurz: Er hat seine Kampagne unter anderem auf diejenigen ausgerichtet, die von jeder Form der Dekarbonisierung der Produktion betroffen wären. Ferner will er ein Programm zur Verbesserung der maroden Infrastruktur auflegen, Schutzzölle erheben und dadurch Arbeitsplätze schaffen die internationale 1/2017 7 DOSSIER RECHTSPOPULISMUS oder mindestens erhalten. Das hat sicherlich bei der arbeitenden Bevölkerung Anklang gefunden.“ Zu diesem Überblick gehört auch, dass viele Menschen gar nicht erst zur Wahl gingen.5 Dieses Mal lag die Beteiligung bei 58,1 %, das ist der niedrigste Stand seit 1980, also noch niedriger als 1996 (damals waren es 58,4%). Dies liegt nach ersten Untersuchungen vor allem daran, dass die KandidatInnen beider großer Parteien bei vielen Menschen auf so große Ablehnung stießen, dass die Wahl des kleineren Übels noch weniger griff als gewöhnlich. Zur bitteren Wahrheit gehört allerdings auch, dass die als Linke auftretende Kandidatin der Grünen Partei, Jill Stein, nur 1,3 Mio. Stimmen bekam (etwa 1%). Ihre AnhängerInnen hatten von 5 % und mehr geträumt. Und zu dieser Wahrheit gehört auch die fehlende Selbstkritik der allermeisten Linken, die die Antwort schuldig bleiben, wo denn die Massen bei der Wahl abgeblieben sind, die im Zuge der Sanders-Kampagne angeblich ihr Herz für den Sozialismus entdeckt haben.6 So wie sie sich in vornehmes Schweigen gehüllt haben, als der von ihnen weitgehend kri- tiklos gelobte Sanders sich erwartungsgemäß hinter Clinton eingereiht hat, so schweigen viele jetzt auch zu J. Stein, der so manche Linke vor den Wahlen dezidiert antikapitalistische Positionen auf höchstem Niveau zuschrieben.7 Es stellen sich nun folgende Fragen: Was sind die tieferen Ursachen für diese Wahl eines rassistischen und chauvinistischen Rechtspopulisten und für die damit einhergehende Verschiebung der Republikanischen Partei (der Grand Old Party, GOP) und der zu erwartenden Politik nach rechts? Denn dass sich das Establishment nun ganz schnell mit Trump arrangiert – und dass er auch mit diesen Kräften, sowohl innerhalb wie außerhalb der Administration gut zusammenarbeitet –, hat sich schon wenige Tage nach der Wahl gezeigt. An dieser Stelle nur der kurze Hinweis, dass die Democratic Party – trotz der Sanders- Kampagne – sich mit der offenen Kriegspropaganda H. Clintons nach rechts verschoben hat. Die Bernie Sanders-Kampagne wurde zwar mittels Betrug abgewürgt, aber dennoch: Dass Sanders gerade nicht für eine Bewegung von unten steht, kann nicht geleugnet WER HAT TRUMP GEWÄHLT? Den harten und entschlossensten Kern seiner Unterstützer fin- Umgekehrt: Nur 4% der schwarzen Wählerinnen haben für den wir im sogenannten „small business“, den Besitzern oder Trump gestimmt. Von den jungen Menschen stimmte nur eine Chefs von Kleinbetrieben (mit weniger als 500 Beschäftigten) Minderheit für ihn, aber unter den jungen Weißen hat er gegen- und den Millionen von formal Selbstständigen. Die Gesamtbasis über Clinton die Nase vorne (48% und 43%). ist aber viel breiter: Unter den 36 % der ärmeren und ärmsten Insgesamt kam Trump auf 47,3 % der Stimmen, Clinton auf WählerInnen (unter 30 000 $ Jahreseinkommen) stimmten 41% 47,8 %. Und nicht zu vergessen: Gary Johnson von der marktra- für Trump, bei denjenigen, die 30 000 bis 50 000 $ verdienen wa- dikalen Libertarian Party kam mit 4,3 Mio. Stimmen auf gut 4%. ren es 42%. Bei den Reicheren (mit mehr als 250 000 $) stimmten Die Wahlenthaltung ist vor allem bei den Ärmsten am größten 48% für Trump und 46% für Clinton. Der größte Abstand ist bei (d. h. bei jenen, die weniger als 15 000 $ im Jahr haben), nämlich denjenigen, die auf ein Jahresverdienst von 50 000 bis 100 000 bei 59%, gegenüber 22 % bei denjenigen, die ein Jahreseinkom- $ kommen: 50% für Trump, 46% für Clinton. Mit anderen Wor- men von mehr als 150 000 $ im Jahr haben. Die Häftlinge (be- ten: Vor allem diejenigen, die am meisten von seiner Politik profi- kanntlich überproportional viele Schwarze, nämlich 37 %, ob- tieren werden, haben ihn auch bevorzugt gewählt. wohl sie nur 13,2% der Gesamtbevölkerung ausmachen) haben Krasser sind allerdings die Unterschiede, wenn die Wähler- kein Wahlrecht.4 gruppen nach Hautfarbe unterschieden werden. Unter den Hinzu kommt: Ca. 6,5 Mio. ehemalige Häftlinge müssen ge- 70,4 % der weißen WählerInnen stimmten 58% für Trump und gen 6000 Dollar ihre Bürgerrechte wieder erkaufen, was gerade 37% für Clinton. Dass Trump unter Schwarzen und Latinos we- den AfroamerikanerInnen natürlich alles andere als leicht fällt. So niger Anhänger fand (8% und 29%), ist folgerichtig. dürfte insgesamt etwa ein Viertel der AfroamerikanerInnen kein Bei Frauen kam Trump nur auf 42% (54 % für Clinton), aber unter den weißen Frauen hat er auch eine klare Mehrheit (53 % Stimmrecht haben. Rechnen wir die nicht stimmberechtigten erwachsenen Mig- gegenüber 43 %), auch wenn diese Kluft bei den weißen Män- rantInnen dazu, dann durften insgesamt mehr als 20 Mio. Men- nern noch größer ist. schen nicht wählen. 8 die internationale 1/2017 DOSSIER RECHTSPOPULISMUS werden, seine Unterstützung für Clinton belegt dies. So war seine Kampagne ein Strohfeuer und wird nicht annähernd die Wirkung haben wie die wirklichen Grassroots-Bewegungen wie etwa Black Lives Matter und andere. Strukturwandel und Krise des Systems Trump ist einer der reichsten Männer im Land. Er wendet sich gegen die letzten noch verbliebenen Verhandlungspositionen der Gewerkschaften, spricht sich offensiv für die Ausdehnung des Niedriglohnsektors und gegen die Anhebung des Mindestlohns aus8. Wenn nun ein so weit rechts stehender Kandidat eine so breite Unterstützung erlangen kann, dann ist dies mehr als nur ein Indiz für das Fehlen einer starken ArbeiterInnenbewegung. Es ist Ausdruck einer tiefen Gesellschaftskrise. Mit der Entwicklung der letzten Jahre und dem Setzen auf Trump, also auf rassistische Lösungen, besteht die Gefahr, dass sich aus dem anhaltenden Frust vieler Menschen rechte (Massen)bewegungen entwickeln, die die eh schon verschüttete Klassenfrage noch mehr zuschütten. Diese Gesellschaftskrise hat ökonomische und kulturelle Ursachen. In den drei Jahrzehnten nach dem II. Weltkrieg (einer expansiven Phase kapitalistischer Entwicklung) sind Wohlstand und soziale Absicherung auch der ArbeiterInnenklasse deutlich gestiegen. Mit dem Umschlagen dieser Phase in eine anhaltend stagnative (teils auch rezessive) Phase der kapitalistischen Entwicklung ab 1973/74 und speziell seit Ende der 1970er Jahren wird die materielle Grundlage für einen halbwegs gesicherten Wohlstand für die größten Teile der Bevölkerung zunehmend untergraben. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch die Verschiebung der ökonomischen Kräfteverhältnisse auf internationaler Ebene. Die Dominanz der USA wurde durch die aufstrebenden Wirtschaftsmächte – Europa, Japan und einige Schwellenländer – zunehmend infrage gestellt. Auch der anhaltende Mehrwertübertrag aus der sogenannten III. Welt konnte das nicht auffangen, sondern verlor in dem Maße sogar noch an Gewicht, wie andere Wirtschaftsmächte Kapital exportierten und bedeutende Weltmarktanteile eroberten. Seit Ende der 1970er Jahre drückt sich dies in einem ununterbrochenen US-Handelsbilanzdefizit aus (2015 belief es sich auf satte 736 Mrd. $). Vor allem das Aufholen Chinas setzt die US-Ökonomie gewaltig unter Druck (zwei Millionen US-Arbeitsplätze wurden faktisch nach China verlagert). So bleiben im Wesentlichen die Rolle des Dollars als Leitwährung und die unangefochtene militärische Überlegenheit und Interventionsfähigkeit die letzten Ret- tungsanker, die den USA ihre Vormachtrolle bewahren. Aber das reicht nicht, um die Auswirkungen des Strukturwandels (Digitalisierung etc.) so zu begrenzen, dass die große Mehrheit der Bevölkerung keine Ängste zu haben braucht. Um die Rationalisierungsauswirkungen aufzufangen, bräuchte es reale und vor allem kontinuierliche Steigerungen des BIP von mindestens fünf oder sechs Prozent. Davon ist auch die US-Ökonomie weit entfernt. So schrumpft vor allem die Reinvestitionsrate, und zwar einfach deswegen, weil die Absatzchancen nicht da sind (bzw. die internationale Konkurrenz zu groß ist). Insgesamt sind aufgrund der rapide steigenden Kapitalintensität (marxistisch ausgedrückt: der organischen Zusammensetzung des Kapitals) die Profitraten des Kapitals (wohlgemerkt nicht die Bereicherungsraten der Besitzenden!) deutlich zurückgegangen. Die Gewinne der Konzerne waren 2015 und in den ersten drei Quartalen 2016 jeweils niedriger als in den Vorjahren. Die gegenteilig wirkenden Faktoren wie Intensivierung der Arbeit und Sinken der Reallöhne stoßen unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen und Kräfteverhältnissen an ihre Grenzen. Es fehlt also nicht an Kapital oder an billigen Krediten, sondern an ausreichend guten Anlagemöglichkeiten in der Warenproduktion. Dadurch bleiben die Zuwachsraten der allermeisten Volkswirtschaften niedrig. Es ist kein Ende der international stagnativen Phase kapitalistischer Entwicklung absehbar. Nur aufgrund einer international sehr expansiven Kredit- und Geldpolitik (vor allem in Japan und in den USA, inzwischen auch in Europa) sind die niedrigen Wachstumsraten noch nicht in eine internationale Rezession umgeschlagen.9 Unter dem Strich: Die schwachen bis negativen Wachstumsraten – nicht nur der US-Ökonomie – basieren auf den Erschöpfungstendenz der Faktoren, die den Auswirkungen des tendenziellen Falls der Profitrate entgegengewirkt haben. Die „Erholung“ der US-Wirtschaft nach der recht tiefen Krise 2007-2009 war nur oberflächlich und insgesamt so schwach, dass sie bei wachsenden Teilen der Bevölkerung nicht ankommt. Die soziale Spaltung vertieft sich Daraus resultiert nicht nur ein fortgesetzter Arbeitsplatzabbau, sondern die Hetze am Arbeitsplatz steigt, der allgemeine Konkurrenzdruck nimmt zu, die Vermögen der meisten US-AmerikanerInnen schrumpfen und damit (mangels ausreichender sozialer Sicherungssysteme) deren materielle Absicherung. Vor allem die Beschäftigten der klassischen Industrie sind davon betroffen. Gab es dort in den 1980er die internationale 1/2017 9 DOSSIER RECHTSPOPULISMUS Jahren noch ca. zwanzig Millionen Arbeitsplätze, sind es heute nur noch ca. zehn Millionen. Vor allem im „Rostgürtel“ sind in vielen Städten mehr als ein Drittel der EinwohnerInnen weggezogen, auf der (manchmal verzweifelten) Suche nach Arbeitsplätzen an anderer Stelle.10 Die offiziellen Erwerbslosen-Statistiken sind aus zwei Gründen sehr irreführend: Sie berücksichtigen nicht, dass viele der neuen Jobs erzwungene Teilzeitjobs sind. Zweitens: Eine wachsende Zahl auch von Vollzeitjobs reicht nicht für die Bestreitung des Lebensunterhalts. Viele Menschen haben zwei oder drei Jobs. (Grafik 1)11 Auf dieser Realität beruhen die Abstiegsängste, die weit bis in die Mittelschicht hineinreichen. Offiziell gibt es 43 Mio. Arme in den USA, wobei die offizielle Armutsschwelle recht niedrig angesetzt ist. Sie liegt heute für zwei Erwachsene und zwei Kinder (!) bei 24 000 $ Jahreseinkommen. Bei diesen (umgerechnet) etwa 1800 Euro/Monat muss bedacht werden, dass die sozialen Sicherungssysteme nicht mit europäischen vergleichbar sind (vor allem was die Krankenversicherung und das Rentensystem angeht), dass die Studiengebühren hoch sind usw. Ein Ergebnis dieser Entwicklung ist ein deutliches Schrumpfen der in den USA als Mittelschicht definierten Gruppe. 1971 machte sie 61 Prozent der Bevölkerung aus. Heute sind es gerade mal 50 Prozent. Gleichzeitig nahmen die Bevölkerungsanteile der unteren und der oberen Schichten zu. 1971 gehörten 25 % zur Unterschicht und zur unteren Mitte (16% und 9%), 2015 waren es insgesamt schon 29 % (20 % und 9 %). Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der oberen Mitte von 10 auf 12 % und der der Oberschicht von 4 auf 9%. 12 Und: Gehörte bis zum Jahr 2000 ein Dreipersonenhaushalt mit mehr als 44 419 $ Jahreseinkommen zur Mittelschicht, so wurde 2014 ein dreiköpfiger Haushalt schon ab 41 869 $ zur Mittelschicht gezählt. Das Schrumpfen der Mittelschicht ist also noch bedeutsamer, als es die obigen Zahlen nahelegen. Es wird auch immer weniger Erfolg versprechend, sich für das Studium zu verschulden. Viele Beschäftigte in der Gastronomie haben mindestens einen College-Abschluss, nicht wenige sogar einen Hochschulabschluss. 1971 gehörten 22% der 18-29-Jährigen zur Unterschicht, 2015 waren es schon 32 %.13 Aufgrund der ständig steigenden Studiengebühren ist ein Hochschulabsolvent im Schnitt mit 26 600 $ verschuldet. Kurz: Die Zukunftsaussichten werden insgesamt immer düsterer, also nicht nur für Autobauer oder Stahlwerker. Kurz, auch für die USA gilt, was Wilhelm Heitmeyer 10 die internationale 1/2017 für Deutschland ausführte: Das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts war das „Jahrzehnt der Entsicherung“. Gleichzeitig ist natürlich der breiten Bevölkerung nicht entgangen, dass es immer mehr Reiche gibt und vor allem: Diese Reichen sind die Einzigen, die seit der Krise 20072009 kräftige Einkommens- und Vermögenssteigerungen zu verzeichnen haben. So stieg deren Vermögen in den Jahren 2010-2013 um 7%, während alle andere Vermögen schrumpften, das der Bezieher niedriger Einkommen sogar um 41%.14 Die durchschnittlichen Vermögen der Haushalte mit hohem Einkommen sind im Zeitraum von 1983 – 2013 von 323 402 $ auf 729 980 $ gestiegen. Ein Konzerngeschäftsführer (CEO) bekommt im Schnitt eine Jahresgehalt von 12,4 Mio. $, das ist 335mal so viel wie ein Arbeiter/eine Arbeiterin in dem entsprechenden Betrieb. (Grafik 2) Wenn also die Mittelschicht schrumpft, gleichzeitig aber für Alle erkennbar der gesellschaftliche Reichtum wächst (während bei vielen Menschen immer weniger ankommt), dann drängt sich Frage nach einer radikalen Alternative, mindestens aber nach einem radikalen Kurswechsel, auf. Rechtspopulismus als Alternative Die übergroße Mehrheit aller US-WählerInnen sieht die Lage im Land als gravierend schlechter an als etwa in den 1970er oder 1980er Jahren. Diese Sicht haben sie schon seit GRAFIK 1: THERE IS A LARGE GAP IN THE WEALTH OF UPPER-INCOME FAMILIES AND OTHER FAMILIES Median net worth of families, by income tier and in 2014 dollars Upper 2013 $98,057 $9,465 2010 $98,084 $10,688 2007 2001 $19,397 $14,024 1983 $11,544 Lower $650,074 $605,228 $729,980 $161,050 $18,264 1992 Middle $136,445 $600,089 $344,162 $95,657 $323,402 $95,879 Note: Net worth is the difference between the value of assets owned by a family and the liabilities it holds. Families are assigned to income tiers based on their size-adjusted income. Net worth is not adjusted for family size. Source: Pew Research Center analysis of Survey of Consumer Finances public-use data DOSSIER RECHTSPOPULISMUS geraumer Zeit, besonders verstärkt aber seit dem Ausbruch der Immobilienkrise 2007. Viel gravierender noch ist, dass die allermeisten USBürgerInnen eine recht düstere Sicht der Zukunft haben, bei den Trump-AnhängerInnen weit mehr als bei den Clinton-WählerInnen. Der Hintergrund: Selbst wenn diese Menschen in den vergangenen Jahren ihren Lebensstandard halten konnten, so haben sie doch verstärkt den zunehmenden Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt zu spüren bekommen, müssen teils länger arbeiten oder Zweitjobs annehmen, haben zum Teil in der Immobilienkrise ihr Haus verloren, erleben mehr Arbeitshetze usw. Und: Sie sehen gleichzeitig, wie eine bestimmte Schicht immer reicher wird. So verfügen die 15 reichsten AmerikanerInnen über sage und schreibe 492,9 Mrd. $ (im Schnitt also 32,86 Mrd. $)15. Viele fühlen sich als die potenziellen oder schon tatsächlichen Verlierer des technischen, des sozialen und/ oder des gesellschaftlichen Wandels. Schuld an dieser Entwicklung haben ihrer Ansicht nach die Politiker bzw. das „Establishment“. In dieser Konstellation wenden sich Rechtspopulisten in erster Linie an die untere Mittelschicht. Trump spricht auf seine Art aus, was viele von diesen Menschen dumpf empfinden. Er gibt ihnen eine Stimme und mit seiner klaren Gegnerbenennung – und mit seinem Wettern gegen das Establishment, zu dem er (nur vordergründig betrachtet) nicht gehört – kann er Massen mobilisieren. Noch mal Bhaskar Sunkara: „Da er [Trump] dies koppelt mit Steuersenkungen, um – wie er sagt – die Kapitalisten zum Investieren zu motivieren, hat er verschiedene - normalerweise weit auseinanderliegende Interessen - zusammengeführt und an die Illusion angeknüpft, man könne den Kapitalismus alter Art [also vor der Durchsetzung des Neoliberalismus] wieder reaktivieren. Das hat er im Übrigen gepaart mit einer primitiven Kritik an den Schnorrern an den Börsen und den Anzugträgern von den Hochschulen, die nichts arbeiten wollen und stattdessen sich damit beschäftigen, Geld ohne produktive Arbeit zu scheffeln.“ Trump konnte sich dabei auf eine längere Rechtsentwicklung an der Basis der Republikaner stützen, vor allem auf die Tea Party, auf viele Marktradikale und auf die Bewegung der evangelikalen Christen.16 Nicht zufällig hatte sich die rassistische Tea Party-Bewegung ausgerechnet nach Obamas Antrittsrede 2009 gebildet. So fällt es nicht vom Himmel, dass Trump gut auf die rassistische Karte setzen konnte und weiter setzt. „In diesem Jahr [2016] sind Rasse und Identität zur zentralen Scheidelinie in der amerikanischen Politik geworden. Obwohl die Rassenfrage schon immer in der amerikanischen Politik nahe der Oberfläche eine Rolle spielte, so stand sie doch selten so offen im Zentrum der politischen Kampagnen wie dieses Mal. Wie kam es dazu? Die einfache Antwort lautet: Donald J. Trump. Es ist wahr, dass seit Jahrzehnten Trump der erste Republikaner war, der mit rassistischen Vorurteilen die Nominierung gewann. Und es ist auch wahr, dass rassistische Abneigungen sogar eine größere Rolle bei der Unterstützung für Trump gespielt haben als Ideologie. Aber Trump agiert nicht in einem Vakuum. Vielmehr nutzt er Kräfte, die seit einem halben Jahrhundert wirken. Seine auf Identität gründende Nominierung ist damit die logische Folge einer fünfzig Jahre alten „Süd-Strategie“ der Republikaner, bei der Rasse und Identität eine größere Rolle spielen als wirtschaftliche Fragen.“17 So ist das Profil vieler seiner Anhänger recht eindeutig: Sie sehen sich als Opfer des Freihandels, sind meistens stark religiös, wirtschaftsliberal, gegen sozialstaatliche Regelungen und in jedem Fall und vor allem rassistisch. Und da (auch unabhängig von Trumps Wahlkampagne) 40 % der US-Amerikaner sich als Opfer des politischen Establishments sehen – wohlgemerkt nicht des Systems! –, ist die Trump-Wahl insofern kein deformierter oder verfälschender Ausdruck des Wählerwillens. GRAFIK 2: FAMILIES IN ALL INCOME TIERS LOST WEALTH SINCE 2007, BUT ONLY UPPER-INCOME FAMILIES HAVE STARTED TO RECOVER % change in median family wealth, by income tier Upper Middle Lower 7 2010-2013 0 - 11 - 17 2007-2010 - 39 - 41 22 18 2001-2007 - 6 74 1992-2001 43 38 6 1983-1992 0 21 Note: Net worth is the difference between the value of assets owned by a family and the liabilities it holds. Families are assigned to income tiers based on their size-adjusted income. Net worth is not adjusted for family size. Source: Pew Research Center analysis of Survey of Consumer Finances public-use data die internationale 1/2017 11 DOSSIER RECHTSPOPULISMUS Trump kann auf eine recht breite Basis gesellschaftlicher Unterstützung auf bauen. Gestützt wird die TrumpWahl auch von einer noch weiter nach rechts verschobenen Kongressmehrheit. Trotz zu erwartender gewisser pragmatischer Anpassungen an die langjährige Praxis der US-Administration (vor allem in der Außenpolitik) kann Trump bei seiner rassistischen Linie und der seiner Hauptunterstützer bleiben: „Das Kabinett des künftigen US-Präsidenten Trump nimmt Gestalt an: Der rechtskonservative Jeff Sessions übernimmt Justiz, CIA-Chef wird Tea-PartySympathisant Mike Pompeo.“18 Eine seiner ersten Amtshandlungen wird sicher die Besetzung der vakanten Stelle im Supreme Court sein, also die klare Rechtsverschiebung dieses extrem bedeutsamen Machtpfeilers.19 Und das Kapital? Es hatte sich zwar vor der Wahl mehrheitlich gegen Trump gewandt (allerdings eher aus taktischen Gründen, denn er erschien ihm zu plump, um die Wahl gewinnen zu können), so auch beispielsweise Charles Koch, einer der 10 reichsten Männer der Welt. Aber diese Herren und wenigen Damen rudern jetzt schnell zurück und arrangieren sich mit Trump. Schließlich gilt es ja, bevorzugt Regierungsaufträge zu bekommen. Und auch die ausländische Bourgeoisie ist von der Trumpwahl alles andere als geschockt. Das belegen nicht nur die Aktienkurse (vor allem des Finanzsektors), das belegt auch die freudige Reaktion der deutschen Großspender für Trump, worauf Manfred Dietenberger mit Recht hinweist.20 Kennzeichen des Rechtspopulismus Die Entwicklung in den USA und die Wahl Trumps lassen klar erkennen: Die rechtspopulistische Revolte ist eine Reaktion auf wirtschaftliche Unsicherheit. Sie ist aber auch eine kulturelle Gegenreaktion. So werden Rechtspopulisten ganz besonders und vor allem von solchen Menschen unterstützt, die früher zu den einigermaßen Abgesicherten gehörten und inzwischen den Eindruck haben, dass sie verlieren oder zu verlieren drohen. Dabei geht es nicht nur um das Materielle, sondern um den Status und das Bild, das sie von sich selbst in der Gesellschaft haben. Die dort unter vielen Menschen anzutreffende, zunächst dumpf empfundene Antipathie hat ihre Wurzeln also sowohl in den Abstiegsängsten wie auch in einer kulturellen (nicht nur rassistischen) Abwehrhaltung. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass ein bedeutsamer Teil ihrer Identität in dem Überlegenheitsgefühl der USA begründet war und ist. Wenn dies nun (etwa durch den Aufstieg Chinas) zunehmend unterminiert wird, dann ist 12 die internationale 1/2017 es kein Wunder, dass Trumps Hauptslogan (Make America great again) nicht wenige begeistert. Mit seinem Versprechen, die USA wieder zur größten und führenden Nation zu machen (letztlich also zu einer, die den anderen diktiert, wo es lang gehen soll), kann er bei solchen Menschen viel Zustimmung einheimsen. Und wenn H. Clinton erklärt, dass die USA doch schon „great“ seien, dann schießt sie sich damit nur ein Eigentor. Denn genau dies empfinden ja die wirklichen und die potenziellen VerliererInnen der krisenhaften Entwicklung nicht, sie erleben das Gegenteil und empfinden Clinton deswegen als Zynikerin. Viele hatten gemeint, Trump könne nur gewinnen, wenn er sich im Laufe des Wahlkampfs in einen gemäßigten Politiker wandelt. Das Gegenteil war der Fall: Er hat genau deswegen gewonnen, weil er konsequent die Anti-Establishment-Linie beibehielt und dabei ausschließlich an Emotionen appellierte. Rechtspopulismus schlägt „gemäßigtes Auftreten“. Das ist die klare Botschaft aus der Trumpwahl. Trotz aller politischen und kulturellen Unterschiede zwischen den USA und Europa: Genau dieser Mechanismus ist auch das Erfolgsrezept von Af D, Marine Le Pen, Victor Orban usw. Die Parallelen liegen aber nicht nur in der Wahlkampfstrategie von Le Pen, Orban usw. Auch die Ursachen für die Hinwendung breiter Bevölkerungsschichten zu nationalistischen und rassistischen „Lösungen“ (und in der Folge zur Wahl rechtspopulistischer Parteien) sind strukturell (trotz mancher kultureller Unterschiede zu den USA) sehr ähnlich. Beide Hauptwesensmerkmale treffen praktisch auf alle WählerInnen rechtspopulistischer Parteien zu: Erstens: Auch hier in Europa spielt vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der krisenhaften Entwicklung (Bankenkrise, Eurokrise, „Flüchtlingskrise“) die Angst vor dem Abstieg der (unteren) Mittelschichten eine wesentliche Rolle. „Es sind nicht die wirtschaftlich stärksten Gruppen, die Af D wählen. Allerdings im Schnitt auch nicht die Ärmsten der Armen, sondern Leute, die ausgeprägte Abstiegsängste plagen. Rund 70 Prozent der Af D-Wähler in Sachsen-Anhalt gaben an, sie empfänden die allgemeines Wirtschaftslage als schlecht.“ (M. Kunert von Infratest dimap in FAS, 20.3. 2016) Die soziale Basis der Af D ist in der gesellschaftlichen Mitte zu suchen. Mehr als zwei Drittel ihrer WählerInnen sind Erwerbstätige. Unter diesen stellen ArbeiterInnen ein Viertel, die Angestellten etwa die Hälfte und ein Fünftel sind BeamtInnen. Die Af D ist also alles andere als eine Prekariatspartei. Menschen mit niedrigem Bildungsab- DOSSIER RECHTSPOPULISMUS schluss stellen nur ein knappes Fünftel der Af D-WählerInnen.21 Die Af D-WählerInnen müssen also längst noch nicht den Abstieg selbst erfahren haben, aber sie sehen ganz gut, wohin die herrschenden Verhältnisse treiben, nicht nur in Griechenland. Die Ostangleichung stottert, die Lage auf dem Wohnungsmarkt verschlechtert sich usw. Vor allem die untere Mittelschicht drückt ihren Frust über den wachsenden Konkurrenzdruck in einer Wahl rechtspopulistischer Kräfte aus. Und auch das zweite wesentliche Merkmal deckt sich mit den Entwicklungen in den USA: Auch hier können solche Parteien auf einem starken Grundstock rassistischer Einstellungen auf bauen und sie für ihre Zwecke instrumentalisieren und mit ihren Kampagnen gleichzeitig verstärken, wobei die Presse ihnen dabei kräftig hilft, worauf Phil Hearse richtigerweise hinweist.22 Wilhelm Heitmeyer ist nur zuzustimmen, wenn er schreibt „Der Rassismus kommt nicht aus dem Nichts.“ Er basiert auf einer Wut und der Entladung von Ressentiments, auf die die „politische Klasse“ nur mit Autismus reagiert. Wichtig dabei ist, dass die Personengruppen, auf die sich die Aversionen beziehen, durchaus wechseln können. Was früher die Türken waren, sind heute die Flüchtlinge usw. „Islamfeindlichkeit ist derselbe Rassismus in neuen Schläuchen.“23 Götz Eisenberg weist mir Recht auf die „sozialpsychologische Komplementarität [hin], die dafür sorgt, dass bestimmte gesellschaftliche Affekte sich mit anderen verbinden. Das […] findet sich in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen auch im gegenwärtigen Rechtspopulismus, wobei der Antisemitismus häufig nicht offen gezeigt wird.“24 Seit der Erstellung der Sinusstudie (1981) wissen wir, dass es auch bei uns einen sehr festen Stamm von rassistisch eingestellten Menschen gibt, und dass ca. 10 – 13 % sogar ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild haben. Zu Letzterem werden in der Wissenschaft sechs Einstellungsdimensionen gerechnet: Befürwortung rechtsautoritärer Diktatur, Ausländerfeindlichkeit, Chauvinismus, Sozialdarwinismus, Antisemitismus und Verharmlosung des Nationalsozialismus. Und obwohl einige dieser Kennzeichen bei prominenten AfD-VertreterInnen zu beobachten sind: Die AfD kann seit gut einem Jahr beständig ihre WählerInnenbasis verbreitern. Das heißt: Auch von Menschen, die diese Positionen nicht teilen, wird dies in Kauf genommen und werden diese Einstellungen mit der Zeit – teilweise und oder auch gänzlich – übernommen. Die ideologische Basis für eine solche Anpassung ist die „autoritäre Persönlichkeit“25. „In Zeiten verbreiteter Verunsicherung und Desorientierung findet eine kollektive Regression auf archaische Mechanismen der psychischen Regulation statt. Urteilsund Differenzierungsvermögen bilden sich zurück, und es steigt das Bedürfnis nach entlastenden Vereinfachungen. Wer die simpelsten Polarisierungen liefert, hat nun die besten Aussichten, Gehör und Gefolgschaft zu finden. Wirkliche Aufklärung – unter striktem Verzicht auf alles Populistische – ist dagegen anstrengend und schmerzhaft. Das ist der Grund, warum in Krisenzeiten, wenn die Menschen sich nach schnellen Lösungen sehnen, linke Aufklärungsversuche gegenüber den populistischen Vereinfachungen kaum eine Chance haben.“26 Helmut Dahmer wies mal im Gespräch darauf hin: Zu den wichtigsten Befunden der Studie des emigrierten Instituts für Sozialforschung über den autoritären („faschistoiden“) Charakter zählt, dass dieses Potenzial sich in allen Berufs-, Alters- und Bildungs- und Geschlechtsgruppen findet, in allen ethnischen und politischen Gruppen und natürlich auch in allen kapitalistischen oder halbkapitalistischen Gesellschaften. In anderen Ländern – etwa in Frankreich – ist diese Entwicklung schon seit Jahren weiter vorangeschritten als in Deutschland. Nicht nur wird Le Pen mit größter Sicherheit in die Stichwahl bei der kommenden Präsidentschaftswahl kommen. Ihre höchsten Stimmenanteile hat sie nicht für umsonst in den ehemaligen Zentren der französischen Schwerindustrie (v. a. in den Kohlebergbaugebieten im Norden) sowie in den Vorstädten von Paris, dem ehemals roten Gürtel der Metropole. Aber sie hat auch große Zustimmung bei den besser Situierten und in den Gebieten, wo viele Rückkehrer aus den Ex-Kolonien leben (im Südosten der Republik). Sogar ein Wahlsieg bei den Präsidentschaftswahlen im April/Mai ist nicht mehr ausgeschlossen, zumal Fillon mit seinem harten Sparkurs viele abstoßen wird. Die Trump-Wahl hat sogar einen Vorläufer: Das Brexit-Votum und die Rechtsverschiebung der britischen Regierung. Strukturell sind hier die Ursachen wie auch die Motivationen der WählerInnen in weiten Bereichen sehr ähnlich. Trumps Sieg gibt seinen Anhängern neue Hoffnung (siehe dazu die oben zitierte Meinungsumfragen bei PEW nach dem Wahlausgang). Dass sie in nicht allzu ferner Zukunft auch von Trump (bzw. den Ergebnissen seiner Politik) enttäuscht sein werden, steht außer Zweifel. Unentdie internationale 1/2017 13 DOSSIER RECHTSPOPULISMUS schieden ist aber, welche Schlussfolgerung sie daraus ziehen werden – eine sich weiter nach rechts radikalisierende oder eine, die für solidarische Perspektiven offen ist. sätze der letzten Jahre (Kampagne für einen bundesweiten Mindestlohn von 15 $ usw.) sind zwar ermutigend, aber sie drohen vom Aufstieg des Rechtspopulismus zurückgeworfen zu werden. Klassenorganisation und Systemkrise Auch wenn es im Moment in den USA noch keine faschistische Massenbewegung gibt, so stellt sich dort für Revolutionäre die Aufgabe noch schärfer, noch dramatischer als in Europa. Denn die Rekonstitution des Klassenbewusstseins steckt nach den langen Jahrzehnten des dramatischen Niedergangs noch sehr in den Anfängen. Dieses Bewusstsein war in den 1930er Jahren auch in den USA deutlich anders, aber inzwischen ist seit Jahrzehnten (!) von Klassenbewusstsein wenig zu erkennen. Auch dort, wo traditionelle Industriearbeitsplätze weggefallen sind und die Menschen im Dienstleistungssektor gelandet oder erwerbslos geworden sind: Gerade wegen des Verlusts wesentlicher Vermögensbestandteile durch die letzte Krise sind sie mehr denn je Lohnabhängige und zwar so massenhaft wie nie zuvor in der Geschichte. Marx schreibt (1847!): „Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf, den wir nur in einigen Phasen gekennzeichnet haben, findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, die sie verteidigt, werden Klasseninteressen. Aber der Kampf Klasse gegen Klasse ist ein politischer Kampf.“27 Und genau diese Bemühungen um die Rekonstitution eines Klassenbewusstseins drohen mit einer Ausdehnung und Verfestigung rechtspopulistischer Politik und rechtspopulistischer Bewegungen gewaltig zurückgeworfen zu werden. Auch in den USA liegt die Schwächung bzw. das weitgehende Verschwinden einer politischen Arbeiterbewegung nicht etwa an einer numerischen Schwächung der Klasse (etwa, weil viele Lohnabhängige zu Kleinbürgern geworden wären). Die Änderungen der Arbeitsplätze (weg von den traditionellen Großbetrieben in der Industrie) sind zwar als objektive Veränderungen bedeutsam, aber es folgen daraus nicht zwangsläufig nur ganz bestimmte Entwicklungen auf der subjektiven Ebene. Entscheidend sind immer noch die politischen Prozesse. Die Gewerkschaften der USA sind größtenteils stark in das System integriert und nicht in der Lage oder bereit, einen politischen (Klassen)kampf zu führen. Die Neuan14 die internationale 1/2017 Noch weiter nach rechts? Fatalerweise droht in Europa mehr als nur eine Stärkung rechtspopulistischer Parteien. Das sehen wir nicht nur daran, dass beim französischen Front National der Übergang vom Rechtspopulismus zum Faschismus eher fließend bleibt (s. auch Artikel von Bernard Schmid in diesem Heft). Welche besonderen (Zwischen)formen die weiteren Entwicklungen noch annehmen werden, ist heute nicht absehbar. Aber zur ausreichenden Beurteilung der Gefahren sollten wir uns vergegenwärtigen: „Das Aufkommen des Faschismus [und wir fügen hinzu: des Rechtspopulismus] ist Ausdruck einer schweren gesellschaftlichen Krise des Spätkapitalismus, einer Strukturkrise, die, wie in den Jahren 1929 bis 1933, wohl mit einer klassischen wirtschaftlichen Überproduktionskrise zusammenfallen kann, aber weit über solche Konjunkturschwankungen hinausgeht. Es handelt sich grundsätzlich um eine Krise der Verwertungsbedingungen des Kapitals, d. h. um die Unmöglichkeit, eine ‚natürliche‘ Kapitalakkumulation unter den gegebenen Konkurrenzbedingungen auf dem Weltmarkt (d. h. auf dem bestehenden Niveau der Reallöhne und der Arbeitsproduktivität, bei dem bestehenden Zugang zu Rohstoffen und Absatzmärkten) fortsetzen zu können.“28 Sowohl die lang anhaltende Phase stagnativer Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft wie auch der politische Aufstieg des Rechtspopulismus und Rassismus in einer ganzen Reihe von Ländern weisen auffällige Parallelen zum Aufstieg des Faschismus in den 1920er und 1930er Jahren auf. Je mehr ein System in die Krise gerät – in den 1920er und 1930er Jahren war es eine lang anhaltende rezessive Phase kapitalistischer Entwicklung – desto verzweifelter suchen Menschen nach einer radikalen Alternative. Je mehr dabei die überkommenen politischen Rezepte und Konzeptionen sich in den Augen breiter Massen als unwirksam und abgewirtschaftet erweisen, desto mehr Anziehungskraft entfaltet jene. Nun mag mensch einwenden: Die Krise ist heute (noch) nicht so dramatisch wie in den 1930er Jahren (wobei darüber sehr wohl gestritten werden kann, wenn wir alle Faktoren der nationalen und internationalen Entwicklungen, der Kriege, der Flüchtlingsdramen wie auch des Klimawandels einbeziehen). Aber leider gibt DOSSIER RECHTSPOPULISMUS es einen wesentlichen Unterschied auf der Ebene des subjektiven Faktors: Heute ist – zumindest in den USA – nicht mehr erforderlich, was Trotzki als Voraussetzung für eine faschistische Machtergreifung (bzw. für den massiven Aufstieg einer faschistischen Massenbewegung) ansah: „Die Aufgabe des Faschismus besteht nicht allein in der Zerschlagung der proletarischen Avantgarde, sondern auch darin, die ganze Klasse im Zustand erzwungener Zersplitterung zu halten.“29 Musste sich also eine rechtsextreme (bzw. faschistische) Bewegung seinerzeit gegen eine organisierte Arbeiterbewegung durchsetzen, so ist dies in den USA heute gar nicht erst erforderlich und in Europa in den meisten Ländern auch längst nicht mehr in einem vergleichbaren Maße wie in den 1920er und 1930er Jahren. Das heißt, die organisierte Klassenkraft der Lohnabhängigen gibt es so nicht mehr. Die Durchsetzung einer wohl organisierten rechten Kraft ist so erst mal wesentlich leichter möglich. Wohin treiben die USA? Ganz gewiss ist die Trump-Anhängerschaft nicht faschistisch, jedenfalls noch nicht, aber die Tür für eine solche Entwicklung ist aufgestoßen. Und zwar nicht nur, weil Trump in einigen Fragen protofaschistische Positionen vertritt. Seine Basis setzt sich unter anderem aus beinharten Rassisten zusammen. Nicht zufällig wächst seit der Trump-Wahl der Ku-Klux-Klan sprunghaft. Auf der anderen Seite ist längst nicht alles nur düster. So wenig die Linke auf Sanders als politischen Faktor bauen kann (dafür ist er zu sehr in das System eingebunden): Die Zustimmung zu seinen Vorschlägen ist so hoch, dass er die höchsten Zustimmungswerte (59%) von allen bekannten Politikern hat (nur 33% lehnen sie ab). Die Frage, welche politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen sich durchsetzen werden, hängt von zwei wesentlichen Faktoren ab. Der wichtigste ist die aus der Klasse der Lohnabhängigen autonom sich entwickelnde Selbsttätigkeit und die Möglichkeit, dabei auch Teilsiege zu erringen. Ein positives Beispiel ist die an Breite gewinnende Bewegung für einen Mindestlohn von 15 $. Zum anderen ist es für den subjektiven Faktor von großer Bedeutung, wie die organisierte Linke politisch interveniert und welche Alternativen sie propagiert. Dies fängt an bei den Erklärungen für die krisenhafte Entwicklung und geht über die Darlegung der Visionen bis zu den konkreten Handlungsvorschlägen. Es ist ein Unterschied, ob diese Kräfte nur die „Auswüchse“ kritisieren oder ob sie den Systemcharakter als Ursache benennen und in der Lage sind, Mobilisierungsperspektiven zu benennen, die an den aktuellen Bedürfnissen anknüpfen, aber nicht bei Reparaturvorschlägen hängen bleiben. Wenn diese Kräfte aber nicht bereit und willens sind, sich gegen die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu stellen und dafür offen aufzutreten, dann können sie niemals als wirkliche SystemgegnerInnen wahrgenommen und ernst genommen werden. Sie werden dann ihr Schattendasein nicht überwinden können. Das gilt für die USA wie für Deutschland und fast alle europäischen Länder. Gelingen kann dies nur, wenn der „nationalen Alternatividentität“ (Inga Solty30) der Rechten eine konsequente Systemopposition und Klassenalternative gegenübergestellt wird. Die Reorganisierungsbemühungen der Linken in den USA sind unübersehbar. So gibt es eine breiter werdende Bewegung der Solidarität mit den Sioux, die gegen die Dakota Access Pipeline kämpfen; die Bewegung Black Lives Matter stabilisiert sich und wird sich (hoffentlich) weiter ausdehnen; für den 3.-5. März 2017 wird in Chicago eine Left Elect Conference organisiert … Ob daraus eine landesweite, die gesamten USA erfassende Bewegung des Widerstands entsteht, ist allerdings noch nicht absehbar. Fazit Folgende Schlussfolgerungen sollten wir aus der TrumpWahl und vergleichbaren Entwicklungen in Europa ziehen: 1 Die Wählerwanderung hin zum Rechtspopulismus oder noch weiter nach rechts muss als Ergebnis einer gesellschaftlichen Krise verstanden und bewertet werden. Keinesfalls dürfen wir bei der Analyse von Wahlstrategien stehen bleiben. 2 Die „enthemmte Mitte“ hat ihre größte soziale Basis in den unteren Mittelschichten, ist aber längst nicht darauf begrenzt. Bei fortgesetzter, sich verschärfender gesellschaftlicher Krise kann sich die Basis des Rechtspopulismus in allen gesellschaftlichen Schichten ausdehnen und sogar mehrheitsfähig werden, mit allen Konsequenzen, die das für das Vordringen des Rechtsextremismus haben wird. 3 Ursachen für diese Entwicklung sind die Abstiegsängste (bzw. die Zukunftsängste), die sich aus den Erfahrungen eines wachsenden Konkurrenzdrucks, der rauer werdenden Arbeitswelt und der schwindenden sozialen die internationale 1/2017 15 DOSSIER RECHTSPOPULISMUS Absicherung ergeben (steigende Arbeitshetze, Abbau der Sicherungssysteme, Mietsteigerungen usw.) 4 Der Rechtspopulismus als Antwort auf diese komplexe Lage kann auf einen stabilen Fundus an rassistischen Einstellungen in einem bedeutenden Teil der Bevölkerung auf bauen. Rechtsextreme forcieren dies heute mit einer Agitation für „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (Heitmeyer). 5 Nur die soziale Frage zu thematisieren, reicht nicht. Der Rassismus muss offen angegangen und bekämpft werden. 6 Menschenfeinde und RassistInnen sind für Argumente nicht zugänglich. Die Anziehungskraft des Rechtspopulismus kann nur in dem Maße zurückgedrängt werden, wie es gelingt, eine klassenbewusste politische Bewegung von unten aufzubauen, die mit einer kämpferischen Politik wenigstens Teilerfolge erzielt. 7 Längerfristig und nachhaltig verändern lassen sich die Kräfteverhältnisse nur dann, wenn linke Politik auf eine Systemalternative ausgerichtet ist. Strategien, die darauf abzielen, Systemreformen als Heilmittel gegen Rechtsentwicklungen zu propagieren, sind zum Scheitern verurteilt. Das stimmt auf der objektiven Ebene, das stimmt aber auch auf der subjektiven Ebene, nämlich bezogen auf die Überzeugungskraft dieser Vorschläge. Der wichtigste Faktor für eine Veränderung der Kräfteverhältnisse ist und bleibt die Selbstaktivität der in den Betrieben beschäftigten Lohnabhängigen, derjenigen also, die die potenzielle Macht haben, Substanzielles durchzusetzen und gegebenenfalls den Herrschenden das Fürchten zu lehren. Aus der Tiefe der Klasse können ganz neue Bewegungen und Organisierungsbestrebungen entstehen. Darauf sollten wir uns auch in Europa orientieren und uns selbst politisch und organisatorisch so vorbereiten, dass wir bei dem Auf brechen solcher Entwicklungen darin eine positive Rolle spielen können, und sei sie noch so bescheiden. Eine andere Wahl haben wir nicht. 1 Zu den diesbezüglichen Untersuchungen vor und vor allem nach der Wahl siehe: http://tinyurl.com/ztfzf bh 2 Einen guten Überblick über die Motive der WählerInnen gibt das PEWResarchCenter unter: http://tinyurl.com/ j8pr66x 3 Zu den Zahlen siehe Kasten 4 Insgesamt sitzen heute etwa 2,4 Mio. AmerikanerInnen in den Gefängnissen. Das ist 1% der erwachsenen Bevölkerung. Detailliertere Zahlen unter: http://hp-x.de/4i1Z733 5 Zum Teil liegt das immer noch an der Hürde der WählerIn16 die internationale 1/2017 nenregistrierung; in vielen Regionen sind die Identifikationskriterien für WählerInnen verschärft worden. Es gibt in den USA keine Personalausweissystem. Noch kurz vor den Wahlen wurden viele Wahllokale geschlossen, es bildeten sich lange Schlangen. Gewählt wird an einem Werktag! 6 Wie beschränkt das Sanders-Programm in Wirklichkeit war und ist, hat beispielsweise die New York Times vom 23. Mai 2016 deutlich gemacht: http://tinyurl.com/jcpwp5h Kurz inhaltlich ausführen! 7 Vergleichbares läuft in GB, wo Labour plötzlich als Hort des Klassenkampfes gilt, … bis Corbyn umfällt. So manche begeistern sich recht schnell für prominente Personen, auch dann, wenn von denen gewiss kein Kampf gegen das kapitalistische System zu erwarten ist und dieses Hinterherlaufen in der Konsequenz den Auf bau einer eigenständigen klassenbasierten Organisation behindert. 8 Der Mindestlohn beträgt heute 7,25 $, also weniger als 7 €. 9 In den USA hält die Konjunktur zurzeit schon gut 7 Jahre (auf niedrigem Niveau) an. Inzwischen mehren sich die Anzeichen, dass sogar diese schwache (wenn auch vergleichsweise lange) Wachstumsphase ihrem Ende entgegengeht. Die Auswirkungen können dramatisch werden. 10 In Detroit etwa sank die Einwohnerzahl von 957 270 auf 677 116 (= - 28,8 %). 11 http://tinyurl.com/z6uy7nz 12 Zu den Daten siehe: http://tinyurl.com/j8lxmzl). Zur Arbeitsmethode des PEW: http://tinyurl.com/hc3mtxk 13 Kurzlink: http://tinyurl.com/gu9xl6l 14 vom 21. Januar 2016 (Kurzlink: http://tinyurl.com/hnzde6c) 15 https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_reichsten_USAmerikaner, zitiert die Forbes 400-Liste für 2015. 16 76% der weißen evangelikalen Protestanten tendierten schon vorher zu den Republikanern. 17 http://tinyurl.com/hg4jpqx) 18 Die Zeit online, 18. 11. 2016 19 Zu den führenden Figuren in der neuen Administration (vor allem den Ministern) siehe das Thema „Milliardäre und Militärs“ in junge Welt vom 22. 12. 2016 20 Manfred Dietenberger, DAX-Konzerne lagen richtig. Deutscher Zement, Deutsche Bank und andere Trump-Profiteure, Lunapark21, Heft 36 (Winter 2016), S. 48 - 51 21 An dieser Stelle sei ausdrücklich auf die die von Oliver Decker, Johannnes Kiess und Elmar Brähle herausgegebene Studie verwiesen: Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Gießen 2016 (2. Auflage; Psychosozial-Verlag). Die Studie ist auch als pdf-Datei (bis zur Seite 163) runterzuladen unter: http://tinyurl.com/gmckm47) 22 US presidential elections and world politics: Trump and the Future, http://www.europe-solidaire.org/spip.php?article39515 23 Oliver Decker: „Dort ist faschistisches Potenzial“ Interview mit Cicero, 16. 6. 2016, http://tinyurl.com/h67zeoh 24 Götz Eisenberg: „Die Innenseite des Klassenkampfs“, junge Welt 19. 12. 2016 25 Vgl. dazu Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter (hrsg. von Ludwig von Friedeburg). Frankfurt (Suhrkamp Taschenbuch) 1973. DOSSIER RECHTSPOPULISMUS 26 Götz Eisenberg, a. a. O. 27 Karl Marx, Das Elend der Philosophie, MEW 4, 180 f 28 Ernest Mandel: „Trotzkis Faschismustheorie.“ Einleitung zu: „Leo Trotzki. Schriften über Deutschland“, herausgegeben von Helmut Dahmer, Frankfurt (EVA), 1971, S. 21. 29 Leo Trotzki: „Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats“ in Leo Trotzki, Schriften über Deutschland, a. a. O., S. 182 30 in Sozialismus 12/2016) DIE EXTREME RECHTE IN FRANKREICH Zu den Begrifflichkeiten von Populismus, Neofaschismus ... und ihrer Anwendung auf die aktuelle Situation. Bernard Schmid Frankreich zählt zweifelsohne zu den Ländern, an die man am häufigsten denkt, wenn in den letzten Jahren das Wort „Rechtspopulismus“ fällt. Von der Präsidentschaftswahl am 21. April 2002, bei welcher Jean-Marie Le Pen in die Stichwahl einziehen konnte (was damals als absoluter Überraschungserfolg gewertet wurde), bis zur im April und Mai 2017 anstehenden neuerlichen Wahl zieht der Front National/FN – inzwischen unter Marine Le Pen – viele Blicke auf sich. Dabei ist die Anwendung des „Populismus“-Begriffs auf diese Partei durchaus fragwürdig. Und benutzt man den Begriff „Populismus“ im Hinblick auf Frankreich, dann müsste er vielleicht zuerst auf den Gaullismus, jedenfalls den historischen Gaullismus der 1950er und 1960er Jahre Anwendung finden. Hat nicht er „das Volk“ als politische Kategorie aufgewertet und in diesem Zusammenhang die Einführung der Direktwahl des Staatspräsidenten durch das Wahlvolk gerechtfertigt, Volksabstimmungen das Wort geredet und Referenden durchgeführt, die „nationale Souveränität“ hochgehalten ... ? Und dies, ohne faschistische Ursprünge zu haben? Wäre es nicht angemessener, den FN eingedenk genau solcher Ursprünge anders zu bezeichnen? Ein kleiner Abriss zu einer notwendigen Debatte, gefolgt von einem Überblick über die aktuelle Situation. Zur Anwendbarkeit des Populismus-Begriffs auf den Front National In diesem Zusammenhang stellt sich die prinzipielle Frage nach der Anwendbarkeit der Kategorie des „Populismus“ auf jene Kraft, die sich seit 1984 fest auf dem Rechtsaußenflügel der französischen Parteienlandschaft verankert hat. Dabei wirkt problematisch, dass dieser Begriff vor allem auf die Methoden und Diskursstrategien bestimmter Parteien abstellt, wodurch letztere aber nur auf eine oberflächliche, äußerliche Art und Weise definiert werden können. Herausgestrichen wird regelmäßig die Fähigkeit von Populisten, bestehende Unzufriedenheitspotenziale in der Gesellschaft (oft in demagogischer Weise) aufzugreifen, gegen die „politische Klasse“ in ihrer traditionellen Form zu bündeln und damit „uns da unten“ anzusprechen. Dabei handelt es sich aber im Kern lediglich um ein Instrument im politischen Kampf, nicht um ein Wesensmerkmal. Als zentrales Wesensmerkmal des Front National kann und muss vor allem die Fähigkeit gelten, auf chamäleonartige Weise unterschiedliche gesellschaftliche Programmpunkte zu vertreten, welche die Partei sich in Abhängigkeit vom jeweiligen Publikum zu eigen macht. Denn vor allem das Sozial- und Wirtschaftsprogramm des FN ist von widersprüchlichen Elementen, ja mitunter voneinander wechselseitig sich ausschließenden Logiken geprägt. Ultraliberale Elemente – beispielsweise die Forderung nach radikalen Steuersenkungen (besonders aber nach Abschaffung der zum Einkommen proportional gestaffelten Besteuerung) und nach einer Abschaffung der Besteuerung von Großvermögen – finden sich neben Versprechungen wieder, die in das Reich der sozialen Demagogie gehören. Etwa das Versprechen nach Anhebung der unteren Löhne, das durch die Ausweisung von Arbeitsimmigranten bzw. die Erhebung einer Sondersteuer auf „die Beschäftigung von Ausländern“ realisiert werden soll. Aber auch durch die Abschaffung von Sozialbeiträgen für die Kranken- oder Rentenversicherung, die stattdessen als Lohnbestandteil ausgezahlt werden sollen (womit aber das Krankheits-, Unfall- oder Altersrisiko auf die einzelnen Lohnabhängigen abgewälzt würde). Diese Konzeption kann nicht ohne jenen Kerngedanken verstanden werden, der in FN-Programm und -diskurs im Ausdruck préférence nationale zusammengefasst wird (seit Antritt der jetzigen Parteichefin Marine Le Pen im Jahr 2011 mitunter auch umgetauft in priorité nationale oder „Inländervorrang“). Dieser Begriff steht im Mitteldie internationale 1/2017 17 DOSSIER RECHTSPOPULISMUS punkt der Logik, die der gesamten Programmatik des FN zugrunde liegt. Der Wortschöpfer Jean-Yves Le Gallou, der den Begriff 1985 einführte1, sollte einige Jahre später erklären: „Die préférence nationale ist der Atomkern unseres Programms“, was genau bedeutet, dass alles Andere darum herumkreist2 . Deswegen sollte man in einer Analyse des Front National nicht so sehr darauf abstellen, was die Partei ihren Anhängern und Wählerinnen sowie Wählern „positiv“ verspricht. Denn in ihrer Logik steht vielmehr das „negative“ Element im Vordergrund: Wichtig ist, wem das Versprochene zuvor weggenommen werden soll! Alle Maßnahmen stehen nämlich unter dem Realisierungsvorbehalt, dass den „Eigenen“ gegeben werden soll, was den Anderen oder Fremden vorher weggenommen wird. Das Sozialprogramm ebenso wie die wirtschaftlichen Vorstellungen des FN sind daran aufgehängt, dass die beiden Hauptbedrohungen, „die Immigration“ und „die Globalisierung“, bekämpft werden sollen. Durch die Wiederaufrichtung (vermeintlich) undurchlässiger Grenzen, ökonomischen Protektionismus und, vor allem, die Reservierung von Sozialleistungen und Arbeitsplätzen für gebürtige Franzosen sollen nationales Kapital und nationale Arbeit gleichermaßen ihr Auskommen finden. Das ist natürlich eine Illusion, aber auf der Idee einer gegen äußere Feinde kämpfenden, „natürlichen“ Schicksalsgemeinschaft aufgebaut. Insofern ist die Charakterisierung des FN-Diskurses als rassistisch (und, eher im realen Diskurs denn im verschriftlichten Programm, oftmals auch als antisemitisch) mindestens ebenso zutreffend und von höherer Bedeutung als das Element des nach allen Seiten hin Versprechungen verheißenden Populismus. Auch noch in anderer Hinsicht versagt die PopulismusDefinition, geht es darum, den Front National oder das Verhalten seiner „Chefs“ zu beschreiben. Denn im Hinblick auf aktuelle politische und gesellschaftliche Ereignisse positioniert der FN sich zwar oftmals in „populistischer“ Weise, d. h. so, dass er möglichst einen verbreiteten Unmut mit (tatsächlichen oder vermeintlichen) Missständen und Ungerechtigkeiten aufgreifen und auf seine Mühlen lenken kann. Diese Maxime trifft aber keineswegs beständig zu, d. h. die Suche nach möglichst taktisch geschickter und Zuspruch verheißender Positionierung charakterisiert die Politik dieser Partei keineswegs immer. Als Beispiel seien die Positionen des damaligen Parteichefs Jean-Marie Le Pen während der beiden Kriege der USA und ihrer Verbündeten gegen den Irak, im JanuarFebruar 1991 und im März-April 2003, herangezogen. Bei beide Mal ergriff Jan-Marie Le Pen offensiv Partei für 18 die internationale 1/2017 den damaligen irakischen Präsidenten, Saddam Hussein. Zumindest während des Konflikts Anfang 1991, an dem Frankreich auch militärisch teilnahm, war diese Position aber im Publikum allgemein, aber auch in der eigenen Wählerschaft des FN im Besonderen, durchaus nicht populär. Im zweiten Golfkrieg von 1991 unterstützte eine Mehrheit von rund 70 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen, jedenfalls nach Beginn der kriegerischen Handlungen, die militärischen Operationen. Angesichts der Beteiligung ihres eigenen Landes schlossen sie mehrheitlich, nachdem die Kampfhandlungen einmal ausgebrochen waren, die Reihen hinter dem damaligen Präsidenten François Mitterrand. Und selbst unter den Wählern und Wählerinnen von Jean-Marie Le Pen meinten laut einer Umfrage nur 48 Prozent, die aktuellen Positionen des FN-Politikers nutzten „dem nationalen Interesse“. Etwas verändert lagen die Dinge im dritten Golfkrieg von 2003: Dieses Mal lehnte eine Drei-Viertel-Mehrheit der französischen Bevölkerung den erneuten Einsatz militärischer Gewalt gegen den Golfstaat ab, und Frankreich war nicht an den militärischen Handlungen im Mittleren Osten beteiligt. Doch auch die Positionen Le Pens, der (anders als die anderen politischen Kräfte in Frankreich, die zum überwiegenden Teil ebenfalls das kriegerische Projekt der US-Administration ablehnten) explizit die irakische Diktatur unterstützt hatte, blieben unpopulär. Und das vor allem in den Reihen seines eigenen Publikums. Denn die FN-Wählerschaft unterstützte mehrheitlich den Krieg George W. Bushs, deutlich stärker als andere Teile des französischen Publikums. Sei es, dass gerade diese Wählerschaft eine prinzipielle Nähe zur Faszination gegenüber militärischer Gewalt aufweist, oder sei es, dass ihr anti-arabischer Rassismus dabei eine erhebliche Rolle spielte. Nach Kriegsausbruch im März 2003 stieg der Anteil der Befürworter unter den FN-SmpathisantInnen und WählerInnn auf 53 Prozent, während generell in Frankreich die Ablehnung dominierte und Werte um die 80 Prozent erreichte. Insofern lässt sich festhalten, dass Populismus (vor allem in dem banalen Sinne, den die Alltagssprache ihm verleiht, im Sinne von : „dem Volk nach dem Munde reden)“ den Front National jedenfalls nicht hinreichend charakterisiert. Faschistisch? Nun ist die Frage aufzuwerfen, ob eine andere Bezeichnung die Partei der extremen Rechten treffender beschreibt. Insbesondere wäre die Frage aufzuwerfen, ob der Begriff des Faschismus oder Neofaschismus sich auf eine Partei wie den DOSSIER RECHTSPOPULISMUS FN anwenden lässt. Das setzt zunächst einmal voraus, dass der Begriff nicht (wie mitunter im politischen Schlagabtausch üblich) als bloße Schimpfvokabel ohne analytischen Hintergrund benutzt wird, unter die sich alle erdenklichen politischen Phänomene fassen lassen. Das besondere Charaktermerkmal des historischen Faschismus respektive seiner Vorläuferbewegungen war es, Elemente aus der bisherigen politischen Linken und den Bewegungen sozialen Fortschritts herausgebrochen und für eine (in ihrem Kern autoritäre, hierarchische und insofern reaktionäre) Gegenbewegung erfolgreich eingebaut zu haben. Von der Form her modern, konnte diese auf soziale Massenbewegung und -mobilisierung setzen, zugleich aber antidemokratische Parteiformen oder Regime errichten. Diese Janusköpfigkeit erlaubte es ihnen, gleichzeitig als Kampfpartei und als Partei der Ordnung, als Schützer der Besitzenden und Rächer der Verarmten aufzutreten und so ein Bündnis von Anhängern aus unterschiedlichen, ja eigentlich einander feindlich gegenüberstehenden Klassen zu schweißen. Wichtige Merkmale, die es erlauben würden, mit einiger Berechtigung von (Neo- oder modernisiertem) Faschismus zu sprechen, fehlen dem FN derzeit. Dennoch sind sie im Kern, sozusagen in der Keimzelle, angelegt. Zwar versuchte die Organisation in den 1990er Jahren, sich verstärkt im gesellschaftlichen Leben als eine Art „sozialer Bewegung“ zu verankern und nicht nur an Wahltagen auf dem Stimmzettel präsent zu sein, etwa mit der Gründung eigener „Gewerkschaften“. Solche Ableger des FN entstanden erstmals 1995, doch ein Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofs (Kassationshofs) im April 1998 verbot ihnen, sich selbst als Gewerkschaften zu bezeichnen. Die Partei bemühte sich um außerinstitutionelle Aktivitäten, mit deren Hilfe die soziale Unzufriedenheit kanalisiert und mobilisiert werden könnte. Insofern konnte man sie als wirkliche Keimzelle einer faschistischen Bewegung bezeichnen, auch wenn gerade der „Bewegungs“charakter (angesichts der vergleichsweise geringen Mitgliederzahlen in den rechtsextremen Pseudo-Gewerkschaften oder Arbeitslosenfronten, verglichen mit „echten“ sozialen Organisationen) noch keineswegs ausgereift war. An eine Kontrolle der Straße, oder der Betriebe, durch eine rechte und autoritäre Massenbewegung, die es erlauben würde, von „marschierendem Faschismus“ zu sprechen, war damals wie heute jedoch nicht zu denken. Aber die Zustimmung auf der Ebene von Wahlen, gekoppelt an diese ersten Ansätze einer Bewegung außerhalb bürgerlicher Institutionen, hatte erstmals in den 1990er Jahren ein bedenkliches Niveau erreicht. Bislang dominiert allerdings die Ausrichtung auf Wahlen und auf Stimmerfolge die Strategie des FN, auch im Hinblick auf die 2017 anstehenden Wahlen in Frankreich. Aktuelle Situation Bis kurz vor dem Jahresende 2016 sah es zunächst scheinbar eindeutig so aus, als werde die konservativ-wirtschaftsliberale Rechte in Frankreich wohl die kommende Präsidentschaftswahl am 23. April und 07. Mai 2017 gewinnen – und der rechtsextreme Front National (FN) werde zugleich ins Hintertreffen geraten, da er seiner Wahlchancen durch die neu aufstrebende bürgerliche Rechte beraubt werde. Die Teilnahme von rund 4,3 Millionen Personen an den Vorwahlen im bürgerlich-konservativen Lager vom 20. und 27. November 2016 sorgte dafür, dass deren wichtigste Partei, Les Républicains (LR), ihre Basis in hohem Maße mobilisieren konnte. In den Umfragen schnellten die Beliebtheitswerte des am 27. November auf diese Weise designierten konservativen Präsidentschaftskandidaten, Ex-Premierminister François Fillon, daraufhin nach oben. Doch nun erscheint dessen so sicher geglaubte Erfolgsgrundlage zum Jahreswechsel 2016/17 doch fragiler und instabiler, als es zunächst den Anschein hatte. Einer Umfrage, deren Ergebnisse am 18. Dezember 2016 in der Sonntagszeitung Journal du Dimanche (JDD) publiziert wurden, zufolge „wünschen“ demnach nur 28 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen einen Sieg François Fillons. Ihm waren zuvor durch Umfrageinstitute in der „Sonntagsumfrage“ regelmäßig rund 35 Prozent der Stimmen prognostiziert worden. Doch würden ihn nur 28 Prozent der stimmberechtigten Bevölkerung wählen, läge er damit auf gleicher Höhe mit dem Stimmenanteil, den dieselben Institute der FN-Chefin Marine Le Pen vorhersagen. Allerdings nutzt der Rückgang der Beliebtheitswerte François Fillons keineswegs nur Marine Le Pen. Vielmehr erhält dadurch auch ein weiterer Konkurrent Auftrieb wie der parteilose frühere Wirtschaftsminister François Hollandes, Emmanuel Macron, welcher mit einem Profil als ehemals erfolgreicher Geschäftsbanker und „idealer Schwiegersohn“, doch ohne gefestigte Organisation, in den (Vor-)Wahlkampf zieht. Was unter anderem der rechtsextremen Politikerin Marine Le Pen – doch nicht nur ihr – nutzt und dem konservativen Bewerber schadet, sind die wirtschaftspolitischen Positionierungen des konservativen Spitzenmanns und die Debatte darum. In dieser Auseinandersetzung ist es die internationale 1/2017 19 DOSSIER RECHTSPOPULISMUS Marine Le Pen gelungen, sich mit einigen Positionierungen öffentlich zu profilieren, die von Seiten des FN (trotz einer seit den frühen 1990er Jahren dick aufgetragenen sozialen Demagogie) eher ungewohnt erscheinen. Dazu zählt insbesondere der durchschaubare, doch jedenfalls im Hinblick auf die Aufmerksamkeit der Medien erfolgreiche Versuch, sich zum Verteidiger des Widerstandserbes in Frankreich aufzuschwingen. Fillon tat sich unter anderem dadurch hervor, dass er die Bilanz der vormaligen britischen Regierungschefin Margaret Thatcher zu seinem Vorbild erklärte (was in Frankreich jedenfalls bislang ausgesprochen unpopulär war) und in seinem Vorwahlprogramm eine faktische Privatisierung der Krankenversicherung propagierte. Die gesetzliche Krankenversicherung oder Sécurité sociale, tönte Fillon, solle künftig ausschließlich auf die Feststellung von Krankheiten sowie die Therapie von Langzeiterkrankungen wie Krebs oder Alzheimer beschränkt werden. Den Rest sollten private Krankenversicherungen übernehmen. Bislang verfügen fünf Millionen abhängig Beschäftigte in Frankreich über keine private Zusatzversicherung, überwiegend aus finanziellen Gründen, und Experten errechneten, ihre Kosten würden sich bei einer Anwendung von Fillons Programm verdoppeln. Fillons Sieg in der zweiten Runde der Vorwahl – der Stichwahl vom 27. November 2016– ließ die Bedenken diesbezüglich in der Öffentlichkeit laut werden. Doch François Fillon wartete danach noch geschlagene drei Wochen, zur Verzweiflung mancher seiner Berater, bis er dann doch noch verbal ein bisschen zurückruderte. Am 14. Dezember 2016 absolvierte Fillon einen Besuch in einem Krankenhaus – der Klinik Marie-Lannelongue im südlich von Paris gelegenen Vorort Plessis-Robinson – und nutzte diesen Anlass, um zu erklären, nein, es stimme nicht, er wolle die Krankenversicherung gar nicht privatisieren (oder zerschlagen). Allerdings dementierte er mit keinem Wort, er wolle Einsparungen bei der gesetzlichen Krankenversicherung vornehmen. Doch die Sécurité sociale in Frankeich, die 1945 geschaffen wurde, ist ein direktes Ergebnis des berühmten „Programms des Conseil national de la résistance (CNR)“, des Nationalen Widerstandsrats, in dem unter anderem Gaullisten und Kommunisten im Kampf gegen die Besatzung durch Nazideutschland zusammengefasst waren und der Grundlinien für die künftige Gesellschaft nach der Befreiung entworfen hatte. Marine Le Pen ließ die Gelegenheit nicht verstreichen, ihrerseits die Französinnen und Franzosen dazu aufzuru20 die internationale 1/2017 fen, das Erbe des Conseil national de la résistance zu verteidigen. Auch wenn die Ursprünge ihrer Partei in Wirklichkeit weit eher in der Kollaboration mit Nazideutschland als bei der Résistance liegen. So zählten ehemalige Kollaborateure zu den Führungsmitgliedern des FN in den ersten Jahren nach seiner Gründung (1972). Ein gewisser Pierre Gérard, Generalsekretär der Partei in den Jahren 1980/81, war etwa unter der Besatzung „stellvertretender Direktor für wirtschaftliche Arisierung“ des Vichy-Regimes und Mitarbeiter von dessen „Generalkommissar für Judenfragen“, Louis Darquier de Pellepoix. Parallel dazu behauptete Marine Le Pen am 11. Dezember 2016 in einer Fernsehsendung, François Fillon verteidige private Sonderinteressen, etwa die von Versicherungskonzernen – sein führender Berater Henri de Castries leitete früher den Versicherer AXA –, sie selbst dagegen sei „die Verteidigerin des Allgemeininteresses, des nationalen Interesses, des übergeordneten Interesses“. Kritik an Fillons wirtschaftspolitischen Plänen kam natürlich auch von anderer und insbesondere von linker Seite, aber Marine Le Pen schaffte es so aussehen zu lassen, als schreie sie als eine der Ersten und am lautesten. Dies sollte niemanden vergessen lassen, dass ihre Partei selbst in den 1980er Jahren lauthals die Zerschlagung der gesetzlichen Sozialversicherung propagierte. Diese Position hat sie heute verworfen, allerdings zählt der Kampf gegen einen angeblichen „massiven Sozialbetrug“ zur Programmatik Marine Le Pens. Auch ihre eigene Partei kam jedoch zugleich in die Kritik, und die öffentliche Meinung wurde dabei an den fundamentalen Rassismus ihrer Partei erinnert. Ein FN ohne den gegen Einwanderer gerichteten Rassismus, der den Kern seiner „Geschäftsgrundlage“ und ein konstitutives Element bildet, wäre tatsächlich nicht vorstellbar. Am 08. Dezember 2016 schlug Marine Le Pen, die an dem Tag als Präsidentschaftskandidatin beim Meinungsforschungsinstitut BVA angehört wurde und Fragen beantwortete, einen Ausschluss „ausländischer Kinder“ vom kostenlosen und obligatorischen Schulbesuch im öffentlichen Bildungswesen vor. „Ich habe nichts gegen Ausländer“, führte die FN-Chefin dabei aus – ihr Satz fing tatsächlich wie eine x-beliebige Satire an –, aber, so fügte sie hinzu, „aber ich sage zu ihnen: Wenn Ihr in unser Land kommt, dann erwartet nicht, dass Ihr versorgt werdet, dass Ihr ärztlich behandelt oder dass Eure Kinder kostenlos unterrichtet werden, damit ist jetzt Schluss, die Schönwetterperiode ist zu Ende.“ Die entscheidende Trennlinien zwischen François Fillon und Marine Le Pen, die am 23. April 2017wohl alle DOSSIER RECHTSPOPULISMUS beide unter den zwei, jedenfalls unter den drei bestplatzierten Präsidentschaftsbewerbern liegen dürften, verläuft derzeit auf dem Gebiet der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Auf anderen Feldern dagegen ist der konservativ-wirtschaftsliberale Bürgerblock rund um die Partei Les Républicains (LR) selbst weit nach rechts gerückt und macht so dem FN ideologisches Terrain streitig. Das gilt etwa für den Kampf gegen Abtreibung, da Fillon selbst als deren Gegner in Erscheinung trat, und ähnlich beim Thema Homosexuellen-Ehe. Zugleich tobt derzeit innerhalb des FN selbst derzeit ein heftiger Kampf um die Linie beim Thema Schwangerschaftsabbrüche. Dabei stehen sich als Antagonisten die katholisch-reaktionäre junge Abgeordnete Marion Maréchal-Le Pen einerseits und der eher „nationalrepublikanisch“ auftretende Vizechef der Partei, Florian Philippot, andererseits gegenüber. Nachdem Philippot am 07. Dezember 2016 äußerte, Maréchal-Le Pen stehe mit ihrer scharfen Anti-Abtreibungs-Position angeblich „allein und isoliert“ da, entbrannte eine heftige Debatte, und viele Parteimitglieder oder –funktionäre riefen in den sozialen Netzwerken zur Solidarität mit der 27jährigen auf. Im Kontext der aus Sicht des FN nach wie vor weitestgehend ungeklärten Bündnisfrage werden sich diese Fragen nach strategischer Orientierung auch weiterhin stellen. Anmerkung der Redaktion: Die Langfassung dieses Artikels findet ihr auf unserer Website: www.intersoz.org 1 mit seinem Buchtitel La préférence nationale: réponse à l’immigration (Die nationale Bevorzugung: Antwort auf die Einwanderung). Jean-Yves Le Gallou war damals einer der Köpfe des rechsintellektuellen und elitären Club de l’Horloge und Führungsmitglied einer der Komponenten im christdemokratisch-liberalen Parteienbündnis UDF, das inzwischen auf die derzeit bestehenden Parteien UDI und Modem aufgesplittet ist. Im Herbst 1985 trat Le Gallou zum Front National über. Ihn verließ er im Zuge der Abspaltung unter Bruno Mégret, zum Jahreswechsel 1998/99; in der Folgezeit wurde Le Gallou zur „Nummer Zwei“ in der bis 2008 von Mégret angeführten neuen Partei, dem MNR (Mouvement National Républicain. Die anhaltende Erfolglosigkeit des Spaltprodukts MNR veranlasste ihn drei Jahre später, alle innerparteilichen Ämter niederzulegen. Seit einigen Jahren ist Le Gallou nunmehr Vorsitzender einer Stiftung unter dem Namen Polemia, die sich die ideenmäßige Erneuerung im Rechtsaußenspektrum zum Ziel gesetzt hat. 2 Interview in der damaligen, bis 2008 bestehenden ParteiWochenzeitung National Hebdo (NH) vom 10. April 1997 aus Anlass des 10. Parteitags des FN in Strasbourg. HINTER DEM ERFOLG DER DÄNISCHEN VOLKSPARTEI Die Dansk Folkeparti (DF – Dänische Volkspartei) erhielt bei den letzten Wahlen zum dänischen Parlament im Juni 2015 mit 21,1% der Stimmen das beste Ergebnis ihrer Geschichte. So wurde sie zweitgrößte, in mehreren Regionen sogar die stärkste Partei in Dänemark, nur übertroffen von den Sozialdemokraten. Åge Skovrind Nach der Wahl gab es die ungewöhnliche Situation, dass die Sozialdemokraten keine Regierung bilden konnten und die DF es nicht wollte. Daher endete es damit, dass die Wahlverliererin, die rechtsliberale Venstre, eine Minderheitsregierung mit Lars Løkke Rasmussen als Premierminister bildete. Die Venstre erhielt nur 19,5 % gegenüber 26,7 % bei der letzten Wahl. Die DF unterstützt die Regierung, will sich aber nicht an ihr beteiligen, weil man glaubt, von außen größeren Einfluss zu haben. So war es auch 2001-2011, als sie die Wirtschaftspolitik der bürgerlichen Regierung unterstützte und gleichzeitig Zugeständnisse insbesondere auf dem Gebiet der Ausländerpolitik bekam. In dieser Zeit hatte sie Wahlergebnisse von 12–14 %. Damals stand es nie zur Diskussion, dass sie Teil der Regierung werden könnte. Dies sowohl, weil die „alten“ Parteien die DF schon immer als Partei außerhalb des „Establishments“ betrachtet haben, auf die man sich nicht verlassen könne, als auch, weil die Partei selbst gar nicht sonderlich interessiert war. Aber mit dem Stimmenzuwachs 2015 stieg der Druck, sich an einer Regierung zu beteiligen und „Verantwortung zu übernehmen“. Insbesondere die Venstre befürchtete, dass es schwer werden könnte, die Wählerinnen und Wähler zurückzugewinnen, wenn es der DF weiter erlaubt würde, ihre unabhängige Rolle zu spielen. Warum hat die Dansk Folkeparti hinzugewonnen? Was kann den großen Erfolg der DF erklären? Viele haben dies gefragt, insbesondere nach der Wahl 2015. Und selbstdie internationale 1/2017 21 DOSSIER RECHTSPOPULISMUS verständlich gibt es mehr als nur eine Erklärung. Eine von ihnen, und wahrscheinlich die wichtigste, ist die Ausländerpolitik der Partei. Stopp oder Begrenzung der Aufnahme von Flüchtlingen, mehr Abschiebungen, niedrigere Standards für Asylsuchende und Flüchtlinge, weniger Möglichkeiten der Familienzusammenführung, Widerstand gegen multikulturelle Aktivitäten und Förderung „dänischer“ Werte – all dies beschäftigt die DF mehr als alles andere. Jede Gelegenheit, um Hass und schüren und eine ausländerfeindliche Stimmung anzuheizen, wird demagogisch ausgenutzt. Die Fremdenfeindlichkeit richtet sich in erster Linie gegen Muslime, aber in den letzten Jahren auch gegen EU-Bürger, beispielsweise aus Rumänien und Polen, die nach Dänemark kommen. Als Preis für ihre Tolerierung der bürgerlichen Regierung von 2001 bis 2011 und jetzt wieder seit 2015 hat die DF immer wieder Verschärfungen der Ausländerpolitik durchgesetzt. Alleine zwischen 2001 und 2010 wurden 14 wesentliche Änderungen beschlossen, jedes Mal mit weiteren Auflagen für Ausländerinnen und Ausländer. Dabei ist es ein zentraler Punkt, dass es sich nicht nur um Zugeständnisse an die DF handelt, sondern dass auch alle anderen Parteien (außer der linken Enhedslisten) begonnen haben, ihre ausländerfeindliche Haltung zu kopieren. Dies gilt nicht zuletzt auch für die Sozialdemokratie, die weitgehend die DF-Ausländerpolitik übernommen hat, in der Hoffnung, so Wählerinnen und Wähler zurückgewinnen zu können. Bei der Wahl 2015 stellte die sozialdemokratische Partei gigantische Plakate auf mit der Forderung „Schärfere Asylregeln – mehr Auflagen für Einwanderer“, und der neue Slogan der Partei war „Das Dänemark, das du kennst“ – eine fast identische Kopie der DF-Parole der „Gebt uns unser Dänemark zurück“. Auch wenn die jüngsten Stimmengewinne der DF aus allen Gesellschaftsschichten stammen, zeigen Studien doch, dass sie relativ viele Wählerinnen und Wähler unter Älteren (vor allem Männer) mit kurzer Ausbildung und bescheidenem Einkommen hat. Es besteht kein Zweifel, dass die Partei viele Stimmen von Leuten bekommt, die Angst vor (mehr) Zuwanderung haben. Einige von ihnen sind von Arbeitslosigkeit oder Sozialabbau betroffen oder verstehen nicht, warum die Gesellschaft so viel Geld für Ausländerinnen und Ausländer einsetzt, wo sie es nicht schafft, Älteren und Kranken zu helfen. Viele Lohnabhängige sind der Meinung, dass Ausländerinnen und Ausländer ihnen „ihre“ Arbeit wegnehmen und die Löhne drücken. Wenn man die vielen Flüchtlinge als Hauptgrund dafür ansieht, dass es einem selbst schlecht geht, ist die Entscheidung für die DF nahelie22 die internationale 1/2017 gend, vor allem zu einem Zeitpunkt, wo außerordentlich viele Asylbewerber nach Dänemark kommen. Die DF gewinnt auch viele Stimmen durch ihre kritische Haltung gegenüber der EU, die eng mit dem Widerstand gegen Ausländerinnen und Ausländer, der Verteidigung der dänischen Souveränität und einer Romantisierung der „dänischen Werte“ verknüpft wird. Es hat in der dänischen Bevölkerung schon immer eine große EU-Skepsis gegeben, anfangs vor allem auf der Linken, jetzt verbreitet. Eine Mehrheit stimmte 2015 gegen die Beteiligung an der EU-Zusammenarbeit im Bereich der Justiz (1993 wurde Dänemark hier sowie beim Euro und der Verteidigungspolitik eine Ausnahme zugestanden) und 2010 stimmte eine Mehrheit gegen die Beteiligung am Euro. Auf der Rechten war die DF die einzige Partei, die der EU-Skepsis der bürgerlichen Wählerschaft einen Ausdruck gegeben hat. Sie tritt nicht für einen dänischen Austritt ein, ist aber dagegen, dass die EU mehr und mehr auf Kosten des dänischen Parlaments bestimmt; insbesondere ist sie gegen die Schengen-Zusammenarbeit. Bei den Wahlen zum EUParlament im Juni 2014 wurde sie mit 26,6% stärkste Partei und erhielt 4 der 13 Mandate. Ein soziales Profil Aber selbst, wenn die Diskussion über Flüchtlinge und die EU eine größere Rolle spielte als zuvor, gibt es mindestens noch zwei weitere Faktoren, die sehr wichtig sind. Bei dem einen geht es um das soziale Profil der DF. Der zweite ist, dass Stimmen für sie auch Stimmen gegen die beiden großen Parteien und ihre Führer sind. Es gelang ihr, als die „Partei des kleinen Mannes“ gesehen zu werden, die sich um die Schwachen in der Gesellschaft kümmert, die Zugang zu einem funktionierenden Gesundheitswesen haben sollen. Insbesondere betont sie immer wieder, dass ältere Menschen in der Gesellschaft (die Dänemark ihr ganzes Leben gedient haben) Anspruch auf eine gute Rente und gute Betreuung haben. Ein wichtiges Thema im jüngsten Wahlkampf waren Probleme in Randgebieten Dänemarks ohne Wachstum und Wohlstand, wo die Dörfer sterben und es kaum Möglichkeiten für Bildung und Arbeit gibt. Genau hier hatte die DF ihre größten Erfolge, weil die Menschen das Gefühl haben, dass die alten Parteien versagt haben. Viele der Programmpunkte, die traditionell sozialdemokratische waren, sind von der DF übernommen worden, und viele der DF-Wählerinnen und -Wähler haben früher sozialdemokratisch gewählt. Der Großteil der DF-Sozialpolitik ist Heuchelei und leeres Gerede, da die Partei unzählige Male für Sozialab- DOSSIER RECHTSPOPULISMUS baumaßnahmen gestimmt hat. Unter anderem hat sie die Anhebung des Ruhestandsalters, die Einschnitte bei der Sozialhilfe und die Verkürzung des Arbeitslosengelds von vier auf zwei Jahre mitgetragen und Wirtschaftsabkommen zugestimmt, die Kommunen zu großen Einsparungen zwingen. Aber es gibt auch Fälle, in denen sie tatsächlich zusammen mit der Linken gestimmt hat, zum Beispiel beim Nein zum Verkauf der staatlichen Ölgesellschaft DONG, die die sozialdemokratische Regierung 2013 beschlossen hatte. 2015 trat die DF zur Wahl an mit der Forderung nach einem Wachstum des öffentlichen Haushalts um 0,8 Prozent, mehr als Venstre und Sozialdemokratie, und einem Nein zu Steuersenkungen für die Reichsten. Sie versucht sich als eine sozial verantwortliche Partei darzustellen und nutzt geschickt einzelne Punkte aus, in denen die Sozialdemokraten ihre Wähler verraten haben. Wenn die Sozialdemokratie dann noch weitgehend ihre Ausländerpolitik übernimmt, so ist der Unterschied zwischen den beiden Parteien kaum noch zu erkennen. Die Linke und die Dansk Folkeparti Die Linke hat die fremdenfeindliche Politik der DF immer angeprangert, aber manchmal die Sorgen unterschätzt, die Menschen dazu bringen, diese Partei zu wählen. Wir haben es nicht geschafft, Solidarität mit Flüchtlingen und anderen Ausländerinnen und Ausländern unter Arbeiterinnen und Arbeitern und den schwächsten Gruppen der Gesellschaft zu schaffen und eine gemeinsame Front gegen die Oberklasse aufzubauen. Das ist immer noch eine große und drängende Aufgabe. Aber die Linke muss die DF auch infrage stellen, wenn sie sagt, sie würde „den kleinen Mann“ verteidigen. Ihre Wahlerfolge beruhen darauf, dass sie versprochen hat, die Sozialleistungen für die einfachen Menschen zu sichern. Im Parlament bringt die Enhedslisten daher konkrete Vorschläge ein, mit denen getestet werden kann, ob die DF es ernst meint mit dem, was sie sagt. In der Regel kann man ihre Heuchelei zeigen, wenn sie gegen einen solchen Vorschlag stimmt. Und wenn sie dafür stimmt und wir einen Antrag durchbringen, haben wir ja eine reale Verbesserung erreicht. Anscheinend meint Tobias Alm im Artikel „Right Wing Populism and the Danish People´s Party“1, dass die Linke damit die DF legitimiere und ihr helfe, wenn man mit ihr Absprachen trifft oder Verbesserungen durchsetzt. Damit bin ich nicht einverstanden. Eine umfassende Vereinbarung über bessere Bahnverbindungen, die die sozialdemokratische Regierung mit der DF und der Enhedslisten 2013 einging, war Alm zufolge ein entscheidender Fehler. Aber es fällt schwer zu glauben, dass es die DF irgendwie geschwächt hätte, wenn die Enhedslisten sich ferngehalten und damit diese Vereinbarung verhindert hätte. In der gegenwärtigen Situation ist im Gegenteil offensichtlich, dass sie Probleme bekommen kann, für eine glaubwürdige „Wohlfahrtspolitik“ zu stehen, wenn sie gleichzeitig eine Regierung stützt, die öffentliche Ausgaben kürzen und den Reichsten Steuererleichterungen geben will. Die Linke hat die wichtige Aufgabe, diesen latenten Widerspruch auszunutzen. Stimmen „für“ und Stimmen „gegen“ Die jüngsten Gewinne der DF sind nicht nur Stimmen für diese Partei, sondern müssen auch mit der großen Enttäuschung über die beiden großen Parteien Venstre und Sozialdemokratie und ihre Führungen erklärt werden. Unter bürgerlichen Wählerinnen und Wählern genießt der Chef der Venstre, der jetzige Premierminister Rasmussen, keine große Beliebtheit. Der letzte große Zuwachs für die DF kam vor allem von der Venstre. Hingegen gelang es ihr – bis vor kurzem –, größere Skandale zu vermeiden und mit sauberer und fehlerfreier Fassade dazustehen. Seit Gründung der Partei 1995 bis 2012 war Pia Kjærsgaard die unbestrittene Vorsitzende. In Gegensatz zu den meisten anderen Politikern hat sie keine höhere Bildung und war geschickt, die Probleme der einfachen Menschen in einer verständlichen Sprache zu formulieren. Ihr Nachfolger, Kristian Thulesen Dahl, wird auch als anständiger und ehrlicher Mann gesehen. Verschiedene DF-Politiker sind in den letzten Jahren durch schreckliche rassistische Äußerungen aufgefallen, aber eine tüchtige, medienbewusste und zentralistische Führung hat mit harter Hand größere Skandale vermieden. Menschen mit Verbindungen zu gewalttätigen - bzw. ganzoder halbfaschistischen Organisationen - werden (wenig überraschend) von der Politik der Partei angezogen (und inspiriert), wurden aber bislang konsequent ausgeschlossen, wenn sie als Mitglieder der Partei bekannt wurden. Historisch gesehen ist die DF eine Protestpartei, die als Opposition zum System entstanden ist. Ihre Wurzeln gehen auf die Fremskridtspartiet (Fortschrittspartei) zurück, die 1973 mit 15,9 Prozent Stimmenanteil das Parlament stürmte, in erster Linie als Protestpartei gegen hohe Steuern. Als die Partei in interne Auseinandersetzungen versank, trennte sich eine Gruppe und gründete 1995 die DF. Seitdem waren Proteste gegen „die Fremden“, gegen die EU und gegen Angriffe auf „das Dänische“ Kennzeichen der Partei. Die Partei ist und war nie Teil des „Estadie internationale 1/2017 23 DOSSIER RECHTSPOPULISMUS blishments“. Aber allmählich gehört sie mit mehr als 20% der Stimmen doch mehr und mehr zum Mainstream. Pia Kjærsgaard ist heute Vorsitzende des Parlamentspräsidiums – nur die Enhedslisten stimmte dagegen. Die größte Krise Aktuell wird die Partei durch eine neue ultraliberalistische Partei herausgefordert, die Nye Borgerlige (Neue Bürgerliche), die bei der nächsten Wahl kandidieren will und nach Meinungsumfragen die Sperrgrenze von 2 Prozent überspringen könnte. Die neue Partei will den Austritt Dänemarks aus der EU, einen totalen Asylstopp, drastische Steuersenkungen, Privatisierungen und Einsparungen bei den öffentlichen Haushalten. Aber im Herbst 2016 bekam die DF ein zweites und größeres Problem, das sie selbst die größte Krise in der Geschichte der Partei nennt. Es wurde aufgedeckt, dass sie unberechtigt EU-Zuschüsse bekommen und bei den Abrechnungen manipuliert hat. Die Gelder, die sie für EU-Informationsarbeit erhalten hat, wurden stattdessen für normale Kampagnenaktivitäten der Partei verwendet. Hauptperson in dem Skandal ist MEP Morten Messerschmidt, der bisher als die junge und intelligente Zukunftshoffnung der Partei betrachtet worden war. Bei den EU-Wahlen 2014 erhielt er 465 758 persönliche Stimmen – die höchste Zahl in der Geschichte Dänemarks. Messerschmidt wurde sofort aus der Führungsspitze entfernt, aber die Partei ging seitdem in Meinungsumfragen deutlich zurück. Am 18. Dezember 2016 stand sie „nur“ noch bei durchschnittlich 16,6%. Trotz der aktuellen Krise hat die DF noch einen hohen Stimmenanteil und wird ihren Einfluss nutzen, um Fremdenfeindlichkeit zu schüren. Die Linke muss eine Taktik anwenden, die von einer solidarischen internationalistischen Haltung ausgeht und die ausländerfeindliche Politik der Partei angreift, sie aber gleichzeitig bei ihren Versprechungen für mehr Sozialleistungen für die einfachen Menschen herausfordert. Åge Skovrind ist Mitglied der (rot-grünen) Enhedslisten und Redakteur der Socialistisk Information, die von der SAP, der dänischen Sektion der Vierten Internatinale herausgegeben wird. Übers.: Björn Mertens 1 Siehe das Buch ”The Far Right in Europe”, IIRE/Resistance Book: http://www.iire.org/component/jshopping/product/view/1/68.html 24 die internationale 1/2017 AfD – SCHILLERNDES SALZ IN DER WUNDE DER „ETABLIERTEN“ Es genügt, das Grundsatzprogramm der AfD anzuschauen, um zu sehen, welche Positionen diese Partei vertritt. Man gewinnt zuweilen den Eindruck, ein angepasstes NSDAP-Programm zu lesen. Horst Die Af D als eine Sammlungsbewegung „völkischer Elemente“ hat in ihrem Programm die verschiedenen Flügel ausbalanciert. Unter den neoliberalen Forderungen finden wir: Arbeitgeberanteil bei Arbeiten im Rentenalter streichen, späteres Renteneinstiegsalter; Arbeitgeberanteil bei ALG 1 streichen; ALG 1 privatisieren; Arbeitspflicht für Langzeitarbeitslose; gesetzliche Unfallversicherung abschaffen; Gewerbe- und Erbschaftssteuer abschaffen, Banken- und Steuergeheimnis wieder einführen; Rettungsprogramme für überschuldete Kommunen und Länder verbieten; Privatisierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Die Af D hat auch eine Reihe von christlich-familistischen Forderungen: keine Finanzierung Alleinerziehender; Schuldprinzip bei Ehescheidungen wieder einführen; Gesetzesverschärfung zum Schwangerschaftsabbruch; traditionelle Geschlechterrollen bewahren; Gender-Forschung abschaffen; Anti-Diskriminierungsgesetz und DiversityProgramme abschaffen … Die völkisch-autoritären Forderungen stehen im Vordergrund: „sicherheitspolitischer Befreiungsschlag”; Systemwechsel hin zu „Ausländerbehörden, Polizei und Strafverfolgung”; Strafmündigkeitsalter auf zwölf Jahre senken; Dienstpflicht für Frauen, Wehrpflicht für Männer; keine „verengte Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus”; „Grundrecht auf Asyl abschaffen“; jüdische und islamische Praktiken einschränken (Jungen- DOSSIER RECHTSPOPULISMUS beschneidung, Schächtung); „der Islam gehört nicht zu Deutschland”; AKW-Laufzeitverlängerung; Schluss mit der Klimaschutzpolitik; Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) abschaffen. Das sind nur einige Punkte des Grundsatzprogramms der Af D. Hinzu kommt ihre Nähe oder auch Nichtabgrenzung zu Neonazis und Faschisten. Große Teile der AfD vertreten jedoch keine neoliberale, sondern eine wohlfahrtschauvinistische Politik. Sie wollen einen Sozialstaat, aber nur für „echte“, „richtige“ Deutsche. Damit liegen sie im Trend erfolgreicher RechtspopulistInnen in Frankreich, Österreich, den Niederlanden, Großbritannien usw. und knüpfen am historischen Faschismus an. Die Af D (heute ca. 28 000 Mitglieder) ist kein Verbündeter von Arbeitgeber- oder Industrieverbänden. Das Kapital möchte (zumindest heute) kein Bündnis mit der Af D. Denn diese will eine radikale Begrenzung der Zuwanderung, während die Arbeitgeber- und Industrieverbände sich deutlich für mehr Zuwanderung aussprechen (ihnen passt deswegen auch PEGIDA nicht). Die offiziellen Af D-Positionen werden in den letzten Monaten durch die innerparteilichen Erfolge der Hardcore-FaschistInnen zunehmend modifiziert. Nicht übersehen werden sollte die lange „Vorlaufzeit“ kleiner Gruppen, die sich nun in der Af D wiederfinden: Bereits 1972 war die „Aktion Neue Rechte“ als Abspaltung von der NPD gegründet worden. In der Folgezeit entfaltete die Strömung der „Neuen Rechten“ neben parteipolitischen Aktivitäten neue Ausdrucksformen neurechter Aktivitäten und bemühte sich intensiv um „ideologische Schulungen“ im Kontext der Rassenlehre. Zum gemeinsamen Konsens der diversen rechten Gruppen gehören: Vertretung völkisch-nationalistischer Positionen, rassistische und antisemitische Positionen; autoritäre Politikvorstellungen, Ablehnung des gesellschaftlichen Gleichheitsprinzips, Diskriminierung von Minderheiten; Ethnisierung/Nationalisierung sozialer und ökonomischer Problemlagen und ein extremer Antifeminismus. Als Tischler, der Vorsitzende der Af D-Jugend, in der rechtslastigen akademischen Hayek-Gesellschaft einen Programmentwurf vorlegte, wonach die Übernahme des US-amerikanischen Waffenrechts und die Privatisierung aller Firmen mit Staatsbeteiligung gefordert wurde, kam es zur Spaltung der Gesellschaft. Gründe für den rasanten AfD-Aufstieg 2016 verzeichnet die Polizeistatistik fast eintausend Brandanschläge auf Flüchtlingsheime. Telepolis zufolge werfen 70 Prozent der Bevölkerung „den Politikern vor, dass sie sich nicht groß darum kümmern, wie die Menschen denken – und 72 Prozent gehen sowieso davon aus, dass die ‚etablierten Parteien die wichtigsten Probleme Deutschlands nicht im Griff haben’.“ Das heißt jedoch auch: Die Zeiten des „kleineren Übels“ beim Wahlakt sind vorbei. Die Af D steht im Zentrum der Überlegungen all dieser Menschen und ist zugleich Ausdruck einer immer enger zusammenwachsenden Front. Sie reicht von Denkfabriken wie dem Institut für Staatspolitik (IfS), der Hayek-Gesellschaft, rechten Publikationsorganen wie Junge Freiheit und dem Compact Magazin über vermeintlich unabhängige StichwortgeberInnen wie Thilo Sarrazin, Peter Sloterdijk und Eva Hermann bis zu einer rechten sozialen Bewegung auf der Straße. Dabei sind – im Gegensatz zur Linken – Systemfragen und die Funktionsweisen des Systems keineswegs tabuisiert ... Geschickt organisiert die Af D einen ganzen Kranz von Organisationen um sich herum. Organisatorisch werden dazu die sogenannten „Freundeskreise“ (die es in fast jedem Landesverband gibt) sowie Kongresse von Zeitschriften als Trägerinnen eingesetzt. Die Rechten waren schon Jahrzehnte vorher da, die Debatten um Geflüchtete konnten sie nutzen, weil sich das Thema bestens um ihren zentralen ideologischen Hebel gruppieren lässt: den Kampf der Kulturen. Vom Standpunkt rechter KulturkämpferInnen aus gesehen gibt es auf gesellschaftspolitischer Ebene einigen Anlass zur Sorge. Sie wollen tendenziell in einer Gesellschaft wie in den 1950er Jahren leben, als der Schwulenparagraf noch galt, Frauen in der Ehe noch straffrei vergewaltigt wurden und MigrantInnen per se als Gäste galten, die jederzeit fortzuschicken sind. Dass die Merkel-CDU stärker auf das urbane, modernisierte, biomarktaffine, perfekt Englisch sprechende Bürgertum schielt, hat das wertkonservative Milieu weiter radikalisiert. Die führenden Gruppen des Parteiapparats der AfD speisen sich aus reaktionären Teilen der Mittelschicht (Akademiker), dem Kleinbürgertum, „mittelständischen“ UnternehmerInnen sowie auch Teilen der ArbeiterInnenklasse. Es ist derzeit offen, ob sie einen „rechten Kulturkampf “ beabsichtigen oder sich zunehmend aus dem Machtblock etablierter Strukturen lösen. Der neoliberale Kapitalismus ist für das Kleinbürgertum mehr und mehr zum Problem geworden. Die Angst vor sozialem und ökonomischem Abstieg kehrte auch bei jenen ein, die gut situiert sind und in der Reihenhaussiedlung wohnen. Während der gerne romantisierte rheinische Kapitalismus dank des Aufstiegsdie internationale 1/2017 25 DOSSIER RECHTSPOPULISMUS versprechens integrierend wirkte, droht der Krisenkapitalismus allen mit Abstieg. Der optimistische Zukunftsblick wich einer rückwärtsgewandten Vergangenheitsfixierung. Sowohl in Baden-Württemberg als auch in Sachsen-Anhalt war die Af D mit Abstand stärkste Partei bei ArbeiterInnen und Erwerbslosen – ein Novum für die Partei. Wie bei allen gesellschaftlichen Gruppen, sind auch bei ArbeiterInnen und Erwerbslosen strukturkonservative bis rassistische Einstellungen vorhanden. Erschwerend kommt hinzu: Der Rassismus der weißen Arbeiterklasse kann sich auf eine materielle Basis stützen. So geht etwa die Spaltung der Belegschaften nicht spurlos an den noch einigermaßen gesicherten Fraktionen vorbei. Diejenigen ArbeiterInnen, die noch über relativ hohe Löhne verfügen und denen die Mitbestimmung im Betrieb nicht gänzlich entzogen wurde, sehen die Bedrohung Tag für Tag in ihrem Umfeld – bei den Gruppen, auf die die Risiken verlagert wurden: WerkverträglerInnen, ZulieferInnen, LeiharbeiterInnen. Sie schauen auf die KollegInnen neben sich, die die gleiche Arbeit verrichten, aber letztlich nur noch die Hälfte des Lohns bekommen. Sie hören allerorts von Rationalisierungen, Fusionen und Outsourcing. Auch bei ArbeiterInnen gilt: Nicht mehr die Verbesserung der Situation ist die Perspektive, sondern der drohende Verlust bestehender Standards. Aber die schrillsten Töne zur kollabierenden gesellschaftlichen Situation kommen aus verschiedenen Gruppen der New-Age- und Esoterik-Szene (ESO-Szene). So ergibt sich die Anknüpfung an die ausdifferenzierte ESOSzene mit ihren vielfachen Bedrohungsszenarien schon fast auf natürliche Weise. Die jährlichen „Querdenker“-Kongresse dienen der Af D zur Bearbeitung dieser Gruppen, die oftmals noch nicht einmal verstehen, dass sie instrumentalisiert werden. Wir stehen wieder einmal vor der Kardinalfrage aller emanzipativer Prozesse: Wie erleben und deuten große Teile der Bevölkerung den gesellschaftlichen Prozess, dem sie unterworfen sind? Mit welchen Erklärungen reagieren sie auf ihre eigene Situation? Wie schätzen sie sich selbst in diesem Prozess ein? Hochaktuelle Erklärungsansätze „Nicht nur in erster Linie die Lust am Schmerz, wie das im Wort ‚Masochismus‘ gewöhnlich angedeutet wird. Sondern die Lust an der Unterwerfung unter etwas, was als weit stärker erlebt wird. Die absolute Abhängigkeit. Und damit aber auch die Erfüllung in der Bewährung. Es ist der 26 die internationale 1/2017 Wunsch, der eigenen Verantwortung ledig zu sein. Der Masochist, der sich unterwirft, braucht nicht mehr über sein Leben zu entscheiden. Er wird gelebt – durch die höhere Macht, die er bedingungslos akzeptiert.“ (E. Fromm) Im Auftrag des „American Jewish Committee“ an der Universität Berkeley führte Adorno als deutscher Emigrant 1944 ff. eine Untersuchung zu der Frage durch, ob in der USA Faschismus denkbar wäre. Mit Fragebögen, Interviews und psychologischen Tests wurden die Einstellungen von 2099 Probanden untersucht. Die Ergebnisse: Die autoritäre Persönlichkeit hält starr an Konventionen fest, wozu korrektes und unauffälliges Auftreten und Aussehen gehören, Ordnung, Sauberkeit, Tüchtigkeit. Stereotype und diskriminierende Vorurteile bestimmen das Weltbild der autoritären Persönlichkeit, alles Abweichende und Schwache wird verachtet, sie fühlt sich von Feinden umzingelt, wittert überall Unrat, Verderben, vor allem sexuelle Ausschweifungen. Dazu kommt ein ausgeprägtes hierarchisches Denken, die Unterwerfung unter Autoritäten der eigenen Gruppe, starre Kategorisierung von Richtig und Falsch, Gut und Böse – alles dazwischen, alles Ambivalente, Sensibilität und Fantasie sind verdächtig. Dabei kommt es zu einer radikalen und stereotypen Fehlwahrnehmung der Realität. Dabei muss berücksichtigt werden, dass dieser „autoritäre Charakter“ durchaus ambivalent reagiert: Die blinde Unterwerfung unter einen Führer, einen Staat, eine akzeptierte Macht erwartet im Gegenzug jedoch auch die Gewährung von Sicherheit und sozialer Absicherung. Ist diese nicht mehr gewährleistet, wird die Führung als „schwach“ erlebt, und vermittelt sie den Eindruck, nicht mehr den Prozess steuern zu können, so muss die Rückkehr zu überschaubaren Regeln und Normen eben mit Gewalt erzwungen werden. Teile der Af D-Basis können sich also sehr gut noch weiter radikalisieren. Dass diese verbreitete Erwartungshaltung an den Staat in Ostdeutschland mit der DDR-Vergangenheit traditionell stark ausgeprägt ist, ist evident. Aber auch die besser verdienenden Schichten der Lohnabhängigen haben eine ähnliche Haltung entwickelt: Man folgt der Organisation, solange sie etwas „rausholt“. Es bleibt festzuhalten: Die Af D ist keine „Eintagsfliege“ und wird auch so schnell nicht mehr verschwinden. Unser Kampf muss vielfältig ausgefächert vorgehen. Gegen alle Formen der „Ideologien“ menschlicher Ungleichheit ist der Kampf hartnäckig und dauerhaft zu führen. L I N K E R E G I E RU N G S B E T E I L I G U N G EIN NEUER ANLAUF: DIE LINKE IN BERLIN ALS REGIERUNGSPARTEI Wir dokumentieren im Folgenden die Kritik der Antikapitalistischen Linken in der LINKEN-Berlin am Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und der LINKEN, der mit der Aufforderung schließt, bei der Mitgliederbefragung zum Koalitionsvertrag mit Nein zu stimmen. Obwohl sich auf den kollektiven Diskussionsveranstaltungen in den Bezirken sehr viele Kritik- und Neinstimmen zu Wort meldeten, war die individuelle Mitgliederabstimmung erwartungsgemäß eindeutig für den Regierungsvertrag. Gut 4000 Mitglieder stimmten mit Ja (89 Prozent), lediglich gut 400 stimmten mit Nein. Thies Gleiss Seit dem 8. Dezember 2016 gibt es nach Thüringen und Brandenburg eine weitere Regierung mit Beteiligung der LINKEN, und zwar in Berlin. Diese Regierungsbeteiligung ist in mehrfacher Hinsicht von besonderer Bedeutung. Erstens gibt es heftige Anstrengungen von Kräften in der SPD, den Grünen und der LINKEN ein „rot-rot-grünes“ Regierungsprojekt auch für die Bundestagswahl 2017 interessant zu machen. Zurzeit sind die drei Parteien in den Umfragen zwar weit von einer Parlamentsmehrheit entfernt und die Debatten zu „R2G“ finden im blutleeren Raum des parlamentarischen Hinterbänklertums statt, orchestriert von solchen nicht gerade breitenwirksamen Einrichtungen wie dem Institut Solidarische Moderne, aber mit einem neuen praktischen Experimentierfeld in der realen Politik entstehen neue Illusionen, dass „Rot-Rot-Grün“ doch zu einem gesellschaftlichen Projekt wird, getragen von einer breiten politischen Wechselstimmung in den Betrieben, bei den sozialen Bewegungen und in den Stadtteilen. Zweitens ist die SPD-LINKE-Grünen-Regierung zumindest für zwei der Parteien die Fortsetzung eines zehnjährigen Regierungsabenteuers in Berlin, das politisch und wahlpolitisch zu einem Fiasko wurde, insbesondere für die LINKE, die ihre WählerInnenschaft mit dieser Regierung des Sparens, Kürzens und Sozialabbaus glatt halbiert hat. Jetzt schauen alle auf die Neuauflage der LINKEN-Beteiligung und es klingen die Versprechen in allen Ohren, es jetzt wirklich besser zu machen. Und drittens schließlich ist dies die erste Regierungsbeteiligung der LINKEN in einem zumindest halben Westbundesland, also nicht in den Erblandschaften der PDS im Osten. Bereits die frühere SPD-PDS-Regierung in Berlin war ein großer Prüfstein bei der Herausbildung der neuen Partei DIE LINKE. Auch diese neue Regierung wird mehr als die Regierungsbeteiligungen in den Ostländern zu einer Belastungsprobe der jetzt zehn Jahre alt werdenden Partei DIE LINKE. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an die Regierung, wie ihre Beobachtung scharf sein wird. Viele Mitglieder der Internationalen Sozialistischen Organisation (ISO) arbeiten in der LINKEN mit. Sie und viele andere teilen die Kritik der AKL am Koalitionsvertrag. Wer in eine solche Regierung eintritt, wird immer für die Gesamtheit der Regierungspolitik in Mithaftung genommen. Diese schon von Rosa Luxemburg erhobene Mahnung ist heute in Berlin brandaktuell. Wer nur die wenigen guten Teile der Regierungsplattform unterstützen kann und will, sollte es lieber mit einem Modell der Tolerierung einer Minderheitsregierung versuchen – am besten ohne Tolerierungsabkommen, sondern als Projekt der wechselnden Mehrheiten, bei dem die LINKE nur dem zustimmt, was in ihren Augen zustimmungsfähig ist. Bei einer Zukunft von vielleicht sieben Parteien im Bundestag von 2017 (so sehen es die aktuellen Umfragen) die internationale 1/2017 27 L I N K E R E G I E RU N G S B E T E I L I G U N G ist eine solche parlamentarische Taktik sicherlich auch auf Bundesebene eine ernste Debatte wert. In früheren Zeiten - wir denken an die Regierungsbeteiligung von Linken in Frankreich, Italien, selbst 1998 in Deutschland mit dem SPD-Grünen-Wahlsieg und sogar an die erste Berliner PDS-Regierungsbeteiligung – gab es das, was die WahlforscherInnen „Wechselstimmung“ nannten. Eine linke Analyse würde eher von einer gewissen Politisierung des Klassenbewusstseins sprechen, sowohl der ArbeiterInnen- als auch der KapitalistInnen-Klasse. Nach den damaligen Wahlerfolgen gab es Freudenreaktionen, Straßenaktionen und eine linke Auf bruch- und Partystimmung. Auf der anderen Seite formierte sich das Bürgertum mit Angstkampagnen und Drohungen mit Kapitalflucht und Investitionsstreik – zu denen es teilweise auch kam. Heute ist in Berlin davon keine Spur. Die politische Klasse und ihre Medien gehen angesichts der neuen „rotrot-grünen“ Regierung zur Tagesordnung über und den Massen in Betrieben und Stadtteilen ist es egal. Kaum eine der in Berlin durchaus aktiven sozialen Bewegungen ist angesichts der neuen Regierung in politische Erregung versetzt worden. Der Grund ist so banal wie eingängig: Zumindest ein „Rot“ in dieser Koalition ist schon lange nicht mehr rot und das „Grün“ ist nicht mehr grün. SPD und Grüne sind Technokraten der bürgerlichen Krisenverwaltung, ihr Personal ist verschlissen, korrupt und mehr am persönlichen Fortkommen als an irgendwelchen politischen Grundsätzen interessiert. Und auch das zweite „Rot“, die LINKE, hat fleißig am Image zu arbeiten, eine „etablierte Partei“ wie alle anderen auch zu sein. Schon eine so kleine Angelegenheit wie die Berufung des bekannten linken Stadtplaners und Gentrifizierungskritikers Andrej Holm zum Staatssekretär bei der Senatorin für Wohnungsbau hat die spießig-biedere Grundstimmung in der Koalition aufgemischt. Das Ende in dieser Sache ist noch offen, und wenn die LINKE in dieser Personalfrage noch umkippen sollte, könnte die neue Regierungserfahrung der LINKEN schon gleich nach Beginn im Elend enden. 20.12.2016 28 die internationale 1/2017 L I N K E R E G I E RU N G S B E T E I L I G U N G WARUM WIR MIT NEIN STIMMEN Stellungnahme der Antikapitalistischen Linken Berlin zum Koalitionsvertrag von Rot-Rot-Grün in Berlin Die Verhandlungsteams von SPD, Grüne und DIE LINKE haben sich auf einen Koalitionsvertrag in Berlin geeinigt. Dieser enthält viele Absichtserklärungen, von denen jedoch auch vieles unter Finanzierungsvorbehalt steht. Die Projekte, die der mögliche Senat unabhängig von der finanziellen Situation umsetzen will, reichen bei Weitem nicht aus. DIE LINKE verpflichtet sich darüber hinaus, im Abgeordnetenhaus stets einheitlich abzustimmen und Anträge nur gemeinsam einzubringen (S. 248). Wenn DIE LINKE damit Teil der Verwaltung der geschaffenen Sachzwänge wird, kann sich die berechtigte Wut der Menschen Berlins an sozialen Missständen und Verdrängung in Zukunft auch gegen DIE LINKE richten. Das wird bittere Folgen haben. Wenig ist viel zu wenig Es gibt keine Koalitionsvereinbarung, in der keine Verbesserungen versprochen werden. Wir begrüßen ausdrücklich die Maßnahmen zur Abschaffung sexistischer Werbung im öffentlichen Raum, die Ächtung des racial profilings bei der Polizei, den Ausbau der Fahrradwege, die Förderung des Schulneubaus bzw. der -sanierung und die Senkung der Kosten für das Sozialticket, um nur einige Beispiele zu nennen. Der gesamte Text wimmelt jedoch von Wendungen wie „wir werden jenes prüfen“, „wir wollen dieses kritisch evaluieren“ oder „im Rahmen der rechtlichen Regelungen streben wir an“. Am Beispiel der Regierung in Thüringen haben wir gesehen, dass Papier geduldig ist oder versprochene Maßnahmen wie der Winterabschiebestopp nach wenigen Monaten wieder kassiert wurden. Die meisten Maßnahmen stehen unter Haushaltsvorbehalt – im Angesicht der hohen Verschuldung Berlins, der wirtschaftlichen Lage und der ab 2020 greifenden Schuldenbremse, ist offen, wie viel davon am Ende umgesetzt wird. Dennoch werden auf den Seiten 87 und 88 Projekte genannt, die von einem generellen Haushaltsvorbehalt ausgenommen sind. Das sind zwar Schritte in die richtige Richtung, sie reichen aber bei Weitem nicht aus, um die Lebenssituation der Berliner*innen generell zu verbessern. Für uns bemessen sich Verbesserungen auch nicht an dem vorherigen Senat, sondern an dem Notwendigen. Im Konkreten Der Neubau von 30 000 Wohnungen durch die städtischen Wohnungsbaugesellschaften, darunter nur 15 000 Wohnungen für WBS-Berechtigte, innerhalb der nächsten fünf Jahre sind ein Tropfen auf den heißen Stein und stehen auch im Widerspruch zu der Absicht, Geflüchtete dezentral in Wohnungen unterzubringen. Derzeit fehlen mehr als 100 000 preisgünstige Wohnungen in Berlin, Tausende Wohnungen werden in den nächsten Jahren aus der Sozialbindung fallen. Es ist absehbar, dass die Wohnungsnot unter Rot-Rot-Grün in Berlin erhalten bleibt. Im Öffentlichen Dienst sollen netto ungefähr 1000 neue Stellen jährlich entstehen – gemessen an 35 000 abgebauten Stellen unter zehn Jahren Rot-Rot herzlich wenig. Auch dies wird nicht zu einer spürbaren Entlastung führen. 100 Mio. Euro für Schulneubau und -sanierung sind (notwendige) Investitionen in Beton, Berlin braucht aber zusätzlich deutlich mehr Lehrer*innen, zudem müssen viel mehr Stellen für Sozialarbeiter*innen und qualifiziertes pädagogisches Personal an Schulen geschaffen werden. Gymnasien bleiben erhalten. Dadurch werden Gemeinschaftsschulen zwangsläufig geschwächt und abgewertet. Der Betreuungsschlüssel in den Kitas wird nicht verbessert. Die Bundeswehr und der Verfassungsschutz dürfen weiterhin an Schulen werben. Die Erhöhung des Mindestlohns von 16 Cent im Vergleich zum Bund ist der Rede nicht wert. Die Prüfung einer stufenweisen Erhöhung des Pensionsalters für Beamte ist ein Skandal. Wie sollen wir für eine Absenkung des Renteneintrittsalters im Bundestagswahlkampf streiten, wenn DIE LINKE eine Erhöhung in Berlin in Aussicht stellt? Abschiebungen von Geflüchteten wird es auch mit der LINKEN geben – wenn auch vielleicht etwas weniger. Es wird kein ausreichendes Nachtflugverbot beim BER geben. Die Formulierung auf die internationale 1/2017 29 L I N K E R E G I E RU N G S B E T E I L I G U N G Seite 55 zum Betrieb der S-Bahn nach Auslaufen des Verkehrsvertrags lässt für uns die Frage offen, ob damit auch eine Teilprivatisierung des Betriebs möglich wird, wie ihn Teile der SPD schon länger vorantreiben. Auch wenn Kleinigkeiten abgemildert werden sollen: Die Ärmeren werden weiterhin mit Strom- und Gassperren, mit Sanktionen beim Job-Center, mit EinEuro-Jobs etc. gedemütigt. Merkwürdig ist zudem, dass im Koalitionsvertrag überdurchschnittlich viel Geld in den personellen und materiellen Ausbau der Polizei fließen wird. Bodycams und Anti-Terror-Training sowie ein größeres Aufgebot an Polizist*innen sollen die Sicherheit Berlins gewährleisten. Das wird nicht nur, aber auch unsere Verbündeten, die sozialen Bewegungen, die Klima-Aktivist*innen, die Streikenden usw. und letztlich auch uns selbst auf Kundgebungen, Demonstrationen oder Protestaktionen des zivilen Ungehorsams treffen. Die Antwort der LINKEN auf Unsicherheit muss immer ein Mehr an sozialer Sicherheit und nicht der Auf bau des bürgerlichen Staatsapparats sein. Für uns unverständlich werden die Reichen und Konzerne geschont, denn auf die Erhöhung der Gewerbesteuer und der Grunderwerbssteuer wird verzichtet. Ab dem 8. Dezember würde DIE LINKE für alles in Mithaftung genommen, was in Berlin schief läuft. Die Glaubwürdigkeit der Partei steht damit auf dem Spiel. Dies sind nur einige Punkte des Koalitionsvertrags, die eine Ablehnung dringend erfordern. Von einem Politikwechsel kann keine Rede sein. Mit der Sachzwanglogik des Systems brechen DIE LINKE würde mit diesem Koalitionsvertrag neoliberale Bundesgesetze und Sachzwänge des Kapitalismus akzeptieren. Sie würde damit das Hartz-IV-Regime auf Landesebene nicht ablehnen, sie würde für einen Mindestlohn stimmen, der die arbeitende Bevölkerung später in Altersarmut treibt, sie würde an der Schuldenbremse im Land festhalten, sie würde den Verfassungsschutz nicht abschaffen. DIE LINKE müsste sich auch an Abschiebungen beteiligen – nicht einmal ein Winterabschiebestopp wurde in das Vertragswerk aufgenommen. Die wenigen finanziellen Möglichkeiten, die auf Landesebene existieren, um Reiche und Konzerne zu besteuern, werden nicht ergriffen (von der Weiterzahlung der Zinsen an die Banken mal ganz zu schweigen). Dabei muss auch klar sein, dass Koalitionsverträge immer äußerst positiv geschrieben sind. So las sich der Regierungsvertrag von Rot-Grün auf Bundesebene von 1998, 30 die internationale 1/2017 als würden paradiesische Zustände ausbrechen. Aber auf warme Worte wie „Außenpolitik ist Friedenspolitik“ in den Vereinbarungen folgte eine brutale Kriegspolitik in der Regierungsrealität. DIE LINKE darf sich die Möglichkeit der Kritik am Bestehenden jedoch nicht nehmen lassen. Die Abgehängten und Ausgestoßenen dieser Gesellschaft brauchen eine unbequeme LINKE, die ihre Interessen im Parlament artikuliert, anstatt ihr Elend mitzuverwalten. Daher muss DIE LINKE den sozialen Protest auf bauen und den Widerstand gegen Neoliberalismus und Ausgrenzung formieren. Sie darf sich nicht zur Steigbügelhalterin von SPD und Grünen machen lassen. Das Scheitern der LINKEN im Senat und ihre Folgen Sollte DIE LINKE diesem Vertrag zustimmen, wird die Opposition, die notwendige Kritik am Bestehenden (und auch am Senat) dem Gruselkabinett aus Af D, CDU und FDP überlassen. Dass CDU und FDP wahrlich keine oppositionellen Parteien sind, ist den meisten klar. Dennoch kann sich in dieser Horrorkonstellation die Af D weiter als Anti-System-Partei aufspielen. Die rassistischen und neoliberalen Deutungsmuster werden nicht geschwächt, sie werden tendenziell gestärkt, wenn der Frust der Menschen mit der Situation anhält, es aber keine linke Opposition mehr gibt. Wenn DIE LINKE von der Mehrheit zum etablierten Parteienkartell zugerechnet wird, weil sie eine Senatspolitik mitträgt, die den Menschen keine grundlegenden Verbesserungen beschert, werden sich die Wähler*innen bestenfalls komplett von der Politik abwenden, schlimmstenfalls freuen sich aber die Rechten über Zulauf. Die Erosion der Parteien der sogenannten Mitte hat längst begonnen. Ehemalige Volksparteien fallen bei Wahlen ins Bodenlose – zu Recht! Auf lange Sicht kann DIE LINKE nur gewinnen, wenn sie standhaft, ehrlich und rebellisch bleibt. Wir sind davon überzeugt, dass DIE LINKE an der Seite von Bewegungen mehr erkämpfen kann – ohne dass wir für neoliberale Sachzwangpolitik verantwortlich gemacht werden. Liebe Genoss*innen, lasst uns widerständig bleiben! Stimmen wir der Beteiligung unserer Partei am Berliner Senat nicht zu. BUCHBESPRECHUNG REVOLUTIONÄRE ANNÄHERUNG. UNSERE ROTEN UND SCHWARZEN STERNE Beide Autoren sind seit vielen Jahren in den sozialen Bewegungen in Frankreich aktiv. Olivier Besancenot, Briefträger, war 2002 und 2007 französischer Präsidentschaftskandidat der trotzkistischen LCR (Ligue communiste révolutionnaire) und war 2009 Gründungsmitglied der NPA (Nouveau Parti Anticapitaliste). Michael Löwy ist marxistischer Sozialwissenschaftler mit vielen Publikationen, die zum Teil auch auf Deutsch vorliegen, zuletzt 2016 das Buch „Ökosozialismus. Die radikale Alternative zur ökologischen und kapitalistischen Katastrophe“. Die Zielsetzung der Autoren Schriften der Arbeiter/innenbewegung berichten von den Uneinigkeiten, Konflikten und Auseinandersetzungen zwischen Marxist/innen und Anarchist/innen. Anhänger/ innen beider Strömungen haben nicht selten theoretische oder historische Arbeiten verfasst, um die Gegenspieler/ innen anzuprangern. Ein recht bekanntes Beispiel ist Stalins: Anarchismus oder Sozialismus? (1907). Der spätere Generalsekretär der KPdSU schreibt darin: „Wir sind der Auffassung, dass die Anarchisten richtige Feinde des Marxismus sind. Wir erkennen also auch an, dass man gegen richtige Feinde einen richtigen Kampf führen muss.“ Besancenot und Löwy distanzieren sich ausdrücklich von dieser destruktiven Tradition: „Ziel unseres Buches ist das genaue Gegenteil…“: „Wir hoffen, die Zukunft wird rot und schwarz sein: der Antikapitalismus, der Sozialismus oder Kommunismus des 21. Jahrhunderts wird aus diesen beiden Quellen der Radikalität schöpfen müssen. Wir wollen einige Samen eines libertären Marxismus streuen, in der Hoffnung, dass sie auf fruchtbaren Boden fallen, dass sie wachsen und gedeihen.“ Inhalt/Themen Marxistische und anarchistische Strömungen gehörten in den revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts zu den dynamischsten Kräften der sozialrevolutionären Bewegungen –zeitweise im Bündnis miteinander, aber auch in unerbittlicher Gegnerschaft. Im ersten Teil ihres Buches stellen B. und L. knapp dar: die Erste Internationale und die Pariser Commune (1871), den Ersten Mai und die Märtyrer von Chicago (1886), den Syndikalismus und die Charta von Amiens (1906), die Revolution in Spanien (1936-1937), den Mai 68, die Entwicklung von der globalisierungskritischen Bewegung zu den Indignad@s. Es folgt eine Reihe von Porträts libertärer Kämpfer/ innen: Louise Michel (1830-1905), Pierre Monatte (18811960), Rosa Luxemburg (1870-1919), Emma Goldman (1869-1940), Buenaventura Durruti (1896-1936), Benjamin Péret (1899-1959) und Subcomandante Marcos (geb. 1957). In einem zweiten Teil diskutieren die Autoren „Gemeinsamkeiten und Konflikte“: die Russische Revolution, Kronstadt und Machno. In einem dritten Teil stellen sie drei marxistisch-libertäre Theoretiker dar: Walter Benjamin (1894-1940), André Breton (1896-1966) und Daniel Guérin (1904-1988). Im vierten und letzten Teil diskutieren sie politische Fragen, die zwischen Anarchisten und Marxisten strittig sind, in der Perspektive einer möglichen Einigung: Individuum oder Kollektiv? Die Revolution machen, ohne die Macht zu übernehmen? Autonomie oder Föderalismus? Demokratische Planung oder Selbstverwaltung? Direkte oder repräsentative Demokratie? Gewerkschaft oder Partei? Ökosozialismus oder libertäre Ökologie? Sie beenden ihr Buch mit dem Plädoyer: „Für einen libertären Marxismus!“ Mängel Leider enthält das Buch ein paar unnötige Mängel: etwa die wenig glückliche deutsche Übersetzung des Titels; kein Inhaltsverzeichnis trotz vieler Kapitel und Unterkapitel; gelegentliche sprachliche Mängel (von denen ich nicht feststellen kann, ob sie auf die Autoren oder die Übersetzer/innen zurückgehen, da mir das französische Original nicht zugänglich ist) – so wird etwa Rosa Luxemdie internationale 1/2017 31 BUCHBESPRECHUNG burgs Satz über die Freiheit, die immer nur die Freiheit des anders Denkenden ist, sehr unangemessen, wie ich finde, als „hübscher Satz“ charakterisiert. Wenig überzeugend finde ich auch die Ernennung von Walter Benjamin und André Breton zu „marxistischlibertären Theoretikern“. Das Wenige von Benjamin und Breton, das - schwerstverständlich formuliert - in diese Tradition gehört, scheint mir kein Beitrag zu sein, mit dem sich die Zielsetzung oder die Strategie revolutionär-sozialistischer Bewegungen verbessern ließe. Warum die beiden Autoren das marxistische Konzept einer sozialistischen Ökonomie „jenseits des Mangels“ – eine Möglichkeit, die von anarchistischer Seite keineswegs bestritten, sondern vielmehr geteilt wird – für illusorisch erklären, und zwar ohne ernsthaft zu argumentieren, ist mir unverständlich. Schließlich: Es trifft nicht zu, dass Besancenot und Löwy mit ihrem Buch „eine Diskussion eröffnen“. Sie führen vielmehr eine Diskussion fort, wie etwa ihre intensive Bezugnahme auf den libertären Marxisten Daniel Guérin klar zeigt. Und bereits 1925 stellte der anarchistische Historiker des Anarchismus, Max Nettlau, die Frage: „Müssen die Kämpfe zwischen den autoritären und den freiheitlichen Richtungen auch erst Jahrhunderte dauern, um dann wie einst das Theologengezänk beiseitegeschoben zu werden? Oder hat man den Willen, ist man imstande, aus jenem warnenden Beispiel zu lernen?“ Fazit Trotz der genannten Mängel ist das Buch durchaus lesenswert, weil es – verständlich geschrieben – von inhaltlichem Reichtum ist und konstruktiv mit den vorhandenen Gegensätzen und Konflikten umgeht. Olivier Besancenot/Michael Löwy: Revolutionäre Annäherung. Unsere roten und schwarzen Sterne. Die Buchmacherei, Berlin 2016, 167 Seiten, 12 € J.-F. Anders TROTZKI-SAMMLUNG IN DER DARMSTÄDTER UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEK In der Darmstädter Universitäts- und Landesbibliothek (ULB) ist den Internet-Link https://hds.hebis.de/ulbda/Search/Results?lo seit Mai 2016 eine ca. 3.000 Bände umfassende Sammlung von okfor=Trotzki&trackSearchEvent=Einfache+Suche&type=allfiel Büchern und von etwa 50 Zeitschriften zu den Themen Trotzki, ds&service=catalog angesteuert werden kann oder indem man Trotzkismus, Russische Revolution, Sowjetunion, Stalinismus (über Google) „ULB Darmstadt“ anklickt, im Katalog TUFind die etc. verfügbar. Diese „Trotzki-Sammlung“ besteht zum einen Rubrik „Erweiterte Suche“ auswählt und dann im Signaturen- aus der Literatur, die für die Herausgabe der deutschsprachigen, Feld trotzki/* für den Gesamtbestand oder trotzki/j:* nur für den kommentierten Trotzki-Schriften-Edition erforderlich war, von Zeitschriftenbestand eingibt. der (im Verlag Rasch & Röhring bzw. später im ISP-Verlag) bisher Unter den in der Sammlung vorhandenen Zeitschriften befin- sieben Teilbände (mit einem Gesamtvolumen von etwa 4.500 den sich u. a. die Cahiers Léon Trotsky (1979-2003), die Critique Seiten) erschienen sind. (Drei weitere Bände sind in Vorbereitung.) communiste (1975-2009), Inprekorr (1971-2010), die interna- Ergänzt wird dieser Bestand durch den Nachlass Rudolf Segalls, tionale (1968-1983), was tun (1968-1986), Express internati- der seltene Trotzki-Ausgaben und vor allem eine Reihe von trotz- onal (1962-1972), International Socialist Review (1956-1975), kistischen und linkssozialistischen Zeitschriften gesammelt hat. Sozialistische Politik (1954-1966), Pro und contra (1949-1954), Die Sammlung ist im neuen Bibliotheksgebäude in der Stadtmitte Fourth International (1940-1956), Gegen den Strom (1928- (Magdalenenstraße 8, D-64289 Darmstadt, Tel.: 0049-6151 1985), New International (1934-1940), Permanente Revolution 16-76211) separat aufgestellt worden. Die dazu gehörigen Bücher (1931-1933), Der Marxist (1931-1932), Bjulleten’ opposicii und Zeitschriften können nicht ausgeliehen, sondern nur in einen (1929-1941), Contre le courant (1927-1929), Russische Korres- der Lesesäle bestellt werden. (Die Bibliothek stellt 850 Lese- und pondenz (1920-1922), Archiv für die Geschichte des Sozialismus Arbeitsplätze, Einzelarbeits- und Gruppenarbeitsräume zur und der Arbeiterbewegung (Grünberg-Archiv) (1911-1930). Verfügung.) Sämtliche Bücher und Zeitschriften der Sammlung sind im Online-Katalog der ULB erfasst, der entweder direkt über 32 die internationale 1/2017 H. Dahmer, Wien, 7. 11. 2016 D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E DOSSIER: PROTEKTIONISMUS IN DER ARBEITERKLASSE KÖNNEN GRENZEN DIE ARBEITERINNEN SCHÜTZEN? Ob Trump, Le Pen oder Brexit: Grenzen sind im Trend. Ist der Protektionismus, den die Demagogen in ihren Reden oft in die Fremdenfeindlichkeit einstreuen, nur reaktionärer Firlefanz? Oder kann er für die Lohnabhängigen eine schützende oder sogar fortschrittliche Funktion haben? Yann Cézard Angesicht der politischen Konfusion, die diese Milliardäre stiften, indem sie der armen Bevölkerung zu ihrem „Schutz“ Grenzen versprechen, kann ein wenig Materialismus nicht schaden. Das bedeutet, dass man sie nicht beim Wort nimmt und stattdessen zu erfassen versucht, welche Tendenzen der Kapitalismus aktuell aufweist und wohin er sich entwickelt. In diesem Dossier geht Henri Wilno der Frage des modernen Freihandels nach, Gérard Florenson untersucht den Protektionismus in der Landwirtschaft und Régine Vinon die Programme der „linken SouveränitätsbefürworterInnen“. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit beschränken sich nicht auf die verbale Ebene, sondern haben immer schonungslosere konkrete Auswirkungen. Müssen wir uns darauf gefasst machen, dass die protektionistischen „Ver- sprechen“ – wenn auch nur Schritt für Schritt – umgesetzt werden? Entspricht die in Frankreich und anderenorts immer häufiger zu hörende Forderung nach einem Zurück zu Handelsschranken gewissermaßen einer realen Entwicklung des Kapitalismus, veränderten Erfordernissen von maßgeblichen Teilen der Bourgeoisie? Kann es umgekehrt einen Linksprotektionismus geben? Die kapitalistische Globalisierung hält an Manche Ökonomen versichern, wir erlebten heute eine Umkehr der großen wirtschaftlichen Globalisierungsbewegung, die vor 30 Jahren begonnen hat. Das behauptet beispielsweise François Lenglet, berühmt für seine Rolle als scharfer Wächter über den ökonomischen Konformismus auf dem TV-Sender France 2. Zwar ist er weder der brillanteste noch der intellektuell redlichste Ökonom, aber er ist sowas wie ein Gradmesser für die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der „bürgerlichen“ Ökonomie anerkannten Ansichten. In seinem letzten Buch mit dem Titel „Das Ende der Globalisierung“ – ohne Fragezeichen – beteuert er: „Die Zeichen deuten immer klarer darauf hin: Die aktuelle Phase der Globalisierung kommt an ihre Ende. Die in den 80erJahren mit dem weltweiten Börsensystem und dem Fall der Berliner Mauer beginnende Globalisierung beruhte auf der Utopie einer durch Freihandel vereinten, von Markt und Demokratie gelenkten Welt. Doch heute erleben protektionistische Strömungen einen Wiederaufschwung (…). Wir befinden uns am Ende eines Zyklus.“ Dabei fackelt er nicht lange. Tatsächlich folgt auf eine massive und spektakuläre Entwicklung im Wachstum des Welthandels (und der internationalen Kapitalflüsse) in den letzten dreißig Jahren, die das Wachstum des globalen BIP übertrafen (der Anteil des Welthandels am globalen BIP stieg zwischen 1975 und 2002 von 7,7 auf 19,5 %), nun eine Verlangsamung … dieses Wachstums, das hinter das BIP Inprekorr 1/2017 33 D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E zurückfällt. Eine Folge der Krise von 2008? Zweifellos, aber vor allem das Ergebnis des Erfolgs der kapitalistischen Globalisierung selbst, die bereits so weit vorangeschritten ist, dass sie logischerweise an eine Obergrenze stoßen muss, was sich unter anderem darin äußert, dass die Staaten bei der Aushandlung neuer Freihandelsverträge kaum vorankommen. Denn die internationale Segmentierung der Wirtschaft lässt sich nicht unendlich ausbauen, die Dienstleistungen lassen sich nicht im gleichen Maß international organisieren wie die Industrie, China muss zwangsläufig ein auf den eigenen Binnenkonsum orientiertes Wachstumsmodell zu entwickeln versuchen und die Durchlässigkeit der Märkte der reichen Länder für Waren der Schwellenländer stößt an Grenzen. Doch eine wirkliche Umkehr in Bezug auf das globalisierte Funktionieren der Wirtschaft gibt es nicht. Keine Hinterfragung der internationalistischen Strukturierung der Multis, der Marktöffnung der reichen Länder für Industrieerzeugnisse aus armen industrialisierten Ländern, der Überflutung der armen Länder durch ausländische Lebensmittel und erst recht nicht der freien Kapitalzirkulation etc. Eine Umkehr der kapitalistischen Globalisierung findet nicht statt, wohl aber eine Verlangsamung und Neukonfigurierung. Die Demagogen nicht beim Wort nehmen Was ist also davon zu halten, wenn manche amerikanischen und europäischen PolitikerInnen wie Trump oder die britischen Brexit-Betreiber mit nationalistischen Äußerungen um sich schlagen, obwohl sie der Großbourgeoisie angehören? Natürlich wollen sich diese politischen Abenteurer über die Demagogie den Weg zur Macht bahnen, und sie wissen, dass der übliche Diskurs des bürgerlichen Establishments, wonach es nötig sei, sich unter Blut und Tränen der Globalisierung, dem verallgemeinerten Freihandel und der internationalen Konkurrenz anzupassen, die als unvermeidliche Naturphänomene hingestellt werden, fast nur noch Widerwillen hervorrufen. Doch wir sollten sie nicht beim Wort nehmen. Bislang hat kein maßgeblicher Sektor der Bourgeoisie in Europa oder den Vereinigten Staaten die Absicht, den gegenwärtigen Freihandel infrage zu stellen. Denn die kapitalistische Globalisierung ist ein „Glücksfall“ oder eine „Chance“ für die herrschenden Klassen, und das aktuelle Funktionieren des seit jeher auf Freihandel und freie Zirkulation des Kapitals gestützten Systems hat ihm immense Profite beschert, indem es den Unternehmen erlaubt hat, alle Ressourcen der Welt und vor allem die Menschen besser auszubeuten und zudem die ArbeiterInnen, die Staaten und die Sozialsysteme weltweit gegeneinander auszuspielen. 34 Inprekorr 1/2017 Dagegen werden die Großhändler des nationalistischen Giftes nichts unternehmen. Das vertuschen die BrexitBetreiber auch nicht. Sie haben eine Überwindung der „europäischen Gesetze“ versprochen und vor allem den Einwanderungsstopp von MigrantInnen aus Osteuropa, sich aber gleichzeitig zum Freihandel bekannt. Sie behaupten, es sei möglich, beides zu bekommen: Das Ende der Personenfreizügigkeit und den Zugang zum europäischen Markt für britische Dienstleistungen und Waren, und dass Großbritannien sogar freier wäre, neue Freihandelsverträge mit dem Rest der Welt auszuhandeln. Nicht die Hinterfragung der Tugenden des Freihandels prägte die Brexit-Kampagne, sondern Fremdenfeindlichkeit. Und wenn ein Teil des Politpersonals der britischen Bourgeoisie gegen die Empfehlungen des Großkapitals und der Hochfinanz in der City of London für den Brexit geworben hat, dann deshalb, weil der Austritt aus der Europäischen Union für den britischen Kapitalismus nicht dieselben Probleme aufwirft wie für Deutschland, Frankreich oder Spanien. Anders liegt es beim Wahlkampf von Donald Trump: Er verspricht gleichzeitig, mexikanische MigrantInnen zu vertreiben und chinesische Produkte zu besteuern. Wetten wir, dass das erste „Versprechen“ eher Chancen hat, ansatzweise umgesetzt zu werden, als das zweite, und auch dann wird es (zum Glück) wenigstens teilweise gebrochen werden, denn die amerikanische Bourgeoisie (und selbst das Kleinbürgertum) wären nicht glücklich, ganz auf diese übermäßig ausbeutbaren Arbeitskräfte verzichten zu müssen. Davon weiß der Immobilien- und Kasinomagnat Trump ein Lied zu singen. Trump lügt also schamlos, was ihn in unserer Klassifizierung von bürgerlichen Politmonstern in die Nähe des Front National rückt. Die rechtsextreme französische Partei verspricht ebenfalls eine sowohl protektionistische als auch fremdenfeindliche Politik und präsentiert beide stets als zwei Seiten einer Medaille, gegen die „Globalisierer“. Diese massive Infragestellung des Freihandels (und der Europäischen Union) kann sich die Partei auch deshalb erlauben, weil sie sich relativ weit weg von der Regierungsmacht sieht. Dagegen beginnt sie diese Propaganda immer mehr aufzuweichen, je mehr sie Wahlerfolge erzielt und in Umfragen gut abschneidet: Marine Le Pen spricht inzwischen von „intelligentem Protektionismus“ … Die neuen Grenzen der kapitalistischen Globalisierung Auch wenn die Bourgeoisie genauso wenig wie Milliardäre und Politdemagogen à la Trump drauf und dran ist, den D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E gegenwärtigen Freihandel radikal infrage zu stellen, lässt sich dieser doch vereinbaren mit dem Errichten neuer politischer Grenzen und, wie man heute sieht, sogar mit Tausenden von Kilometern Stacheldraht und Wachtürmen. Diese traurige Feststellung macht Régis Debray in dem 2010 veröffentlichten, im Übrigen betrüblichen Büchlein „Eloge des Frontières“ (Lob der Grenzen, S. 18): „Nie zuvor wurden auf der Erdoberfläche so viele Grenzen gezogen wie in den letzten fünfzig Jahren. Seit 1991 wurden 27 000 Kilometer neue Grenzen gezogen, speziell in Europa und Eurasien. Für die nächsten Jahre sind zehntausend weitere raffinierte Mauern, Barrieren und Zäune geplant (…). Ein obszönes Fossil, diese Grenze, die sich aber wie wild gebärdet.“ Die kapitalistische Globalisierung ist mit dieser Entwicklung nicht nur nicht unvereinbar, sie leistet ihr sogar Vorschub. Der Kapitalismus, der sich weltweit überall frei entfalten kann, wie und wo er will, spaltet die Völker, vertieft Ungleichheiten, konzentriert Reichtum und Armut und verdammt Millionen dazu, dem Elend in ihrem Land zu entfliehen, um gegen die Stacheldrahtverhaue der reichen Länder anzurennen. Selbst die Europäische Union bietet innerhalb ihrer Grenzen zwischen den zugehörigen Völkern ein flagrantes Beispiel dafür. In der von der weltweiten Schwäche der ArbeiterInnenbewegung entstandenen Leere fassen natürlich auch Angehörige der herrschenden Klassen, Zuträger und Nutznießer dieses Systems, und zwar nicht nur auf der extrem rechten Seite, Fuß, um die dadurch entstandene Verunsicherung der Lohnabhängigen auszunutzen. Deshalb diese Stacheldrahtzäune gegen Flüchtlinge, die man sich gegenseitig zuschanzt; daher auch fast überall der aufkommende Mikronationalismus der Reichen. Der Aufstieg des „linken“ Protektionismus Soll denn die Arbeiterklasse ihrerseits von der Wiederherstellung von Handelsgrenzen träumen, nur weil die Bourgeoisie vorläufig die momentane Globalisierung sicher nicht widerrufen will? Muss man nunmehr für den Protektionismus eintreten, um „links“ zu sein? Auch wenn dieser Begriff nicht mehr (bzw. noch weniger als früher) besonders aussagekräftig ist, es sei denn, man versteht darunter, die Verteidigung der Gesamtinteressen der lohnabhängigen Bevölkerung. Ungeachtet ihrer Nationalität, übrigens. Bekanntlich versteht sich Mélenchon als Kandidat der „französischen Unabhängigkeitsbewegung“ und Montebourg als jener des „Made in France“. François Ruffin, Herausgeber der alternativen Zeitschrift Fakir, macht sich für einen Protektionismus zur Verteidigung der ArbeiterInnen und ihrer Fabriken stark und der Ökonom Frédéric Lordon für einen Linksnationalismus. Und diese Ideen finden unter den ArbeiterInnen, insbesondere in Gewerkschaftskreisen, immer mehr Gehör. Es geht hier nicht darum, alle über einen Kamm zu scheren. In diesem Zusammenhang sei auf den Artikel von Régine Vinon in diesem Dossier (s. u. S. 47ff.) verwiesen, die beschreibt, welche möglichen politischen Abgründe solche Vorstellungen eines „Linksprotektionismus“ hervorbringen können: wenn Mélenchon sich am Exporterfolg der Rafale1 berauscht, oder wenn der Ökonom Jacques Sapir, Verfasser von „La Démondialisation“ (die Entglobalisierung) – ein Titel, den in der Folge Montebourg vor fünf Jahren aufgegriffen hat –, vorschlägt, eine „Front der Fronten“ zu bilden, also eine Querfront von Front de gauche und Front national, um die nationale Souveränität wiederherzustellen und danach im wiederhergestellten nationalen Rahmen „tatsächliche Wahlmöglichkeiten“ zu schaffen etc. Es geht auch nicht darum, diese in der Arbeiterbewegung immer lebhafter geführte Diskussion vom Tisch zu wischen, weil wir als internationalistische Revolutionäre auf keinen Fall für Grenzen an sich sein dürfen. Die Zukunft der Menschheit kann nicht in der Wiederherstellung von Grenzen vergangener Zeiten liegen und der wirtschaftliche und ökologische Fortschritt nicht in einer allgemeinen Abkapselung, selbst wenn antikapitalistische RevolutionärInnen in einer Zwangslage zunächst durchaus eine wirtschaftliche Abschottung vorsehen können, wie dies beispielsweise das revolutionäre Russland getan hat. Das zentrale Problem ist aber gerade, in dieser Frage des Protektionismus einen Klassenstandpunkt herausfiltern zu können, nämlich einen Standpunkt der ArbeiterInnenklasse, genauer gesagt, ihrer Interessen. Offensichtlich gibt es keinen speziellen Grund für die ArbeiterInnenklasse in Frankreich und anderen Ländern, an der kapitalistischen Globalisierung und dem momentanen Freihandel zu hängen. Schon viel zu lange verspricht man uns eine „glückliche Globalisierung“ im Interesse (fast) aller etc. Wie es darum bestellt ist, wissen wir wohl, denn die Finanzgruppen und Multis haben sich hinreichend darum bemüht, diese neue Weltwirtschaft zu errichten, um die ArbeiterInnen in aller Welt immer noch mehr auszubeuten. Dasselbe lässt sich zwar nicht über „Europa“ an sich, aber über die real existierende Europäische Union sagen, ein wirtschaftlich ausgesprochen neoliberales und politisch ausgesprochen autoritäres Konstrukt, Inprekorr 1/2017 35 D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E gewissermaßen das politische Verhandlungsergebnis einer gewissermaßen „heiligen Allianz“ aus kapitalistischen Großkonzernen, Banken und („deren“, wie man getrost sagen kann) nationalen Regierungen. Noch einmal soll der bereits hinlänglich zitierte François Lenglet zu Wort kommen, der, nachdem er von einer „Ungleichheit generierenden Maschine“ in „permanenter Krise“ mit nachweislich antidemokratischen Auswüchsen spricht, feststellt: „Der Globalisierung muss man nicht nachtrauern. Trotz des unbestreitbaren Aufholeffekts in armen Ländern haben letztlich nur wenige davon profitiert.“ Wenn schon er das sagt … Wobei festzuhalten gilt, dass nicht die Globalisierung selbst für alle Übel des Kapitalismus verantwortlich gemacht werden kann und es andererseits ihre kapitalistische Ausrichtung ist, die für ihre abschreckendsten Züge in sozialer und ökologischer Hinsicht verantwortlich ist. Und dass sie sogar, wie Henri Wilno im gleichen Dossier zeigt, reichlich ambivalent ist. Trotzdem: Was würde es beispielsweise den ArbeiterInnen in Frankreich bringen, die protektionistischen Thesen zu übernehmen? Alstom – eine erhellende Affäre Das französische Unternehmen beschließt, seine Fabrik in Belfort zu schließen. 450 Stellen sind futsch. Ein schönes Symbol der französischen Deindustrialisierung. Marion Maréchal Le Pen (um der Einfachheit halber nur von ihr zu sprechen) ergreift die Gelegenheit, um zu fordern, die Aufträge von Bahn (SNCF) und Pariser Verkehrsbetrieben (RATP) seien ausschließlich an Alstom zu vergeben. Der „nationale Vorrang“ als Monopol eines Privatunternehmens, um Stellen zu retten. Die Absurdität des Vorschlags springt ins Auge: Das kanadische Unternehmen Bombardier würde bei der Auftragsvergabe also ausgeschlossen …, obwohl es die größte Fabrik für Eisenbahnausstattungen in Frankreich betreibt? Allgemeiner gesprochen würde eine solche nationale Exklusivität von Aufträgen natürlich internationale Vergeltungsmaßnahmen nach sich ziehen. Alstom würde im Gegenzug den Zugang zu ausländischen Märkten verlieren, deren Volumen über dem des französischen Binnenmarktes liegt. Deshalb haben Andere realistischere Maßnahmen vorgeschlagen, wie beispielsweise ... der Gruppe durch neue Aufträge oder Einschießen von öffentlichem Kapital zu helfen, wenn nicht sogar längerfristig auf den Aufbau eines Protektionismus auf europäischer Ebene hinzuwirken: Europäische Aufträge für Eisenbahnmaterial sollten Unternehmen – ob europäisch oder nicht – vorbehalten sein, die 36 Inprekorr 1/2017 sich verpflichten, auf europäischem Boden zu produzieren, ähnlich wie die US-amerikanische Regierung vorgegangen ist, damit (eben) Alstom den riesigen Vertrag für die Hochgeschwindigkeitsstrecke Boston–Washington bekommt, nämlich unter der Bedingung, dass die Züge an den amerikanischen Standorten des Konzerns gebaut werden. So viel zur Schwierigkeit des Protektionismus in einer sowieso globalisierten Wirtschaft … Was aber liegt all diesen Vorschlägen gleichermaßen zugrunde? Das Eigentum und die Macht der Aktionäre der Alstom-Gruppe zu hinterfragen, davon ist nie die Rede. Die Alstom-ArbeiterInnen tun gut daran, in erster Linie auf sich selbst zu setzen und auf die Unterstützung, die sie in der Bevölkerung gewinnen können. Das wissen sie selbst zur Genüge. Wer glaubt 2016 noch an die seinerzeitigen Versprechen der Sarkozys und Hollandes, die Stahlwerke Gandrange und Florange zu retten? Demnach müsste unabhängig von den wirtschaftlichen Unwägbarkeiten des Augenblicks die Erhaltung der Arbeitsplätze durchgesetzt, also deren Finanzierung garantiert werden. Aber dafür müsste man auf die internationalen Profite der Gruppe zugreifen und sogar auf das Vermögen, das die AktionärInnen jahrzehntelang auf unsere Kosten angehäuft haben. Langfristig müsste eine radikale Änderung des Wirtschaftsapparats durchgesetzt werden, angefangen bei der Beschlagnahmung von Alstom (oder deren Vergesellschaftung, Nationalisierung oder wie immer man es nennen mag, solange dies unter Kontrolle der ArbeiterInnen und der Bevölkerung geschieht und nicht unter Kontrolle von Regierungen, die für die Bourgeoisie arbeiten). Langfristig wäre auf alle Fälle die Vergesellschaftung des ganzen französischen Finanzsystems erforderlich, um die Produktion in den Dienst der Bevölkerung und ihrer sozialen und ökologischen Interessen zu stellen. Ansonsten erwartet die Angestellten von Alstom eine traurige Alternative: Entweder es läuft so ab wie bei Continental, PSA, den lothringischen Stahlwerken und so vielen anderen Fabriken in Frankreich, die trotz allgemeinen Unmuts (und der hochtönenden Reden der jeweils Regierenden) letztlich geschlossen wurden; oder Hollande, wenn er bereits im Wahlkampf wäre, würde sich dazu durchringen, „keine Kosten zu scheuen“ und konkret den PrivataktionärInnen von Alstom einen kleinen Geldbetrag in Form von als Aufträge für Waggons getarnten Subventionen zukommen zu lassen, um Stellen zu sichern – für acht Monate. Danach wäre wieder business as usual: Nach einer Übergangsphase mit „nationalem Kapital“ und „wirtschaftli- D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E cher Souveränität“, das heißt in Wirklichkeit öffentlichen Subventionen für private kapitalistische Konzerne über begrenzte Zeit, wäre der Alstom-Leitung erneut freigestellt, ihren Laden zur Generierung von Profit umzustrukturieren. Schließlich kann man die Stellen doch nicht unendlich lange am Tropf der Steuergelder hängen lassen, nicht wahr … So sieht die ganze Geschichte der französischen Industrie, allen voran des Alstom-Konzerns, aus! Die Illusion eines nationalen Kapitalismus Was für Alstom gilt, gilt für die gesamte Wirtschaft. Der wiedergefundene, mit „intelligentem Nationalismus“ und „wirtschaftlicher Souveränität“ gekreuzte „nationale Kapitalismus“ ist eine Falle. Das Problem ist nicht, zwischen „reinem“ Liberalismus und staatlichen Subventionen für Privatkonzerne, zwischen Freihandel und Protektionismus etc. zu wählen. Nicht darum geht es, in einen Wettlauf um die Wiederaufrüstung der Zölle einzusteigen, um Grenzen für ausländische Waren zu errichten oder zu verstärken, was zwangsläufig alle gleich machen würden, sondern darum, dem Kapital Grenzen zu setzen. Das Recht einzuschränken (oder warum nicht ganz aufheben), nach Belieben überall zirkulieren und nach Belieben entscheiden zu können, wo man produziert, Steuern und Beiträge zahlt, ArbeiterInnen und Gebiete gegeneinander ausspielt, sie ausbeutet und Profit erwirtschaftet. Wenn PolitikerInnen, die ganz und gar hinter dem Kapitalismus und den Interessen der herrschenden Klasse stehen, protektionistische Argumente anführen, tun sie das sehr bewusst. Sie nutzen sowohl Vorurteile als auch den gut nachvollziehbaren Überdruss über das verlogene Geschwafel derer aus, die eine strahlende Zukunft in Aussicht gestellt haben, sofern man sich nur den „modernen Zeiten“ des Freihandels, der Globalisierung „anpassen würde“ etc., und verschieben das Problem dorthin, wo es keine Lösung gibt, oder zumindest nicht für die ArbeiterInnen. Genau deshalb sprechen die nationalistischen Demagogen, die an den Lippen der Bourgeoisie hängen, fast nie von dem, was doch die Hauptstütze der gegenwärtigen Globalisierung (und übrigens auch der Europäischen Union) ist: die Freizügigkeit des Kapitalverkehrs. Wenn Intellektuelle, GewerkschafterInnen und PolitikerInnen, die sich als „links“ oder als „linksradikal“ verstehen, an diesem Diskurs anknüpfen (genauer gesagt: diese Maßnahmen erwähnen, ohne eine davon untrennbare radikal antikapitalistische Politik zu fordern), tragen sie, ob naiv oder zynisch, dazu bei, dass die Probleme nicht dort angepackt werden, wo es nötig wäre, und nehmen in Kauf, dass sich das nationalistische Gift noch mehr ausbreitet. Was nicht bedeutet, dass man den beschaulichen Agnostiker spielen sollte, was den wahren Charakter der Europäischen Union betrifft, oder sich nicht für den Kampf gegen den TTIP-Vertrag interessieren sollte, der als Freihandelsabkommen die großen kapitalistischen Konzerne ja gerade von allen Sozial- und Umweltauflagen befreien soll und ein Schiedsgericht einführt, das den Multis erlauben würde, Staaten verurteilen zu lassen, wenn sie ihre Profite einschränken, indem sie so unerträgliche, so totalitäre Regeln einführen wie die Zahlung eines Minimums an Steuern oder das Verbot, Menschen allzu sehr zu vergiften … Plan A, plan B ... Dabei geht es gerade aber auch um „vorausschauende“ Alternativszenarien, Plan A und Plan B, was gerade im Fall der Europäischen Union besonders krass zutage tritt. Das „linke Souveränitätsdenken“ behauptet in gewisser Weise nicht nur, dass es keine mit den aktuellen Institutionen der Europäischen Union vereinbare fortschrittliche, die ArbeiterInnen schützende Politik geben kann, was ja weitgehend zutrifft, sondern auch, dass man vorab als eine Art „übergeordnete (und vorrangige) Notmaßnahme“ zuerst aus der EU austreten müsste. Danach würde wieder alles möglich … Ist es nicht gefährlich (und verantwortungslos), die Sachlage in dieser Weise darzustellen, wo heute unter den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen in Europa und den Vereinigten Staaten durch solche „Brüche“, die die „nationalen Souveränitäten“ wiederherstellen würden (die im Übrigen auch nie verschwunden waren, denkt man nur an die nationalen Regierungen, die sehr genau wissen, was sie tun, und dies mit Inbrunst verfolgen), aller Voraussicht nach reaktionäre politische Kräfte an die Macht kämen, die den ArbeiterInnen für die „Heimat“ (und den Franc) genauso viele Opfer abverlangen würden wie vorher, um sich sozusagen „der Welt (Europa, dem Euro) anzupassen“? Ist es überdies nicht erwiesen, dass der große Fehler etwa der Regierung Syriza in Griechenland nicht nur darin bestand, angesichts der Erpressungen der anderen europäischen Regierungen und der internationalen Finanzkonzerne den Austritt aus der Europäischen Union und dem Euro nicht vorbereitet zu haben, sondern darüber hinaus nicht einmal Maßnahmen vorgesehen zu haben, um die Kontrolle über das griechische Kapital, die griechischen Banken etc. zu übernehmen? Ohne solche vorangehende antikapitalistische Maßnahmen war es unvermeidbar, dass die Beibehaltung des Euro wie auch die Inprekorr 1/2017 37 D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E Rückkehr zur Drachme der lohnabhängigen Bevölkerung nur Blut und Tränen bringen und diese reformistische Linke zur „Ohnmacht“ verdammen musste. Der Macht des Kapitals zumindest Grenzen zu setzen, von diesem (Klassen-)Standpunkt könnte man vernünftigerweise in der heutigen Welt den traditionellen Dreisatz des Marxismus übernehmen: Personenfreizügigkeit ja, Freizügigkeit des Kapitals nein, freie Warenzirkulation je nachdem. 1 Die Rafale (französisch für Böe oder Windstoß) ist ein zweistrahliges Mehrzweckkampfflugzeug des französischen Herstellers Dassault Aviation (https://wikipedia.org/wiki/ Dassault_Rafale). können. Zunehmend werden einander ähnliche Güter ausgetauscht (Frankreich beispielsweise importiert und exportiert Autos – die Ökonomen sprechen von einem substitutiven oder brancheninternen Handel); oder es werden Komponenten gekauft bzw. verkauft, die in einem bestimmten Land zusammengebaut werden, aber ausgehend von Gütern, die anderswo hergestellt werden. Überdies sind oft gerade Herstellerfirmen die treibenden Kräfte der Einfuhr und der Ausfuhr (die ihre Produktion ganz oder teilweise auslagern: Nike und Apple haben diesen Prozess bis zum Äußersten getrieben), oder Handelsfirmen, die im Ausland die Güter für ihre Regale unter ihrer Kontrolle fabrizieren lassen (so gehören H&M, Zara und Carrefour zu den Auftraggebern in Bangladesch). Die unterschiedlichen Facetten des internationalen Handels FREIHANDEL ALS GLOBALISIERTE KONKURRENZ GEGEN DIE LOHNABHÄNGIGEN Die heutige Realität des Welthandels weicht in seinen Formen weit von der traditionellen Vorstellung ab, nach der ein Land A einem Land B die Produkte abkauft, die ihm fehlen oder die dieses zu besseren Bedingungen herstellen kann: Seine Formen werden immer vielfältiger und komplexer. Henri Wilno Der internationale Warenverkehr beruht immer weniger auf Gütern, die nicht oder nur unvollständig auf dem Gebiet der beteiligten Nationalstaaten hergestellt werden 38 Inprekorr 1/2017 Die internationalen Kapitalbewegungen sind seit den 1980er-Jahren liberalisiert worden und seither beträchtlich angewachsen. Kapitalbewegungen und Warenbewegungen lassen sich nicht völlig voneinander trennen: Die aktiven französischen Auslandsinvestitionen (oder die passiven Auslandsinvestitionen in Frankreich) zum Zwecke der Produktion (im Unterschied zu Portfolioinvestitionen) sind Kapitalbewegungen, die Warenbewegungen auslösen werden (Einfuhren in Frankreich im Fall von Auslagerungen), oder sie werden frühere Warenbewegungen ersetzen (wie beispielsweise die Erstellung einer Produktionseinheit in China, die Güter für den chinesischen Markt produzieren soll, die früher vom Mutterunternehmen importiert wurden). Die Herausbildung von multinationalen Firmen ist die Frucht solcher internationaler Investitionen. Diese Firmen spielen fortan eine sehr wichtige Rolle: Der Handel innerhalb der Unternehmen (zwischen den Filialen der gleichen Firma) beträgt zwischen 30 und 50 % (diese Zahl ist schwierig zu ermitteln) des internationalen Handels, wo die Rechnungsstellung aufgrund von „Transferpreisen“ und nicht aufgrund von „Marktpreisen“ erfolgt (auch wenn dieser Begriff nicht immer einen Sinn ergibt). Dieser Transferpreis erlaubt es, die Gewinne in denjenigen Staaten zu verrechnen, wo sie am wenigsten besteuert werden. Alles in allem aber sind die Kapitalbewegungen nur zu einem kleinen Teil an die reellen Warenbewegungen gebunden: Die Finanzmärkte haben überall ihre Knospen getrieben. Und schließlich haben auch die internationalen Wanderungsbewegungen der Arbeitskräfte neue Formen ange- D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E nommen. Der Rückgriff auf illegale Einwanderer ohne gültige Ausweispapiere spielt in den entwickelten kapitalistischen Ländern eine wichtige Rolle, so wie in China die inneren Wanderungsbewegungen von Arbeitskräften, die für die großen Städte keine gültigen Niederlassungsbewilligungen besitzen. Dazu kommt in Europa noch eine spezielle gesetzliche Regelung der Illegalität für „entsandte Arbeitskräfte“ (s. u. S. 41f.),, die es den Unternehmern erlaubt, die reduzierten Sozialabgaben des Heimatlandes der Lohnabhängigen zu bezahlen. TTIP und CETA Die großen kapitalistischen Unternehmen nutzen im Alltag das gesamte Spektrum dieser Elemente aus. Die kapitalistische Welt lebt vom Schwung der Liberalisierungsmaßnahmen des Waren- und Kapitalverkehrs, die vom GATT und später von der WTO und vom IWF im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts angestoßen wurden. Regionale Wirtschaftsabkommen wie NAFTA (USA-Kanada, Mexiko) ergänzen und verstärken diese, während die Europäische Union (EU) eine umfassende Freihandelszone aufgezogen hat. Die neuerlichen internationalen Freihandels-Verhandlungen der EU wie der transatlantische Freihandelsvertrag mit den USA (TTIP) sowie CETA (Freihandelsvertrag mit Kanada) betreffen die Zollrechte nur am Rande. Diese sind im Allgemeinen für industrielle Erzeugnisse bereits schwach, selbst wenn sektorielle Ungleichheiten vorhanden sind. Es geht dabei im Wesentlichen um Normen, die juristische, finanzielle, kulturelle, ökologische, gesundheitliche etc. Fragen betreffen. Allgemein gesprochen betreffen diese Normen die Merkmale der hergestellten Produkte und die Bedingungen ihrer Vermarktung. Es geht nicht darum, diese Regelungen zu idealisieren, denn die Lobbys der Unternehmer haben auf ihre Festlegung großen Einfluss ausgeübt; sie sind aber in mancher Hinsicht, gerade im Bereich der Landwirtschaft und der Nahrungsmittel (etwa in der Frage der gentechnisch veränderten Organismen) in den USA weniger strikt. Bei diesen Verhandlungen geht es auch um den Abbau von Schiefergas, die öffentlichen Dienstleistungen, die Reglementierung der Finanzmärkte, das Versicherungswesen etc. Gegenwärtig (und vielleicht nur vorläufig) hat das TTIP Startschwierigkeiten: Hollande hat eine Aussetzung der wegen der US-Wahlen ohnehin derzeit ruhenden Verhandlungen gefordert, CETA könnte aber demnächst ratifiziert werden. Es beruht auf denselben Grundsätzen wie das TTIP, insbesondere der Einrichtung eines privaten Schiedsgerichtes, das den kanadischen Mul- tis (und der Mehrheit derjenigen US-amerikanischen Firmen, die in Kanada Niederlassungen betreiben) erlaubt, die europäischen Staaten zu belangen, sofern diese eine Politik betreiben, die die Rentabilität ihrer Investitionen gefährdet; dazu kommen Zollsenkungen für landwirtschaftliche Produkte, die Absenkung der Umweltstandards, der Abbau der öffentlichen Dienstleistungen usw. Ein abgekartetes Spiel gegen die Lohnabhängigen Die Globalisierung „mit menschlichem Angesicht“ hat sich als abgekartetes Spiel herausgestellt. Die Lohnabhängigen wissen sehr wohl, dass diese letztlich nur darauf hinausläuft, sie untereinander in Konkurrenz zu setzen, um die Profite zu maximieren. Es erstaunt daher nicht, dass die protektionistischen Forderungen wie in anderen Epochen des Kapitalismus ein breites Echo finden, das durch verschiedene Politiker und Politikerinnen nur noch verstärkt wird, in Frankreich von Le Pen bis zu Mélenchon. Sie teilen alle die Ansicht, dass die ausländische Konkurrenz an der Zerstörung der Arbeitsplätze und an der Schließung von Fabriken schuld sei. Zunächst jedoch muss klargestellt werden, dass eine Vielzahl von Arbeitsplätzen nicht oder nur marginal der ausländischen Konkurrenz unterworfen ist; dies gilt für die öffentlichen und privaten Dienstleistungen (Verwaltung, Gesundheit, Banken, usw.) wie auch für den Bausektor bei öffentlichen Aufträgen. Wenn in diesen Bereichen die Beschäftigung zurückgeht, dann haben dies die öffentlichen oder privaten Arbeitgeber zu verantworten, genauso wie die Beschäftigung von entsandten Lohnabhängigen oder SchwarzarbeiterInnen. Was die Auswirkungen des Außenhandels auf die Beschäftigung angeht, sind vor allem die Industrie und bestimmte Dienstleistungen, die auslagerbare Bereiche beinhalten, wie Call center, InformatikDienstleitungen usw., betroffen. Sicher werden die Verluste von Arbeitsplätzen schlussendlich alle Bereiche betreffen, da ein abgebauter Arbeitsplatz in der Industrie mindestens einen Arbeitsplatz anderswo gefährdet. Sämtliche ernsthaften ökonomischen Untersuchungen zeigen, dass die Standortverlagerungen nur einen beschränkten Teil der abgebauten industriellen Arbeitsplätze erklären: höchstens 20 % im Zeitraum von 1995 bis 2001, als sich der wirtschaftliche Aufstieg von China und den zentral- und osteuropäischen Ländern (die mittlerweile Mitglieder der EU sind) vollzog. Einer Studie der französischen Zentralbank zufolge haben die Importe aus China zwischen 2001 (als China der WTO beitrat) und 2007 in der französischen Industrie zur Zerstörung von 90 000 Inprekorr 1/2017 39 D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E Arbeitsplätzen geführt, was 13 % der insgesamt abgebauten industriellen Arbeitsplätze entspricht. Dies bedeutet nicht, dass diese Entwicklung einzelne Bereiche nicht erheblich getroffen hätte (Textil-, Schuhindustrie etc.), vor allem, wenn man die Billigimporte durch die Supermarktketten berücksichtigt. Diese Arbeitsplatzverluste haben für die betroffenen Lohnabhängigen oft dramatische Auswirkungen. Grundsätzlich jedoch drückt das hemmungslose Streben des Kapitals nach Produktivitätsgewinnen angesichts schwindender Absätze auf dem Binnenmarkt infolge des Lohndumpings viel schwerer auf die Arbeitsplätze. Die „Deindustrialisierung“ und das Außenhandelsdefizit verweisen zudem auch auf die Schwächen der industriellen Struktur Frankreichs. Diese Schwächen sind ihrerseits Folgen staatlicher Entscheidungen (Überbetonung der atomar-militärischen Sektoren, Mängel im Kreditsystem, Subventionierung der privatwirtschaftlichen Forschung, die im Großen und Ganzen einer zusätzlichen Subvention für die Unternehmer gleichkommt) und/oder Konsequenz von Unternehmensentscheidungen, die in Verbindung mit dem Druck der Aktionäre von einer kurzfristigen Logik geprägt sind; es sei an die Tatsache erinnert, dass die Großunternehmen, beispielsweise in der Automobilindustrie, ihre Standortwahl treffen, ohne sich um ihre Nationalität zu kümmern, sich aber sehr wohl daran erinnern, wenn sie Hilfe brauchen. Jede fortschrittliche – und erst recht jede antikapitalistische – Position zum internationalen Freihandel sollte zwei Aspekte berücksichtigen: Sowohl im Norden wie im Süden haben die Lohnabhängigen andere Interessen als ihre Bourgeoisie. Die Völker des Südens müssen ihren Weg selbst bestimmen und die Ketten des Kapitalismus abschütteln. Die Länder des Nordens, die die Weltwirtschaft lange beherrscht haben – und dies im Großen und Ganzen weiterhin tun –, haben kein Recht, den Ländern des Südens die Bedingungen ihrer Entwicklung zu diktieren. Daraus resultiert, dass das Prinzip des Protektionismus abzulehnen ist, zumindest in den imperialistischen Ländern wie Frankreich. Am Ende des 19. Jahrhunderts unterstrich Jaurès, dass der Protektionismus die falsche Lösung ist, die nur „der Minderheit der Großagrarier nützen kann“. Die nichtstalinistische Tradition des Marxismus betrachtet in diesem Sinne alle protektionistischen Maßnahmen der dominierenden Staaten im Kapitalismus mit Misstrauen. Zumal die Industrialisierung in den dominierten Ländern, selbst wenn sie barbarische Formen annimmt, diese aus der Abhängigkeit von der Landwirt40 Inprekorr 1/2017 schaft herausführt, wohingegen ihre Landwirtschaft weiterhin gegen die Produkte aus den reichen Ländern konkurrieren muss. Die zerstörerischen Aspekte der kapitalistischen Globalisierung Marx hat indessen die Ungleichheit zwischen den Ländern („ein Land kann sich auf Kosten des anderen bereichern“) und die strategische Wichtigkeit bestimmter Industriezweige betont, „welche alle anderen beherrschen und den sie vorzugsweise betreibenden Völkern die Herrschaft auf dem Weltmarkt sichern“. Auch wenn wir jede Solidarität mit den Unternehmern ablehnen, sollten wir auch die nachteiligen Folgen des Freihandels beachten. Zunächst die Folgen für die Arbeitsbedingungen und die Löhne in den Ländern des Nordens. Die direkten Auswirkungen der Standortverlagerungen und des Handels mit den Billiglohnländern auf die Beschäftigung in den Ländern des Nordens sind sicher begrenzt; aber das Lohndumping ist auch eine Waffe der Konkurrenz zwischen entwickelten kapitalistischen Ländern: In der Europäischen Union begaben sich der deutsche Staat und die deutschen Unternehmer zu Beginn der 2000er-Jahre mit Nachdruck daran, das Lohnniveau zu senken. Der Druck auf die Löhne ist in den Ländern des Südens ebenfalls stark. Die Drohung, die Produktion in Gebiete zu verlagern, wo die Lohnabhängigen gezwungen sind, zu noch härteren Bedingungen oder zu noch geringeren Löhnen zu arbeiten, ist andauernd vorhanden. Die Sektoren in den Entwicklungsländern, die nicht in der Lage sind, den Normen des Welthandels zu genügen, werden beiseite gedrängt; am deutlichsten wird dies in der sogenannten traditionellen Landwirtschaft. Schlussendlich hat der verallgemeinerte Freihandel zerstörerische Auswirkungen auf die Umwelt. Die Globalisierung der kapitalistischen Produktionsweise wird von massiven Strömen industrieller und landwirtschaftlicher Produkte begleitet, die teilweise mit den natürlichen Gegebenheiten der Länder in keinerlei Beziehung stehen. So werden zahlreiche Waren oder teilgefertigte Waren zwischen den Ländern, aber auch innerhalb der Länder, unnötigerweise über weite Strecken transportiert, mit all den nachteiligen Auswirkungen auf die Umwelt. Den freien Kapitalverkehr bekämpfen In Frankreich konzentriert sich die Debatte im Wesentlichen auf den Handel mit Niedriglohnländern und, in D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E diesem Rahmen, auf die Einfuhren und die Standortverlagerungen. Dieser Akzent auf den Warenhandel geht einesteils auf die unmittelbaren Sorgen der Lohnabhängigen in der Industrie zurück, die in ihrem Alltag der Erpressung der Unternehmer mittels der Konkurrenz der Niedriglohnländer ausgesetzt sind. Er entspringt aber auch einer falschen Analyse oder der Absicht, sich vor einer großen Hürde drücken zu wollen, die der freie Kapitalverkehr für jedwede Politik bedeutet, die die Gesellschaft ernsthaft transformieren will. Die Ablehnung des Protektionismus bedeutet keinesfalls die Einwilligung in die zwischen den kapitalistischen Industrieländern ausgehandelten Freihandelsverträge wie TTIP oder CETA, die den Gesundheitsschutz untergraben oder die öffentlichen Dienstleistungen gefährden. Diese Verhandlungen werden oft als ein Interessenkonflikt zwischen der EU und den USA dargestellt. In Tat und Wahrheit geht es um ein Instrument der neoliberalen Offensive, das auf beiden Seiten des Atlantiks entwickelt wurde, und die multinationalen Konzerne zielen ebenso auf bestimmte US-amerikanische Bestimmungen, speziell auf die Aufträge der öffentlichen Hand . US-amerikanische Gewerkschaften verweisen übrigens darauf, dass die US-amerikanischen Lohnabhängigen in keiner Weise davon profitieren können, wenn die stärkeren europäischen Schutzklauseln infrage gestellt werden. Die Kapitalbewegungen spielen ihrerseits – wegen der Spekulation gegen die internationale Verschuldung und gegen die Währungen – eine zentrale Rolle bei der Rechtfertigung der Austeritätspolitik. Der freie Kapitalverkehr verstärkt überall den Druck auf die Löhne und die Arbeitsbedingungen, da er überall den maximalen Profit herauspressen will. Dadurch können die großen Kapitalgruppen ihre Gewinne der Versteuerung entziehen. Insofern ist es Pflicht jeder antikapitalistischen Politik, gegen den freien Kapitalverkehr zu kämpfen. Quelle: l’Anticapitaliste, la revue mensuelle du NPA, N°80, Oktober 2016. Übersetzung: Willi Eberle ENTSANDTE ARBEITER_INNEN: AUSGEBEUTETE, KEINE KONKURRENTINNEN! „Ein grenzüberschreitend entsandter Arbeiter […] stiehlt den einheimischen Arbeitern das Brot“, erklärte Jean-Luc Mélenchon1 am 5. Juli vor dem Europaparlament. Derlei dummdreistes und ekelerregendes Gedankengut muss unbedingt widerlegt und bekämpft werden Henri Wilno Ein „grenzüberschreitend entsandter“ Arbeiter ist ein Lohnabhängiger, der von seiner Firma in ein anderes Mitgliedsland der EU geschickt wird, um dort vorübergehend eine Dienstleistung zu erbringen. Geregelt wird diese Entsendung durch eine EU-Richtlinie von 1996. Dabei müssen der gesetzliche Mindestlohn (sofern vorhanden) des Ziellandes und die dortigen gesetzlichen Regelungen zur Höchstarbeitszeit, Lohnfortzahlung im Urlaubs- und Krankheitsfall sowie Sicherheit und Hygiene am Arbeitsplatz zur Anwendung kommen. Für die Beiträge zur Sozialversicherung gelten jedoch die Bestimmungen des Herkunftslandes. 2015 waren in Frankreich offiziell 286 025 entsandte ArbeiterInnen registriert, was einer Zunahme von 25 % binnen Jahresfrist und einer Verzehnfachung innerhalb von zehn Jahren entspricht. Am stärksten davon betroffen ist das Baugewerbe, wo 27 % der entsandten ArbeiterInnen tätig sind. Danach kommen die Zeitarbeitsbranche mit 25 % und die Industrie mit 16 %. Die Zahl der nicht gemeldeten EntsendearbeiterInnen liegt bei mindestens 80 000, manchen Quellen zufolge sind sie sogar gleich hoch wie die offiziellen Zahlen. Spitzenreiter sind dabei bestimmte Unternehmen wie die Werft STX France in Saint-Nazaire, wo nach Angaben der Direktion während Auftragsspitzen 25 bis 30 Prozent Entsendearbeiter tätig sind, also 1500 bis 2000 der insgesamt Inprekorr 1/2017 41 D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E 6000 Beschäftigten bei STX und den Subunternehmen. Ein anderes Beispiel ist EDF, die in Dunkerque bei der Errichtung des Flüssiggas-Terminals bis zu 59 % ausländische Arbeitskräfte beschäftigt hat. Eine kürzlich im Auftrag des Finanzministeriums durchgeführte Studie (Trésor Eco n° 171, Juni 2016) ergab, dass es für ein französisches Unternehmen gleich teuer ist, ob es auf einem zum Mindestlohn bezahlten Arbeitsplatz einen offiziell gemeldeten Entsendearbeiter aus Portugal, Rumänien, Polen oder Spanien beschäftigt oder direkt einen, der den heimischen Bestimmungen unterliegt. Dies trifft freilich nur zu, wenn die gesetzlichen Normen, besonders hinsichtlich der Überstunden, beachtet werden, was nach den Erfahrungen der Aufsichtsbehörden oft nicht der Fall ist. Unterqualifiziert beschäftigt und rechtlos In vielen Unternehmen gelten tarifliche Zuschläge, von denen die Entsendearbeiter jedoch nichts sehen. Außerdem werden sie zumeist unterhalb ihrer Qualifikation bezahlt. Libération hat sich am 19. Juli 2016 mit den polnischen EntsendearbeiterInnen auf einer Baustelle in Paris befasst, wo Gebäude entstehen, in denen Dienststellen des Premierministers Valls untergebracht werden sollen. Die Schweißer dort verdienen den französischen Mindestlohn und normalerweise werden ihre Überstunden bezahlt. Die Zeitung schreibt dazu: „Wie aber kann sicher gestellt werden, dass der Unternehmer sie [die Überstunden] auch deklariert und keinen Missbrauch betreibt? Die Geschäftsführerin des Unternehmens, das die betreffenden Arbeiter beschäftigt, versichert, dass „es die Entsendearbeiter sind, die auf Überstunden drängen. So können sie für 44 Stunden pro Woche einschließlich Überstunden zwischen 1700 und 1900 Euro netto verdienen. Für uns ist dies natürlich billiger [als wenn franz. Arbeitskräfte beschäftigt wären].“ Auch hier wieder sind diese Zahlen unmöglich zu überprüfen, da wir keinen Arbeitsvertrag zu Gesicht bekommen konnten. Sicher jedoch ist, dass ein französischer Schweißer zwischen 2500 und 4000 Euro netto hier verdienen würde …“ Die oben zitierte Studie des Finanzministeriums schreibt, dass nach einer EU-Untersuchung die EntsendearbeiterInnen in bestimmten Branchen, besonders im Speditionsgewerbe, bis zu 50 % weniger verdienen als einheimische Fahrer. Dies zeigt, dass nicht die EntsendearbeiterInnen den französischen KollegInnen die Butter vom Brot nehmen. Vielmehr sind sie ArbeiterInnen wie die anderen auch, 42 Inprekorr 1/2017 nämlich Opfer einer verschärften Ausbeutung, und wie bei ihren französischen KollegInnen sind es die französischen Unternehmer, die sie einstellen und entlassen. Die EURichtlinie von 1996 sieht keine betriebliche Vertretung für die EntsendearbeiterInnen vor, was die Einhaltung der gesetzlichen und tariflichen Regelungen natürlich erschwert. Anstatt die einen ArbeiterInnen gegen die anderen auszuspielen, müssen wir für die Losung eintreten: „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“. Und dem wäre nach europäischem Recht eigentlich so, meint der Jurist Jacques Freyssinet, wenn nicht in der Richtlinie von 1996 die Entsendearbeit als Dienstleistung eingestuft würde, sondern als das, was sie in Wahrheit auch ist: ein grenzüberschreitender Verkehr der betreffenden ArbeiterInnen zu ihrem Arbeitsplatz jenseits der Grenze. Übersetzung MiWe 1 Vorsitzender des Parti de Gauche und Präsidentschaftskandidat 2017, der u. a. von dem Bündnis „Faisons front commun“ unterstützt wird, das weit in die Reihen von Ensemble reicht. MARX UND JAURÈS ÜBER ZOLLSCHRANKEN Im Zuge damaliger Debatten haben Karl Marx und später Jean Jaurès die noch immer aktuellen Grundzüge für eine antikapitalistische und sozialistische oder kommunistische oder überhaupt fortschrittliche Position zur Frage des Freihandels und des Protektionismus dargelegt. Henri Wilno In seiner „Rede über die Frage des Freihandels“ vom 9. Januar 18481 nimmt Marx zur Diskussion über die Abschaffung der Korngesetze2 Stellung. Gegenüber den Liberalen, die diese Gesetze abschaffen wollten, argumentierte er: „Um zusammenzufassen: Was ist also unter dem heuti- D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E gen Gesellschaftszustand der Freihandel? Die Freiheit des Kapitals.“ Aber weiter unten schreibt er: „Glauben Sie aber nicht, meine Herren, daß, wenn wir die Handelsfreiheit kritisieren, wir die Absicht haben, das Schutzzollsystem zu verteidigen. […] Aber im allgemeinen ist heutzutage das Schutzzollsystem konservativ, während das Freihandelssystem zerstörend wirkt. Es zersetzt die bisherigen Nationalitäten und treibt den Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie auf die Spitze. Mit einem Wort, das System der Handelsfreiheit beschleunigt die soziale Revolution. Und nur in diesem revolutionären Sinne, meine Herren, stimme ich für den Freihandel.“ Der Kontext im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts lag anders: Die Protektionisten griffen die Konkurrenz aus dem Ausland an und Jaurès wies nachdrücklich auf die Grenzen solcher protektionistischen Lösungsvorschläge hin 3: „Es ist vor allem von der Auslandskonkurrenz die Rede und die anderen Ursachen der Misere werden übergangen, selbst die, gegen die man etwas unternehmen könnte; dabei wäre das am einfachsten zu lösende Problem die Zollfrage“. Über die Grundpositionen der Sozialisten äußert er sich so: „Es geht hier nicht um die Schutzzölle als Prinzip. Die Sozialisten sind keine Protektionisten, so wie Méline, aber genauso wenig sind sie Verfechter des Freihandels wie Say oder Aynard4 […] Der Sozialismus, nämlich die gesellschaftliche Organisation der Produktion und des Handels, schließt zugleich den Protektionismus, der heutzutage nur der Minderheit der Großagrarier nutzen kann, und den Freihandel aus, der nur die internationale Form der wirtschaftlichen Anarchie darstellt.“ Beide Zitate liefern eine Antwort auf eine nationale Debatte – zunächst in England, dann in Frankreich – die da lautet: Kann die Arbeiterbewegung an protektionistischen Maßnahmen interessiert sein? In der bereits zitierten „Rede über die Frage des Freihandels“ geht Marx in sehr hellsichtiger Weise auf die Auswirkungen des Freihandels auf die internationale Arbeitsteilung ein: „Alle destruktiven Erscheinungen, welche die freie Konkurrenz in dem Innern eines Landes zeitigt, wiederholen sich in noch riesigerem Umfange auf dem Weltmarkt. […] Man sagt uns zum Beispiel, daß der Freihandel eine internationale Arbeitsteilung ins Leben rufen und damit jedem Lande eine mit seinen natürlichen Vorteilen harmonierende Produktion zuweisen würde. Sie glauben vielleicht, meine Herren, daß die Produktion von Kaffee und Zucker die natürliche Bestimmung von Westindien sei. Vor zwei Jahrhunderten hatte die Natur, die sich nicht um den Handel kümmert, dort weder Kaffeebäume noch Zuckerrohr gepflanzt. Und es wird vielleicht kein halbes Jahrhundert dauern, bis Sie dort weder Kaffee noch Zucker mehr finden. denn bereits hat Ostindien durch billigere Produktion gegen diese angeblich natürliche Bestimmung von Westindien den Kampf siegreich aufgenommen. […] Noch ein Umstand darf dabei nie aus dem Auge gelassen werden: der nämlich, daß, wie alles Monopol geworden ist, es auch heute einige Industriezweige gibt, welche alle anderen beherrschen und den sie vorzugsweise betreibenden Völkern die Herrschaft auf dem Weltmarkt sichern. Wenn die Freihändler nicht begreifen können, wie ein Land sich auf Kosten des anderen bereichern kann, so brauchen wir uns darüber nicht zu wundern, da dieselben Herren noch weniger begreifen wollen, wie innerhalb eines Landes eine Klasse sich auf Kosten einer anderen bereichern kann.“ Übersetzung: MiWe 1 Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 4, S. 444 – 458, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1972 2 Die „Korngesetze“ waren zwischen 1815 und 1828 in Großbritannien verabschiedet worden, um die Getreideeinfuhr aus dem Ausland einzudämmen. Die mit der Industrie verbundenen britischen Liberalen hingegen befürworteten niedrige Getreidepreise, um somit die Löhne niedrig halten zu können, und versuchten in diesem Sinne auf die Regierung einzuwirken. Schließlich konnten sie sich 1846 durchsetzen. Ihre Propaganda zielte auf die Einbindung der unteren Klassen in die Kampagne: Billiges Brot und die Schaffung von Arbeitsplätzen seien die natürliche Folge des Freihandels. 3 Vgl. auch Rita Aldenhoff-Hübinger, Agrarpolitik und Protektionismus. Deutschland und Frankreich im Vergleich, 1879 - 1914 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Bd. 155), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002 4 Alle drei Genannten waren Politiker und Wirtschaftswissenschaftler in der damaligen Zeit. Inprekorr 1/2017 43 D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E FREIHANDEL UND SCHUTZZÖLLE IN DER LANDWIRTSCHAFT Wie in anderen Bereichen auch verlangt die mittlerweile bis zum Äußersten vorangetriebene Logik des kapitalistischen Systems, immer mehr zu immer geringeren Kosten zu produzieren – nicht um menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, sondern um Profite zu erzielen. Wenngleich der globalisierte Freihandel verheerende Auswirkungen hat, so sind die mitunter gepriesenen protektionistischen Lösungsansätze bloße Augenwischerei. Gérard Florenson Wenn der Handelspreis für Schweinefleisch weit unter die Produktionskosten fällt, vergreifen sich die aufgebrachten Viehzüchter am importierten Schweinefleisch in den Supermarktregalen. Laster mit Frischobst werden an der spanischen Grenze blockiert und leer geräumt, genauso inzwischen Tanklaster mit Wein. Ein Teil der Landwirte fordert, Importe zu beschränken oder gar zu verbieten, moderatere Kreise vertrauen lieber auf das Etikettieren der Waren und auf Medienkampagnen mit dem Tenor „Esst und trinkt französische Produkte!“. Damit erhebt sich Volkes Stimme gegen den Freihandel und die Abschaffung der Schutzzölle entlang der GATT-Verträge und plädiert für eine Rückkehr zum Protektionismus. Dies ist kein französischer Sonderfall, sondern gilt auf unterschiedlichen Ebenen für alle Industrieländer, selbst für jene, die – wie Kanada und die USA – Exportriesen sind und in der Theorie den freien Warenverkehr befürworten. Durch die EU-Erweiterung auf stark agrarisch geprägte Länder mit geringeren Lohnkosten hat sich die Lage erst richtig zugespitzt, wobei die armen Länder nicht einmal mitbestimmen können. 44 Inprekorr 1/2017 So ist eine paradoxe Situation entstanden, in der sich die Frage stellt, ob ein Industriestaat wie Frankreich, das in so großem Umfang landwirtschaftliche Rohprodukte oder durch die Lebensmittelindustrie weiterverarbeitete Produkte exportiert1, dass Giscard d’Estaing einst von „grünen Bodenschätzen“ gesprochen hat, es sich noch erlauben kann, seine Grenzen zu schließen, ohne eine Retourkutsche zu riskieren, bspw. weiterhin Weizen und Wein exportieren zu wollen, aber Melonen und Tomaten nicht ins Land zu lassen. Dieser Widerspruch zwischen einer vorgeblichen „Berufung“ als Exportnation und der Abschottung des Landes wegen seiner „vorbildlichen Handhabung der sozialen und ökologischen Belange“, die allenfalls noch in Europa ihresgleichen hat, wird auch nicht durch die Befürworter eines „intelligenten Protektionismus“ ausgeräumt. Die Scharlatane des Front National berufen sich auf ökologische Gründe, wenn sie gegen den Import minderwertiger Produkte zu Felde ziehen, die schädlich seien, wie alles, was von woanders kommt. Im gleichen Atemzug unterstützen sie diejenigen, die weniger „Umweltschutzauflagen“ fordern, da die doch nur der Wettbewerbsfähigkeit „unserer“ Agrarunternehmen schaden, und machen sich dafür stark, auf Putin zuzugehen, um wieder Zugang zum russischen Markt zu erhalten. Aber kann man umgekehrt dem kleinen Gemüsebauern Großmachtchauvinismus vorhalten, wenn er sieht, wie inmitten seiner Ernte Obst und Gemüse angeliefert werden, deren Verkaufspreis unter seinen eigenen Produktionskosten liegt? Wenn sich die Wurst aus Spanien gut verkauft, dann packt den bretonischen Schweinezüchter die Wut und es kann ihn kaum trösten, dass zugleich Milch und Getreide nach Spanien exportiert werden. Die Verfechter des Protektionismus können sich darauf berufen, dass regionale Erzeugung und Direktvertrieb sowie die Versorgung von Großküchen mit lokalen Produkten Vorteile bringt. Ebenso haben sie gute Argumente gegen Langstreckentransporte, den hemmungslosen Einsatz von Pestiziden und Antibiotika in den konkurrierenden Ländern und die miesen Arbeitsbedingungen der dortigen Beschäftigten. Natürlich teilen nicht alle dieselben fortschrittlichen Schlussfolgerungen. Es gibt etliche, die in der französischen Landwirtschaft lieber weniger Sozial- und Umweltbewusstsein haben und sich nicht um Feuchtgebiete scheren wollen und Gentechnologie befürworten. Aber dies stößt immer weniger auf allgemeine Akzeptanz. Zudem kommen solche reaktionären Positionen vorwiegend von den Landwirten, die weitgehend vom Export ihrer Güter leben und Einbußen befürchten. Daher auch D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E die Leugnung der Grünalgenplage in der Bretagne durch überhöhte Nitratbelastung oder die Befürwortung des Staudamms am Sivens-Massiv durch manche. Wie kam es zu Zollschranken? Alle Industriestaaten haben in der Vergangenheit auf protektionistische Maßnahmen zurückgegriffen und tun dies oft auch noch heute, um ihre Landwirtschaft vor der ausländischen Konkurrenz zu schützen. Auch wenn Großbritannien Mitte des 19. Jahrhunderts die gesetzlichen Hürden für Getreideimporte abgeschafft hat, um die eigene Arbeiterklasse billiger ernähren zu können, und damit einen anderen Weg als die anderen Nationen beschritten hat, darf man nicht vergessen, das sich das Land auf diese Weise vorwiegend für das eigene Kolonialreich geöffnet hat. In Frankreich hingegen haben manche Kolonialerzeugnisse, die ja per se keinen Handelsschranken unterlagen, den Protektionismus quasi umgangen und der einheimischen Produktion Konkurrenz bereitet. So hat etwa der Weinimport aus Algerien zu schweren Krisen geführt oder das Erdnussöl den heimischen Raps- und Olivenanbau in Bedrängnis gebracht. Der Freihandel im Landwirtschaftsbereich beruht auf der Theorie der komparativen Vorteile und der internationalen Arbeitsteilung, nämlich die Kosten zu senken und die Bevölkerung billig zu ernähren, indem Anbau und Viehzucht schwerpunktmäßig in den Regionen angesiedelt werden, die sich durch ausreichend Land und klimatische Bedingungen dafür eignen. Zudem sollte der Freihandel Innovationen fördern, da Bauern, die von der Konkurrenz abgeschottet sind, in Routine verfallen und keinen Anreiz haben, die Erträge durch bessere Techniken zu steigern. Dadurch stagniert die Produktion und die Preise steigen, was wiederum höhere Lohnforderungen bei der Arbeiterklasse hervorruft. Die Freihändler sind sich seit dem 19. Jahrhundert über die sozialen Folgen im Klaren, nämlich dass Kleinbauern, die nicht den „Weg des Fortschritts“ gehen können, verschwinden werden und dies zur Landflucht führt. Was aber keineswegs störte, weil die Industrie ja Arbeitskräfte brauchte und das Proletariat aus den landlosen Bauern gespeist wurde, somit also der Nachschub rollte. Der heutige Kapitalismus hat nicht mehr diese Ressourcen, so dass wegfallende Arbeitsplätze in der Landwirtschaft nur das Arbeitslosenheer vergrößern und in den armen Ländern die Landflucht zur Auf blähung der Elendsviertel in den Großstädten führt. Zollschranken sind aus zweierlei Gründen entstanden. Einerseits sollte die Ernährungssicherheit gewährleistet sein, auch in Zeiten, in denen kriegerische Auseinandersetzungen die Transportwege gefährdeten oder schlechte Wetterverhältnisse herrschten, was voraussetzte, dass eine breitgefächerte Landwirtschaft in sämtlichen Regionen erhalten blieb. Andererseits war man daran interessiert, dass möglichst viele Kleinbesitzer als eigene Klasse erhalten blieben, die dem herrschenden System treu ergeben waren. Im Gegensatz zu den Unkenrufen der Freihandelsbefürworter ermöglichte der Protektionismus in Frankreich und den anderen Industrieländern, dass sich über lange Zeit hinweg die Agrarproduktion im Rahmen kleinbäuerlicher Betriebe so entwickeln konnte, dass eine Selbstversorgung gewährleistet war und sogar darüber hinaus produziert wurde. Da sie vor der Konkurrenz durch Importwaren abgeschottet waren, konnten die Landwirte hinreichende Preise erzielen, die nicht nur zum Leben sondern auch für Investitionen langten. Erst ab dann verfügten die Herrschenden die Öffnung der Märkte, und zwar nicht, um sie für Importe zu öffnen, sondern um „unserer Berufung als Exportnation“ nachzukommen. Die Schaffung des EWG-Agrarmarkts 1962 folgte keineswegs einer liberalen Agenda, sondern passte eher die Zollschranken den Verhältnissen an. Die weiland sechs Mitgliedstaaten verfügten über unterschiedliche Schwerpunkte, nämlich mehr Ackerbau im Süden und mehr Viehzucht im Norden und für alle ein als viel zu hoch erachtetes Importvolumen für Nahrungsmittel. Also war die EWG bestrebt, den Handel untereinander zum gegenseitigen Vorteil auszubauen und gleichzeitig Schranken nach außen zu errichten, um die Landwirtschaft der Mitgliedsländer zu schützen. Durch in Abgaben umgetaufte Zölle sollte ein Schwellenpreis erzeugt werden, der den Preis für Importwaren auf das Niveau der einheimischen Produktion hob. Umgekehrt erleichterten Subventionen, die man Erstattungen nannte, den Export zu den herrschenden Weltmarktkonditionen. Die Methoden, die weiland die Entwicklung der Landwirtschaft in den Industrieländern ermöglicht haben, würden heute in den unterentwickelten Ländern sicherlich ein vergleichbares Ergebnis zeitigen, da dort die einheimische landwirtschaftliche Produktion viel zu schwach ist, um gegen die oftmals subventionierten Massenimporte bestehen zu können.2 Aber da sind die Wächter der liberalen Tugend außen vor und verhindern, dass die armen Länder dem Beispiel der Industrieländer folgen, die den Freihandel erst für sich entdeckt haben, als ihre Hegemonialstellung gesichert war. So importiert das traditionelle MaisanbauInprekorr 1/2017 45 D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E land Mexiko bspw. immer mehr Mais im Rahmen des Freihandelsabkommens mit seinen Nachbarn im Norden, da die enormen Ertragsunterschiede nicht durch die billigere heimische Arbeitskraft kompensiert werden können und so der Mais aus Mexiko teurer ist. Ein Gleichgewicht könnte nur durch Zölle und/oder Subventionen für die einheimischen Erzeuger hergestellt werden. Weltweite Handelskriege unter neoliberalen Vorzeichen Durch die fortschreitende Entwicklung des Transportwesens hat der Handel, auch in der Landwirtschaft, sprunghaft zugenommen. So kann bspw. Weizen von den Great Plains in den USA nach Europa verschifft werden oder argentinisches Rindfleisch und Lammfleisch aus Neuseeland die Weltmärkte erobern. Ursprünglich hatte Frankreich seine Getreidebauern erfolgreich vor der ausländischen Konkurrenz geschützt und war dadurch selbst zur Exportnation aufgestiegen. Aber inzwischen ist – allein auf dem Getreidesektor – ein harter Konkurrenzkampf entbrannt, nicht nur mit den USA, sondern auch mit Argentinien, Kanada, Australien oder der Ukraine. Auch andere Länder, die traditionell eher Getreide eingeführt haben, haben inzwischen die Produktion hochgefahren, während es auf den zahlungsfähigen Märkten immer enger zugeht. Der Agrarhandel ist zu einem regelrechten Schlachtfeld geworden, wo multinationale Industriekonzerne, aber auch Getreideriesen mit Unterstützung ihrer Herkunftsländer gegeneinander antreten. Alle Kniffe sind erlaubt, um Anteile auf dem unerwartet wenig ausbaufähigen Markt zu gewinnen. Die französische Ehrenlegion mag stärker wiegen als eine brasilianische Auszeichnung, wenn es darum geht, den saudischen König davon zu überzeugen, dass das gefrorene Geflügel aus Frankreich besser ist, ausschlaggebend ist jedoch das (stille) Einvernehmen mit den Verbrechen des dortigen Regimes. Manchmal sind es auch die gewährten Darlehen, die helfen, einen Markt zu erschließen. In diesem Handelskrieg gebärden sich natürlich diejenigen am liberalsten, die sich auf der Gewinnerstraße wähnen, sofern keine Wettbewerbsverzerrung herrscht. Mehr noch als die USA haben die sog. Schwellenländer BRICS auf die Abschaffung der Zollschranken und Subventionen gedrängt. Es gibt aber auch Hürden im Freihandel, die nicht finanzieller Natur sind, sondern aus nationalen oder kontinentalen Normen entspringen, nach denen die Einfuhr von nicht normgerechten Produkten oder ihr Vertrieb unter einer irreführenden Bezeichnung 46 Inprekorr 1/2017 verboten ist. In diesem Zusammenhang wird sogar die Etikettierung, auf der Herkunft oder Zusammensetzung des Produkts erwähnt wird, als protektionistisches Manöver angeprangert. Ziel des TTIP ist daher auch, die multinationalen Konzerne von dieser Pflicht zu entbinden. Und die französischen Konzerne gehören sicherlich nicht zu den letzten, die gegen die Etikettierungspflicht angehen. Es gibt auf der einen Seite die Agrarerzeuger und auf der anderen die Industrie. Zwischen den großen Lebensmittelkonzernen herrscht ein erbitterter Konkurrenzkampf. Ihr Interesse liegt im freien Handel der Roh- oder Halbfertigprodukte wie Zucker oder Ei- und Milchpulver, um ihre eigenen Produktionskosten zu senken. Genauso müssen sie auf die Preise von Kaffee oder Kakao drücken, natürlich zum Nachteil der Produzenten in den Entwicklungsländern. Selbstredend hält sich das französische Landwirtschaftsministerium, das auch für die Nahrungsmittelindustrie zuständig ist, in dieser Frage vornehm zurück – schließlich geht es ja um „unsere“ Wettbewerbsfähigkeit. Die Grenzen des Protektionismus Wenn die Winzer aus dem Languedoc gegen den Wein aus Spanien wettern, Tanklaster leeren oder die Anlagen der Importeure demolieren, macht dies wenig Sinn. Selbst wenn unter den Vorzeichen der Krise ein paar Flaschen billigen Weines in die Supermärkte gelangen, wird der französische Markt dadurch nicht gefährdet. Der Weinexport aus Frankreich zielt auf die hochpreisigen Segmente und darin sind die edlen Tropfen aus Spanien genauso teuer. Die importierten Weine aus Spanien kommen vorwiegend offen und ohne Herkunfts- oder Qualitätsbezeichnung und sind Billigware, die hauptsächlich verschnitten und in Drittländer verkauft werden. Insofern findet der Krieg auf diesem Sektor nicht unter dem Vorzeichen „Trinkt französische Weine!“ statt, sondern eher als „Exporte aus Frankreich stärken!“. Aber auch wenn die Tricksereien einzelner Händler zu verurteilen sind, sind protektionistische Maßnahmen kaum dafür geeignet, den französischen Winzern Wettbewerbsvorteile auf dem chinesischen Markt zu verschaffen gegenüber den spanischen Weinbauern. Dasselbe gilt für Getreide: Frankreich importiert nur wenig davon, es geht vielmehr um Weltmarktanteile. Innerhalb Europas nimmt Frankreich eine wenig komfortable Position ein. Noch weist Frankreich einen Bilanzüberschuss aus, was den Handel mit frischem Schweinefleisch angeht. Ganz anders sieht es bei Wurstwaren aus, wo sehr viel mehr importiert wird. Die Konkurrenz D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E hierbei sitzt in Deutschland, Spanien oder Dänemark. Die Tomaten kommen aus Spanien, aber auch aus Holland und viel weniger aus Marokko. Dies zeigt, dass eine Abschottung des europäischen Marktes gegenüber der restlichen Welt vielleicht vorstellbar, aber unwirksam wäre. Und ein Rückzeug jedes einzelnen Landes hinter seine Grenzen wäre nur dann sinnvoll, wenn es selbst auf den Export eigener Produkte verzichten oder sich auf marginale Handelsvolumina beschränken würde. Alle Rezepte, die den Freihandel zähmen wollen, stoßen genauso wie die, die den Kapitalismus angeblich regulieren oder zivilisieren wollen, an die Grenzen, die ihnen die immanente Logik des Systems setzt: immer mehr produzieren, nicht um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, sondern um zu verkaufen und Profite zu erzielen. Die Globalisierung dient dabei als Instrument und ihre sozialen und ökologischen „Kollateralschäden“ verlangen Antworten, die mit dem Kapitalismus nicht vereinbar sind. Dies bedeutet nicht, dass damit keine Kämpfe zur Schadensbegrenzung geführt werden sollen, wie etwa gegen TTIP oder die Allmacht der Saatgut- und Pflanzenschutzkonzerne. Auch schließt dies nicht die Unterstützung alternativer Entwicklungsprojekte aus, aber eher, weil diese Beispielscharakter haben und nicht weil sie das System schleichend unterminieren könnten. Wenn man in den reichen Länder, die sich mit Nahrungsmitteln selbst versorgen können, gegen Freihandel und Protektionismus zugleich kämpfen will, muss man gegen übermäßige Exporte schlechthin eintreten und für das Recht jeder Nation, sich nach eigenem Gutdünken entwickeln zu können. Dies bedeutet, mit dem Produktivismus zu brechen und auf qualitativ gute und umweltgerecht hergestellte Produkte zu setzen, die auch für die einfache Bevölkerung erschwinglich sind. Dies ist allerdings nicht umsetzbar ohne die Sozialisierung der relevanten Produktionsmittel (darunter auch die Nahrungsmittelkonzerne) und der Handelsstrukturen (darunter auch der Großhandel) sowie natürlich der Banken. Ein solches Umdenken beinhaltet zwangsläufig auch die Frage nach einer gerechten, d. h. gesellschaftlich garantierten Entlohnung der LandarbeiterInnen, deren Lohn heute von konjunkturellen Schwankungen und Agrarsubventionen abhängt. Übersetzung: MiWe 1 Im Jahr 2015 lag die positive Handelsbilanz für landwirtschaftliche Produkte und Nahrungsmittel bei 10,2 Mrd. Euro und damit höher als 2014. Für das laufende Jahr ist wegen der schlechten Getreideernte mit einem Rückgang zu rechnen. Getragen wird der Export hauptsächlich von Getreide, alkoholischen Getränken und Milchprodukten, während Fleisch und Schlachtprodukte defizitär sind. Für Obst und Gemüse ist die Bilanz u. a. wegen des Konsums von exotischen Früchten durchwachsen und der hohe Konsum von Tabak, Tee und Kaffee drückt natürlich auch auf die Bilanz. 2 Teils konkurrieren identische Produkte wie Geflügel, Mais oder Milch, teils setzen sich neue Essgewohnheiten durch. So wird etwa Maniok, der relativ wenig ertragreich ist und von der Agrarforschung vernachlässigt wird, durch Importweizen ersetzt. WIDER DEN LINKSNATIONALISMUS In der radikalen Linken macht sich zunehmend ein nationalistischer Unterton breit, bspw. bei Jean-Luc Mélenchon, Frédéric Lordon oder Jacques Nikonoff, dem ehemaligen Kodirektor von Attac. Angeblich gäbe es in Frankreich ein Problem, wieder zur nationalen Souveränität zu finden – nicht im Sinne des Front national, sondern von einer linken, antikapitalistischen Warte aus. Régine Vinon Die Herrschaft Deutschlands über Europa und besonders über Griechenland führt angeblich dazu, dass wir unseren freien Willen aufgegeben und uns den Befehlen der EU, konkret dem Hegemon Deutschland untergeordnet haben. Mag diese Argumentation auch nicht neu sein, scheint sie nach der Krise in Griechenland doch stärker auf und manche behaupten gar, dass Stimmverluste des Front de gauche an den Front national auf uneindeutige Positionen zu Freihandel, EU und nationaler Souveränität zurückzuführen seien und dass wir unsere nationale Souveränität wiedererlangen müssten. Das kapitalistische System steckt in einer tiefen und lang anhaltenden Krise, die eigentlich nach einem Sturz des alten und seiner Ersetzung durch ein neues System schreit, und da kommen Leute daher, die uns Inprekorr 1/2017 47 D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E die alte Leier der Volkssouveränität als fortschrittlich Idee verkaufen wollen, die uns aus der Misere rettet. Was heißt eigentlich Volkssouveränität? Da sind sich die Befürworter uneinig. Laut F. Lordon muss man auf die Französische Revolution zurückgehen und sich auf die souveräne Nation von 1789 beziehen, die „für alle Bürger gilt und insofern links ist. Und nur, weil sich die Linke unverständlicherweise von dieser Idee verabschiedet hat, gilt sie inzwischen als ausschließlich rechtes Gedankengut.“ Lordon folgert daraus, dass man sich die Idee wieder zu eigen machen müsse und sie nicht der Rechten überlassen dürfe. Die „Deglobalisierungspartei“ (Pardem)1 des ehemaligen PCF-Mitglieds Nikonoff meint: „Die nationale Souveränität gehört dem Volk als res publica, direkt oder über seine Vertreter, die Abgeordneten. Mit dem neuen Arbeitsgesetz (loi El Khomri) geht diese Souveränität in die Hände des Unternehmerverbandes Medef über […] und die Abgeordneten haben das Volk, das sie gewählt hat, mit ihrer Zustimmung zu dem Gesetz verraten.“ Hier wird die Illusion verbreitet, dass das Volk durch das Parlament an der Macht sei und diese Volksvertreter ihre Verpflichtungen verraten hätten. Also bräuchte man nur sein Kreuz an der richtigen Stelle zu machen und man hätte sich die gestohlene Macht wieder zurückerobert. Mélenchon hingegen hat sich ganz und gar auf Deutschland eingeschossen. Am 23. August erklärte er in Journal du Dimanche: „Wenn es gilt, zwischen dem Euro und der nationalen Souveränität zu wählen, dann wähle ich die nationale Souveränität. Es gibt letztlich keinen Grund, weswegen wir Franzosen den Deutschen nachgeben sollten.“ Er bedient damit wieder einmal alle abgelutschten Klischees über Deutschland, seinen bevorzugten Sündenbock, der ihm dazu dient, nicht nach dem Naheliegenden zu sehen, nämlich den französischen Kapitalisten, die ja außen vor bleiben, da der Bösewicht allein der Deutsche ist. Dies weckt eher peinliche Erinnerungen an einen hemmungslosen Nationalismus. Alle gegen Deutschland? Alle Linksnationalisten prügeln aus Leibeskräften auf Deutschland ein, weil dies angeblich allen anderen seine Gesetze aufzwingt. Da jedoch kein Krieg herrscht, müssen wundersame Mächte am Werk sein. Wie sollte denn ein Land alle anderen beherrschen? Darüber hüllen sich die Verfechter dieser These in Schweigen. Dabei liegt die Erklärung auf der Hand, wenn man 48 Inprekorr 1/2017 die allseits zugänglichen ökonomischen Rahmendaten ein wenig zu Rate zieht: Der deutsche Imperialismus beherrscht Europa auf wirtschaftlichem Gebiet. Deutschland liegt in seiner ökonomischen Leistungsfähigkeit weit vor Frankreich und der Abstand nimmt weiter zu, wie die folgenden Beispiele zeigen. Der Gesamtbestand an Ausrüstungsmaschinen, die jünger als 15 Jahre sind, hat sich in Frankreich um 10 000 Stück verringert, während er sich im selben Zeitraum in Deutschland von einem ohnehin besseren Ausgangsniveau aus um 95 000 Stück erhöht hat. Der französische Produktionsapparat veraltet zusehends. Im Vergleich zu Deutschland liegt Frankreich 5–7 Jahre zurück, was die Modernisierung der Industrieanlagen betrifft, sagt der Maschinenbauunternehmerverband. Die Gründe für die Deindustrialisierung Frankreichs und sein hohes Außenhandelsdefizit liegen in der Schwäche seiner Industrie, die wiederum auf staatliche und unternehmenspolitische Entscheidungen zurückzuführen ist, wonach eher die kurzfristigen Gewinnerwartungen der Aktionäre (shareholder value) bedient werden, anstatt langfristige produktive Investitionen zu tätigen. Dieser ökonomische Rückstand Frankreichs ist für die Vorherrschaft Deutschlands in Europa mitverantwortlich. Die unstillbare Gier der französischen Großkonzerne nach der „schnellen Mark“ veranlasst sie, auf Teufel komm raus und zum Schaden der Industrie des Landes die Produktion auf neue Standorte in jedem beliebigen Land zu verlagern. Das sog. „Vaterland“ spielt dabei keine Rolle. So einfach ist das. Aber wer nicht sehen will, der sieht nicht. Mélenchon liefert dazu eine für ihn typische Erklärung. In seinem Buch Der Bismarckhering schreibt er, dass die Mehrzahl der französischen Politiker durch die deutsche Wirtschaftsdoktrin infiziert und handlungsunfähig geworden ist. Ausgerechnet die Politiker, die mit Haut und Haaren die Interessen der Kapitalkonzerne verteidigen? Von wegen! Die französischen Kapitalisten glauben, dass ein Austritt aus dem Euro ihnen viel mehr Nachteile als Vorteile bringen würde, da ihre multinationalen Konzerne vom europäischen Binnenmarkt stark profitiert haben und dies noch immer tun. Und die deutsche Vormachtstellung kommt ihnen gut zupass, weil sie sich so hinter der EU verschanzen können, wenn sie zur Mehrung ihrer Profite den französischen „Proleten“ ans Leder gehen und deren hart erkämpfte soziale Errungenschaften kassieren wollen. Dieses Phänomen gilt für den Kapitalismus weltweit und die französischen Eliten brauchen darin keinerlei Nachhilfe seitens Deutschlands. Und die wirtschaftliche Konkurrenz zwischen den französischen und deutschen D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E Großkonzernen hindert sie keineswegs daran, in gegenseitigem Einverständnis dem gemeinen Volk die Krisenlasten aufzudrücken. Bestens veranschaulichen dies die Ein-Euro-Jobs und die wachsende Armut von großen Teilen der deutschen Bevölkerung. Die deutschen und die französischen Kapitalisten mögen sich gegenseitig bekriegen, aber in erster Linie geht es bei beiden gegen die Arbeiterklasse in diesen Ländern. Die Austeritätsmaßnahmen gleichen sich überall in Europa und auf der Welt. Die Französische Revolution als Vorbild? Frédéric Lordon bemüht die Französische Revolution als Vorbild und geht dabei ganz locker über den Klassencharakter dieser Revolution hinweg. Sich heute darauf zu beziehen, ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass die Gesellschaft damals radikal umgewälzt wurde und das alte Regime mit aller Konsequenz verjagt wurde. Dasselbe gilt auch für die Revolutionäre der Arbeiterbewegung, von Marx bis Lenin oder Trotzki, die sehr wohl verstanden hatten, wie die Nationen geschichtlich entstanden sind und dass sie gegenüber dem Feudalismus und der damals herrschenden Kleinstaaterei sehr wohl einen Fortschritt darstellten und dass der Kampf für die nationale Souveränität von einer Bourgeoisie geführt wurde, die im Aufstieg begriffen war. Zugleich aber wurden diese vereinigten Nationen durch die Bourgeoisie kontrolliert, die ihre Eigeninteressen als solche der ganzen Nation ausgaben. Daher berief sich auch die republikanische Bourgeoisie auf die Volkssouveränität, als sie das Proletariat während der Revolutionen von 1830 und 1848 auf die Barrikaden schickte, um sie anschließend wieder zu entmachten. Aus bitterer Erfahrung begriff die Arbeiterbewegung rasch, dass sie ihre eigenen Interessen von denen der Bourgeoisie zu trennen hatte, auch wenn diese damals noch in ihrer revolutionären Phase steckte. Ebenso verstanden sie, dass mit den Begriffen „Volk“, „Nation“ und „nationale Souveränität“ nur die Klassengegensätze verkleistert werden sollten. Und wenn heute jemand diese Begriffe hoch hält, dann bedeutet dies schlichtweg, sich über deren Klassencharakter hinwegzusetzen. Marx schrieb bereits 1848: „Die neue französische Revolution ist gezwungen, sofort den nationalen Boden zu verlassen und das europäische Terrain zu erobern, auf dem allein die soziale Revolution des 19. Jahrhunderts sich durchführen kann.“2 Wenn dies 1848 zutraf, dann erst recht heute im Zeitalter der Globalisierung. Die nationale Souveränität hat schon längst jede fortschrittliche Seite verloren, auch wenn sie mit dem Prädikat „links“ versehen wird, was ohnehin wenig besagt, wenn eine sog. „sozialistische“ Regierung eine rücksichtlose neoliberale Politik im Land betreibt. Es gibt keine linke oder rechte Nation, sondern nur einen Staat in den Händen der Kapitalisten, in dem die Bevölkerung außen vor ist, selbst wenn sie ihr Wahlrecht ausübt. Und sollte sie protestieren, wie dies in den vergangenen Monaten gegen das Arbeitsgesetz der Fall war, wird deutlich, wem sie gegenübersteht, nämlich der Polizei, die im Bedarfsfall das letzte Bollwerk der bürgerlichen nationalen Souveränität darstellt. Dass die Bourgeois auch in den Zeiten der multinationalen Konzerne und der Globalisierung von Handel und Produktion noch immer ihren jeweiligen Nationalstaat brauchen, liegt daran, dass sie mit dessen Hilfe neue Märkte erobern wollen. Zudem waren es diese Staaten, die nach der Krise von 2008 Milliarden in die Wirtschaft gepumpt und die Automobilkonzerne und andere Wirtschaftszweige subventioniert haben, ohne die Aktionäre nur im Geringsten zu belasten. Die Folgen waren Haushaltskürzungen für alle öffentlichen Dienste und eine repressivere Politik gegen alle Aufmüpfigen. Und so schließt sich der Kreis zwischen Staat und Nation. Linksnationalismus – ein Widerspruch in sich selbst Volkssouveränität und Rückbesinnung auf die Nation sind Begriffe, die nicht links sein können, zumindest wenn man unter links nicht die „Linke“ an der Regierung versteht, sondern ein soziales Lager, nämlich das der Ausgebeuteten. Hinter der „Nation“ verbergen sich die Klassenunterschiede, die inzwischen gravierender denn je sind. Wir sollen bloß glauben gemacht werden, dass wir mit unseren Ausbeutern gemeinsame Interessen haben und dass – wie Mélenchon meint – nicht die eigene Bourgeoisie im Land unser Feind ist, sondern die konkurrierenden Staaten, d. h. die anderen Imperialisten. Indem er sich jedoch stets auf den Kapitalismus „im Ausland“, ob deutsch oder US-amerikanisch, kapriziert, stimmt Mélenchon in das nationalistische Alarmgeheul ein. Er wischt die Klassenunterschiede beiseite, schiebt den „vaterlandslosen Finanzhaien“ die Verantwortung für die Krise und die Austeritätspolitik in die Schuhe und wäscht en passant die französischen Kapitalisten und ihre politischen Handlanger rein. Frédéric Lordon prügelt ausdrücklich auf den sog. „Scheininternationalismus“ ein, nämlich „gewisse revolutionäre Internationalisten, die von vornherein jeden Inprekorr 1/2017 49 D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E Lösungsansatz in einem einzelnen Land verdammen und stattdessen Gewehr bei Fuß darauf warten, dass sich die ganze Welt zugleich erhebt, bevor sie irgendeine Initiative ergreifen“. Indem er die internationalistischen Positionen ins Lächerliche zieht, will er bloß eine Politik salonfähig machen, die sich in erster Linie auf den Rahmen der Nation beschränkt. Dabei wissen die von ihm dergestalt geschmähten Revolutionäre in Frankreich sehr wohl, dass der Kampf zunächst im eigenen Land beginnt, aber auch, dass sie darüber hinauswachsen müssen, wenn sie die Macht der Herrschenden wirklich brechen wollen. Wir verstehen unter Internationalismus, dass unsere natürlichen Verbündeten die Ausgebeuteten aller Länder sind und nicht unsere eigene Bourgeoisie. „Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der Weltarena“, schrieb Trotzki zu Recht in Die permanente Revolution. Und Marx unterstrich bereits 1848, dass man den Staat nicht von den Kapitalisten übernehmen kann, sondern dass er zerstört werden muss. Das aber scheinen die „Entglobalisierer“ der Pardem nicht verstanden zu haben. Ihr Ehrgeiz liegt darin, „den Staat zu repolitisieren, um ihn wieder in die Hände des Volks übergehen zu lassen“ – eine völlige Ignoranz gegenüber den jahrzehntelangen Kämpfen der ArbeiterInnen, die sich dabei auch stets mit dem Staat auseinandersetzen mussten, wie die Mobilisierungen gegen das Arbeitsgesetz wieder einmal gezeigt haben. Alter Wein in neuen Schläuchen Das Programm des „Linksnationalismus“ ist insofern reformistisch, als es nicht die Grundlagen der wirtschaftlichen Macht der Kapitalisten infrage stellt. Indem sie auf die Finanzialisierung der Wirtschaft, die internationalen Verträge und die supranationalen Organisationen einprügeln – mit oftmals guten Gründen, aber in völliger Ignoranz gegenüber dem Wesen des Kapitalismus – nehmen sie zugleich die real existierenden Kapitalisten aus der Schusslinie. Mélenchon wird nicht müde, zu betonen, dass seine „Bürgerrevolution“ keine sozialistische ist, und Lordon pflichtet ihm eifrig bei, indem er alle möglichen Szenarien für die Eurozone entwirft, aber niemals die Frage konkret stellt, welche Klasse in der Gesellschaft herrschen soll. Damit wird die sog. „Volkssouveränität“, auf die Mélenchon und Lordon so versessen sind, jeglichen Inhalts beraubt. Denn solange eine kleine Minderheit von Ausbeutern die Wirtschaft zum Nachteil der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung kontrolliert, solange wird die „Volkssouveränität“ bestenfalls ein süßer Traum bleiben, wenn nicht gar 50 Inprekorr 1/2017 ein Schwindel. Es kann keine reale Entscheidungsgewalt der Bevölkerung geben, wenn nicht die arbeitende Bevölkerung die Kontrolle über die Wirtschaft, den Staat und die ganze Gesellschaft übernommen hat. Die Probleme der griechischen wie auch der französischen, spanischen, deutschen, italienischen etc. Volksmassen werden sich nicht im Rahmen des Kapitalismus lösen lassen, weder inner- noch außerhalb der Eurozone. Und die heutigen Führer der sog. „radikalen Linken“ sind von dieser Erkenntnis weit entfernt. Das Scheitern des Reformismus in Griechenland hat mit dem Linksnationalismus einen Reformismus in neuer Gestalt befördert, einen Homunculus, der durchaus radikaler daherkommen mag. Die Losung „nationale Interessen sind die Interessen des Kapitals“ ist noch immer gültig, und dem Linksnationalismus stellen wir unbeirrt den internationalen Kampf der Ausgebeuteten in der ganzen Welt gegenüber. „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ hat auch heute noch sehr viel mehr Gültigkeit als „Linksnationalisten aller Länder, vereinigt Euch!“, ganz zu schweigen von dem böswilligen Wortspiel des Front national, wonach man „inter-nationalistisch“ (man beachte den Bindestrich!) sein müsse.. Überlassen wir daher den Begriff der Volkssouveränität getrost jenen, die ihn zu Recht für sich reklamieren, d. h. den Rechten und Rechtsextremisten. Denn wenn man sich auf dieses Terrain begibt, könnte man früher oder später wie Jacques Sapir enden, der als Linksnationalist startete, um sich nunmehr immer weiter dem Front national anzunähern. Übersetzung: MiWe 1 Eine Entsprechung im deutschen Sprachraum ist das „Personenkomitee EuroExit“ (euroexit.org), das vorwiegend in Österreich organisiert ist, aber bspw. in Person von Inge Höger auch in die BRD reicht. 2 Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 7, „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850“, S. 34 Dietz Verlag Berlin/DDR 1960 KUBA DURCH WELCHE TÜR GEHT KUBA? Die „Reformen“ der vergangenen 20 Jahre hatten bereits viele der einstigen revolutionären Errungenschaften untergraben. Infolge der ökonomischen, sozialen und politischen Krise findet eine weitere „Öffnung“ des Landes gegenüber dem Westen und damit dem globalisierten Kapitalismus statt. Dass dieser Marsch in die Richtung des chinesisch-vietnamesischen Modells nicht alternativlos ist, versucht der Autor im folgenden Beitrag darzulegen. Samuel Farber Im Juli 2016 hat der inzwischen entlassene Wirtschaftsminister Kubas, Marino Murillo, angekündigt, dass die Regierung wegen der um 20 % geringeren Erdöllieferungen aus Venezuela die Elektrizitätsversorgung um 6 % und die Treibstoffversorgung um 28 % kürzen will. Derweil wurden unverzügliche Energieeinsparungen im öffentlichen Sektor mit dem auf dem Fuße folgenden Stellenabbau verfügt. Murillo warnte vor möglichen Stromausfällen und weckte damit Erinnerungen an die Schrecken der „Sonderperiode“ der 90er Jahre. Damit verpasste er den Bemühungen der Regierung Raul Castro, eine kubanische Version des chinesisch-vietnamesischen Modells, das sich auf eine Einheitspartei im Staat verbunden mit einer privat- und marktwirtschaftlichen Öffnung stützt, einen zusätzlichen Dämpfer. Auf politischer Ebene sollte eigentlich die Kontrolle des Staates über die BewohnerInnen gelockert werden, aber demokratischere Verhältnisse haben sich nicht eingestellt. So haben bspw. die neuen Einwanderungsbestimmungen von 2012, nach denen die Kubaner die Insel leichter verlassen und zurückkehren können sollten, nie dazu geführt, Auslandsreisen zu einem Recht der Bürger werden zu lassen. Wirtschaftspolitisch wurden eher bescheidene und auch widersprüchliche Wege beschritten. So ermöglichen bspw. die Strukturreformen in der Landwirtschaft, Land für maximal 20 Jahre zu pachten – anders als in China und Vietnam, wo solche Verträge über einen längeren oder gar unbegrenzten Zeitraum gelten. Gegenwärtig dürfen Betriebe in etwas mehr als 200 Sparten privat betrieben werden. Wenn dies auf die Gesamtwirtschaft ausgedehnt worden wäre, abgesehen von sozial relevanten Bereichen wie dem Gesundheitswesen, wäre dadurch das Angebot an Produkten und Dienstleistungen auf der Insel deutlich gestiegen. Die ergänzenden Maßnahmen der Regierung, um die Strukturreformen zu unterlegen, etwa die Einführung von Großmärkten oder Geschäftskredite, waren unzureichend und letzten Endes sogar kontraproduktiv. Obendrein haben die Bürokratie und Ineffizienz der staatlichen Agentur (Acopio), die ein Abnehmermonopol für den Großteil der landwirtschaftlichen Produkte zu staatlich festgelegten Preisen besitzt, die Agrarproduktion gebremst. Und viele Produkte sind vergammelt, weil sie in den staatlichen Fabriken nicht rechtzeitig weiterverarbeitet wurden. Dauerhafte Wirtschaftskrise Vor der gegenwärtigen Krise hat sich die kubanische Wirtschaft von den Folgen der Sonderperiode, die Ende der 80er Jahre nach dem Zusammenbruch der Comecon-Staaten zu einer schweren Rezession geführt hatte, teilweise erholen können. Damals hatte sie zwischen 1992 und 1994 ihren absoluten Tiefpunkt erreicht, als die Lebensmittelknappheit sogar zu gesundheitlichen Schäden führte – fast 50 000 Menschen erkrankten an der sog. nutritiven Optikusneuropathie. Das BIP liegt inzwischen wieder auf dem Niveau von 1989, aber die Löhne und Renten hinken noch weit hinterher und betragen inflationsbereinigt aktuell 27 % bzw. 50 % des damaligen Niveaus. Indessen gehen die Sozialausgaben noch immer zurück. Der Privatverbrauch der Haushalte dürfte 2016 um 2,8 % und 2017 sogar um 7,5 % zurückgehen. Zwar gibt es keine Hungersnot mehr, wie damals Anfang der 90er Jahre, aber die Bevölkerung muss weiterhin schwer um ihr täglich Inprekorr 1/2017 51 KUBA Brot kämpfen. Die vielzitierte Entwicklung der urbanen und ökologischen Landwirtschaft in Kuba im Gefolge der Krise macht nur einen relativ geringen Anteil an der Gesamtproduktion aus und reicht nicht aus, um den Rückgang der Nahrungsmittelproduktion nach 1989 zu kompensieren. Der kubanische Ökonom Juan Triana Cordoví berichtet, dass Hotels wegen des mangelnden Angebots sogar Gemüse importieren müssen, bis hin zum Maniok, der in Kuba zu den Grundnahrungsmitteln gehört. Insgesamt muss Kuba mehr als die Hälfte der Lebensmittel für jährlich 2 Milliarden Dollar importieren. Auch im Erziehungs- und Gesundheitswesen wurden viele der gesteckten Ziele nicht erreicht. Viele Lehrer, die wegen der geringen Löhne den Beruf gewechselt haben, wurden nicht ersetzt und inzwischen hat die Zahl der Privatlehrer – meist Schullehrer, die in ihrer Freizeit dazuverdienen – sprunghaft zugenommen. Zahlreiche Schulen, Bibliotheken und Forschungsanstalten sind baufällig. Zu Beginn des Schuljahres mussten gar 350 Schulen deswegen geschlossen werden. Gleiches gilt für zahlreiche Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen, die mit reduziertem Personal am unteren Level arbeiten, da die Regierung viele Allgemein- und Fachärzte im Tausch gegen Erdöl und Devisen nach Venezuela und in andere Länder geschickt hat. Sehr wahrscheinlich werden die vorsichtigen und teils widersprüchlichen Reformen des gegenwärtigen Regimes ihre Urheber aus der alten Garde der Revolutionsführer nicht überdauern. Ihre Folgegeneration in der Staatsbürokratie wird wahrscheinlich das chinesisch-vietnamesische Modell kopieren, eher noch mit einer Portion russischer Kapitalismus versehen, wo eine Oligarchie das Staatseigentum geplündert hat und eine Nominaldemokratie herrscht, gerade ausreichend, um dem US-Kongress die formale Handhabe zu verschaffen, das Helms-Burton-Gesetz von 1996 und damit die Wirtschaftsblockade der Insel abzuschaffen. Der kommenden Führungsgeneration wird es nicht nur um das bloße Wohlwollen der USA zu tun sein, sondern auch um die Unterstützung durch Auslandskapital und wenigstens teilweise auch des exilkubanischen Kapitals in den USA. Dies soll natürlich unter dem Vorzeichen einer totalen Kontrolle des Staates, der Massenmedien und der Massenorganisationen – einschließlich der Staatsgewerkschaften – durch die Regierung geschehen, um künftigen Investoren „Frieden, Recht und Ordnung“ zu garantieren. Allerdings gibt es auch inner- und außerhalb der Regierung andere Wirtschaftsmodelle, die zur Diskussion stehen, die natürlich sehr diskret verläuft, da das politische System 52 Inprekorr 1/2017 nun mal keine offene, ehrliche und umfassende Diskussion erlaubt. Staatsbürokratie vs. Selbstverwaltung? Seit geraumer Zeit propagieren „modern“ gesonnene Regimekritiker die Errichtung einer freien Marktwirtschaft als einzig „vernünftiger“ Alternative zur bürokratischen Verwaltung der Wirtschaft unter Kontrolle der Kommunistischen Partei. Dabei umfasst diese Position ein breites Spektrum an Meinungen, das von Hardcore-Marktliberalen bis zu sozialdemokratischen Sozialstaatsideologen reicht. Letztere überschneiden sich mit kubanischen Wirtschaftswissenschaftlern einschließlich der Mitglieder des Studienverbands für die kubanische Wirtschaft an der Universität von Havanna. Aber fast keiner dieser Kritiker hat bisher offen die Frage angesprochen, was mit den großen staatseigenen Unternehmen werden soll, die den bedeutendsten Teil der kubanischen Wirtschaft ausmachen. Stattdessen setzen sie auf die Gründung kleiner und mittlerer Unternehmen, wobei offen bleibt, was sie unter einem „mittleren“ Unternehmen verstehen. Zugleich unterstützen sie die Maßnahmen der Regierung zur Schaffung eines anderen Rationierungssystems, bei dem bedürftige Personen anstatt der Produkte subventioniert werden. Gegenwärtig erhalten alle Kubaner unabhängig von ihrem Einkommen eine bestimmte Menge an Produkten zu niedrigen, weil subventionierten Preisen. Nach dem neuen System sollen nur noch die Ärmsten und Bedürftigsten diesen Vorzug genießen, was Umstellungen auf dem Markt für landwirtschaftliche Erzeugnisse und Budgetersparnisse für die Regierung mit sich brächte. Den ersten Schritt in diese Richtung hat die Regierung bereits unternommen, als sie die Zahl der subventionierten Produkte gekürzt hat. Letztlich befürworten diese Kritiker auch die Abschaffung des staatlichen Außenhandelsmonopols. Stattdessen sollen die Kubaner alles importieren dürfen, was sie sich leisten können. Wie die anderen Oppositionellen musste auch die kritische Linke, die vorwiegend anarchistische und sozialdemokratische Strömungen umfasst, mit staatlicher Überwachung und Repression zurechtkommen. Sie sind gegen die Kürzungen im Sozialhaushalt und plädieren – ein Novum in der Geschichte der kubanischen Linken! – für eine Wirtschaft unter Selbstverwaltung der Lohnabhängigen. Dabei lassen sie jedoch den Aspekt einer demokratischen Planung oder Koordination zwischen den einzelnen Wirtschaftssektoren außer Acht. Nach ihrem Verständnis sollen die autonomen Unternehmen untereinander konkurrieren, was KUBA in etwa dem jugoslawischen System zwischen 1950 und 1970 unter Tito entspricht. Dort herrschte ein Marktsozialismus mit Selbstverwaltung auf lokaler Ebene, aber unter der Kontrolle des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens auf regionaler und nationaler Ebene. Dies führte zwar zu einer stärkeren Beteiligung der Arbeiter an den Entscheidungen und mehr Produktivität auf lokaler Ebene, aber wegen der Konkurrenzsituation und der fehlenden Planung auch zu Arbeitslosigkeit, starken konjunkturellen Schwankungen, ungleichen Löhnen und starken regionalen Unterschieden zugunsten der Teilstaaten im Norden. Da die Beschäftigten nichts entscheiden durften, was über ihren Arbeitsplatz hinausging, entwickelten sie eine provinzielle Sichtweise ohne Blick auf wirtschaftliche Notwendigkeiten von nationaler Tragweite. Daher gab es für sie auch keinen Grund, Investitionen in andere Unternehmen zu unterstützen, besonders nicht, wenn diese weit entfernt lagen. Wie Cathérine Samary in Die Zerstörung Jugoslawiens schreibt, ist das jugoslawische Selbstverwaltungsmodell letzten Endes daran zugrunde gegangen, dass es nicht zugleich einer bürokratischen Planwirtschaft und den Markterfordernissen genügen konnte. Die 70er Jahre waren die letzten, in denen noch ein Wirtschaftswachstum zu verzeichnen war, bevor dann eine Gesamtverschuldung von 20 Milliarden Dollar erreicht wurde, was schließlich den IWF auf den Plan rief. Insofern würde es eher neue Probleme schaffen, wollte man dem jugoslawischen Modell nacheifern. Zudem hat sich niemand aus diesen linksoppositionellen Strömungen damit befasst, wie denn ein Selbstverwaltungsmodell ohne eine Arbeiterbewegung entstehen oder wie es funktionieren soll, ohne dass sich die Lohnabhängigen dafür engagieren. Es gibt eine andere Strömung innerhalb der kritischen Linken, die jedes Zugeständnis an das Kapital und private Unternehmen mit dem Argument ablehnt, dass ein solches per definitionem mit dem Sozialismus nicht vereinbar ist. Zugleich aber liefert diese Strömung keine Antwort auf die entscheidende Frage, wie ein sozialistisches und demokratisches Kuba aus der gegenwärtigen Armut und wirtschaftlichen Stagnation heraus ohne jedwede Kompromisse entstehen soll. Übergangswirtschaft Immer mehr Kubaner im In- und Ausland halten den Sozialismus, ob autoritär oder demokratisch geprägt, für utopisch und auch weniger erstrebenswert. Auch denjenigen, die an ihm festhalten wollen, erscheint er – angesichts der Wirtschaftssituation und des Drucks der kapitalistischen Staaten – als unrealistisch. Den Sozialismus in einem einzelnen Land errichten zu wollen, ist nach der marxistischen Theorie nicht möglich, v. a. wenn dieses Land wirtschaftlich unterentwickelt und von einer kapitalistischen Welt umgeben ist, die nicht mehr durch eine revolutionär-sozialistische Bewegung angefochten wird. Aber selbst wenn Kuba keinen imperialistischen Nachbarn zum Feind hätte, könnte sich das Land nicht wirtschaftlich in Form eines „autarken Sozialismus“ entwickeln, da es weitgehend vom Außenhandel abhängt. Abgesehen von den Erdöleinfuhren basiert die Wirtschaft auf Tourismus und dem Export medizinischer Versorgungsleistungen, von Nickel und Pharmazeutika sowie auf dem extrem anfälligen Zuckerrohranbau. Insofern verhindert allein die Integration in den kapitalistischen Weltmarkt die Entfaltung einer vollständigen sozialistischen Demokratie. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Kuba die sozialistische Idee aufgeben müsste, sondern dass es sich vielmehr Gedanken über eine Übergangswirtschaft machen muss, die ein Überleben in feindlicher Umgebung ermöglicht, bis sich die internationale Lage wieder geändert hat. In seinem Werk Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft unterschied Engels zwischen dem modernen Kapitalismus, in dem die Produktion vergesellschaftet ist, aber die Produkte vom Kapitalisten kontrolliert und angeeignet werden, und dem Sozialismus, in dem sowohl die Produktion als auch das Eigentum an den Produktionsmitteln vergesellschaftet sind. Der dahinter stehende Gedanke ist, dass das Eigentum an den Produktionsmitteln, das auf kollektiver Arbeit gründet, vergesellschaftet werden muss und nicht das Eigentum, mit dem in familiärem oder individuellem Rahmen produziert wird, und noch weniger das, was dem persönlichen Gebrauch dient, wie Kleidung, Möbel oder Fahrzeuge. Folglich muss Kuba in einer Übergangswirtschaft den privaten Kleinbesitz an Produktionsmittel gestatten, nicht aus einer opportunistischen Anpassung an die sog. freie Marktwirtschaft, sondern weil dies einer marxistischen Analyse des Kapitalismus entspricht. Dabei wäre der Privatsektor der Kleinunternehmen, der nach Marktmechanismen funktioniert, dem öffentlichen Sektor untergeordnet, in dem die Großindustrie zusammengefasst ist: Tourismus, Pharmaindustrie, Bodenschätze und Banken. Diese Sektoren müssen unter der Kontrolle der Beschäftigten stehen und untereinander koordiniert und demokratisch geplant werden. Aufgabe der Regierung wäre es, diese staatliche Wirtschaft mit der der Kleinunternehmen auf einem demokratisch festgelegten Weg in Einklang zu bringen, indem Inprekorr 1/2017 53 KUBA es den aktuellen und künftigen gesellschaftlichen Bedarf an Gütern genauestens abwägt. Ökonomische … Zunächst einmal geht es um eine ehrliche Bestandsaufnahme der Wirtschaftslage, die sich deutlich verschlechtert hat, auch schon vor der gegenwärtigen Krise infolge der verminderten Erdöleinfuhren aus Venezuela. Da ist zum einen der große öffentliche Sektor, der drei Viertel der Volkswirtschaft umfasst und auf brüchigen Beinen steht. Wie der kubanische Wirtschaftswissenschaftler Pedro Monreal sagt, hat selbst die Regierung eingestanden, dass 58 % der staatlichen Unternehmen „schlecht oder unzureichend“ funktionieren. Schon vor der Krise waren die Wachstumsraten niedrig und haben sich seither weiter verschlechtert. Nach den Berechnungen eines anderen Ökonomen, Pavel Vidal Alejandro, wird das BIP 2016 stagnieren und 2017 voraussichtlich sogar um 3 % zurückgehen. Damit wäre erstmals seit Ende der 90er Jahre wieder eine Rezession vorhanden. Unter der linken Opposition gibt es Stimmen, die sich u. a. aus ökologischen Gründen gegen ein Wirtschaftswachstum aussprechen. Dabei wird übersehen, dass eine wirkliche Demokratisierung u. a. nur möglich ist, wenn die Bewohner bessere materielle Bedingungen haben. Die permanente Stagnation der Wirtschaft und die Verschlechterung der Lebensbedingungen führen zu massiver Auswanderung, was nicht nur an sich schon tragisch ist, sondern auch das Potential allein für eine demokratische und fortschrittliche – um noch nicht einmal von einer sozialistischen zu sprechen – Oppositionsbewegung in Kuba weiter schwächt. Noch beunruhigender ist, dass die Investitionsrate für die einfache Reproduktion des bestehenden Kapitals eine der niedrigsten in Lateinamerika ist und unter 12 % des BIP liegt. Für 2016 sieht die Regierung gar eine Senkung um 17 % und für 2017 um 20 % vor. Damit würden die Bruttoinvestitionen auf unter 10 % des BIP sinken und nur halb so hoch sein, wie für die wirtschaftliche Entwicklung notwendig wäre. Diese geringe Investitionsquote verhindert nicht nur ein Wirtschaftswachstum, sondern führt zu einem weiteren Verfall der ohnehin geringen Wirtschaftsleistung und damit des Lebensstandards. Zudem kann das Land keine weiteren Ressourcen zur Verfügung stellen, um die wachsenden Touristenzahlen zu bewältigen, die sich 2014 auf 3 Millionen, 2015 auf 3,5 Millionen und 2016 voraussichtlich auf 3,7 Millionen erhöht haben – auch eine Folge der Wideraufnahme der Beziehungen zwischen Kuba und den USA. Indem die Regierung Obama das Verbot aufgehoben hat, dass Exilkubaner 54 Inprekorr 1/2017 ihre Verwandten auf der Insel mit Devisen unterstützen, hat sich die Nahrungsmittelknappheit noch weiter verschärft, da die gestiegene Nachfrage auf ein zu geringes Angebot stößt. Auch die wirtschaftliche Produktivität hinkt hinterher. Mit Ausnahme der Süßkartoffeln sind die Agrarerträge niedriger als im sonstigen Lateinamerika. In der Industrie ist lediglich der Biotechnologiesektor produktiver als in den umliegenden Staaten. Eine Steigerung der Produktivität, d. h. mit der vorhandenen Arbeitskraft mehr zu erzeugen, ist nicht nur im profitorientierten Kapitalismus unerlässlich sondern dient insgesamt dazu, beschwerliche Arbeit zu mindern, den Lebensstandard zu verbessern und mehr Freizeit zu schaffen. Wenn Che Guevara einst vermehrten Arbeitseinsatz einforderte (eher durch moralische als durch materielle Anreize), so ist dies inzwischen zu einem Zwangsmittel verkommen. Dabei könnten eine bessere Organisation der Arbeit, mehr Technologie und v. a. Arbeiterkontrolle zum selben Ergebnis führen. Selbstverwaltung wäre an sich bereits ein erheblicher Anreiz, die Produktivität zu steigern, aber das herrschende bürokratische System führt zu Desorganisation und Chaos und schafft für die Beschäftigten weder politische Anreize, indem sie bspw. über ihre Arbeitsbedingungen mitbestimmen könnten, noch materielle, wie sie das kapitalistische System vorsieht. Aus den einstigen „moralischen Anreizen“ ist eine Methode geworden, den Arbeitern die Verantwortung und mehr Arbeit aufzulasten, ohne ihnen tatsächliche Kontrollbefugnisse oder bessere Bezahlung zu gewähren. …und ökologische Hindernisse Die linken Wachstumskritiker berufen sich hauptsächlich auf ökologische Gründe. Kuba hat erhebliche Umweltprobleme, u. a. wegen zunehmender Leckagen in der veralteten und kaum gewarteten Wasserversorgung. Dadurch gehen erhebliche Mengen an Wasser verloren, die sich auf den Straßen oder auf ungenutztem Land stauen, während zugleich die Bewohner nicht ausreichend versorgt werden. Ein gefährlicher Nebeneffekt dabei ist die Zunahme von Aedes Aegypti, einem Insekt, das u. a. das Dengue-Fieber überträgt. Daneben führt die zunehmende Haltung von Schweinen und Geflügel und der Gemüseanbau im eigenen Garten – von der Regierung als „urban gardening“ propagiert – im Verbund mit der immer schlechter funktionierenden Abfallentsorgung – zu einer Zunahme gesundheitlicher Risiken in den Städten. Insofern sind die jüngsten Erfolgsmeldungen, was die Eindämmung der Zika-Epidemie und die nahezu komplette Ausrottung des Dengue-Fiebers anlangt, mit Vorsicht zu genießen, da die Bedingungen, die zur Ausbreitung dieser Krankheiten führen, nicht beseitigt sind. KUBA Die linke Opposition in Kuba hat ihren wachstumskritischen Kurs noch verstärkt, seit der Wirtschaftswissenschaftler Jeffrey Sachs kürzlich bei einem Besuch in Havanna „dem kubanischen Volk [geraten hat,] nicht den Weg des 20. Jahrhunderts weiter zu verfolgen“. Wie der linke Journalist Fernando Ravsberg berichtet, hat Sachs dabei den Kubanern eine nachhaltige Entwicklung ans Herz gelegt und den Aufbau einer biologischen Landwirtschaft, die ohne Traktoren, Dünger und Pestizide auskommt. Wenn diese Aussage zutrifft, dann hat Sachs bei seinen umweltfreundlichen Empfehlungen keine Kosten-Nutzen-Rechnung angestellt. Kleine, verbrauchsarme Traktoren, wie sie die kubanische Regierung im Joint Venture mit US-Kapital produzieren will, verbrauchen zwar weiterhin Diesel, aber diese Umweltbelastung ist nicht zu vergleichen mit den Nachteilen einer Landwirtschaft, in der Menschen und Tiere als Zugkraft eingesetzt werden. Damit sänke die Produktivität erheblich und zugleich müsste ungeheuer viel Energie seitens Mensch und Tier investiert werden. Kuba hat bereits die geschichtliche Erfahrung gemacht, wie die zwangsweise Aufgabe des Maschineneinsatzes in der Landwirtschaft zu Beginn der Sonderperiode zu enormen Einschränkungen unter der Bevölkerung geführt hat. Dasselbe gilt für die Transportmittel, wo in den 90er Jahren immer weniger Fahrzeuge im Stadtverkehr eingesetzt wurden und die Bewohner vieler Städte auf aus China importierte Fahrräder zurückgreifen mussten. Dies wurde später wieder aufgegeben, nicht weil die Kubaner lieber auf das spärliche Angebot überfüllter Busse oder teurer Sammeltaxis zurückgegriffen hätten (nur wenige Kubaner besitzen ein eigenes Auto), sondern weil sie damit nicht rechtzeitig aus ihren abgelegenen Wohnorten an ihren Arbeitsplatz gelangen konnten und in der Regenzeit obendrein Sturm und Regen ausgesetzt waren. Die chinesische Regierung animiert die eigene Bevölkerung, sich Autos zu kaufen, was zu massiven Schadstoffbelastungen der Atemluft in den Städten führt. Dies sollte für Kuba Warnung genug sein, aus Umweltschutzgründen ein effizientes öffentliches Personenverkehrssystem einzuführen. Außerdem muss Kuba dringend die Stromerzeugung auf der Basis erneuerbarer Energien ausbauen. Diese repräsentieren aktuell bloß 5 % der Gesamterzeugung, was unter dem lateinamerikanischen Durchschnitt liegt. Eine sozialistische Alternative Eine Orientierung auf eine sozialistische Gesellschaft erfordert nicht nur ein entsprechendes Programm, sondern auch dessen politische Umsetzung. Dies beinhaltet eine konkrete Strategie und taktische Erwägungen, um sich gegenüber den Vorstellungen seitens der Regierung und der verschiedenen Oppositionsströmungen positionieren zu können. Dabei mag es durchaus Bereiche geben, in denen die sozialistische Opposition mit Linkskatholiken oder kritischen Sozialdemokraten übereinstimmt. Dies betrifft etwa die bäuerliche Landwirtschaft und deren Produktivität, indem der Nießbrauch für die Kleinbauern festgeschrieben wird und die Ernte nicht zu staatlich festgelegten Preisen abgegeben werden muss oder indem für die Kleinbauern und Kleinbetriebe ein Großmarkt eingerichtet wird. Für die Schaffung von Arbeitsplätzen in den Städten müsste auf die Bildung von Kooperativen gesetzt werden, in denen sich die Beschäftigten freiwillig zusammenschließen und nicht auf Weisung durch die Regierung, die bloß defizitäre Unternehmen oder zentral schwierig zu verwaltende Geschäftsbereiche, wie etwa kleine Gaststätten, loswerden will. Zugleich muss sich die Opposition gegen jegliche Vorstöße verwahren, die lauthals alle Bereiche privatisieren wollen, einschließlich derer der öffentlichen Daseinsvorsorge, wie Erziehungs- und Gesundheitswesen. Den Gegnern des staatlichen Außenhandelsmonopols kann entgegnet werden, dass ein demokratisch geführter Staat seinen Außenhandel auf strikter Basis von Prioritäten betreiben können muss, entlang von sozialen Kriterien zugunsten der bedürftigsten Bevölkerungsschichten und zum Erwerb von Investitionsgütern, die der wirtschaftlichen Entwicklung am dienlichsten sind. Ohne diese Kautelen würden nur die reichsten Kubaner die spärlichen Devisenvorräte plündern, um Luxusartikel wie Nobelkarosserien oder Designermöbel etc. zu importieren. Auch gegen einen anderen Trend muss man sich wehren, der sowohl von Teilen der Opposition als auch zunehmend aus dem Regierungslager vertreten wird. Nämlich dass Beihilfen künftig personenbezogen und nicht durch subventionierte Waren gewährt werden sollen, wodurch ein universell geltendes System durch eines ersetzt würde, das sich nur an die bedürftigen Kubaner wendet. Selbst wenn bei Ersterem auch reichere Leute profitieren, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass eine solche Umstellung den sozialen Zusammenhalt unterminieren würde. Weltweit wurde die Erfahrung gemacht, dass diese Form von Sozialhilfe zur Stigmatisierung der Empfänger führt und auf lange Sicht dazu, ihr die politische Rechtfertigung abzusprechen, so dass sie am Ende nicht mehr finanziert und durchgesetzt werden könnte. Eine Alternative könnte darin bestehen, eine gleitende Beihilfeskala einzuführen, die sich reziprok zum Einkommen verhält. Damit wäre den unterschiedliInprekorr 1/2017 55 KUBA chen Bedürfnissen Rechnung getragen und zugleich bliebe die politische Akzeptanz gewahrt. Als Marxisten verstehen wir sehr wohl, dass die Beihilfen selektiv gewährt werden müssen, da unter den gegenwärtigen Bedingungen die Wirtschaft eines Landes kurzfristig zusammenbrechen würde, wenn alles gratis zur Verfügung gestellt oder unterhalb der Produktionskosten verkauft würde. Und ein relativ unterentwickeltes Land wie Kuba hat erst recht zu wenige Überschüsse, um die Produkte umsonst oder verbilligt abgeben zu können. Dennoch halten wir am Prinzip der Universalität der Beihilfen fest, da auch die Spielräume dafür in dem Maße größer werden, wie sich die Wirtschaft produktiver und stärker entwickelt. Neoliberale Kritiker und selbst die Regierung plädieren für Investitionen aus dem Ausland, um die Unterkapitalisierung der kubanischen Wirtschaft aufzufangen. Viele Linke sind dagegen, weil sie darin ein Einfallstor für den Kapitalismus und eine Beherrschung des Landes von außen sehen. Da jedoch die produzierende Industrie im Lande unterentwickelt ist, ist eine kontrollierte und selektive Öffnung für ausländische Kapitalinvestitionen unumgänglich. Damit könnten neue Produktionsanlagen geschaffen und das Transportsystem sowie die allfällige Infrastruktur erneuert werden. Zugleich könnten dadurch erheblich mehr Arbeitsplätze geschaffen werden und ein Triggereffekt zur Entwicklung neuer Industriezweige entstehen, mit denen die bereits bestehenden ergänzt oder weiter entwickelt würden. Zugleich müssten unabhängige Gewerkschaften darüber wachen, dass über ausländisches Kapital nicht die Löhne und Arbeitsbedingungen im Lande angegriffen werden. Eine der ersten Maßnahmen in diesem Zusammenhang müsste darin bestehen, dass nicht die Regierung wie bisher die Lohnsummen ausländischer Investoren für die einheimischen Beschäftigten einkassiert und nur einen Bruchteil davon an die Bevölkerung weiterreicht unter dem Vorwand, damit Sozialausgaben und Regierungsaufwendungen bestreiten zu müssen. Diese Ausgaben könnten auch über ein transparentes und gerechtes Steuersystem bestritten werden anstatt über das Monopol des Staates beim Verkauf und der Kontrolle der einheimischen Arbeitskräfte. Natürlich könnten ausländische Investoren abgeschreckt werden, wenn die Produktion durch die Beschäftigten und starke Gewerkschaften kontrolliert würde. Trotzdem könnte dieses Handicap überwunden werden, wenn die öffentliche Verwaltung und das Steuersystem ehrlich gehandhabt werden und daneben natürliche Ressourcen und Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, die es woanders nicht gibt. 56 Inprekorr 1/2017 Kritiker und Oppositionelle von rechts unterschätzen oder ignorieren gar die entscheidende Bedeutung der wachsenden Ungleichheit auf Kuba. Für die Linke hingegen sollte dies ein wichtiger Ansatzpunkt sein, um für unabhängige Gewerkschaften und ein progressives Steuersystem zu kämpfen. Damit wäre eine effizientere Politik machbar als gegenwärtig, wo durch bürokratischen Wildwuchs die Kleinunternehmen und Selbständigen gemaßregelt werden. Dies soll nicht heißen, dass es gar keine Regulierung mehr geben soll. Vielmehr ist diese unerlässlich, wenn es um die Sicherheit der Arbeitsbedingungen, das Gesundheits- und Rechtswesen und die gewerkschaftlichen Rechte geht. Aber sie müsste durch fachspezifische Organisationen unter Kontrolle und Überwachung durch die Lohnabhängigen und nicht durch eine zentrale Bürokratie gewährleistet werden, um den Beschäftigten und nicht den Eigentümern zugute zu kommen. Dafür müsste man eindeutig trennen zwischen den Regulierungen, die die Interessen der Lohnabhängigen schützen sollen, und denen, die nur den Interessen der Bürokratie dienen. Indem sich die kubanische Linke eindeutig gegen die Vorstellungen der undemokratischen Regierung und der pro-kapitalistischen Opposition positioniert, könnte sie spezifische Forderungen aufstellen, mit denen sie die Bevölkerung mobilisieren kann. Damit ließe sich eine Bewegung aufbauen, oder zumindest eine eindeutige organisatorische Alternative, auch wenn dafür erst einmal die Repression seitens der Regierung und die skeptische Zurückhaltung bei der Bevölkerung überwunden werden müssen. Gegenwärtig lässt das kubanische Regime keine anderen politischen Parteien zu, genauso wenig unabhängige Gewerkschaften oder freie Medien. Dies wäre natürlich eine Voraussetzung, um den hier dargelegten Übergang zu einem anderen politischen und gesellschaftlichen System zu erleichtern. Nichtsdestotrotz muss die linke Opposition öffentlich für ein alternatives Modell eintreten, wo die Chancen und Probleme bei der Errichtung einer sozialistischen Demokratie klar benannt werden. Damit würde sie die Bevölkerung in die Lage versetzen, statt zu resignieren, für die real vorhandene Perspektive einer antikapitalistischen, radikal demokratischen und sozialistischen Alternative zu kämpfen. Aus Jacobin https://www.jacobinmag.com/2016/10/alternative-cuba-socialism-left-opposition-worker-control/ Übersetzung: MiWe D O S S I E R : B E S TA N D S AU F N A H M E D E R A R B E I T E R K L A S S E DOSSIER: BESTANDSAUFNAHME DER ARBEITERKLASSE NUR WER LEBT, KANN KÄMPFEN Ein Dossier aus l’Anticapitaliste 354 vom 13.Oktober 2016, übersetzt von MiWe Es ist schwer, eine Arbeiterklasse, die aus über drei Milliarden Individuen besteht, in einem Zug zu porträtieren. Nie zuvor war diese Klasse so zersplittert und reicht vom Techniker, der in einem Labor eines französischen Elektronikunternehmens arbeitet, bis hin zur Näherin in einer einsturzgefährdeten Klitsche in Bangladesch. Dennoch wollen wir diese seit langem bestehende Debatte in Form einer Skizze aufgreifen. „Als Klassen bezeichnet man große Menschengruppen, die sich voneinander unterscheiden nach ihrem Platz in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaft lichen Produktion, nach ihrem (größtenteils in Gesetzen fixierten und for mulierten) Verhältnis zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Größe des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, über den sie verfügen. Klassen sind Gruppen von Menschen, von denen die eine sich die Arbeit einer andern aneignen kann infolge der Ver schiedenheit ihres Platzes in einem bestimmten System der gesellschaft lichen Wirtschaft.“1 Da die Arbeiterklasse zunehmend weniger durch ihre Kämpfe in Erscheinung tritt, wird selbst dieser Begriff inzwischen infrage gestellt, und vom Proletariat will erst recht niemand mehr schreiben oder sprechen. Gewerkschafter und Soziologen machen für die gesunkene soziale Konfliktbereitschaft die gegenüber Anfang und Mitte des vorigen Jahrhunderts fundamental gestiegene Zersplitterung der Klasse verantwortlich. Fand nach 1930 noch im Zuge der Taylorisierung und des Fordismus ein Konzentrationsprozess in Großfabriken statt, der die Mehrheit der Klasse umfasste, werden heute die Betriebe zerlegt, abgebaut oder ausgegliedert – woran auch das Bestehen riesiger Arbeitersiedlungen in Asien nichts ändert. Dieser Prozess führt zu einer Schwächung der Kollektive und der Organisationen, die sich gegen soziale Einschnitte zur Wehr setzen können. In den traditionellen Industrieländern geht es aktuell vorrangig um Abwehrgefechte gegen Entlassungen und Betriebsschließungen. In den Schwellenländern steht der Kampf um humane Arbeitsbedingungen, um Arbeitsschutzgesetze und gegen Hungerlöhne im Vordergrund. „Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf […] findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst.“2 Nach dem Zusammenbruch der beiden großen historischen Strömungen der Arbeiterbewegung zwingt uns der dringend erforderliche Sturz des kapitalistischen Systems dazu, wieder Wege zu finden, die von den bloßen Abwehrkämpfen zum entscheidenden „letzten Gefecht“ Inprekorr 1/2017 57 D O S S I E R : B E S TA N D S AU F N A H M E D E R A R B E I T E R K L A S S E führen. Die folgenden Beiträge sollen einen Baustein der hierfür fälligen Bestandsaufnahme liefern. fall, ganz zu schweigen vom zunehmend grassierenden Union Busting. 1 W.I.Lenin - Werke, Band 29, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1976 2 MEW 4, 180 f Gestern … DIE ARBEITERBEWEGUNG ZWISCHEN GESTERN UND HEUTE Nicht nur die Strukturen der Arbeitsprozesse und deren Auswirkungen auf das Proletariat haben sich unter dem Neoliberalismus verändert sondern auch Umfang und Formen gewerkschaftlicher und betrieblicher Organisation. Robert Pelletier Die tiefgreifende Umstrukturierung des Produktionssektors seit Mitte der 70er Jahre wurde mit der Zerlegung von Belegschaften und der Individualisierung der Beschäftigten vollzogen. Dieser Prozess ging einher mit einer druckvollen ideologischen Kampagne, in der die unternehmerfreundliche Presse die Verdienste des Unternehmens und die Qualität seiner Produkte hervorhob, und mit einer Neuordnung der Hierarchie, wo aus den „Unteroffizieren“ des Kapitals, wie Marx die Aufseher, Meister und Vorarbeiter genannt hat, Animateure und Propagandisten der „Unternehmenskultur“ gemacht wurden, damit sich die Lohnabhängigen als Individuen freudig in die Selbstausbeutung dreingeben. Die Begleitmusik dieser Entwicklung besteht in der Zunahme von Selbstmorden am Arbeitsplatz quer durch die Berufsgruppen – ob Fließbandarbeiter in der Automobilfabrik, Bedienstete bei der Post oder Angestellte im Supermarkt – und immer mehr Mobbing im Krankheits58 Inprekorr 1/2017 Außer seinem wirtschaftlichen Bankrott hat der „real existierende“ Sozialismus in den Parteien und Gewerkschaften ein ideologisches und politisches Vakuum hinterlassen. Mit ihrer ausdrücklichen Integration in die Maschinerie des kapitalistischen Systems haben die sozialdemokratischen Parteien, denen weder etwas Sozialistisches noch Demokratisches anhaftet, besiegelt, dass sie noch nicht einmal mehr als fallweise Alternative zu den klassisch bürgerlichen Parteien gelten können. Ende der 90er Jahre gab es ein Zusammenwachsen der Klassenkämpfe mit den sozialen Bewegungen, etwa der Frauenbewegung (besonders über den Weltfrauenmarsch), der LGBT*-Bewegung oder der Umweltbewegung, als die Antiglobalisierungsbewegung ihren vielversprechenden Aufschwung nahm (Seattle, ESF, WSF etc.) und mit einer Massenbewegung und antikapitalistischen Mobilisierungen gerechnet werden konnte. Stattdessen haben wir erlebt, wie in den letzten Jahren der arabische Frühling unter der Konterrevolution zusammenbrach und die Erwartungen an die fortschrittlichen Regierungen Lateinamerikas in Brasilien, Venezuela oder Bolivien weitgehend zerschellten. Zwar gibt es noch immer Mobilisierungen und soziale Kämpfe, aber die politischen Alternativen sind völlig heterogen und reichen von der linksnationalistischen Wahlkandidatur eines Mélenchon über Bernie Sanders, der 5-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo oder Syriza bis hin zu Podemos. Angesichts dieser wenig plausiblen und inkonsistenten Alternativen erleben wir einen Aufschwung rechtspopulistischer und klerikal-reaktionärer Strömungen. Auf dem gewerkschaftlichen Sektor ähnliches Bild: Die Comisiones obreras in Spanien (früher KP-nah) sind der sozialdemokratischen UGT auf dem Weg in die Sozialpartnerschaft gefolgt und unterstützen die Sparpolitik der Regierung; die vormals ebenfalls KP-nahe CGIL hat sich den Erpressungen der italienischen Unternehmer gebeugt; die US-Automobilgewerkschaften haben im Zuge der Produktionsverlagerung von Detroit in die Südstaaten Lohnsenkungen um 50% hingenommen etc. In den osteuropäischen Staaten vereinen die Gewerkschaften Bürokratisierung mit Korruption und in Großbritannien hat sich die Gewerkschaftsbewegung nie mehr von den Attacken unter Thatcher erholt. Auch in anderen Ländern D O S S I E R : B E S TA N D S AU F N A H M E D E R A R B E I T E R K L A S S E wie Frankreich geht der Bedeutungsverlust der Gewerkschaften mit der Technokratisierung des Apparats einher, der die konzertierte Aktion inzwischen wohl wie die Luft zum Atmen benötigt. Anders verhält es sich in den Ländern wie Pakistan oder Bangladesch, die von den Auswirkungen des Klimawandels auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen unmittelbar betroffen sind. Dort müssen sich die Gewerkschaften auch diesen Herausforderungen stellen und agieren im Gleichklang mit den Mitgliedsorganisationen von Via Campesina. Von solchen Bewegungen könnten in den kommenden Jahren Impulse für eine weltweite antikapitalistische Orientierung ausgehen, wie bereits bei den Mobilisierungen zu COP21 ersichtlich war. …und heute? In einer solchen Abwärtsphase mit vorwiegend defensiven Kämpfen verliert auch die politische Arbeiterbewegung beständig und mit jeder Kapitulation an Substanz. Die Gewerkschaftsbewegung, die ja in die täglichen Abwehrgefechte fest involviert ist, wehrt sich trotz empfindlicher Mitgliederverluste gegen diesen Trend und versucht, als Antwort auf die wirtschaftliche Globalisierung sich auf internationaler Ebene zu organisieren. Der 2006 wiedergegründete Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) reklamiert 176 Millionen Mitglieder in 151 Ländern für sich und unterstützt neue unabhängige und oftmals dynamischere Gewerkschaften und internationale Berufsverbände wie die Internationale Transportarbeitergewerkschaft oder Studentenvertretungen. Durch seine radikale Ausrichtung in der poststalinistischen Ära organisiert der Weltgewerkschaftsbund (WGB) etliche radikale Gewerkschaften wie die baskische LAB, die britische RMT, die italienische USB oder Teile der südafrikanischen COSATU. Auch das Alternative Gewerkschaftsnetzwerk um Conlutas (Brasilien), Solidaires (Frankreich), CGT (Spanien), NUMSA (RSA) etc. verzeichnet Fortschritte. In Zeiten, wo die traditionell starken Belegschaften mit dem Rücken zur Wand stehen, entstehen regelmäßig Mobilisierungen in eher randständigen Sektoren mit geringerem gewerkschaftlichen Organisationsgrad. In Frankreich sind dies bspw. Reinigungskräfte oder Hotelpersonal, die vielerlei Kämpfe führen und dabei oft von lokalen Gewerkschaftsgliederungen außerhalb der traditionellen Berufsvertretungen unterstützt werden und wiederum Einzelgewerkschafts-übergreifende Allianzen wie die CLIC-P im Pariser Einzelhandel ins Leben rufen. Auch in Großbritannien gerät das traditionelle Selbst- verständnis der Gewerkschaftsbewegung ins Wanken, da zunehmend wilde Streiks stattfinden, etwa bei den Zustelldiensten, und zwar dort, wo die Beschäftigten den autonomen Independent Workers of Great Britain (IWGB) angehören, oder bei den in den United Voices of the World (UVW) organisierten Reinigungskräften der Stadt London. Sie und auch die prekär beschäftigten Wachleute und Reinigungskräfte bei Sotheby’s haben durch ihre Kämpfe höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen können. Vergleichbare Beispiele, wie man mit unorthodoxen Organisierungsformen auch traditionell randständige Sektoren unter den Lohnabhängigen erreichen kann, gibt es auch in den USA. Erinnert sei an die landesweiten Demonstrationen von 2012, an die Beschäftigten bei Walmart und ihre Initiative unter dem Namen Our Walmart (OWM) oder an die Beschäftigten in den Imbissketten McDonald, Burger King oder KFC, die für 15 Dollar Mindestlohn, etwa in der Kampagne Fast Food Forward, streiten. In den USA hat sich die gewerkschaftliche Landschaft in den letzten zehn Jahren geändert. Die traditionellen Organisationen der AFL-CIO sind im Rückgang und stehen zusehends radikalen und konfrontativ ausgerichteten Neugründungen gegenüber wie Change to Win (CTW), die durch eine Allianz zwischen der Service Employees International Union (SEIU), der United Food and Commercial Workers International Union (UFCW) und den Teamsters entstanden ist und die bislang unorganisierten Bereiche ansprechen. In den kommenden Jahren wird es darum gehen, sowohl die Organisierung zu stärken, um den Attacken von Staat und Kapital zu trotzen. Aber auch darum, in Verbindung mit den sozialen Mobilisierungen eine politische Bewegung aufzubauen, die offensiv für den Sturz des Kapitalismus kämpft. Inprekorr 1/2017 59 D O S S I E R : B E S TA N D S AU F N A H M E D E R A R B E I T E R K L A S S E DER FRAGMENTATIONSPROZESS DES PROLETARIATS Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs findet ein tiefgreifender Umwälzungsprozess der Gesellschaft statt, in dem das Proletariat durch das Kapital aufgesplittert wird und dadurch seine Identität verlieren und als organisierte soziale Kraft abtreten soll. Patrick Le Moal Das Proletariat ist die Klasse derjenigen, die ihre Arbeitskraft verkaufen, durch entfremdete Arbeit enteignet werden und eine untergeordnete Position bekleiden, in der sie ausgebeutet und unterdrückt werden. Die Mehrheit der Weltbevölkerung ist dieser Klasse zuzurechnen und nahezu 80 % der französischen Bevölkerung. Bloß unter welcher Form? U-Bahnen und 33 % der Straßenbahnen her. Der Jahresumsatz liegt bei 6,9 Milliarden Euro und die Zahl der Beschäftigten bei 31 000 in über 60 Ländern, wobei gerade mal 9000 in Frankreich arbeiten. Der Industriesektor, das Herzstück der Arbeiterbewegung im 19. und 20. Jahrhundert, geht in Europa beständig zurück oder liegt gar, wie in Großbritannien, in der Agonie, während zugleich die Zahl der Beschäftigten im Dienstleistungssektor die Überhand gewinnt. Die Größe der Betriebe, in denen das Proletariat arbeitet, hat die den vergangenen 40 Jahren abgenommen. Ein Paradebeispiel hierfür ist Renault, in der Vergangenheit ein Vorreiter der Klassenkämpfe in Frankreich, wo bspw. 1955 die dritte und 1962 die vierte Urlaubswoche durchgesetzt wurde. Gab es dort 1950 insgesamt 49 000 Beschäftigte, darunter 40 000 in Billancourt, und 1975 gar 101 000, darunter 31 000 in Billancourt und 20 000 in Flins, so ist deren Zahl inzwischen zwar auf 120 000 in über 125 Ländern gestiegen, in Frankreich aber arbeiten bloß noch knapp 50 000, davon gar bloß noch 27 000 in der industriellen Fertigung. Abgesehen vom Entwicklungszentrum in Guyancourt mit 9000 Beschäftigten arbeiten an keinem Standort mehr als 4000 Leute. Bestimmte Fahrzeuge lässt der Konzern vorsichtshalber in mehreren Fabriken verteilt auf verschiedene Länder zugleich fertigen. Wachsende Konzerne, schrumpfende Betriebe Zeit seines Bestehens hat der Kapitalismus permanent die Produktion und demnach auch das Proletariat umgestaltet. Zwischen dem britischen Proletariat des 19. Jahrhunderts und dem heutigen in China sowie im zeitgenössischen europäischen Kapitalismus bestehen grundlegende Unterschiede. Durch die technischen Entwicklungen steigt die Produktivität und es werden sowohl in der Industrie als auch im Dienstleistungssektor weniger Arbeitskräfte für dieselbe Menge an Produkten benötigt. Durch die Entwicklungen im Transportsektor werden Auslagerung und Standortverlagerung immer einfacher. Ein Fünftel der weltweit Beschäftigten produzierte 2015 Waren oder Dienstleistungen, die in anderen Ländern konsumiert oder weiterverarbeitet wurden – eine Steigerung um 20 % innerhalb von 20 Jahren. Die Hälfte der Fahrzeugteile eines PKW – wertmäßig sogar drei Viertel – die bei Zulieferbetrieben gekauft werden, wird woanders in Europa oder Asien hergestellt. Die Konzerne wachsen unaufhörlich, ohne deswegen mehr Arbeitsplätze in Europa zu schaffen. Alstom stellt weltweit 70 % der Hochgeschwindigkeitszüge, 25 % der 60 Inprekorr 1/2017 Neue Herrschaftsformen Die Veränderungen im Proletariat sind jedoch kein rein mechanisches Produkt der Entwicklungen im Produktionsprozess, sondern zugleich das Ergebnis politischer Entscheidungen der Bourgeoisie, die damit ihre Herrschaft festigen will. So war bspw. die Entscheidung, auf Erdöl statt auf Kohle als Energieträger zu setzen, zwar unter militärischen Aspekten interessant, nicht aber unter wirtschaftlichen, da das Erdöl teurer war und zunächst einmal erheblicher Subventionen bedurfte. Ausschlaggebend für diese Option war jedoch u. a. die Absicht, damit die Arbeiterhochburgen zu schwächen, in denen die Bergarbeiter als gut organisierte und zahlenmäßig starke Kraft großes Gewicht hatten und damit eine zentrale politische Rolle in vielen Ländern spielten. Das Ziel der Vorläufer des Neoliberalismus in den 1930er Jahren war, eine andere Form der Kapitalherrschaft zu errichten, indem die durch den Industriekapitalismus entwurzelten Massen „entproletarisiert“ und ihre Hochburgen geschliffen werden sollten. Die Proletarier sollten nicht zu Nutznießern der „sozialen Hängematte“ D O S S I E R : B E S TA N D S AU F N A H M E D E R A R B E I T E R K L A S S E werden, sondern zu Eigentümern, Sparern, unabhängigen Produzenten … zu Individuen, die das Funktionsprinzip und die innere Logik der Unternehmen verinnerlicht haben. Der neoliberale Rollback seit Beginn der 80er Jahre dient nicht nur dazu, zu privatisieren, den „Wohlfahrtsstaat“ in seinen verschiedenen Ausprägungen und die sozialen Sicherungssysteme zu zerschlagen und die Löhne und Errungenschaften des Proletariats zurückzuschrauben. Es geht auch nicht um die bloße Restauration des Kapitalismus des 19. Jahrhunderts und des traditionellen Liberalismus, sondern um die Reorganisation der gesamten Gesellschaft und der weltweit durchgesetzten Marktwirtschaft hin zu einer Marktgesellschaft. Der Neoliberalismus begnügt sich nicht damit, die Lohnabhängigen auszubeuten, die Produktivität zu maximieren und immer höhere Arbeitsergebnisse einzufordern. Er will vielmehr den Menschen systematisch ein „Unternehmerdenken“ einbläuen, sie zu Individuen machen, die sich für die Arbeit gleichermaßen (eigen-) verantwortlich wie für ihr Privatleben fühlen und sich als ganze Person in die ihnen zugedachte Tätigkeit einbringen. Die Gesellschaft soll nach den Prinzipien der Konkurrenz zwischen Allen funktionieren, auch bei der täglichen Arbeit. ZUKUNFT DER ARBEIT Nicht das vor über 20 Jahren prognostizierte „Ende der Arbeit“ durch zunehmende Automatisierung ist eingetreten, sondern eine arbeitspolitische Regression mit drastischem Rückgang der sozialstaatlich abgesicherten Vollzeitbeschäftigung und deren Ersetzung durch zunehmend prekäre Arbeitsverhältnisse. Eine kurze Bestandsaufnahme … Leon Cremieux Während die Weltbevölkerung seit 2005 von 6,5 Milliarden auf 7,4 Milliarden Menschen gestiegen ist, hat die erwerbstätige Bevölkerung nur von 3 auf 3,4 Milliarden zugenommen. Das entscheidende Moment dabei ist, dass die Mehrheit der Bevölkerung seit Ende des vorigen Jahrzehnts nicht mehr auf dem Land lebt und diese Entwicklung weiter fortschreitet: 2025 werden 65 % der Weltbevölkerung in den Städten wohnen und bereits jetzt gibt es 23 Megastädte mit mehr als 10 Millionen Einwohnern. Der Rückgang der Landwirtschaft wird begleitet von einem enormen Industrialisierungsprozess in den Schwellenländern. Ungleiches Wachstum der Arbeitsplätze … In Industrie und Dienstleistungssektor entstehen zunehmend neue Arbeitsplätze. Lag 2005 die Quote noch bei 22 % bzw. 42,5 %, so waren es 2013 bereits 24,5 % bzw. 45 %. Nach einem Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) wird die Zahl der Arbeitsplätze zwischen 2014 und 2019 mit jeweils 11 – 12 Millionen jährlich in zwei Regionen besonders stark zunehmen, nämlich im subsaharischen Afrika und auf dem indischen Subkontinent. Für Lateinamerika und die Karibik wird mit einer jährlichen Zunahme von 5 Millionen und für Nordafrika und den Nahen Osten von jeweils 1,3 – 1,8 Millionen gerechnet. Demgegenüber sind die prospektiven Wachstumsraten in den anderen Regionen sehr gering: 2,3 Millionen für EU, USA und Australien zusammen und 1,8 Millionen für China, während in Osteuropa und Russland sogar von einem Nullwachstum ausgegangen wird. Diese neu entstehenden Arbeitsplätze ändern aber nichts an der Grundaussage der ILO in ihrem Bericht von 2015 über die Folgen der Wirtschaftskrise von 2008 für die Entwicklung der globalen Beschäftigung: „Wenn man bedenkt, wie viele Menschen in den kommenden fünf Jahren auf den Arbeitsmarkt drängen werden, müssten 280 Millionen Stellen bis 2019 neu geschaffen werden, um dies aufzufangen. Die Jugend und ganz besonders die jungen Frauen werden auch weiterhin überproportional vom Anstieg der Arbeitslosigkeit betroffen sein. Fast 74 Millionen junger Menschen zwischen 15 und 24 Jahren waren 2014 arbeitssuchend, womit die Arbeitslosenquote unter ihnen dreimal so hoch wie bei den Erwachsenen liegt.“ In den letzten Jahren konnten die Arbeitslosenzahlen in einigen Ländern Europas, in den USA und Japan abgebaut werden, aber nur, weil es zu einer sprunghaften Zunahme von Lohnsenkungen und prekärer Beschäftigung kam. Es ist damit zu rechnen, dass in Lateinamerika und Inprekorr 1/2017 61 D O S S I E R : B E S TA N D S AU F N A H M E D E R A R B E I T E R K L A S S E der Karibik sowie in China, Russland und bestimmten arabischen Ländern Unterbeschäftigung und informelle Jobs auch in den nächsten fünf Jahren unverändert hoch sein werden. …bei gleichzeitig sinkenden Löhnen Der globale Anstieg der Löhne (2 % in 2013) war den Schwellen- und Entwicklungsländern zu verdanken, wo die Reallöhne seit 2007 – mitunter rasch – zugenommen haben. Lässt man allerdings die VR China bei dieser Kalkulation außen vor, halbiert sich der Satz nahezu von 2 % auf 1,1 %. Betrachtet man allein die Gruppe der Zwanzig Entwicklungs- und Schwellenländer (G 20+), so lag dort 2013 der Anstieg der Reallöhne bei 5,9 %. In den klassischen Industrieländern hingegen stagnierten die Löhne nahezu (+0,1 % in 2012 und +0,2 % in 2013). In manchen Ländern wie Spanien, Griechenland, Irland, Italien, Japan und Großbritannien lagen 2013 die durchschnittlichen Reallöhne sogar unter dem Niveau von 2007. In diesen klassischen Industriestaaten wuchsen zwischen 1999 und 2013 die Reallöhne weniger stark als die Produktivität. Seit 30 Jahren schrumpft die Lohnquote, wie die ILO in ihrem globalen Lohn-Report 2012-13 festgestellt hat. Michael Husson schreibt hierzu, dass „jüngste Erhebungen zeigen, dass diese Entwicklung seit Jahrzehnten anhält, ganz im Gegensatz zu den vorherigen Annahmen. In 16 Industrieländern ist der Anteil der Löhne am Volkseinkommen von 75 % Mitte der 70er Jahre auf 65 % in den Vorkrisen-Jahren gesunken. Selbst in China, wo sich die Löhne in den vergangenen 10 Jahren verdreifacht haben, ist deren Anteil am Volkseinkommen gesunken.“ Massenmigration Im Jahr 2014 gab es 240 Millionen internationale MigrantInnen, darunter 150 Millionen Lohnabhängige, sowie 740 Millionen landesinterne MigrantInnen, davon 240 Millionen allein in China. So waren bspw. 10 % der erwerbsfähigen Bevölkerung der Philippinen zur Auswanderung gezwungen, um Beschäftigung zu finden. Hinzu kommen 40 Millionen (nicht anerkannter) Klimaflüchtlinge, deren Zahl bis 2050 auf 200 Millionen steigen dürfte. Der überwiegende Anteil (60 %) dieser Migrationsbewegungen vollzieht sich zwischen Ländern, die auf der gleichen Entwicklungsstufe stehen. Bloß 37 % der MigrantInnen gehen aus einem Entwicklungsland in die Industrieländer. 62 Inprekorr 1/2017 Afrika weist mit fast 200 Millionen Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren die weltweite jüngste Bevölkerung auf – Tendenz rasch steigend. Bis 2045 wird sich diese Zahl verdoppelt haben. Aber nicht nur nimmt deren Zahl immer weiter zu, sondern auch deren (Aus)bildungsniveau. Der gegenwärtige Trend zeigt, dass 59 % der 20–24-Jährigen im Jahr 2030 über eine höhere Schulbildung verfügen werden. Dies hat zur Folge, dass viele unter ihnen keine Arbeit oder nur eine gering qualifizierte Arbeit finden, mit entsprechend niedriger Produktivität und Löhnen. Die Armutsrate unter den Jugendlichen in Nigeria, Äthiopien, Uganda, Sambia und Burundi liegt bei über 80 % und am stärksten sind darunter die Frauen und die Landbevölkerung betroffen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das globale Bevölkerungswachstum mit einer wachsenden Verstädterung und einer kontinuierlichen Zunahme der Lohnabhängigen einhergeht, wobei ein gleich hoher Anteil (45 %) prekär Beschäftigter unter der erwerbstätigen Bevölkerung vorhanden ist. Zugleich – und verstärkt durch die Globalisierung – nimmt der Anteil des Kapitalvermögens am erwirtschafteten Reichtum und damit die Ungleichheit zu. Infolge der höheren Lebenserwartung und eines besseren Bildungszugangs – besonders in Afrika – steigen jedoch zugleich die strukturellen prekären Verhältnisse und die Massenarbeitslosigkeit, besonders unter der Jugend. R E G I S T E R 2 0 16 REGISTER 2016 REGISTER NACH LÄNDERN Titel AutorIn Heft Seite Argentinien Das Großkapital an der Regierung Martín Noda, Dani- 2/2016 ela Cobet, Virginia de la Siega 32 Paris wacht auf Für ein starkes Arbeitsrecht Ihr habt Milliarden, wir sind Millionen! Unruhige Zeiten in Frankreich „Unsere Entschlossenheit war nie so groß.“ MiWe Leon Crémieux Léon Crémieux Florent, Bertrand 3/2016 3/2016 3/2016 4/2016 4/2016 39 40 41 4 10 Joseph Daher 2/2016 27 Socialist Democracy Harkin Shaun 3/2016 35 3/2016 37 Julien Salingue Ilan Pappe 2/2016 6/2016 60 31 Diego Giachetti 6/2016 Franco Turigliatto 6/2016 10 13 Raúl Zibechi 6/2016 34 3/2016 Erklärung des Internationalen Komitees der IV. Internationale 15 Jan Malewski 5/2016 47 Awami Workers Party 5/2016 47 Ilan Pappe 6/2016 31 Alex de Jong 5/2016 50 Ilja Budraitskis 2/2016 17 Joseph Daher 2/2016 27 Johnathan Shafi 4/2016 12 MiWe Manuel Garí Antoine Rabadan Antoine Rabadan 1/2016 1/2016 1/2016 1/2016 5 5 8 14 Esther Vivas 1/2016 20 Iran Brasilien Der unaufhaltsame Abstieg der PT Absetzung von Dilma Rousseff: Was ist los in Brasilien? Öl ist ihr Schicksal Tárzia Maria de Medeiros, João Machado Ricardo Antunes 4/2016 21 Irland 1916 und heute 4/2016 27 3/2016 28 Die Arroganz einer Kolonialmacht Schimon Peres aus der Perspektive seiner Opfer Maria Isabel 5/2016 Altamirano, Tanya de la Torre, Alba Aguinaga 44 Italien Mamadou Ba 3/2016 3/2016 Erklärung des Internationalen Komitees der IV. Internationale 4 11 Pierre Rousset Ecuador Der Feminismus in Ecuador Europa Den Kreislauf durchbrechen! Internationalismus von unten gegen die Festung Europa Irlands bedeutendster Revolutionär Israel China Der chinesische Imperialismus Irland Das Modell Renzi in der Krise Die widersprüchliche Natur des M5S Kolumbien Ein (schwacher) Staat, zwei (starke) Länder Kurdistan Unterstützung für den Kampf des kurdischen Volkes für ein Leben in Freiheit und Würde Europäische Union „Plan B“, der „Plan A“ ist Josep María Atentas Für Einheit und Solidarität in Europa, Büro der Vierten gegen Rassismus und Sozialdumping Internationale GB und der Brexit: Dichtung und Phil Hearse Wahrheit Für ein anderes Europa ohne Grenzen Galia Trépère und Ausbeutung Nach dem Brexit – eine EU-Kritik von Socialistisk Arbejlinks derpolitik (SAP) Jakob Schäfer Die EU nach dem Brexit – in einer politischen Krise oder in einer unlösbaren Strukturkrise? Kein „Lexit“ ohne „Ein anderes Euro- Catherine Samary pa ist möglich“ 4/2016 16 5/2016 5 5/2016 7 5/2016 9 5/2016 12 Schimon Peres aus der Perspektive seiner Opfer 5/2016 14 Philippinen 6/2016 16 Flexicurity à la française Warnschuss bei den Regionalwahlen Der Verfall der Sozialistischen Partei Frankreich – der Staat rüstet auf Ausnahmezustand für die Arbeiterklasse Widerstand statt Notstand! Baba Jan – Opfer der pakistanischen Klassenjustiz Freiheit für Baba Jan! Internationale Solidarität gefordert! Palästina Der neue „starke Mann“ der Philippinen Russland Russland im Würgegriff der Krise Frankreich Gegen den IS und seine Attentate – gegen Notstand und Rassismus – gegen den imperialistischen Krieg Pakistan 1/2016 Resolution des Politischen Komitees der NPA (Frankreich) MiWe 2/2016 Galia Trépère 2/2016 Antoine Larrache 2/2016 Henri Wilno 2/2016 Vanessa Codaccioni2/2016 Pressekommuniqué 2/2016 der Richtergewerkschaft Syndicat de la magistrature 26 Saudi-Arabien Öl ist ihr Schicksal 5 6 8 10 13 15 Schottland Zukunft der Linken in Schottland Spanischer Staat Spanien nach der Wahl Empörung trifft auf Friedhofsruhe Der Nachhall der Empörung Über die Kunst, den Himmel über Wahlen erstürmen zu wollen Katalonien – Stunde der Wahrheit Inprekorr 1/2017 63 R E G I S T E R 2 0 16 Von Laclau zu Iglesias – Theorie und Praxis des (Neo)populismus Wege aus der Sackgasse Emmanuel Barot 1/2016 22 Antoine Rabadan 6/2016 4 Internationalismus von unten gegen die Festung Europa Erklärung des 3/2016 Internationalen Komitees der IV. Internationale 11 Charles Michaloux 4/2016 59 3/2016 Erklärung des Internationalen Komitees der IV. Internationale Daniel Tanuro 3/2016 45 Südafrika „Wir brauchen einen neuen Anfang“ 2/2016 36 Nachruf Frank Gaudichaud 1/2016 43 Ökologie Fathi Chamkhi 2/2016 23 Sarah Parker 2/2016 19 Emre Öngün 5/2016 Erklärung von Yeni 5/2016 Yol 21 22 Yvan Lemaitre Socialist Action Solidarity 3/2016 5/2016 5/2016 25 30 31 Yvan Lemaitre 5/2016 34 Xavier Guessou 5/2016 35 Galia Trépère Galia Trépère Stan Miller 5/2016 5/2016 5/2016 37 39 42 Brian Ashley Claude Jacquin (1947–2016) Südamerika Ende einer Ära in Südamerika? Tunesien Die Wut kehrt zurück Türkei Erdogan – ein Despot als Schutzschild Europas Ein zweifacher Staatsstreich Gegen den Staatsstreich des Militärs und den aus dem Serail COP21 – Perspektiven des Klassenkampfs Kapitalismus, Arbeit und Natur: Den Teufelskreis durchbrechen Jean Batou 3/2016 Von Mücken und Menschen – die soziale Genesis des Zika-Virus Ökosozialismus aus marxistischer Sicht Friedrich Voßkühler3/2016 Ökologie als Klassenfrage begreifen Friedrich Voßküh- 3/2016 ler, Jakob Schäfer 51 54 58 63 USA Zurück zu alter Stärke? Deine Stimme für Socialist Action Für Jill Stein und eine unabhängige Politik USA – Klassensolidarität gegen rassistische Gewalt US-Arbeiterbewegung und Rassismus (1930/40) Die Bürgerrechtsbewegung Wege der Befreiung Abschwung nach den 70ern AutorIn Heft Seite Debatte Neue Strategie, neue Partei? Willi Eberle Sozialismus von unten. Für eine organi- Michael Sankari, sierende und verbindende Linke Thomas Linnemann Grundzüge einer bedürfnisorientierten Bernhard Brosius Ökonomie 1/2016 4/2016 52 62 6/2016 44 2/2016 50 Yann Cézard Yvan Lemaitre Pierre Rousset Yvan Lemaitre 3/2016 3/2016 3/2016 4/2016 20 25 28 49 IV. Internationale 6/2016 52 Daniel Tanuro Daniel Tanuro 1/2016 2/2016 30 43 Mamadou Ba 3/2016 4 Migration Den Kreislauf durchbrechen! 64 Inprekorr 1/2017 34 4/2016 4/2016 33 35 Camille Lefèbvre Henri Wilno Jakob Schäfer 4/2016 4/2016 4/2016 40 45 48 4/2016 68 Reiner Tosstorff 5/2016 58 Reiner Tosstorff 5/2016 62 Daniel Bensaid 6/2016 38 Spanischer Bürgerkrieg Historisches Stichwort „Spanischer Bürgerkrieg 1936 bis 1939“ Die POUM und der Trotzkismus Theorie Titel Cinzia Arruzza Klima COP 21 – Viel Lärm um nichts Nach COP 21 – der Atmosphäre CO entziehen? 1/2016 DIE INTERNATIONALE Imperialismus Imperialismus und Globalisierung Zurück zu alter Stärke? Der chinesische Imperialismus Der neoliberale Imperialismus als neues Stadium des Kapitalismus Kapitalistische Globalisierung, Imperialismen, geopolitisches Chaos und die Folgen Jean-Claude Vessillier Yann Cézard Yann Cézard Sommercamp Politik als strategische Kunst Feminismus Marxismus und Feminismus Automobilindustrie – same procedure … Die Angst vor der Uberisierung Von der Kooperative zum multinationalen Konzern „Uberisiert“ statt lohnabhängig? Uber – eine rückschrittliche Moderne Sharing Economy – ein neues Anlagefeld für das Kapital Lernen, die Welt zu verändern REGISTER NACH THEMEN (AUSWAHL) Titel Ökonomie Neue Strategie, neue Partei? Marxismus und Feminismus Ökosozialismus aus marxistischer Sicht Ökologie als Klassenfrage begreifen AutorIn Heft Willi Eberle 1/2016 Cinzia Arruzza 2/2016 Friedrich Voßkühler3/2016 Friedrich Voßküh- 3/2016 ler, Jakob Schäfer Sozialismus von unten. Für eine organi- Michael Sankari, 4/2016 sierende und verbindende Linke Thomas Linnemann Historisches Stichwort „Spanischer Reiner Tosstorff 5/2016 Bürgerkrieg 1936 bis 1939“ Die POUM und der Trotzkismus Reiner Tosstorff 5/2016 Politik als strategische Kunst Daniel Bensaid 6/2016 Grundzüge einer bedürfnisorientierten Bernhard Brosius 6/2016 Ökonomie Kapitalistische Globalisierung, Impe- IV. Internationale 6/2016 rialismen, geopolitisches Chaos und die Folgen Seite 52 50 58 63 62 58 62 38 44 52
© Copyright 2024 ExpyDoc