rechtspopulismus

Deutschland/Österreich 4 Euro, Schweiz 5 CHF
Januar/Februar
1/2017
die
internationale
Metropolico.org (CC BY-SA 2.0) 2x, European Parliament (CC BY-NC-ND 2.0), Matt Johnson (CC BY-NC 2.0) je von flickr.com
MAGA ZIN DER INTERNATIONALEN SOZIALISTISCHEN ORGANISATION
RECHTSPOPULISMUS
die internationale 1/2017 1
I N H A LT
die internationale
Editorial
3
Internationale Sozialistische Organisation gegründet
4
Dossier Rechtspopulismus
Die Trump-Wahl und die Parallelen zu Europa
Die extreme Rechte in Frankreich
Hinter dem Erfolg der Dänischen Volkspartei
AfD – schillerndes Salz in der Wunde der „Etablierten“
7
7
17
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24
Ein neuer Anlauf: DIE LINKE in Berlin als Regierungs partei
Warum wir mit Nein stimmen
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Revolutionäre Annäherung. Unsere roten und schwarzen Sterne
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inprekorr
Dossier: Protektionismus in der Arbeiterklasse
Können Grenzen die ArbeiterInnen schützen?
Freihandel als globalisierte Konkurrenz gegen die Lohnabhängigen
Entsandte ArbeiterInnen: Ausgebeutete, keine KonkurrentInnen!
Marx und Jaurès über Zollschranken
Freihandel und Schutzzölle in der Landwirtschaft
Wider den Linksnationalismus
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33
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42
44
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Durch welche Tür geht Kuba?
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Dossier: Bestandsaufnahme der Arbeiterklasse
Nur wer lebt, kann kämpfen
Die Arbeiterbewegung zwischen Gestern und Heute
Der Fragmentationsprozess des Proletariats
Zukunft der Arbeit
57
57
58
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61
Register 2016
63
IMPRESSUM
die internationale/Inprekorr wird
herausgegeben von der Internationalen Sozialistischen Organisation (ISO,
Deutschland), der SOAL (Österreich)
und der BfS/MPS (Schweiz).
Die internationale/Inprekorr erscheint
zweimonatlich. Namentlich gekennzeichnete Artikel geben den Standpunkt
und die Meinung der AutorInnen wieder.
Redaktion:
Edith Bartelmus-Scholich, Tom Bogen,
Wilfried Dubois, Jochen Herzog, Matte,
Paul Michel, Björn Mertens, Maximilian
Sarra, Jakob Schäfer, Michael Weis.
v.i.S.d.P. Michael Weis
2 die internationale 1/2017
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E D I TO R I A L
EDITORIAL
Es kann als gesichert gelten: Der Kapitalismus bietet keine
Perspektive für die Lösung der drängenden Probleme, vor
denen die Menschheit steht, im Gegenteil. Die Herrschaft
des Kapitals verschärft die ökologische Krise, ist verantwortlich für das wachsende soziale Elend in weiten Teilen
der Welt, führt zu immer neuen Kriegen, Zerstörungen,
Flucht und Vertreibung. Hinzu kommen die bewusste
Förderung des latenten Rassismus und der Aufstieg der
Rechten und extremen Rechten.
Zur Bewältigung der Wirtschaftskrisen wie auch zur
Sanierung der Profite wälzt die herrschende Klasse die
Lasten auf die Mehrheit der Bevölkerung ab: auf die Lohnabhängigen, die Erwerbslosen, die RentnerInnen, die Bedürftigen … Die Herrschenden können ihre Projekte seit
einigen Jahrzehnten vergleichsweise gut umsetzen, weil der
Widerstand gegen diese Politik – in den Betrieben wie auch
auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene – recht schwach ist.
Dies liegt nicht nur an den ökonomischen Kräfteverhältnissen (vor allem der hohen Massenerwerbslosigkeit), sondern
auch an der politischen Schwäche der Gewerkschaften und
der sozialistischen und ArbeiterInnenbewegung insgesamt.
So haben wir es heute mit einem gewaltigen Widerspruch zu tun: Die Probleme häufen sich – so werden in
Sachen Klimawandel die Perspektiven immer düsterer –,
aber es zeichnet sich (noch) keine Erfolg versprechende
Bewegung zur Überwindung der objektiv längst überholten herrschenden Verhältnisse ab. Die bürgerliche Klasse
– im Kern sind es die KapitaleignerInnen – sitzt nicht nur
materiell (ökonomisch und politisch-militärisch), sondern
auch ideologisch fest im Sattel.
Gleichzeitig aber mehren sich bei vielen Menschen die
Zweifel am System. Sie fragen sich, wie lange das noch so
weitergehen kann. Nicht nur in Sachen Klimawandel wird
dem Kapitalismus nichts Positives mehr zugetraut. Spätestens hier stellen sich allerdings die Fragen, die sich nicht
von selbst beantworten:
„ Wie kann eine gesellschaftliche Alternative zum Kapitalismus aussehen? Was können wir uns unter Ökosozialismus vorstellen?
„ Mit welcher Strategie (mit welcher ökosozialistischen
Strategie) kann eine Alternative jenseits des Kapitalismus
durchgesetzt werden?
„ Spielt in einer solchen Strategie die ArbeiterInnenklasse
weiter die entscheidende Rolle?
„ Wie kann die revolutionäre Linke wenigstens ansatzweise ihre Zersplitterung überwinden?
Solchen und ähnlichen Fragen wollen wir in die internationale nachgehen. Wir vertreten einen dezidiert marxistischen Anspruch, den des offenen Marxismus, wie er von
der IV. Internationale vertreten wird. Dieses Organ soll
offen sein für Debattenbeiträge auch aus anderen Strömungen der revolutionären Linken. die internationale wird von
der ISO, Sektion der IV. Internationale in Deutschland
herausgegeben. Kooperationspartnerinnen sind in Österreich die SOAL und in der Schweiz die Bewegung für den
Sozialismus (BFS/MPS).
Für aktuelle Beiträge zu Aktivitäten in den Betrieben,
Gewerkschaften, sozialen Bewegungen usw. verweisen
wir auf unsere Website intersoz.org.
Mit die Internationale wollen wir die Debatte zur Positionsbildung sozialistischer Politik befruchten. Uns geht es
dabei an erster Stelle um realitätstüchtige Analysen, die
nicht alle paar Monate umgeschrieben werden müssen. Sie
sollen aber auch so konkret und nachvollziehbar sein, dass
ihre wesentlichen Inhalte auch in der täglichen politischen
Auseinandersetzung einzubringen sind, wohl wissend,
dass wir dabei oft gegen weit verbreitete impressionistische
Denkschemata argumentieren müssen.
Mit der ersten Nummer ist noch nicht die endgültige
Form gefunden, weder was die Mischung von Beiträgen
angeht, noch im Layout. Beides wird sich – als „work in
progress“ – in den kommenden Heften fortschreitend
ändern. Aber nicht nur deswegen: Über Rückmeldungen
und Anregungen würden wir uns freuen.
Die Redaktion
die internationale 1/2017 3
ISO
INTERNATIONALE SOZIALISTISCHE ORGANISATION
GEGRÜNDET
Am 3. 4. Dezember 2016 haben sich die
internationale sozialistische Linke (isl) und
der Revolutionär sozialistische Bund/
IV. Internationale (RSB) zur Internationalen
Sozialistischen Organisation (ISO) vereinigt.
Sie bilden jetzt gemeinsam die Sektion der
IV. Internationale in Deutschland.
Daniel Berger
„
Auf der Konferenz in Frankfurt/Main waren neben etwa
70 Mitgliedern eine Reihe von Gästen der IV. Internationale aus dem nahen Ausland sowie einige Gäste aus dem
Inland vertreten. Ein Genosse des Büros der IV. Internationale hielt ein Grußwort, auch andere Gäste (etwa von der
GAM, der IL oder von Marx21) sprachen ein Grußwort
oder beteiligten sich an den Diskussionen.
Der Vereinigungsprozess lief über mehr als zweieinhalb Jahre und war nicht ganz einfach, denn beide
Organisationen hatten ein recht unterschiedliches Profil,
gegründet auf einer anders gearteten Praxis und stellenweise auch unterschiedlichen Arbeitsfeldern. Der
Vereinigungsprozess erschien uns aber von Anfang an
nicht nur als sinnvoll, sondern auch als machbar, denn
als Mitgliedsorganisationen der IV. Internationale hatten
beide Organisationen das reiche Erbe der Internationale
bewahrt, vor allem was die programmatischen Grundlagen angeht. Darüber hinaus belegte gerade die Arbeit
im B&G-Bereich, dass in diesem zentralen Arbeitsfeld
einer revolutionär-marxistischen Organisation keine
Differenzen zu erkennen waren, die eine getrennte Organisierung rechtfertigen würden. Im Gegenteil: Gerade
SOZIALISMUS ODER BARBAREI – WIEDER AKTUELL
Auf der Gründungskonferenz der Internationalen Sozialisti-
Spanien und Italien, die Sackgasse der Globalisierung des Kapi-
schen Organisation (ISO) am 3. 4. Dezember 2016 in Frankfurt
talismus sind jedoch undenkbar ohne die Weltwirtschaftskrise
/Main waren einige Gäste aus dem In- und Ausland vertreten.
von 2008-9 und die seitdem anhaltende Depression der Welt-
Wir bringen hier eines dieser Grußworte, das der Autor uns
wirtschaft.
freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.
Volkhard Mosler (marx21 in der LINKEN)
Politische Instabilität als Krisensymptom ist nicht zu verwechseln mit einem allgemeinen Rechtsruck der Gesellschaft, die Krise
der alten politischen Eliten, die sich selbst gern die bürgerlich-de-
Wie jedes Jahr haben die Berufsoptimisten für das kommende
mokratische Mitte nennen, und die damit verbundene Tendenz
Jahr glänzende Voraussagen gemacht. Trotz wachsender poli-
der Polarisierung, sind das einzige unabwendbare Gesetz unse-
tischer Instabilität seien die Wachstumsaussichten für 2017 gut
rer Zeit. In Griechenland, Italien, Spanien, Portugal, Irland und
bis sehr gut. So scheinen die Krisensymptome des politischen
Großbritannien hat die Polarisierung eher nach links geführt.
Überbaus losgelöst von der wirtschaftlichen Entwicklung zu sein.
In Deutschland hat die Weltwirtschaftskrise 2008/9 einen
Das „Brexit“-Votum in GB, die anhaltenden Regierungskrisen in
Aufschwung rassistischer und rechter Bewegungen mit sich
4 die internationale 1/2017
ISO
weil die GenossInnen beider Organisationen in der
Gewerkschaftslinken wie auch in den diversen gewerkschaftlichen Kampagnen an einem Strang zogen, war
eine wesentliche Grundvoraussetzung von vornherein
gesichert.
Dennoch: Die Gespräche waren kein Selbstläufer. Am
einfachsten war die Verständigung auf eine Programmatische
Erklärung, die im Verlauf des Jahres 2016 vorgelegt, diskutiert und schließlich mit nur geringsten Abänderungen auf
der Gründungskonferenz der ISO angenommen wurde.
Etwas schwieriger war die Erarbeitung eines gemeinsamen Selbstverständnisses. Einige meinten noch im Frühjahr
2016, dass hier gar kein gemeinsames Dokument erstellt
werden könne. Aber diese Pessimisten wurden dann im
Sommer durch die Vorlage eines Textes widerlegt, der sehr
wohl den realen Annäherungsprozess beider „Quellorganisationen“ zum Ausdruck brachte. Dass es mit der Erarbeitung eines Statuts dann nicht mehr so schwierig war,
leitet sich hieraus wie auch aus der gelebten gemeinsamen
Leitungsarbeit in mehr als zwei Jahren ab.
Damit waren und sind aber noch nicht alle Unterschiede verschwunden, die die beiden Quellorganisationen
gebracht. Die Stationen dieser Entwicklung waren der Buch-
lig entgegengesetzte Signale abgesetzt. Während Bartsch der
erfolg Thilo Sarrazins („Deutschland schafft sich ab“, 2010),
SPD unter Gabriel und den Grünen anbot, Merkel sofort und
die Gründung der AfD (2013), die Welle von antimuslimischen
bedingungslos zu stürzen – also eine Regierungsbeteiligung der
Pegida-Demonstrationen (2014/15), die Spaltung der AfD unter
LINKEN unter einem SPD-Kanzler Gabriel anbot – hat Wagen-
Führung ihres neofaschistischen „Flügels“ und die anhaltenden
knecht wiederholt betont, dass es keine Kriegseinsätze mit der
Wahlerfolge der rechts gewendeten neuen Partei. Die AfD ist
LINKEN gäbe und dass eine SPD, die der Agenda 2010 verpflich-
längst zum Sammelpunkt einer neuen faschistischen Rechten
tet bleibt, nicht als Regierungspartner der LINKEN infrage käme.
Grundlagentexte
geworden, die gute Chancen hat, die Partei zu erobern.
In der LINKEN gibt es in allen Landesverbänden aktive Mitglie-
Auch das kommende Wahljahr steht im Zeichen des drohen-
der, denen bewusst ist, dass es ohne Klassenkämpfe von unten
den Rechtsrucks. Die LINKE hält den Schlüssel, dieser Entwick-
überhaupt keine nennenswerten Erfolge und Errungenschaften
lung Einhalt zu gebieten und sie umzukehren. Allerdings gehen
der arbeitenden Klassen gegeben hat und geben wird. Dies gilt in
die Meinungen über das „Wie“ weit auseinander. Von Bartsch
Krisenzeiten wie heute noch mehr als in den Jahrzehnten des lan-
und Gysi bis Klaus Ernst und Michael Schlecht hört man, dass nur
gen Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese kritischen
eine Rot-Rot-Grüne Regierungsperspektive die Rechte stoppen
Kräfte sind teilweise in den bestehenden Strömungen (AKL, SL)
kann.
organisiert, teilweise – vor allem jüngere Mitglieder – gar nicht.
Unter der Bedingung einer anhaltenden wirtschaftlichen De-
Gerade auf dem linken Flügel gibt es aber auch Tendenzen des
pression, die durchaus in eine neue Krise umschlagen kann, ist
„Ökonomismus“. Ich meine damit solche Ansichten und The-
das selbstmörderisch, zumal es genügend Beispiele aus der jün-
orien, die die Kämpfe gegen Unterdrückung (Sexismus, Rassis-
geren Zeit gibt, die zeigen, dass ein Verrat des Linksreformismus
mus u.a.) als Nebenwiderspruch vernachlässigen, weil sie die
schlimmer ist als Wahlsiege der Rechten und Konservativen. (Das
irrige Ansicht vertreten, man müsse nur die Ausbeuterordnung
italienische Beispiel der Regierungsbeteiligung von Rifondazione
konsequent bekämpfen („soziale Frage“), dann erübrige sich
Comunista 2005 unter Führung von Fausto Bertinotti sollte zeit-
der antirassistische Kampf. Dem liegt ein mechanisch-materi-
gemäß ausgewertet werden).
alistisches Weltbild zugrunde, früher nannten es Marxisten die
Deshalb sollten Marxisten in der LINKEN sich gegen einen
„Widerspiegelungstheorie“, wonach klassenfremde Ideen in den
Lagerwahlkampf R2G einsetzen und für einen starken antika-
ausgebeuteten Klassen nur Ausdruck des ökonomischen Sys-
pitalistischen und antirassistischen Wahlkampf, der den Kampf
tems und seiner Krisenhaftigkeit sei. Rassistische und sexistische
gegen die Ausbeutung und Verarmung der arbeitenden Klassen
Ideen sind zunächst einmal herrschende Ideen, weil es Ideen der
mit dem Kampf für eine sozialistische Gesellschaft verbindet und
Herrschenden sind. Die Arbeiterbewegung hat eine lange und le-
zugleich dem Rassismus in allen seinen schmutzigen Spielarten
bendige Tradition, an die wir anknüpfen können. Kämpfe gegen
den Kampf ansagt.
Unterdrückung und gegen Ausbeutung sind zwei unverzichtbare
Die beiden Spitzenkandidaten der LINKEN, Sahra Wagen-
Seiten des einen Klassenkampfes.
knecht und Dietmar Bartsch, haben in den letzten Monaten völ-
die internationale 1/2017 5
ISO
ausgezeichnet hatten. Am deutlichsten wurde dies bei
der Diskussion für ein Strategiepapier. Hier konnte bis
zur Konferenz der Annäherungsprozess noch nicht voll abgeschlossen werden, sodass die Konferenz sich nicht in der
Lage sah, sich für einen der beiden Entwürfe zu entscheiden. Hier wird die Diskussion in diesem Jahr fortgeführt,
allerdings mit dem Ziel, auf der nächsten ordentlichen
Bundeskonferenz ein entsprechendes Dokument zu verabschieden.
Die vorgelegte Politische Resolution wiederum hat
gezeigt, wie nahe wir uns in der täglichen Praxis und der
Analyse der klassenpolitischen Lage sind. Auch dieser Text
wurde wie die erst genannten mit sehr großer Mehrheit
verabschiedet. Insgesamt war schon erkennbar, dass längst
nicht mehr nur entlang ehemaliger Organisationsgrenzen
diskutiert wurde. Alle diese Texte sind abruf bar auf der
Website der Organisation: www.intersoz.org
Bleibt an dieser Stelle noch zu erwähnen, dass als Ausdruck der internationalistischen Verpflichtung der ISO am
Abend des ersten Tages eine Spendensammlung zur Finanzierung einer Druckmaschine für die pakistanische Sektion der IV. Internationale durchgeführt wurde. Zusammen
mit der zugesagten Spende eines nicht anwesenden Genossen kamen auf diese Weise 1660 Euro zusammen.
Die Organisation wird sich am 3. Juni in einer öffentlichen Veranstaltung in Köln mit einem inhaltlichen
Programm (Referate, Diskussion, Podiumsdiskussion) und
einem abendlichen Fest vorstellen.
„Gewandelte Inprekorr“
Zu den Beschlüssen für die Vereinigung gehört die
Herausgabe eines Magazins, basierend auf der bisherigen
Inprekorr. Demnach wird die Zeitschrift weiterhin Artikel
aus der Presse der IV. Internationale übersetzen, gleichzeitig aber den Teil, der bislang unter „die internationale“
firmierte, aufwerten, sodass er etwa die Hälfte des Heftes
ausmachen wird.
6 die internationale 1/2017
DOSSIER RECHTSPOPULISMUS
DOSSIER
RECHTSPOPULISMUS
DIE TRUMPWAHL UND DIE
PARALLELEN ZU
EUROPA
Dass so viele Menschen vor allem außerhalb
der USA von Trumps Wahlsieg überrascht
sind, zeigt, wie wenig die gesellschaftliche
Entwicklung reflektiert wurde. Die Parallelen zu
den Entwicklungen in Europa sind mehr als nur
oberflächlicher Natur. Jakob Schäfer
Dass die Trump-WählerInnen sich wenig von Argumenten leiten ließen, sondern mehr von Gefühlen, ist hinreichend klar geworden.1
Auf der Erscheinungsebene
Trumps Auftreten und seine „Lösungen“ entsprachen
ihrem Bauchgefühl und überzeugten mehr als alles, was
ihnen sonst angeboten wurde. Hinzu kam, dass Trump
– wegen seiner angeblichen Ferne zum „Establishment“ –
besser geeignet schien, einen Kurswechsel herbeizuführen
als die mit der Wall Street verbundene Clinton.2
Um nur die markantesten Punkte aus der WählerInnenbefragung herauszugreifen: 79 % der TrumpWählerInnen empfanden die illegale Immigration als ein
vordringliches Problem, 74 % den Terrorismus, 63 % die
Arbeitsplatzfrage (bezeichnend hier die Formulierung:
„Job opportunities for working-class Americans“). Die
entsprechenden Zahlen bei den Clinton-WählerInnen sind
20, 42 und 45 Prozent.
Ähnlich aufschlussreich ist auch, welche Fragen die
Trump-WählerInnen relativ wenig berührten: die Kluft
zwischen Arm und Reich: 33%; Schusswaffengebrauch
(gun violence): 31%; Klimawandel: 14%. Die Zahlen bei
den Clinton-WählerInnen: 72, 73 und 66 Prozent.
53 % der Trump-WählerInnen bevorzugen schnelle
Lösungen, auch dann, wenn diese risikoreich sind (gegenüber 16% bei den Clinton-WählerInnen).
Damit ist aber noch längst nicht geklärt, wer denn die
Trump-WählerInnen sind und erst recht nicht, warum
sie auf Trump setzen. Denn es ist gerade nicht so, dass nur
die Erwerbslosen oder die prekär Beschäftigten massiv für
Trump gestimmt haben.
Gewählt wurde er von Angehörigen aller Schichten,
den größten Anklang fand er aber nicht bei der sogenannten Unterschicht, sondern bei der unteren Mittelschicht.3
Auch wenn richtig ist, dass die ehemaligen Industriestaaten im Norden und Nordosten (Ohio, Michigan und
Wisconsin) im „Rostgürtel“ den Ausschlag gaben: Trump
wurde von fast der Hälfte der abgegebenen Stimmen gewählt und zwar letztlich im ganzen Land!
Bhaskar Sunkara, Herausgeber von Jacobin, schreibt:
„Trump spricht diejenigen an, die – wie das blue
collarship – vom Neoliberalismus abgehängt wurden. Das
betrifft auch und gerade die Bergarbeiter, denen Trump
zusicherte, er werde die Kohlenförderung nicht zurückfahren, weil es gar keine ökologische Krise gäbe. Kurz: Er
hat seine Kampagne unter anderem auf diejenigen ausgerichtet, die von jeder Form der Dekarbonisierung der
Produktion betroffen wären. Ferner will er ein Programm
zur Verbesserung der maroden Infrastruktur auflegen,
Schutzzölle erheben und dadurch Arbeitsplätze schaffen
die internationale 1/2017 7
DOSSIER RECHTSPOPULISMUS
oder mindestens erhalten. Das hat sicherlich bei der arbeitenden Bevölkerung Anklang gefunden.“
Zu diesem Überblick gehört auch, dass viele Menschen
gar nicht erst zur Wahl gingen.5 Dieses Mal lag die Beteiligung bei 58,1 %, das ist der niedrigste Stand seit 1980,
also noch niedriger als 1996 (damals waren es 58,4%). Dies
liegt nach ersten Untersuchungen vor allem daran, dass die
KandidatInnen beider großer Parteien bei vielen Menschen auf so große Ablehnung stießen, dass die Wahl des
kleineren Übels noch weniger griff als gewöhnlich.
Zur bitteren Wahrheit gehört allerdings auch, dass
die als Linke auftretende Kandidatin der Grünen Partei,
Jill Stein, nur 1,3 Mio. Stimmen bekam (etwa 1%). Ihre
AnhängerInnen hatten von 5 % und mehr geträumt. Und
zu dieser Wahrheit gehört auch die fehlende Selbstkritik
der allermeisten Linken, die die Antwort schuldig bleiben,
wo denn die Massen bei der Wahl abgeblieben sind, die im
Zuge der Sanders-Kampagne angeblich ihr Herz für den
Sozialismus entdeckt haben.6 So wie sie sich in vornehmes
Schweigen gehüllt haben, als der von ihnen weitgehend kri-
tiklos gelobte Sanders sich erwartungsgemäß hinter Clinton
eingereiht hat, so schweigen viele jetzt auch zu J. Stein, der
so manche Linke vor den Wahlen dezidiert antikapitalistische Positionen auf höchstem Niveau zuschrieben.7
Es stellen sich nun folgende Fragen: Was sind die
tieferen Ursachen für diese Wahl eines rassistischen und
chauvinistischen Rechtspopulisten und für die damit
einhergehende Verschiebung der Republikanischen Partei
(der Grand Old Party, GOP) und der zu erwartenden Politik nach rechts? Denn dass sich das Establishment nun ganz
schnell mit Trump arrangiert – und dass er auch mit diesen
Kräften, sowohl innerhalb wie außerhalb der Administration gut zusammenarbeitet –, hat sich schon wenige Tage
nach der Wahl gezeigt.
An dieser Stelle nur der kurze Hinweis, dass die Democratic Party – trotz der Sanders- Kampagne – sich mit der
offenen Kriegspropaganda H. Clintons nach rechts verschoben hat. Die Bernie Sanders-Kampagne wurde zwar mittels
Betrug abgewürgt, aber dennoch: Dass Sanders gerade nicht
für eine Bewegung von unten steht, kann nicht geleugnet
WER HAT TRUMP GEWÄHLT?
Den harten und entschlossensten Kern seiner Unterstützer fin-
Umgekehrt: Nur 4% der schwarzen Wählerinnen haben für
den wir im sogenannten „small business“, den Besitzern oder
Trump gestimmt. Von den jungen Menschen stimmte nur eine
Chefs von Kleinbetrieben (mit weniger als 500 Beschäftigten)
Minderheit für ihn, aber unter den jungen Weißen hat er gegen-
und den Millionen von formal Selbstständigen. Die Gesamtbasis
über Clinton die Nase vorne (48% und 43%).
ist aber viel breiter: Unter den 36 % der ärmeren und ärmsten
Insgesamt kam Trump auf 47,3 % der Stimmen, Clinton auf
WählerInnen (unter 30 000 $ Jahreseinkommen) stimmten 41%
47,8 %. Und nicht zu vergessen: Gary Johnson von der marktra-
für Trump, bei denjenigen, die 30 000 bis 50 000 $ verdienen wa-
dikalen Libertarian Party kam mit 4,3 Mio. Stimmen auf gut 4%.
ren es 42%. Bei den Reicheren (mit mehr als 250 000 $) stimmten
Die Wahlenthaltung ist vor allem bei den Ärmsten am größten
48% für Trump und 46% für Clinton. Der größte Abstand ist bei
(d. h. bei jenen, die weniger als 15 000 $ im Jahr haben), nämlich
denjenigen, die auf ein Jahresverdienst von 50 000 bis 100 000
bei 59%, gegenüber 22 % bei denjenigen, die ein Jahreseinkom-
$ kommen: 50% für Trump, 46% für Clinton. Mit anderen Wor-
men von mehr als 150 000 $ im Jahr haben. Die Häftlinge (be-
ten: Vor allem diejenigen, die am meisten von seiner Politik profi-
kanntlich überproportional viele Schwarze, nämlich 37 %, ob-
tieren werden, haben ihn auch bevorzugt gewählt.
wohl sie nur 13,2% der Gesamtbevölkerung ausmachen) haben
Krasser sind allerdings die Unterschiede, wenn die Wähler-
kein Wahlrecht.4
gruppen nach Hautfarbe unterschieden werden. Unter den
Hinzu kommt: Ca. 6,5 Mio. ehemalige Häftlinge müssen ge-
70,4 % der weißen WählerInnen stimmten 58% für Trump und
gen 6000 Dollar ihre Bürgerrechte wieder erkaufen, was gerade
37% für Clinton. Dass Trump unter Schwarzen und Latinos we-
den AfroamerikanerInnen natürlich alles andere als leicht fällt. So
niger Anhänger fand (8% und 29%), ist folgerichtig.
dürfte insgesamt etwa ein Viertel der AfroamerikanerInnen kein
Bei Frauen kam Trump nur auf 42% (54 % für Clinton), aber
unter den weißen Frauen hat er auch eine klare Mehrheit (53 %
Stimmrecht haben.
Rechnen wir die nicht stimmberechtigten erwachsenen Mig-
gegenüber 43 %), auch wenn diese Kluft bei den weißen Män-
rantInnen dazu, dann durften insgesamt mehr als 20 Mio. Men-
nern noch größer ist.
schen nicht wählen.
8 die internationale 1/2017
DOSSIER RECHTSPOPULISMUS
werden, seine Unterstützung für Clinton belegt dies. So war
seine Kampagne ein Strohfeuer und wird nicht annähernd
die Wirkung haben wie die wirklichen Grassroots-Bewegungen wie etwa Black Lives Matter und andere.
Strukturwandel und Krise des Systems
Trump ist einer der reichsten Männer im Land. Er wendet
sich gegen die letzten noch verbliebenen Verhandlungspositionen der Gewerkschaften, spricht sich offensiv für die
Ausdehnung des Niedriglohnsektors und gegen die Anhebung des Mindestlohns aus8. Wenn nun ein so weit rechts
stehender Kandidat eine so breite Unterstützung erlangen
kann, dann ist dies mehr als nur ein Indiz für das Fehlen einer starken ArbeiterInnenbewegung. Es ist Ausdruck einer
tiefen Gesellschaftskrise.
Mit der Entwicklung der letzten Jahre und dem Setzen
auf Trump, also auf rassistische Lösungen, besteht die Gefahr, dass sich aus dem anhaltenden Frust vieler Menschen
rechte (Massen)bewegungen entwickeln, die die eh schon
verschüttete Klassenfrage noch mehr zuschütten.
Diese Gesellschaftskrise hat ökonomische und kulturelle
Ursachen. In den drei Jahrzehnten nach dem II. Weltkrieg
(einer expansiven Phase kapitalistischer Entwicklung) sind
Wohlstand und soziale Absicherung auch der ArbeiterInnenklasse deutlich gestiegen. Mit dem Umschlagen dieser
Phase in eine anhaltend stagnative (teils auch rezessive) Phase der kapitalistischen Entwicklung ab 1973/74 und speziell
seit Ende der 1970er Jahren wird die materielle Grundlage
für einen halbwegs gesicherten Wohlstand für die größten
Teile der Bevölkerung zunehmend untergraben.
Verstärkt wurde diese Entwicklung durch die Verschiebung der ökonomischen Kräfteverhältnisse auf internationaler Ebene. Die Dominanz der USA wurde durch die
aufstrebenden Wirtschaftsmächte – Europa, Japan und
einige Schwellenländer – zunehmend infrage gestellt. Auch
der anhaltende Mehrwertübertrag aus der sogenannten III.
Welt konnte das nicht auffangen, sondern verlor in dem
Maße sogar noch an Gewicht, wie andere Wirtschaftsmächte Kapital exportierten und bedeutende Weltmarktanteile eroberten.
Seit Ende der 1970er Jahre drückt sich dies in einem
ununterbrochenen US-Handelsbilanzdefizit aus (2015
belief es sich auf satte 736 Mrd. $). Vor allem das Aufholen
Chinas setzt die US-Ökonomie gewaltig unter Druck (zwei
Millionen US-Arbeitsplätze wurden faktisch nach China
verlagert). So bleiben im Wesentlichen die Rolle des Dollars
als Leitwährung und die unangefochtene militärische
Überlegenheit und Interventionsfähigkeit die letzten Ret-
tungsanker, die den USA ihre Vormachtrolle bewahren.
Aber das reicht nicht, um die Auswirkungen des
Strukturwandels (Digitalisierung etc.) so zu begrenzen,
dass die große Mehrheit der Bevölkerung keine Ängste zu
haben braucht. Um die Rationalisierungsauswirkungen
aufzufangen, bräuchte es reale und vor allem kontinuierliche Steigerungen des BIP von mindestens fünf oder sechs
Prozent. Davon ist auch die US-Ökonomie weit entfernt.
So schrumpft vor allem die Reinvestitionsrate, und zwar
einfach deswegen, weil die Absatzchancen nicht da sind
(bzw. die internationale Konkurrenz zu groß ist). Insgesamt
sind aufgrund der rapide steigenden Kapitalintensität (marxistisch ausgedrückt: der organischen Zusammensetzung
des Kapitals) die Profitraten des Kapitals (wohlgemerkt
nicht die Bereicherungsraten der Besitzenden!) deutlich
zurückgegangen. Die Gewinne der Konzerne waren 2015
und in den ersten drei Quartalen 2016 jeweils niedriger als
in den Vorjahren. Die gegenteilig wirkenden Faktoren wie
Intensivierung der Arbeit und Sinken der Reallöhne stoßen
unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen und
Kräfteverhältnissen an ihre Grenzen.
Es fehlt also nicht an Kapital oder an billigen Krediten,
sondern an ausreichend guten Anlagemöglichkeiten in
der Warenproduktion. Dadurch bleiben die Zuwachsraten der allermeisten Volkswirtschaften niedrig. Es ist kein
Ende der international stagnativen Phase kapitalistischer
Entwicklung absehbar. Nur aufgrund einer international
sehr expansiven Kredit- und Geldpolitik (vor allem in
Japan und in den USA, inzwischen auch in Europa) sind
die niedrigen Wachstumsraten noch nicht in eine internationale Rezession umgeschlagen.9
Unter dem Strich: Die schwachen bis negativen Wachstumsraten – nicht nur der US-Ökonomie – basieren auf
den Erschöpfungstendenz der Faktoren, die den Auswirkungen des tendenziellen Falls der Profitrate entgegengewirkt haben. Die „Erholung“ der US-Wirtschaft nach der
recht tiefen Krise 2007-2009 war nur oberflächlich und
insgesamt so schwach, dass sie bei wachsenden Teilen der
Bevölkerung nicht ankommt.
Die soziale Spaltung vertieft sich
Daraus resultiert nicht nur ein fortgesetzter Arbeitsplatzabbau, sondern die Hetze am Arbeitsplatz steigt, der allgemeine Konkurrenzdruck nimmt zu, die Vermögen der meisten
US-AmerikanerInnen schrumpfen und damit (mangels
ausreichender sozialer Sicherungssysteme) deren materielle
Absicherung. Vor allem die Beschäftigten der klassischen
Industrie sind davon betroffen. Gab es dort in den 1980er
die internationale 1/2017 9
DOSSIER RECHTSPOPULISMUS
Jahren noch ca. zwanzig Millionen Arbeitsplätze, sind es
heute nur noch ca. zehn Millionen. Vor allem im „Rostgürtel“ sind in vielen Städten mehr als ein Drittel der EinwohnerInnen weggezogen, auf der (manchmal verzweifelten)
Suche nach Arbeitsplätzen an anderer Stelle.10
Die offiziellen Erwerbslosen-Statistiken sind aus zwei
Gründen sehr irreführend: Sie berücksichtigen nicht, dass
viele der neuen Jobs erzwungene Teilzeitjobs sind. Zweitens: Eine wachsende Zahl auch von Vollzeitjobs reicht
nicht für die Bestreitung des Lebensunterhalts. Viele Menschen haben zwei oder drei Jobs. (Grafik 1)11
Auf dieser Realität beruhen die Abstiegsängste, die
weit bis in die Mittelschicht hineinreichen. Offiziell gibt
es 43 Mio. Arme in den USA, wobei die offizielle Armutsschwelle recht niedrig angesetzt ist. Sie liegt heute für zwei
Erwachsene und zwei Kinder (!) bei 24 000 $ Jahreseinkommen. Bei diesen (umgerechnet) etwa 1800 Euro/Monat
muss bedacht werden, dass die sozialen Sicherungssysteme
nicht mit europäischen vergleichbar sind (vor allem was die
Krankenversicherung und das Rentensystem angeht), dass
die Studiengebühren hoch sind usw.
Ein Ergebnis dieser Entwicklung ist ein deutliches
Schrumpfen der in den USA als Mittelschicht definierten
Gruppe. 1971 machte sie 61 Prozent der Bevölkerung aus.
Heute sind es gerade mal 50 Prozent. Gleichzeitig nahmen die Bevölkerungsanteile der unteren und der oberen
Schichten zu. 1971 gehörten 25 % zur Unterschicht und
zur unteren Mitte (16% und 9%), 2015 waren es insgesamt
schon 29 % (20 % und 9 %). Im gleichen Zeitraum stieg der
Anteil der oberen Mitte von 10 auf 12 % und der der Oberschicht von 4 auf 9%. 12
Und: Gehörte bis zum Jahr 2000 ein Dreipersonenhaushalt mit mehr als 44 419 $ Jahreseinkommen zur Mittelschicht, so wurde 2014 ein dreiköpfiger Haushalt schon ab
41 869 $ zur Mittelschicht gezählt. Das Schrumpfen der
Mittelschicht ist also noch bedeutsamer, als es die obigen
Zahlen nahelegen.
Es wird auch immer weniger Erfolg versprechend, sich
für das Studium zu verschulden. Viele Beschäftigte in der
Gastronomie haben mindestens einen College-Abschluss,
nicht wenige sogar einen Hochschulabschluss. 1971 gehörten 22% der 18-29-Jährigen zur Unterschicht, 2015
waren es schon 32 %.13 Aufgrund der ständig steigenden
Studiengebühren ist ein Hochschulabsolvent im Schnitt mit
26 600 $ verschuldet. Kurz: Die Zukunftsaussichten werden
insgesamt immer düsterer, also nicht nur für Autobauer
oder Stahlwerker.
Kurz, auch für die USA gilt, was Wilhelm Heitmeyer
10 die internationale 1/2017
für Deutschland ausführte: Das erste Jahrzehnt des 21.
Jahrhunderts war das „Jahrzehnt der Entsicherung“.
Gleichzeitig ist natürlich der breiten Bevölkerung nicht
entgangen, dass es immer mehr Reiche gibt und vor allem:
Diese Reichen sind die Einzigen, die seit der Krise 20072009 kräftige Einkommens- und Vermögenssteigerungen
zu verzeichnen haben. So stieg deren Vermögen in den
Jahren 2010-2013 um 7%, während alle andere Vermögen schrumpften, das der Bezieher niedriger Einkommen sogar um 41%.14 Die durchschnittlichen Vermögen der
Haushalte mit hohem Einkommen sind im Zeitraum von
1983 – 2013 von 323 402 $ auf 729 980 $ gestiegen. Ein
Konzerngeschäftsführer (CEO) bekommt im Schnitt eine
Jahresgehalt von 12,4 Mio. $, das ist 335mal so viel wie ein
Arbeiter/eine Arbeiterin in dem entsprechenden Betrieb.
(Grafik 2)
Wenn also die Mittelschicht schrumpft, gleichzeitig
aber für Alle erkennbar der gesellschaftliche Reichtum
wächst (während bei vielen Menschen immer weniger
ankommt), dann drängt sich Frage nach einer radikalen
Alternative, mindestens aber nach einem radikalen Kurswechsel, auf.
Rechtspopulismus als Alternative
Die übergroße Mehrheit aller US-WählerInnen sieht die
Lage im Land als gravierend schlechter an als etwa in den
1970er oder 1980er Jahren. Diese Sicht haben sie schon seit
GRAFIK 1: THERE IS A LARGE GAP IN THE
WEALTH OF UPPER-INCOME FAMILIES AND
OTHER FAMILIES
Median net worth of families, by income tier and in
2014 dollars
Upper
2013
$98,057
$9,465
2010
$98,084
$10,688
2007
2001
$19,397
$14,024
1983
$11,544
Lower
$650,074
$605,228
$729,980
$161,050
$18,264
1992
Middle
$136,445
$600,089
$344,162
$95,657
$323,402
$95,879
Note: Net worth is the difference between the value of assets owned by a family and
the liabilities it holds. Families are assigned to income tiers based on their size-adjusted
income. Net worth is not adjusted for family size.
Source: Pew Research Center analysis of Survey of Consumer Finances public-use data
DOSSIER RECHTSPOPULISMUS
geraumer Zeit, besonders verstärkt aber seit dem Ausbruch
der Immobilienkrise 2007.
Viel gravierender noch ist, dass die allermeisten USBürgerInnen eine recht düstere Sicht der Zukunft haben,
bei den Trump-AnhängerInnen weit mehr als bei den
Clinton-WählerInnen. Der Hintergrund: Selbst wenn
diese Menschen in den vergangenen Jahren ihren Lebensstandard halten konnten, so haben sie doch verstärkt den
zunehmenden Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt
zu spüren bekommen, müssen teils länger arbeiten oder
Zweitjobs annehmen, haben zum Teil in der Immobilienkrise ihr Haus verloren, erleben mehr Arbeitshetze usw.
Und: Sie sehen gleichzeitig, wie eine bestimmte Schicht
immer reicher wird. So verfügen die 15 reichsten AmerikanerInnen über sage und schreibe 492,9 Mrd. $ (im
Schnitt also 32,86 Mrd. $)15.
Viele fühlen sich als die potenziellen oder schon
tatsächlichen Verlierer des technischen, des sozialen und/
oder des gesellschaftlichen Wandels. Schuld an dieser Entwicklung haben ihrer Ansicht nach die Politiker bzw. das
„Establishment“.
In dieser Konstellation wenden sich Rechtspopulisten
in erster Linie an die untere Mittelschicht. Trump spricht
auf seine Art aus, was viele von diesen Menschen dumpf
empfinden. Er gibt ihnen eine Stimme und mit seiner klaren Gegnerbenennung – und mit seinem Wettern gegen
das Establishment, zu dem er (nur vordergründig betrachtet) nicht gehört – kann er Massen mobilisieren.
Noch mal Bhaskar Sunkara:
„Da er [Trump] dies koppelt mit Steuersenkungen, um
– wie er sagt – die Kapitalisten zum Investieren zu motivieren, hat er verschiedene - normalerweise weit auseinanderliegende Interessen - zusammengeführt und an die
Illusion angeknüpft, man könne den Kapitalismus alter Art
[also vor der Durchsetzung des Neoliberalismus] wieder
reaktivieren. Das hat er im Übrigen gepaart mit einer primitiven Kritik an den Schnorrern an den Börsen und den
Anzugträgern von den Hochschulen, die nichts arbeiten
wollen und stattdessen sich damit beschäftigen, Geld ohne
produktive Arbeit zu scheffeln.“
Trump konnte sich dabei auf eine längere Rechtsentwicklung an der Basis der Republikaner stützen, vor allem
auf die Tea Party, auf viele Marktradikale und auf die Bewegung der evangelikalen Christen.16 Nicht zufällig hatte
sich die rassistische Tea Party-Bewegung ausgerechnet
nach Obamas Antrittsrede 2009 gebildet.
So fällt es nicht vom Himmel, dass Trump gut auf
die rassistische Karte setzen konnte und weiter setzt. „In
diesem Jahr [2016] sind Rasse und Identität zur zentralen
Scheidelinie in der amerikanischen Politik geworden.
Obwohl die Rassenfrage schon immer in der amerikanischen Politik nahe der Oberfläche eine Rolle spielte, so
stand sie doch selten so offen im Zentrum der politischen
Kampagnen wie dieses Mal. Wie kam es dazu? Die einfache Antwort lautet: Donald J. Trump. Es ist wahr, dass seit
Jahrzehnten Trump der erste Republikaner war, der mit
rassistischen Vorurteilen die Nominierung gewann. Und
es ist auch wahr, dass rassistische Abneigungen sogar eine
größere Rolle bei der Unterstützung für Trump gespielt
haben als Ideologie. Aber Trump agiert nicht in einem
Vakuum. Vielmehr nutzt er Kräfte, die seit einem halben
Jahrhundert wirken. Seine auf Identität gründende Nominierung ist damit die logische Folge einer fünfzig Jahre
alten „Süd-Strategie“ der Republikaner, bei der Rasse
und Identität eine größere Rolle spielen als wirtschaftliche
Fragen.“17
So ist das Profil vieler seiner Anhänger recht eindeutig:
Sie sehen sich als Opfer des Freihandels, sind meistens stark
religiös, wirtschaftsliberal, gegen sozialstaatliche Regelungen und in jedem Fall und vor allem rassistisch. Und da
(auch unabhängig von Trumps Wahlkampagne) 40 % der
US-Amerikaner sich als Opfer des politischen Establishments sehen – wohlgemerkt nicht des Systems! –, ist die
Trump-Wahl insofern kein deformierter oder verfälschender Ausdruck des Wählerwillens.
GRAFIK 2: FAMILIES IN ALL INCOME TIERS LOST
WEALTH SINCE 2007, BUT ONLY UPPER-INCOME
FAMILIES HAVE STARTED TO RECOVER
% change in median family wealth, by income tier
Upper
Middle
Lower
7
2010-2013
0
- 11
- 17
2007-2010
- 39
- 41
22
18
2001-2007
- 6
74
1992-2001
43
38
6
1983-1992
0
21
Note: Net worth is the difference between the value of assets owned by a family and the
liabilities it holds. Families are assigned to income tiers based on their size-adjusted
income. Net worth is not adjusted for family size.
Source: Pew Research Center analysis of Survey of Consumer Finances public-use data
die internationale 1/2017 11
DOSSIER RECHTSPOPULISMUS
Trump kann auf eine recht breite Basis gesellschaftlicher Unterstützung auf bauen. Gestützt wird die TrumpWahl auch von einer noch weiter nach rechts verschobenen Kongressmehrheit. Trotz zu erwartender gewisser
pragmatischer Anpassungen an die langjährige Praxis der
US-Administration (vor allem in der Außenpolitik) kann
Trump bei seiner rassistischen Linie und der seiner Hauptunterstützer bleiben: „Das Kabinett des künftigen US-Präsidenten Trump nimmt Gestalt an: Der rechtskonservative
Jeff Sessions übernimmt Justiz, CIA-Chef wird Tea-PartySympathisant Mike Pompeo.“18 Eine seiner ersten Amtshandlungen wird sicher die Besetzung der vakanten Stelle
im Supreme Court sein, also die klare Rechtsverschiebung
dieses extrem bedeutsamen Machtpfeilers.19
Und das Kapital? Es hatte sich zwar vor der Wahl mehrheitlich gegen Trump gewandt (allerdings eher aus taktischen Gründen, denn er erschien ihm zu plump, um die
Wahl gewinnen zu können), so auch beispielsweise Charles
Koch, einer der 10 reichsten Männer der Welt. Aber diese
Herren und wenigen Damen rudern jetzt schnell zurück
und arrangieren sich mit Trump. Schließlich gilt es ja,
bevorzugt Regierungsaufträge zu bekommen.
Und auch die ausländische Bourgeoisie ist von der
Trumpwahl alles andere als geschockt. Das belegen nicht
nur die Aktienkurse (vor allem des Finanzsektors), das belegt auch die freudige Reaktion der deutschen Großspender für Trump, worauf Manfred Dietenberger mit Recht
hinweist.20
Kennzeichen des Rechtspopulismus
Die Entwicklung in den USA und die Wahl Trumps lassen
klar erkennen: Die rechtspopulistische Revolte ist eine
Reaktion auf wirtschaftliche Unsicherheit. Sie ist aber auch
eine kulturelle Gegenreaktion. So werden Rechtspopulisten ganz besonders und vor allem von solchen Menschen
unterstützt, die früher zu den einigermaßen Abgesicherten
gehörten und inzwischen den Eindruck haben, dass sie
verlieren oder zu verlieren drohen. Dabei geht es nicht nur
um das Materielle, sondern um den Status und das Bild,
das sie von sich selbst in der Gesellschaft haben.
Die dort unter vielen Menschen anzutreffende, zunächst dumpf empfundene Antipathie hat ihre Wurzeln
also sowohl in den Abstiegsängsten wie auch in einer
kulturellen (nicht nur rassistischen) Abwehrhaltung. Dies
wird noch dadurch verstärkt, dass ein bedeutsamer Teil
ihrer Identität in dem Überlegenheitsgefühl der USA
begründet war und ist. Wenn dies nun (etwa durch den
Aufstieg Chinas) zunehmend unterminiert wird, dann ist
12 die internationale 1/2017
es kein Wunder, dass Trumps Hauptslogan (Make America
great again) nicht wenige begeistert. Mit seinem Versprechen, die USA wieder zur größten und führenden Nation
zu machen (letztlich also zu einer, die den anderen diktiert,
wo es lang gehen soll), kann er bei solchen Menschen viel
Zustimmung einheimsen. Und wenn H. Clinton erklärt,
dass die USA doch schon „great“ seien, dann schießt sie
sich damit nur ein Eigentor. Denn genau dies empfinden
ja die wirklichen und die potenziellen VerliererInnen der
krisenhaften Entwicklung nicht, sie erleben das Gegenteil
und empfinden Clinton deswegen als Zynikerin.
Viele hatten gemeint, Trump könne nur gewinnen,
wenn er sich im Laufe des Wahlkampfs in einen gemäßigten Politiker wandelt. Das Gegenteil war der Fall: Er
hat genau deswegen gewonnen, weil er konsequent die
Anti-Establishment-Linie beibehielt und dabei ausschließlich an Emotionen appellierte. Rechtspopulismus schlägt
„gemäßigtes Auftreten“. Das ist die klare Botschaft aus der
Trumpwahl. Trotz aller politischen und kulturellen Unterschiede zwischen den USA und Europa: Genau dieser
Mechanismus ist auch das Erfolgsrezept von Af D, Marine
Le Pen, Victor Orban usw.
Die Parallelen liegen aber nicht nur in der Wahlkampfstrategie von Le Pen, Orban usw. Auch die Ursachen für
die Hinwendung breiter Bevölkerungsschichten zu nationalistischen und rassistischen „Lösungen“ (und in der Folge zur Wahl rechtspopulistischer Parteien) sind strukturell
(trotz mancher kultureller Unterschiede zu den USA) sehr
ähnlich. Beide Hauptwesensmerkmale treffen praktisch
auf alle WählerInnen rechtspopulistischer Parteien zu:
Erstens: Auch hier in Europa spielt vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der krisenhaften Entwicklung
(Bankenkrise, Eurokrise, „Flüchtlingskrise“) die Angst vor
dem Abstieg der (unteren) Mittelschichten eine wesentliche Rolle.
„Es sind nicht die wirtschaftlich stärksten Gruppen,
die Af D wählen. Allerdings im Schnitt auch nicht die
Ärmsten der Armen, sondern Leute, die ausgeprägte Abstiegsängste plagen. Rund 70 Prozent der Af D-Wähler in
Sachsen-Anhalt gaben an, sie empfänden die allgemeines
Wirtschaftslage als schlecht.“ (M. Kunert von Infratest
dimap in FAS, 20.3. 2016)
Die soziale Basis der Af D ist in der gesellschaftlichen
Mitte zu suchen. Mehr als zwei Drittel ihrer WählerInnen
sind Erwerbstätige. Unter diesen stellen ArbeiterInnen ein
Viertel, die Angestellten etwa die Hälfte und ein Fünftel
sind BeamtInnen. Die Af D ist also alles andere als eine
Prekariatspartei. Menschen mit niedrigem Bildungsab-
DOSSIER RECHTSPOPULISMUS
schluss stellen nur ein knappes Fünftel der Af D-WählerInnen.21
Die Af D-WählerInnen müssen also längst noch nicht
den Abstieg selbst erfahren haben, aber sie sehen ganz gut,
wohin die herrschenden Verhältnisse treiben, nicht nur
in Griechenland. Die Ostangleichung stottert, die Lage
auf dem Wohnungsmarkt verschlechtert sich usw. Vor
allem die untere Mittelschicht drückt ihren Frust über den
wachsenden Konkurrenzdruck in einer Wahl rechtspopulistischer Kräfte aus.
Und auch das zweite wesentliche Merkmal deckt sich
mit den Entwicklungen in den USA: Auch hier können
solche Parteien auf einem starken Grundstock rassistischer
Einstellungen auf bauen und sie für ihre Zwecke instrumentalisieren und mit ihren Kampagnen gleichzeitig verstärken, wobei die Presse ihnen dabei kräftig hilft, worauf
Phil Hearse richtigerweise hinweist.22
Wilhelm Heitmeyer ist nur zuzustimmen, wenn er
schreibt „Der Rassismus kommt nicht aus dem Nichts.“
Er basiert auf einer Wut und der Entladung von Ressentiments, auf die die „politische Klasse“ nur mit Autismus reagiert. Wichtig dabei ist, dass die Personengruppen, auf die
sich die Aversionen beziehen, durchaus wechseln können.
Was früher die Türken waren, sind heute die Flüchtlinge
usw. „Islamfeindlichkeit ist derselbe Rassismus in neuen
Schläuchen.“23
Götz Eisenberg weist mir Recht auf die „sozialpsychologische Komplementarität [hin], die dafür sorgt,
dass bestimmte gesellschaftliche Affekte sich mit anderen
verbinden. Das […] findet sich in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen auch im gegenwärtigen Rechtspopulismus, wobei der Antisemitismus häufig nicht offen
gezeigt wird.“24
Seit der Erstellung der Sinusstudie (1981) wissen wir,
dass es auch bei uns einen sehr festen Stamm von rassistisch eingestellten Menschen gibt, und dass ca. 10 – 13 %
sogar ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild haben. Zu
Letzterem werden in der Wissenschaft sechs Einstellungsdimensionen gerechnet: Befürwortung rechtsautoritärer
Diktatur, Ausländerfeindlichkeit, Chauvinismus, Sozialdarwinismus, Antisemitismus und Verharmlosung des
Nationalsozialismus.
Und obwohl einige dieser Kennzeichen bei prominenten AfD-VertreterInnen zu beobachten sind: Die AfD kann
seit gut einem Jahr beständig ihre WählerInnenbasis verbreitern. Das heißt: Auch von Menschen, die diese Positionen nicht teilen, wird dies in Kauf genommen und werden
diese Einstellungen mit der Zeit – teilweise und oder auch
gänzlich – übernommen. Die ideologische Basis für eine
solche Anpassung ist die „autoritäre Persönlichkeit“25.
„In Zeiten verbreiteter Verunsicherung und Desorientierung findet eine kollektive Regression auf archaische
Mechanismen der psychischen Regulation statt. Urteilsund Differenzierungsvermögen bilden sich zurück, und es
steigt das Bedürfnis nach entlastenden Vereinfachungen.
Wer die simpelsten Polarisierungen liefert, hat nun die besten Aussichten, Gehör und Gefolgschaft zu finden. Wirkliche Aufklärung – unter striktem Verzicht auf alles Populistische – ist dagegen anstrengend und schmerzhaft. Das ist
der Grund, warum in Krisenzeiten, wenn die Menschen
sich nach schnellen Lösungen sehnen, linke Aufklärungsversuche gegenüber den populistischen Vereinfachungen
kaum eine Chance haben.“26
Helmut Dahmer wies mal im Gespräch darauf hin: Zu
den wichtigsten Befunden der Studie des emigrierten Instituts für Sozialforschung über den autoritären („faschistoiden“) Charakter zählt, dass dieses Potenzial sich in allen
Berufs-, Alters- und Bildungs- und Geschlechtsgruppen
findet, in allen ethnischen und politischen Gruppen und
natürlich auch in allen kapitalistischen oder halbkapitalistischen Gesellschaften.
In anderen Ländern – etwa in Frankreich – ist diese
Entwicklung schon seit Jahren weiter vorangeschritten
als in Deutschland. Nicht nur wird Le Pen mit größter
Sicherheit in die Stichwahl bei der kommenden Präsidentschaftswahl kommen. Ihre höchsten Stimmenanteile
hat sie nicht für umsonst in den ehemaligen Zentren der
französischen Schwerindustrie (v. a. in den Kohlebergbaugebieten im Norden) sowie in den Vorstädten von Paris,
dem ehemals roten Gürtel der Metropole. Aber sie hat
auch große Zustimmung bei den besser Situierten und in
den Gebieten, wo viele Rückkehrer aus den Ex-Kolonien
leben (im Südosten der Republik). Sogar ein Wahlsieg bei
den Präsidentschaftswahlen im April/Mai ist nicht mehr
ausgeschlossen, zumal Fillon mit seinem harten Sparkurs
viele abstoßen wird.
Die Trump-Wahl hat sogar einen Vorläufer: Das
Brexit-Votum und die Rechtsverschiebung der britischen
Regierung. Strukturell sind hier die Ursachen wie auch
die Motivationen der WählerInnen in weiten Bereichen
sehr ähnlich.
Trumps Sieg gibt seinen Anhängern neue Hoffnung
(siehe dazu die oben zitierte Meinungsumfragen bei PEW
nach dem Wahlausgang). Dass sie in nicht allzu ferner Zukunft auch von Trump (bzw. den Ergebnissen seiner Politik) enttäuscht sein werden, steht außer Zweifel. Unentdie internationale 1/2017 13
DOSSIER RECHTSPOPULISMUS
schieden ist aber, welche Schlussfolgerung sie daraus ziehen
werden – eine sich weiter nach rechts radikalisierende oder
eine, die für solidarische Perspektiven offen ist.
sätze der letzten Jahre (Kampagne für einen bundesweiten
Mindestlohn von 15 $ usw.) sind zwar ermutigend, aber sie
drohen vom Aufstieg des Rechtspopulismus zurückgeworfen zu werden.
Klassenorganisation und Systemkrise
Auch wenn es im Moment in den USA noch keine faschistische Massenbewegung gibt, so stellt sich dort für Revolutionäre die Aufgabe noch schärfer, noch dramatischer als in
Europa. Denn die Rekonstitution des Klassenbewusstseins
steckt nach den langen Jahrzehnten des dramatischen Niedergangs noch sehr in den Anfängen. Dieses Bewusstsein
war in den 1930er Jahren auch in den USA deutlich anders,
aber inzwischen ist seit Jahrzehnten (!) von Klassenbewusstsein wenig zu erkennen.
Auch dort, wo traditionelle Industriearbeitsplätze weggefallen sind und die Menschen im Dienstleistungssektor
gelandet oder erwerbslos geworden sind: Gerade wegen
des Verlusts wesentlicher Vermögensbestandteile durch die
letzte Krise sind sie mehr denn je Lohnabhängige und zwar
so massenhaft wie nie zuvor in der Geschichte.
Marx schreibt (1847!): „Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter
verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese
Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen
geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber
dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf,
den wir nur in einigen Phasen gekennzeichnet haben, findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sich als Klasse
für sich selbst. Die Interessen, die sie verteidigt, werden
Klasseninteressen. Aber der Kampf Klasse gegen Klasse ist
ein politischer Kampf.“27
Und genau diese Bemühungen um die Rekonstitution eines Klassenbewusstseins drohen mit einer Ausdehnung und Verfestigung rechtspopulistischer Politik und
rechtspopulistischer Bewegungen gewaltig zurückgeworfen zu werden. Auch in den USA liegt die Schwächung
bzw. das weitgehende Verschwinden einer politischen
Arbeiterbewegung nicht etwa an einer numerischen
Schwächung der Klasse (etwa, weil viele Lohnabhängige
zu Kleinbürgern geworden wären). Die Änderungen der
Arbeitsplätze (weg von den traditionellen Großbetrieben
in der Industrie) sind zwar als objektive Veränderungen
bedeutsam, aber es folgen daraus nicht zwangsläufig nur
ganz bestimmte Entwicklungen auf der subjektiven Ebene.
Entscheidend sind immer noch die politischen Prozesse.
Die Gewerkschaften der USA sind größtenteils stark
in das System integriert und nicht in der Lage oder bereit,
einen politischen (Klassen)kampf zu führen. Die Neuan14 die internationale 1/2017
Noch weiter nach rechts?
Fatalerweise droht in Europa mehr als nur eine Stärkung
rechtspopulistischer Parteien. Das sehen wir nicht nur daran, dass beim französischen Front National der Übergang
vom Rechtspopulismus zum Faschismus eher fließend
bleibt (s. auch Artikel von Bernard Schmid in diesem
Heft). Welche besonderen (Zwischen)formen die weiteren
Entwicklungen noch annehmen werden, ist heute nicht
absehbar. Aber zur ausreichenden Beurteilung der Gefahren sollten wir uns vergegenwärtigen:
„Das Aufkommen des Faschismus [und wir fügen
hinzu: des Rechtspopulismus] ist Ausdruck einer schweren
gesellschaftlichen Krise des Spätkapitalismus, einer Strukturkrise, die, wie in den Jahren 1929 bis 1933, wohl mit
einer klassischen wirtschaftlichen Überproduktionskrise
zusammenfallen kann, aber weit über solche Konjunkturschwankungen hinausgeht. Es handelt sich grundsätzlich
um eine Krise der Verwertungsbedingungen des Kapitals,
d. h. um die Unmöglichkeit, eine ‚natürliche‘ Kapitalakkumulation unter den gegebenen Konkurrenzbedingungen auf dem Weltmarkt (d. h. auf dem bestehenden Niveau
der Reallöhne und der Arbeitsproduktivität, bei dem
bestehenden Zugang zu Rohstoffen und Absatzmärkten)
fortsetzen zu können.“28
Sowohl die lang anhaltende Phase stagnativer Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft wie auch der politische
Aufstieg des Rechtspopulismus und Rassismus in einer
ganzen Reihe von Ländern weisen auffällige Parallelen
zum Aufstieg des Faschismus in den 1920er und 1930er
Jahren auf. Je mehr ein System in die Krise gerät – in den
1920er und 1930er Jahren war es eine lang anhaltende rezessive Phase kapitalistischer Entwicklung – desto verzweifelter suchen Menschen nach einer radikalen Alternative.
Je mehr dabei die überkommenen politischen Rezepte
und Konzeptionen sich in den Augen breiter Massen als
unwirksam und abgewirtschaftet erweisen, desto mehr
Anziehungskraft entfaltet jene.
Nun mag mensch einwenden: Die Krise ist heute
(noch) nicht so dramatisch wie in den 1930er Jahren
(wobei darüber sehr wohl gestritten werden kann, wenn
wir alle Faktoren der nationalen und internationalen
Entwicklungen, der Kriege, der Flüchtlingsdramen wie
auch des Klimawandels einbeziehen). Aber leider gibt
DOSSIER RECHTSPOPULISMUS
es einen wesentlichen Unterschied auf der Ebene des
subjektiven Faktors: Heute ist – zumindest in den USA
– nicht mehr erforderlich, was Trotzki als Voraussetzung
für eine faschistische Machtergreifung (bzw. für den
massiven Aufstieg einer faschistischen Massenbewegung) ansah:
„Die Aufgabe des Faschismus besteht nicht allein in
der Zerschlagung der proletarischen Avantgarde, sondern
auch darin, die ganze Klasse im Zustand erzwungener
Zersplitterung zu halten.“29 Musste sich also eine rechtsextreme (bzw. faschistische) Bewegung seinerzeit gegen
eine organisierte Arbeiterbewegung durchsetzen, so ist
dies in den USA heute gar nicht erst erforderlich und in
Europa in den meisten Ländern auch längst nicht mehr
in einem vergleichbaren Maße wie in den 1920er und
1930er Jahren. Das heißt, die organisierte Klassenkraft
der Lohnabhängigen gibt es so nicht mehr. Die Durchsetzung einer wohl organisierten rechten Kraft ist so erst mal
wesentlich leichter möglich.
Wohin treiben die USA?
Ganz gewiss ist die Trump-Anhängerschaft nicht faschistisch, jedenfalls noch nicht, aber die Tür für eine solche
Entwicklung ist aufgestoßen. Und zwar nicht nur, weil
Trump in einigen Fragen protofaschistische Positionen
vertritt. Seine Basis setzt sich unter anderem aus beinharten Rassisten zusammen. Nicht zufällig wächst seit der
Trump-Wahl der Ku-Klux-Klan sprunghaft.
Auf der anderen Seite ist längst nicht alles nur düster. So
wenig die Linke auf Sanders als politischen Faktor bauen
kann (dafür ist er zu sehr in das System eingebunden): Die
Zustimmung zu seinen Vorschlägen ist so hoch, dass er die
höchsten Zustimmungswerte (59%) von allen bekannten
Politikern hat (nur 33% lehnen sie ab).
Die Frage, welche politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen sich durchsetzen werden, hängt von zwei
wesentlichen Faktoren ab.
„ Der wichtigste ist die aus der Klasse der Lohnabhängigen autonom sich entwickelnde Selbsttätigkeit und die
Möglichkeit, dabei auch Teilsiege zu erringen. Ein positives Beispiel ist die an Breite gewinnende Bewegung für
einen Mindestlohn von 15 $.
„ Zum anderen ist es für den subjektiven Faktor von
großer Bedeutung, wie die organisierte Linke politisch
interveniert und welche Alternativen sie propagiert. Dies
fängt an bei den Erklärungen für die krisenhafte Entwicklung und geht über die Darlegung der Visionen bis zu
den konkreten Handlungsvorschlägen.
Es ist ein Unterschied, ob diese Kräfte nur die „Auswüchse“ kritisieren oder ob sie den Systemcharakter als
Ursache benennen und in der Lage sind, Mobilisierungsperspektiven zu benennen, die an den aktuellen Bedürfnissen anknüpfen, aber nicht bei Reparaturvorschlägen
hängen bleiben.
Wenn diese Kräfte aber nicht bereit und willens sind,
sich gegen die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu stellen und dafür offen aufzutreten,
dann können sie niemals als wirkliche SystemgegnerInnen
wahrgenommen und ernst genommen werden. Sie werden
dann ihr Schattendasein nicht überwinden können. Das
gilt für die USA wie für Deutschland und fast alle europäischen Länder. Gelingen kann dies nur, wenn der „nationalen Alternatividentität“ (Inga Solty30) der Rechten eine
konsequente Systemopposition und Klassenalternative
gegenübergestellt wird.
Die Reorganisierungsbemühungen der Linken in den
USA sind unübersehbar. So gibt es eine breiter werdende
Bewegung der Solidarität mit den Sioux, die gegen die
Dakota Access Pipeline kämpfen; die Bewegung Black
Lives Matter stabilisiert sich und wird sich (hoffentlich)
weiter ausdehnen; für den 3.-5. März 2017 wird in Chicago
eine Left Elect Conference organisiert … Ob daraus eine
landesweite, die gesamten USA erfassende Bewegung des
Widerstands entsteht, ist allerdings noch nicht absehbar.
Fazit
Folgende Schlussfolgerungen sollten wir aus der TrumpWahl und vergleichbaren Entwicklungen in Europa
ziehen:
1 Die Wählerwanderung hin zum Rechtspopulismus
oder noch weiter nach rechts muss als Ergebnis einer gesellschaftlichen Krise verstanden und bewertet werden.
Keinesfalls dürfen wir bei der Analyse von Wahlstrategien stehen bleiben.
2 Die „enthemmte Mitte“ hat ihre größte soziale Basis
in den unteren Mittelschichten, ist aber längst nicht
darauf begrenzt. Bei fortgesetzter, sich verschärfender
gesellschaftlicher Krise kann sich die Basis des Rechtspopulismus in allen gesellschaftlichen Schichten ausdehnen
und sogar mehrheitsfähig werden, mit allen Konsequenzen, die das für das Vordringen des Rechtsextremismus
haben wird.
3 Ursachen für diese Entwicklung sind die Abstiegsängste (bzw. die Zukunftsängste), die sich aus den Erfahrungen eines wachsenden Konkurrenzdrucks, der rauer
werdenden Arbeitswelt und der schwindenden sozialen
die internationale 1/2017 15
DOSSIER RECHTSPOPULISMUS
Absicherung ergeben (steigende Arbeitshetze, Abbau der
Sicherungssysteme, Mietsteigerungen usw.)
4 Der Rechtspopulismus als Antwort auf diese komplexe
Lage kann auf einen stabilen Fundus an rassistischen Einstellungen in einem bedeutenden Teil der Bevölkerung
auf bauen. Rechtsextreme forcieren dies heute mit einer
Agitation für „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (Heitmeyer).
5 Nur die soziale Frage zu thematisieren, reicht nicht.
Der Rassismus muss offen angegangen und bekämpft
werden.
6 Menschenfeinde und RassistInnen sind für Argumente
nicht zugänglich. Die Anziehungskraft des Rechtspopulismus kann nur in dem Maße zurückgedrängt werden,
wie es gelingt, eine klassenbewusste politische Bewegung von unten aufzubauen, die mit einer kämpferischen Politik wenigstens Teilerfolge erzielt.
7 Längerfristig und nachhaltig verändern lassen sich die
Kräfteverhältnisse nur dann, wenn linke Politik auf eine
Systemalternative ausgerichtet ist. Strategien, die darauf
abzielen, Systemreformen als Heilmittel gegen Rechtsentwicklungen zu propagieren, sind zum Scheitern verurteilt. Das stimmt auf der objektiven Ebene, das stimmt
aber auch auf der subjektiven Ebene, nämlich bezogen
auf die Überzeugungskraft dieser Vorschläge.
Der wichtigste Faktor für eine Veränderung der
Kräfteverhältnisse ist und bleibt die Selbstaktivität der in
den Betrieben beschäftigten Lohnabhängigen, derjenigen also, die die potenzielle Macht haben, Substanzielles
durchzusetzen und gegebenenfalls den Herrschenden
das Fürchten zu lehren. Aus der Tiefe der Klasse können
ganz neue Bewegungen und Organisierungsbestrebungen entstehen.
Darauf sollten wir uns auch in Europa orientieren und
uns selbst politisch und organisatorisch so vorbereiten, dass
wir bei dem Auf brechen solcher Entwicklungen darin eine
positive Rolle spielen können, und sei sie noch so bescheiden. Eine andere Wahl haben wir nicht.
1 Zu den diesbezüglichen Untersuchungen vor und vor allem
nach der Wahl siehe: http://tinyurl.com/ztfzf bh
2 Einen guten Überblick über die Motive der WählerInnen
gibt das PEWResarchCenter unter: http://tinyurl.com/
j8pr66x
3 Zu den Zahlen siehe Kasten
4 Insgesamt sitzen heute etwa 2,4 Mio. AmerikanerInnen in
den Gefängnissen. Das ist 1% der erwachsenen Bevölkerung.
Detailliertere Zahlen unter: http://hp-x.de/4i1Z733
5 Zum Teil liegt das immer noch an der Hürde der WählerIn16 die internationale 1/2017
nenregistrierung; in vielen Regionen sind die Identifikationskriterien für WählerInnen verschärft worden. Es gibt in den
USA keine Personalausweissystem. Noch kurz vor den Wahlen
wurden viele Wahllokale geschlossen, es bildeten sich lange
Schlangen. Gewählt wird an einem Werktag!
6 Wie beschränkt das Sanders-Programm in Wirklichkeit war
und ist, hat beispielsweise die New York Times vom 23. Mai
2016 deutlich gemacht: http://tinyurl.com/jcpwp5h Kurz
inhaltlich ausführen!
7 Vergleichbares läuft in GB, wo Labour plötzlich als Hort
des Klassenkampfes gilt, … bis Corbyn umfällt. So manche
begeistern sich recht schnell für prominente Personen, auch
dann, wenn von denen gewiss kein Kampf gegen das kapitalistische System zu erwarten ist und dieses Hinterherlaufen in der
Konsequenz den Auf bau einer eigenständigen klassenbasierten
Organisation behindert.
8 Der Mindestlohn beträgt heute 7,25 $, also weniger als 7 €.
9 In den USA hält die Konjunktur zurzeit schon gut 7 Jahre (auf
niedrigem Niveau) an. Inzwischen mehren sich die Anzeichen,
dass sogar diese schwache (wenn auch vergleichsweise lange)
Wachstumsphase ihrem Ende entgegengeht. Die Auswirkungen
können dramatisch werden.
10 In Detroit etwa sank die Einwohnerzahl von 957 270 auf
677 116 (= - 28,8 %).
11 http://tinyurl.com/z6uy7nz
12 Zu den Daten siehe: http://tinyurl.com/j8lxmzl). Zur Arbeitsmethode des PEW: http://tinyurl.com/hc3mtxk
13 Kurzlink: http://tinyurl.com/gu9xl6l
14 vom 21. Januar 2016 (Kurzlink: http://tinyurl.com/hnzde6c)
15 https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_reichsten_USAmerikaner, zitiert die Forbes 400-Liste für 2015.
16 76% der weißen evangelikalen Protestanten tendierten schon
vorher zu den Republikanern.
17 http://tinyurl.com/hg4jpqx)
18 Die Zeit online, 18. 11. 2016
19 Zu den führenden Figuren in der neuen Administration (vor
allem den Ministern) siehe das Thema „Milliardäre und Militärs“ in junge Welt vom 22. 12. 2016
20 Manfred Dietenberger, DAX-Konzerne lagen richtig. Deutscher
Zement, Deutsche Bank und andere Trump-Profiteure, Lunapark21,
Heft 36 (Winter 2016), S. 48 - 51
21 An dieser Stelle sei ausdrücklich auf die die von Oliver Decker, Johannnes Kiess und Elmar Brähle herausgegebene Studie
verwiesen: Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme
Einstellung in Deutschland. Gießen 2016 (2. Auflage; Psychosozial-Verlag). Die Studie ist auch als pdf-Datei (bis zur Seite 163)
runterzuladen unter: http://tinyurl.com/gmckm47)
22 US presidential elections and world politics: Trump and the
Future, http://www.europe-solidaire.org/spip.php?article39515
23 Oliver Decker: „Dort ist faschistisches Potenzial“ Interview
mit Cicero, 16. 6. 2016, http://tinyurl.com/h67zeoh
24 Götz Eisenberg: „Die Innenseite des Klassenkampfs“, junge
Welt 19. 12. 2016
25 Vgl. dazu Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären
Charakter (hrsg. von Ludwig von Friedeburg). Frankfurt
(Suhrkamp Taschenbuch) 1973.
DOSSIER RECHTSPOPULISMUS
26 Götz Eisenberg, a. a. O.
27 Karl Marx, Das Elend der Philosophie, MEW 4, 180 f
28 Ernest Mandel: „Trotzkis Faschismustheorie.“ Einleitung
zu: „Leo Trotzki. Schriften über Deutschland“, herausgegeben von Helmut Dahmer, Frankfurt (EVA), 1971, S. 21.
29 Leo Trotzki: „Was nun? Schicksalsfragen des deutschen
Proletariats“ in Leo Trotzki, Schriften über Deutschland, a. a.
O., S. 182
30 in Sozialismus 12/2016)
DIE EXTREME
RECHTE IN
FRANKREICH
Zu den Begrifflichkeiten von Populismus,
Neofaschismus ... und ihrer Anwendung auf die
aktuelle Situation. Bernard Schmid
Frankreich zählt zweifelsohne zu den Ländern, an die
man am häufigsten denkt, wenn in den letzten Jahren das
Wort „Rechtspopulismus“ fällt. Von der Präsidentschaftswahl am 21. April 2002, bei welcher Jean-Marie Le Pen
in die Stichwahl einziehen konnte (was damals als absoluter Überraschungserfolg gewertet wurde), bis zur im
April und Mai 2017 anstehenden neuerlichen Wahl zieht
der Front National/FN – inzwischen unter Marine Le
Pen – viele Blicke auf sich. Dabei ist die Anwendung des
„Populismus“-Begriffs auf diese Partei durchaus fragwürdig. Und benutzt man den Begriff „Populismus“ im
Hinblick auf Frankreich, dann müsste er vielleicht zuerst
auf den Gaullismus, jedenfalls den historischen Gaullismus der 1950er und 1960er Jahre Anwendung finden.
Hat nicht er „das Volk“ als politische Kategorie aufgewertet und in diesem Zusammenhang die Einführung
der Direktwahl des Staatspräsidenten durch das Wahlvolk
gerechtfertigt, Volksabstimmungen das Wort geredet und
Referenden durchgeführt, die „nationale Souveränität“
hochgehalten ... ? Und dies, ohne faschistische Ursprünge
zu haben? Wäre es nicht angemessener, den FN eingedenk
genau solcher Ursprünge anders zu bezeichnen?
Ein kleiner Abriss zu einer notwendigen Debatte, gefolgt von einem Überblick über die aktuelle Situation.
Zur Anwendbarkeit des Populismus-Begriffs auf den
Front National
In diesem Zusammenhang stellt sich die prinzipielle Frage
nach der Anwendbarkeit der Kategorie des „Populismus“
auf jene Kraft, die sich seit 1984 fest auf dem Rechtsaußenflügel der französischen Parteienlandschaft verankert hat. Dabei wirkt problematisch, dass dieser Begriff vor
allem auf die Methoden und Diskursstrategien bestimmter Parteien abstellt, wodurch letztere aber nur auf eine
oberflächliche, äußerliche Art und Weise definiert werden
können. Herausgestrichen wird regelmäßig die Fähigkeit
von Populisten, bestehende Unzufriedenheitspotenziale in
der Gesellschaft (oft in demagogischer Weise) aufzugreifen,
gegen die „politische Klasse“ in ihrer traditionellen Form
zu bündeln und damit „uns da unten“ anzusprechen. Dabei
handelt es sich aber im Kern lediglich um ein Instrument im
politischen Kampf, nicht um ein Wesensmerkmal.
Als zentrales Wesensmerkmal des Front National kann
und muss vor allem die Fähigkeit gelten, auf chamäleonartige Weise unterschiedliche gesellschaftliche Programmpunkte zu vertreten, welche die Partei sich in Abhängigkeit
vom jeweiligen Publikum zu eigen macht. Denn vor allem
das Sozial- und Wirtschaftsprogramm des FN ist von widersprüchlichen Elementen, ja mitunter voneinander wechselseitig sich ausschließenden Logiken geprägt. Ultraliberale
Elemente – beispielsweise die Forderung nach radikalen
Steuersenkungen (besonders aber nach Abschaffung der
zum Einkommen proportional gestaffelten Besteuerung)
und nach einer Abschaffung der Besteuerung von Großvermögen – finden sich neben Versprechungen wieder, die in
das Reich der sozialen Demagogie gehören. Etwa das Versprechen nach Anhebung der unteren Löhne, das durch die
Ausweisung von Arbeitsimmigranten bzw. die Erhebung
einer Sondersteuer auf „die Beschäftigung von Ausländern“
realisiert werden soll. Aber auch durch die Abschaffung von
Sozialbeiträgen für die Kranken- oder Rentenversicherung,
die stattdessen als Lohnbestandteil ausgezahlt werden sollen
(womit aber das Krankheits-, Unfall- oder Altersrisiko auf
die einzelnen Lohnabhängigen abgewälzt würde).
Diese Konzeption kann nicht ohne jenen Kerngedanken verstanden werden, der in FN-Programm und
-diskurs im Ausdruck préférence nationale zusammengefasst
wird (seit Antritt der jetzigen Parteichefin Marine Le Pen
im Jahr 2011 mitunter auch umgetauft in priorité nationale
oder „Inländervorrang“). Dieser Begriff steht im Mitteldie internationale 1/2017 17
DOSSIER RECHTSPOPULISMUS
punkt der Logik, die der gesamten Programmatik des FN
zugrunde liegt. Der Wortschöpfer Jean-Yves Le Gallou,
der den Begriff 1985 einführte1, sollte einige Jahre später
erklären: „Die préférence nationale ist der Atomkern unseres
Programms“, was genau bedeutet, dass alles Andere darum
herumkreist2 .
Deswegen sollte man in einer Analyse des Front National nicht so sehr darauf abstellen, was die Partei ihren
Anhängern und Wählerinnen sowie Wählern „positiv“
verspricht. Denn in ihrer Logik steht vielmehr das „negative“ Element im Vordergrund: Wichtig ist, wem das Versprochene zuvor weggenommen werden soll! Alle Maßnahmen stehen nämlich unter dem Realisierungsvorbehalt, dass
den „Eigenen“ gegeben werden soll, was den Anderen oder
Fremden vorher weggenommen wird. Das Sozialprogramm
ebenso wie die wirtschaftlichen Vorstellungen des FN sind
daran aufgehängt, dass die beiden Hauptbedrohungen, „die
Immigration“ und „die Globalisierung“, bekämpft werden sollen. Durch die Wiederaufrichtung (vermeintlich)
undurchlässiger Grenzen, ökonomischen Protektionismus
und, vor allem, die Reservierung von Sozialleistungen und
Arbeitsplätzen für gebürtige Franzosen sollen nationales
Kapital und nationale Arbeit gleichermaßen ihr Auskommen finden. Das ist natürlich eine Illusion, aber auf der
Idee einer gegen äußere Feinde kämpfenden, „natürlichen“
Schicksalsgemeinschaft aufgebaut. Insofern ist die Charakterisierung des FN-Diskurses als rassistisch (und, eher im
realen Diskurs denn im verschriftlichten Programm, oftmals auch als antisemitisch) mindestens ebenso zutreffend
und von höherer Bedeutung als das Element des nach allen
Seiten hin Versprechungen verheißenden Populismus.
Auch noch in anderer Hinsicht versagt die PopulismusDefinition, geht es darum, den Front National oder das
Verhalten seiner „Chefs“ zu beschreiben. Denn im Hinblick auf aktuelle politische und gesellschaftliche Ereignisse
positioniert der FN sich zwar oftmals in „populistischer“
Weise, d. h. so, dass er möglichst einen verbreiteten Unmut
mit (tatsächlichen oder vermeintlichen) Missständen und
Ungerechtigkeiten aufgreifen und auf seine Mühlen lenken
kann. Diese Maxime trifft aber keineswegs beständig zu,
d. h. die Suche nach möglichst taktisch geschickter und
Zuspruch verheißender Positionierung charakterisiert die
Politik dieser Partei keineswegs immer.
Als Beispiel seien die Positionen des damaligen Parteichefs Jean-Marie Le Pen während der beiden Kriege der
USA und ihrer Verbündeten gegen den Irak, im JanuarFebruar 1991 und im März-April 2003, herangezogen.
Bei beide Mal ergriff Jan-Marie Le Pen offensiv Partei für
18 die internationale 1/2017
den damaligen irakischen Präsidenten, Saddam Hussein.
Zumindest während des Konflikts Anfang 1991, an dem
Frankreich auch militärisch teilnahm, war diese Position
aber im Publikum allgemein, aber auch in der eigenen
Wählerschaft des FN im Besonderen, durchaus nicht populär.
Im zweiten Golfkrieg von 1991 unterstützte eine
Mehrheit von rund 70 Prozent der befragten Französinnen
und Franzosen, jedenfalls nach Beginn der kriegerischen
Handlungen, die militärischen Operationen. Angesichts der
Beteiligung ihres eigenen Landes schlossen sie mehrheitlich,
nachdem die Kampfhandlungen einmal ausgebrochen waren, die Reihen hinter dem damaligen Präsidenten François
Mitterrand. Und selbst unter den Wählern und Wählerinnen von Jean-Marie Le Pen meinten laut einer Umfrage
nur 48 Prozent, die aktuellen Positionen des FN-Politikers
nutzten „dem nationalen Interesse“.
Etwas verändert lagen die Dinge im dritten Golfkrieg
von 2003: Dieses Mal lehnte eine Drei-Viertel-Mehrheit
der französischen Bevölkerung den erneuten Einsatz militärischer Gewalt gegen den Golfstaat ab, und Frankreich
war nicht an den militärischen Handlungen im Mittleren
Osten beteiligt. Doch auch die Positionen Le Pens, der
(anders als die anderen politischen Kräfte in Frankreich, die
zum überwiegenden Teil ebenfalls das kriegerische Projekt
der US-Administration ablehnten) explizit die irakische
Diktatur unterstützt hatte, blieben unpopulär. Und das
vor allem in den Reihen seines eigenen Publikums. Denn
die FN-Wählerschaft unterstützte mehrheitlich den Krieg
George W. Bushs, deutlich stärker als andere Teile des französischen Publikums. Sei es, dass gerade diese Wählerschaft
eine prinzipielle Nähe zur Faszination gegenüber militärischer Gewalt aufweist, oder sei es, dass ihr anti-arabischer
Rassismus dabei eine erhebliche Rolle spielte. Nach Kriegsausbruch im März 2003 stieg der Anteil der Befürworter
unter den FN-SmpathisantInnen und WählerInnn auf 53
Prozent, während generell in Frankreich die Ablehnung
dominierte und Werte um die 80 Prozent erreichte.
Insofern lässt sich festhalten, dass Populismus (vor allem
in dem banalen Sinne, den die Alltagssprache ihm verleiht,
im Sinne von : „dem Volk nach dem Munde reden)“ den
Front National jedenfalls nicht hinreichend charakterisiert.
Faschistisch?
Nun ist die Frage aufzuwerfen, ob eine andere Bezeichnung
die Partei der extremen Rechten treffender beschreibt. Insbesondere wäre die Frage aufzuwerfen, ob der Begriff des
Faschismus oder Neofaschismus sich auf eine Partei wie den
DOSSIER RECHTSPOPULISMUS
FN anwenden lässt. Das setzt zunächst einmal voraus, dass
der Begriff nicht (wie mitunter im politischen Schlagabtausch üblich) als bloße Schimpfvokabel ohne analytischen
Hintergrund benutzt wird, unter die sich alle erdenklichen
politischen Phänomene fassen lassen.
Das besondere Charaktermerkmal des historischen
Faschismus respektive seiner Vorläuferbewegungen war
es, Elemente aus der bisherigen politischen Linken und
den Bewegungen sozialen Fortschritts herausgebrochen
und für eine (in ihrem Kern autoritäre, hierarchische
und insofern reaktionäre) Gegenbewegung erfolgreich
eingebaut zu haben. Von der Form her modern, konnte
diese auf soziale Massenbewegung und -mobilisierung
setzen, zugleich aber antidemokratische Parteiformen oder
Regime errichten. Diese Janusköpfigkeit erlaubte es ihnen,
gleichzeitig als Kampfpartei und als Partei der Ordnung,
als Schützer der Besitzenden und Rächer der Verarmten
aufzutreten und so ein Bündnis von Anhängern aus unterschiedlichen, ja eigentlich einander feindlich gegenüberstehenden Klassen zu schweißen.
Wichtige Merkmale, die es erlauben würden, mit
einiger Berechtigung von (Neo- oder modernisiertem)
Faschismus zu sprechen, fehlen dem FN derzeit. Dennoch
sind sie im Kern, sozusagen in der Keimzelle, angelegt.
Zwar versuchte die Organisation in den 1990er Jahren,
sich verstärkt im gesellschaftlichen Leben als eine Art „sozialer Bewegung“ zu verankern und nicht nur an Wahltagen auf dem Stimmzettel präsent zu sein, etwa mit der
Gründung eigener „Gewerkschaften“. Solche Ableger des
FN entstanden erstmals 1995, doch ein Grundsatzurteil des
Obersten Gerichtshofs (Kassationshofs) im April 1998 verbot ihnen, sich selbst als Gewerkschaften zu bezeichnen.
Die Partei bemühte sich um außerinstitutionelle Aktivitäten, mit deren Hilfe die soziale Unzufriedenheit kanalisiert
und mobilisiert werden könnte. Insofern konnte man sie
als wirkliche Keimzelle einer faschistischen Bewegung
bezeichnen, auch wenn gerade der „Bewegungs“charakter
(angesichts der vergleichsweise geringen Mitgliederzahlen in den rechtsextremen Pseudo-Gewerkschaften oder
Arbeitslosenfronten, verglichen mit „echten“ sozialen
Organisationen) noch keineswegs ausgereift war. An eine
Kontrolle der Straße, oder der Betriebe, durch eine rechte
und autoritäre Massenbewegung, die es erlauben würde,
von „marschierendem Faschismus“ zu sprechen, war damals wie heute jedoch nicht zu denken. Aber die Zustimmung auf der Ebene von Wahlen, gekoppelt an diese ersten
Ansätze einer Bewegung außerhalb bürgerlicher Institutionen, hatte erstmals in den 1990er Jahren ein bedenkliches
Niveau erreicht. Bislang dominiert allerdings die Ausrichtung auf Wahlen und auf Stimmerfolge die Strategie des
FN, auch im Hinblick auf die 2017 anstehenden Wahlen in
Frankreich.
Aktuelle Situation
Bis kurz vor dem Jahresende 2016 sah es zunächst scheinbar eindeutig so aus, als werde die konservativ-wirtschaftsliberale Rechte in Frankreich wohl die kommende Präsidentschaftswahl am 23. April und 07. Mai 2017 gewinnen
– und der rechtsextreme Front National (FN) werde
zugleich ins Hintertreffen geraten, da er seiner Wahlchancen durch die neu aufstrebende bürgerliche Rechte
beraubt werde. Die Teilnahme von rund 4,3 Millionen
Personen an den Vorwahlen im bürgerlich-konservativen
Lager vom 20. und 27. November 2016 sorgte dafür, dass
deren wichtigste Partei, Les Républicains (LR), ihre Basis
in hohem Maße mobilisieren konnte. In den Umfragen
schnellten die Beliebtheitswerte des am 27. November auf
diese Weise designierten konservativen Präsidentschaftskandidaten, Ex-Premierminister François Fillon, daraufhin nach oben.
Doch nun erscheint dessen so sicher geglaubte Erfolgsgrundlage zum Jahreswechsel 2016/17 doch fragiler
und instabiler, als es zunächst den Anschein hatte. Einer
Umfrage, deren Ergebnisse am 18. Dezember 2016 in der
Sonntagszeitung Journal du Dimanche (JDD) publiziert
wurden, zufolge „wünschen“ demnach nur 28 Prozent der
befragten Französinnen und Franzosen einen Sieg François Fillons. Ihm waren zuvor durch Umfrageinstitute in
der „Sonntagsumfrage“ regelmäßig rund 35 Prozent der
Stimmen prognostiziert worden. Doch würden ihn nur
28 Prozent der stimmberechtigten Bevölkerung wählen,
läge er damit auf gleicher Höhe mit dem Stimmenanteil,
den dieselben Institute der FN-Chefin Marine Le Pen
vorhersagen. Allerdings nutzt der Rückgang der Beliebtheitswerte François Fillons keineswegs nur Marine Le Pen.
Vielmehr erhält dadurch auch ein weiterer Konkurrent
Auftrieb wie der parteilose frühere Wirtschaftsminister
François Hollandes, Emmanuel Macron, welcher mit einem Profil als ehemals erfolgreicher Geschäftsbanker und
„idealer Schwiegersohn“, doch ohne gefestigte Organisation, in den (Vor-)Wahlkampf zieht.
Was unter anderem der rechtsextremen Politikerin Marine Le Pen – doch nicht nur ihr – nutzt und dem konservativen Bewerber schadet, sind die wirtschaftspolitischen
Positionierungen des konservativen Spitzenmanns und
die Debatte darum. In dieser Auseinandersetzung ist es
die internationale 1/2017 19
DOSSIER RECHTSPOPULISMUS
Marine Le Pen gelungen, sich mit einigen Positionierungen öffentlich zu profilieren, die von Seiten des FN (trotz
einer seit den frühen 1990er Jahren dick aufgetragenen
sozialen Demagogie) eher ungewohnt erscheinen. Dazu
zählt insbesondere der durchschaubare, doch jedenfalls im
Hinblick auf die Aufmerksamkeit der Medien erfolgreiche
Versuch, sich zum Verteidiger des Widerstandserbes in
Frankreich aufzuschwingen.
Fillon tat sich unter anderem dadurch hervor, dass er
die Bilanz der vormaligen britischen Regierungschefin
Margaret Thatcher zu seinem Vorbild erklärte (was in
Frankreich jedenfalls bislang ausgesprochen unpopulär
war) und in seinem Vorwahlprogramm eine faktische
Privatisierung der Krankenversicherung propagierte. Die
gesetzliche Krankenversicherung oder Sécurité sociale, tönte
Fillon, solle künftig ausschließlich auf die Feststellung von
Krankheiten sowie die Therapie von Langzeiterkrankungen wie Krebs oder Alzheimer beschränkt werden. Den
Rest sollten private Krankenversicherungen übernehmen.
Bislang verfügen fünf Millionen abhängig Beschäftigte in
Frankreich über keine private Zusatzversicherung, überwiegend aus finanziellen Gründen, und Experten errechneten, ihre Kosten würden sich bei einer Anwendung von
Fillons Programm verdoppeln.
Fillons Sieg in der zweiten Runde der Vorwahl – der
Stichwahl vom 27. November 2016– ließ die Bedenken
diesbezüglich in der Öffentlichkeit laut werden. Doch
François Fillon wartete danach noch geschlagene drei
Wochen, zur Verzweiflung mancher seiner Berater, bis er
dann doch noch verbal ein bisschen zurückruderte. Am 14.
Dezember 2016 absolvierte Fillon einen Besuch in einem
Krankenhaus – der Klinik Marie-Lannelongue im südlich
von Paris gelegenen Vorort Plessis-Robinson – und nutzte
diesen Anlass, um zu erklären, nein, es stimme nicht, er
wolle die Krankenversicherung gar nicht privatisieren
(oder zerschlagen). Allerdings dementierte er mit keinem
Wort, er wolle Einsparungen bei der gesetzlichen Krankenversicherung vornehmen.
Doch die Sécurité sociale in Frankeich, die 1945 geschaffen wurde, ist ein direktes Ergebnis des berühmten
„Programms des Conseil national de la résistance (CNR)“,
des Nationalen Widerstandsrats, in dem unter anderem
Gaullisten und Kommunisten im Kampf gegen die Besatzung durch Nazideutschland zusammengefasst waren und
der Grundlinien für die künftige Gesellschaft nach der
Befreiung entworfen hatte.
Marine Le Pen ließ die Gelegenheit nicht verstreichen,
ihrerseits die Französinnen und Franzosen dazu aufzuru20 die internationale 1/2017
fen, das Erbe des Conseil national de la résistance zu verteidigen. Auch wenn die Ursprünge ihrer Partei in Wirklichkeit weit eher in der Kollaboration mit Nazideutschland als
bei der Résistance liegen. So zählten ehemalige Kollaborateure zu den Führungsmitgliedern des FN in den ersten
Jahren nach seiner Gründung (1972). Ein gewisser Pierre
Gérard, Generalsekretär der Partei in den Jahren 1980/81,
war etwa unter der Besatzung „stellvertretender Direktor
für wirtschaftliche Arisierung“ des Vichy-Regimes und
Mitarbeiter von dessen „Generalkommissar für Judenfragen“, Louis Darquier de Pellepoix.
Parallel dazu behauptete Marine Le Pen am 11. Dezember 2016 in einer Fernsehsendung, François Fillon
verteidige private Sonderinteressen, etwa die von Versicherungskonzernen – sein führender Berater Henri de
Castries leitete früher den Versicherer AXA –, sie selbst
dagegen sei „die Verteidigerin des Allgemeininteresses, des
nationalen Interesses, des übergeordneten Interesses“.
Kritik an Fillons wirtschaftspolitischen Plänen kam
natürlich auch von anderer und insbesondere von linker
Seite, aber Marine Le Pen schaffte es so aussehen zu lassen,
als schreie sie als eine der Ersten und am lautesten. Dies
sollte niemanden vergessen lassen, dass ihre Partei selbst in
den 1980er Jahren lauthals die Zerschlagung der gesetzlichen Sozialversicherung propagierte. Diese Position hat sie
heute verworfen, allerdings zählt der Kampf gegen einen
angeblichen „massiven Sozialbetrug“ zur Programmatik
Marine Le Pens.
Auch ihre eigene Partei kam jedoch zugleich in die
Kritik, und die öffentliche Meinung wurde dabei an den
fundamentalen Rassismus ihrer Partei erinnert. Ein FN
ohne den gegen Einwanderer gerichteten Rassismus, der
den Kern seiner „Geschäftsgrundlage“ und ein konstitutives Element bildet, wäre tatsächlich nicht vorstellbar.
Am 08. Dezember 2016 schlug Marine Le Pen, die an
dem Tag als Präsidentschaftskandidatin beim Meinungsforschungsinstitut BVA angehört wurde und Fragen beantwortete, einen Ausschluss „ausländischer Kinder“ vom
kostenlosen und obligatorischen Schulbesuch im öffentlichen Bildungswesen vor. „Ich habe nichts gegen Ausländer“,
führte die FN-Chefin dabei aus – ihr Satz fing tatsächlich
wie eine x-beliebige Satire an –, aber, so fügte sie hinzu,
„aber ich sage zu ihnen: Wenn Ihr in unser Land kommt, dann
erwartet nicht, dass Ihr versorgt werdet, dass Ihr ärztlich behandelt oder dass Eure Kinder kostenlos unterrichtet werden, damit
ist jetzt Schluss, die Schönwetterperiode ist zu Ende.“
Die entscheidende Trennlinien zwischen François
Fillon und Marine Le Pen, die am 23. April 2017wohl alle
DOSSIER RECHTSPOPULISMUS
beide unter den zwei, jedenfalls unter den drei bestplatzierten Präsidentschaftsbewerbern liegen dürften, verläuft
derzeit auf dem Gebiet der Sozial- und Wirtschaftspolitik.
Auf anderen Feldern dagegen ist der konservativ-wirtschaftsliberale Bürgerblock rund um die Partei Les Républicains (LR) selbst weit nach rechts gerückt und macht so
dem FN ideologisches Terrain streitig. Das gilt etwa für
den Kampf gegen Abtreibung, da Fillon selbst als deren
Gegner in Erscheinung trat, und ähnlich beim Thema
Homosexuellen-Ehe.
Zugleich tobt derzeit innerhalb des FN selbst derzeit
ein heftiger Kampf um die Linie beim Thema Schwangerschaftsabbrüche. Dabei stehen sich als Antagonisten
die katholisch-reaktionäre junge Abgeordnete Marion
Maréchal-Le Pen einerseits und der eher „nationalrepublikanisch“ auftretende Vizechef der Partei, Florian
Philippot, andererseits gegenüber. Nachdem Philippot am
07. Dezember 2016 äußerte, Maréchal-Le Pen stehe mit
ihrer scharfen Anti-Abtreibungs-Position angeblich „allein
und isoliert“ da, entbrannte eine heftige Debatte, und viele
Parteimitglieder oder –funktionäre riefen in den sozialen
Netzwerken zur Solidarität mit der 27jährigen auf.
Im Kontext der aus Sicht des FN nach wie vor weitestgehend ungeklärten Bündnisfrage werden sich diese Fragen nach strategischer Orientierung auch weiterhin stellen.
Anmerkung der Redaktion: Die Langfassung dieses Artikels findet ihr auf unserer Website: www.intersoz.org
1 mit seinem Buchtitel La préférence nationale: réponse à
l’immigration (Die nationale Bevorzugung: Antwort auf die
Einwanderung). Jean-Yves Le Gallou war damals einer der
Köpfe des rechsintellektuellen und elitären Club de l’Horloge
und Führungsmitglied einer der Komponenten im christdemokratisch-liberalen Parteienbündnis UDF, das inzwischen
auf die derzeit bestehenden Parteien UDI und Modem aufgesplittet ist. Im Herbst 1985 trat Le Gallou zum Front National
über. Ihn verließ er im Zuge der Abspaltung unter Bruno
Mégret, zum Jahreswechsel 1998/99; in der Folgezeit wurde
Le Gallou zur „Nummer Zwei“ in der bis 2008 von Mégret
angeführten neuen Partei, dem MNR (Mouvement National
Républicain. Die anhaltende Erfolglosigkeit des Spaltprodukts
MNR veranlasste ihn drei Jahre später, alle innerparteilichen
Ämter niederzulegen. Seit einigen Jahren ist Le Gallou nunmehr Vorsitzender einer Stiftung unter dem Namen Polemia,
die sich die ideenmäßige Erneuerung im Rechtsaußenspektrum zum Ziel gesetzt hat.
2 Interview in der damaligen, bis 2008 bestehenden ParteiWochenzeitung National Hebdo (NH) vom 10. April 1997 aus
Anlass des 10. Parteitags des FN in Strasbourg.
HINTER DEM
ERFOLG DER
DÄNISCHEN
VOLKSPARTEI
Die Dansk Folkeparti (DF – Dänische Volkspartei) erhielt bei den letzten Wahlen zum
dänischen Parlament im Juni 2015 mit 21,1% der
Stimmen das beste Ergebnis ihrer Geschichte.
So wurde sie zweitgrößte, in mehreren Regionen
sogar die stärkste Partei in Dänemark, nur übertroffen von den Sozialdemokraten. Åge Skovrind
Nach der Wahl gab es die ungewöhnliche Situation, dass die
Sozialdemokraten keine Regierung bilden konnten und die DF
es nicht wollte. Daher endete es damit, dass die Wahlverliererin, die rechtsliberale Venstre, eine Minderheitsregierung mit
Lars Løkke Rasmussen als Premierminister bildete. Die Venstre
erhielt nur 19,5 % gegenüber 26,7 % bei der letzten Wahl. Die
DF unterstützt die Regierung, will sich aber nicht an ihr beteiligen, weil man glaubt, von außen größeren Einfluss zu haben.
So war es auch 2001-2011, als sie die Wirtschaftspolitik der bürgerlichen Regierung unterstützte und gleichzeitig Zugeständnisse insbesondere auf dem Gebiet der Ausländerpolitik bekam.
In dieser Zeit hatte sie Wahlergebnisse von 12–14 %.
Damals stand es nie zur Diskussion, dass sie Teil der
Regierung werden könnte. Dies sowohl, weil die „alten“
Parteien die DF schon immer als Partei außerhalb des „Establishments“ betrachtet haben, auf die man sich nicht verlassen
könne, als auch, weil die Partei selbst gar nicht sonderlich interessiert war. Aber mit dem Stimmenzuwachs 2015 stieg der
Druck, sich an einer Regierung zu beteiligen und „Verantwortung zu übernehmen“. Insbesondere die Venstre befürchtete, dass es schwer werden könnte, die Wählerinnen und
Wähler zurückzugewinnen, wenn es der DF weiter erlaubt
würde, ihre unabhängige Rolle zu spielen.
Warum hat die Dansk Folkeparti hinzugewonnen?
Was kann den großen Erfolg der DF erklären? Viele haben
dies gefragt, insbesondere nach der Wahl 2015. Und selbstdie internationale 1/2017 21
DOSSIER RECHTSPOPULISMUS
verständlich gibt es mehr als nur eine Erklärung. Eine von
ihnen, und wahrscheinlich die wichtigste, ist die Ausländerpolitik der Partei. Stopp oder Begrenzung der Aufnahme von Flüchtlingen, mehr Abschiebungen, niedrigere
Standards für Asylsuchende und Flüchtlinge, weniger
Möglichkeiten der Familienzusammenführung, Widerstand gegen multikulturelle Aktivitäten und Förderung
„dänischer“ Werte – all dies beschäftigt die DF mehr als alles andere. Jede Gelegenheit, um Hass und schüren und eine
ausländerfeindliche Stimmung anzuheizen, wird demagogisch ausgenutzt. Die Fremdenfeindlichkeit richtet sich in
erster Linie gegen Muslime, aber in den letzten Jahren auch
gegen EU-Bürger, beispielsweise aus Rumänien und Polen,
die nach Dänemark kommen.
Als Preis für ihre Tolerierung der bürgerlichen Regierung von 2001 bis 2011 und jetzt wieder seit 2015 hat die
DF immer wieder Verschärfungen der Ausländerpolitik
durchgesetzt. Alleine zwischen 2001 und 2010 wurden 14
wesentliche Änderungen beschlossen, jedes Mal mit weiteren Auflagen für Ausländerinnen und Ausländer. Dabei
ist es ein zentraler Punkt, dass es sich nicht nur um Zugeständnisse an die DF handelt, sondern dass auch alle anderen
Parteien (außer der linken Enhedslisten) begonnen haben,
ihre ausländerfeindliche Haltung zu kopieren. Dies gilt
nicht zuletzt auch für die Sozialdemokratie, die weitgehend
die DF-Ausländerpolitik übernommen hat, in der Hoffnung, so Wählerinnen und Wähler zurückgewinnen zu
können. Bei der Wahl 2015 stellte die sozialdemokratische
Partei gigantische Plakate auf mit der Forderung „Schärfere Asylregeln – mehr Auflagen für Einwanderer“, und der
neue Slogan der Partei war „Das Dänemark, das du kennst“
– eine fast identische Kopie der DF-Parole der „Gebt uns
unser Dänemark zurück“.
Auch wenn die jüngsten Stimmengewinne der DF aus
allen Gesellschaftsschichten stammen, zeigen Studien doch,
dass sie relativ viele Wählerinnen und Wähler unter Älteren
(vor allem Männer) mit kurzer Ausbildung und bescheidenem Einkommen hat. Es besteht kein Zweifel, dass die Partei
viele Stimmen von Leuten bekommt, die Angst vor (mehr)
Zuwanderung haben. Einige von ihnen sind von Arbeitslosigkeit oder Sozialabbau betroffen oder verstehen nicht,
warum die Gesellschaft so viel Geld für Ausländerinnen
und Ausländer einsetzt, wo sie es nicht schafft, Älteren und
Kranken zu helfen. Viele Lohnabhängige sind der Meinung,
dass Ausländerinnen und Ausländer ihnen „ihre“ Arbeit
wegnehmen und die Löhne drücken. Wenn man die vielen
Flüchtlinge als Hauptgrund dafür ansieht, dass es einem
selbst schlecht geht, ist die Entscheidung für die DF nahelie22 die internationale 1/2017
gend, vor allem zu einem Zeitpunkt, wo außerordentlich
viele Asylbewerber nach Dänemark kommen.
Die DF gewinnt auch viele Stimmen durch ihre kritische
Haltung gegenüber der EU, die eng mit dem Widerstand
gegen Ausländerinnen und Ausländer, der Verteidigung
der dänischen Souveränität und einer Romantisierung der
„dänischen Werte“ verknüpft wird. Es hat in der dänischen Bevölkerung schon immer eine große EU-Skepsis
gegeben, anfangs vor allem auf der Linken, jetzt verbreitet.
Eine Mehrheit stimmte 2015 gegen die Beteiligung an der
EU-Zusammenarbeit im Bereich der Justiz (1993 wurde
Dänemark hier sowie beim Euro und der Verteidigungspolitik eine Ausnahme zugestanden) und 2010 stimmte eine
Mehrheit gegen die Beteiligung am Euro. Auf der Rechten
war die DF die einzige Partei, die der EU-Skepsis der bürgerlichen Wählerschaft einen Ausdruck gegeben hat.
Sie tritt nicht für einen dänischen Austritt ein, ist aber
dagegen, dass die EU mehr und mehr auf Kosten des dänischen Parlaments bestimmt; insbesondere ist sie gegen die
Schengen-Zusammenarbeit. Bei den Wahlen zum EUParlament im Juni 2014 wurde sie mit 26,6% stärkste Partei
und erhielt 4 der 13 Mandate.
Ein soziales Profil
Aber selbst, wenn die Diskussion über Flüchtlinge und die
EU eine größere Rolle spielte als zuvor, gibt es mindestens
noch zwei weitere Faktoren, die sehr wichtig sind. Bei dem
einen geht es um das soziale Profil der DF. Der zweite ist,
dass Stimmen für sie auch Stimmen gegen die beiden großen Parteien und ihre Führer sind.
Es gelang ihr, als die „Partei des kleinen Mannes“ gesehen zu werden, die sich um die Schwachen in der Gesellschaft kümmert, die Zugang zu einem funktionierenden
Gesundheitswesen haben sollen. Insbesondere betont sie
immer wieder, dass ältere Menschen in der Gesellschaft (die
Dänemark ihr ganzes Leben gedient haben) Anspruch auf
eine gute Rente und gute Betreuung haben. Ein wichtiges
Thema im jüngsten Wahlkampf waren Probleme in Randgebieten Dänemarks ohne Wachstum und Wohlstand, wo
die Dörfer sterben und es kaum Möglichkeiten für Bildung
und Arbeit gibt. Genau hier hatte die DF ihre größten
Erfolge, weil die Menschen das Gefühl haben, dass die alten
Parteien versagt haben. Viele der Programmpunkte, die
traditionell sozialdemokratische waren, sind von der DF
übernommen worden, und viele der DF-Wählerinnen und
-Wähler haben früher sozialdemokratisch gewählt.
Der Großteil der DF-Sozialpolitik ist Heuchelei und
leeres Gerede, da die Partei unzählige Male für Sozialab-
DOSSIER RECHTSPOPULISMUS
baumaßnahmen gestimmt hat. Unter anderem hat sie die
Anhebung des Ruhestandsalters, die Einschnitte bei der
Sozialhilfe und die Verkürzung des Arbeitslosengelds von
vier auf zwei Jahre mitgetragen und Wirtschaftsabkommen zugestimmt, die Kommunen zu großen Einsparungen zwingen. Aber es gibt auch Fälle, in denen sie tatsächlich zusammen mit der Linken gestimmt hat, zum Beispiel
beim Nein zum Verkauf der staatlichen Ölgesellschaft
DONG, die die sozialdemokratische Regierung 2013 beschlossen hatte. 2015 trat die DF zur Wahl an mit der Forderung nach einem Wachstum des öffentlichen Haushalts
um 0,8 Prozent, mehr als Venstre und Sozialdemokratie,
und einem Nein zu Steuersenkungen für die Reichsten.
Sie versucht sich als eine sozial verantwortliche Partei
darzustellen und nutzt geschickt einzelne Punkte aus, in
denen die Sozialdemokraten ihre Wähler verraten haben.
Wenn die Sozialdemokratie dann noch weitgehend ihre
Ausländerpolitik übernimmt, so ist der Unterschied zwischen den beiden Parteien kaum noch zu erkennen.
Die Linke und die Dansk Folkeparti
Die Linke hat die fremdenfeindliche Politik der DF immer
angeprangert, aber manchmal die Sorgen unterschätzt,
die Menschen dazu bringen, diese Partei zu wählen. Wir
haben es nicht geschafft, Solidarität mit Flüchtlingen und
anderen Ausländerinnen und Ausländern unter Arbeiterinnen und Arbeitern und den schwächsten Gruppen der
Gesellschaft zu schaffen und eine gemeinsame Front gegen
die Oberklasse aufzubauen. Das ist immer noch eine große
und drängende Aufgabe.
Aber die Linke muss die DF auch infrage stellen, wenn
sie sagt, sie würde „den kleinen Mann“ verteidigen. Ihre
Wahlerfolge beruhen darauf, dass sie versprochen hat, die
Sozialleistungen für die einfachen Menschen zu sichern. Im
Parlament bringt die Enhedslisten daher konkrete Vorschläge ein, mit denen getestet werden kann, ob die DF es ernst
meint mit dem, was sie sagt. In der Regel kann man ihre
Heuchelei zeigen, wenn sie gegen einen solchen Vorschlag
stimmt. Und wenn sie dafür stimmt und wir einen Antrag
durchbringen, haben wir ja eine reale Verbesserung erreicht.
Anscheinend meint Tobias Alm im Artikel „Right
Wing Populism and the Danish People´s Party“1, dass die
Linke damit die DF legitimiere und ihr helfe, wenn man
mit ihr Absprachen trifft oder Verbesserungen durchsetzt.
Damit bin ich nicht einverstanden. Eine umfassende Vereinbarung über bessere Bahnverbindungen, die die sozialdemokratische Regierung mit der DF und der Enhedslisten
2013 einging, war Alm zufolge ein entscheidender Fehler.
Aber es fällt schwer zu glauben, dass es die DF irgendwie
geschwächt hätte, wenn die Enhedslisten sich ferngehalten
und damit diese Vereinbarung verhindert hätte.
In der gegenwärtigen Situation ist im Gegenteil offensichtlich, dass sie Probleme bekommen kann, für eine
glaubwürdige „Wohlfahrtspolitik“ zu stehen, wenn sie
gleichzeitig eine Regierung stützt, die öffentliche Ausgaben kürzen und den Reichsten Steuererleichterungen
geben will. Die Linke hat die wichtige Aufgabe, diesen
latenten Widerspruch auszunutzen.
Stimmen „für“ und Stimmen „gegen“
Die jüngsten Gewinne der DF sind nicht nur Stimmen für
diese Partei, sondern müssen auch mit der großen Enttäuschung über die beiden großen Parteien Venstre und Sozialdemokratie und ihre Führungen erklärt werden. Unter
bürgerlichen Wählerinnen und Wählern genießt der Chef
der Venstre, der jetzige Premierminister Rasmussen, keine
große Beliebtheit. Der letzte große Zuwachs für die DF
kam vor allem von der Venstre.
Hingegen gelang es ihr – bis vor kurzem –, größere
Skandale zu vermeiden und mit sauberer und fehlerfreier
Fassade dazustehen. Seit Gründung der Partei 1995 bis
2012 war Pia Kjærsgaard die unbestrittene Vorsitzende.
In Gegensatz zu den meisten anderen Politikern hat sie
keine höhere Bildung und war geschickt, die Probleme der
einfachen Menschen in einer verständlichen Sprache zu
formulieren. Ihr Nachfolger, Kristian Thulesen Dahl, wird
auch als anständiger und ehrlicher Mann gesehen.
Verschiedene DF-Politiker sind in den letzten Jahren
durch schreckliche rassistische Äußerungen aufgefallen,
aber eine tüchtige, medienbewusste und zentralistische
Führung hat mit harter Hand größere Skandale vermieden.
Menschen mit Verbindungen zu gewalttätigen - bzw. ganzoder halbfaschistischen Organisationen - werden (wenig
überraschend) von der Politik der Partei angezogen (und
inspiriert), wurden aber bislang konsequent ausgeschlossen,
wenn sie als Mitglieder der Partei bekannt wurden.
Historisch gesehen ist die DF eine Protestpartei, die als
Opposition zum System entstanden ist. Ihre Wurzeln gehen auf die Fremskridtspartiet (Fortschrittspartei) zurück,
die 1973 mit 15,9 Prozent Stimmenanteil das Parlament
stürmte, in erster Linie als Protestpartei gegen hohe
Steuern. Als die Partei in interne Auseinandersetzungen
versank, trennte sich eine Gruppe und gründete 1995 die
DF. Seitdem waren Proteste gegen „die Fremden“, gegen
die EU und gegen Angriffe auf „das Dänische“ Kennzeichen der Partei. Die Partei ist und war nie Teil des „Estadie internationale 1/2017 23
DOSSIER RECHTSPOPULISMUS
blishments“. Aber allmählich gehört sie mit mehr als 20%
der Stimmen doch mehr und mehr zum Mainstream. Pia
Kjærsgaard ist heute Vorsitzende des Parlamentspräsidiums
– nur die Enhedslisten stimmte dagegen.
Die größte Krise
Aktuell wird die Partei durch eine neue ultraliberalistische
Partei herausgefordert, die Nye Borgerlige (Neue Bürgerliche), die bei der nächsten Wahl kandidieren will und
nach Meinungsumfragen die Sperrgrenze von 2 Prozent
überspringen könnte. Die neue Partei will den Austritt
Dänemarks aus der EU, einen totalen Asylstopp, drastische
Steuersenkungen, Privatisierungen und Einsparungen bei
den öffentlichen Haushalten.
Aber im Herbst 2016 bekam die DF ein zweites und
größeres Problem, das sie selbst die größte Krise in der
Geschichte der Partei nennt. Es wurde aufgedeckt, dass
sie unberechtigt EU-Zuschüsse bekommen und bei den
Abrechnungen manipuliert hat. Die Gelder, die sie für
EU-Informationsarbeit erhalten hat, wurden stattdessen
für normale Kampagnenaktivitäten der Partei verwendet.
Hauptperson in dem Skandal ist MEP Morten Messerschmidt, der bisher als die junge und intelligente Zukunftshoffnung der Partei betrachtet worden war. Bei den
EU-Wahlen 2014 erhielt er 465 758 persönliche Stimmen
– die höchste Zahl in der Geschichte Dänemarks.
Messerschmidt wurde sofort aus der Führungsspitze
entfernt, aber die Partei ging seitdem in Meinungsumfragen deutlich zurück. Am 18. Dezember 2016 stand sie
„nur“ noch bei durchschnittlich 16,6%. Trotz der aktuellen Krise hat die DF noch einen hohen Stimmenanteil und
wird ihren Einfluss nutzen, um Fremdenfeindlichkeit zu
schüren. Die Linke muss eine Taktik anwenden, die von
einer solidarischen internationalistischen Haltung ausgeht
und die ausländerfeindliche Politik der Partei angreift, sie
aber gleichzeitig bei ihren Versprechungen für mehr Sozialleistungen für die einfachen Menschen herausfordert.
Åge Skovrind ist Mitglied der
(rot-grünen) Enhedslisten und Redakteur der Socialistisk
Information, die von der SAP, der dänischen Sektion der
Vierten Internatinale herausgegeben wird.
Übers.: Björn Mertens
„
1 Siehe das Buch ”The Far Right in Europe”, IIRE/Resistance Book: http://www.iire.org/component/jshopping/product/view/1/68.html
24 die internationale 1/2017
AfD –
SCHILLERNDES
SALZ IN DER
WUNDE DER
„ETABLIERTEN“
Es genügt, das Grundsatzprogramm der AfD
anzuschauen, um zu sehen, welche Positionen
diese Partei vertritt. Man gewinnt zuweilen den
Eindruck, ein angepasstes NSDAP-Programm zu
lesen. Horst
Die Af D als eine Sammlungsbewegung „völkischer Elemente“ hat in ihrem Programm die verschiedenen Flügel
ausbalanciert.
Unter den neoliberalen Forderungen finden wir: Arbeitgeberanteil bei Arbeiten im Rentenalter streichen,
späteres Renteneinstiegsalter; Arbeitgeberanteil bei ALG 1
streichen; ALG 1 privatisieren; Arbeitspflicht für Langzeitarbeitslose; gesetzliche Unfallversicherung abschaffen;
Gewerbe- und Erbschaftssteuer abschaffen, Banken- und
Steuergeheimnis wieder einführen; Rettungsprogramme
für überschuldete Kommunen und Länder verbieten; Privatisierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
Die Af D hat auch eine Reihe von christlich-familistischen
Forderungen: keine Finanzierung Alleinerziehender;
Schuldprinzip bei Ehescheidungen wieder einführen; Gesetzesverschärfung zum Schwangerschaftsabbruch; traditionelle Geschlechterrollen bewahren; Gender-Forschung
abschaffen; Anti-Diskriminierungsgesetz und DiversityProgramme abschaffen …
Die völkisch-autoritären Forderungen stehen im Vordergrund: „sicherheitspolitischer Befreiungsschlag”;
Systemwechsel hin zu „Ausländerbehörden, Polizei und
Strafverfolgung”; Strafmündigkeitsalter auf zwölf Jahre
senken; Dienstpflicht für Frauen, Wehrpflicht für Männer; keine „verengte Erinnerungskultur auf die Zeit des
Nationalsozialismus”; „Grundrecht auf Asyl abschaffen“;
jüdische und islamische Praktiken einschränken (Jungen-
DOSSIER RECHTSPOPULISMUS
beschneidung, Schächtung); „der Islam gehört nicht zu
Deutschland”; AKW-Laufzeitverlängerung; Schluss mit
der Klimaschutzpolitik; Erneuerbare-Energien-Gesetz
(EEG) abschaffen.
Das sind nur einige Punkte des Grundsatzprogramms
der Af D. Hinzu kommt ihre Nähe oder auch Nichtabgrenzung zu Neonazis und Faschisten.
Große Teile der AfD vertreten jedoch keine neoliberale, sondern eine wohlfahrtschauvinistische Politik. Sie wollen
einen Sozialstaat, aber nur für „echte“, „richtige“ Deutsche.
Damit liegen sie im Trend erfolgreicher RechtspopulistInnen in Frankreich, Österreich, den Niederlanden, Großbritannien usw. und knüpfen am historischen Faschismus an.
Die Af D (heute ca. 28 000 Mitglieder) ist kein Verbündeter von Arbeitgeber- oder Industrieverbänden. Das Kapital möchte (zumindest heute) kein Bündnis mit der Af D.
Denn diese will eine radikale Begrenzung der Zuwanderung, während die Arbeitgeber- und Industrieverbände
sich deutlich für mehr Zuwanderung aussprechen (ihnen
passt deswegen auch PEGIDA nicht).
Die offiziellen Af D-Positionen werden in den letzten Monaten durch die innerparteilichen Erfolge der
Hardcore-FaschistInnen zunehmend modifiziert. Nicht
übersehen werden sollte die lange „Vorlaufzeit“ kleiner
Gruppen, die sich nun in der Af D wiederfinden: Bereits
1972 war die „Aktion Neue Rechte“ als Abspaltung von
der NPD gegründet worden. In der Folgezeit entfaltete die
Strömung der „Neuen Rechten“ neben parteipolitischen
Aktivitäten neue Ausdrucksformen neurechter Aktivitäten
und bemühte sich intensiv um „ideologische Schulungen“
im Kontext der Rassenlehre.
Zum gemeinsamen Konsens der diversen rechten Gruppen gehören: Vertretung völkisch-nationalistischer Positionen, rassistische und antisemitische Positionen; autoritäre
Politikvorstellungen, Ablehnung des gesellschaftlichen
Gleichheitsprinzips, Diskriminierung von Minderheiten;
Ethnisierung/Nationalisierung sozialer und ökonomischer
Problemlagen und ein extremer Antifeminismus.
Als Tischler, der Vorsitzende der Af D-Jugend, in der
rechtslastigen akademischen Hayek-Gesellschaft einen
Programmentwurf vorlegte, wonach die Übernahme des
US-amerikanischen Waffenrechts und die Privatisierung
aller Firmen mit Staatsbeteiligung gefordert wurde, kam es
zur Spaltung der Gesellschaft.
Gründe für den rasanten AfD-Aufstieg
2016 verzeichnet die Polizeistatistik fast eintausend Brandanschläge auf Flüchtlingsheime. Telepolis zufolge werfen
70 Prozent der Bevölkerung „den Politikern vor, dass sie
sich nicht groß darum kümmern, wie die Menschen denken – und 72 Prozent gehen sowieso davon aus, dass die
‚etablierten Parteien die wichtigsten Probleme Deutschlands nicht im Griff haben’.“ Das heißt jedoch auch: Die
Zeiten des „kleineren Übels“ beim Wahlakt sind vorbei.
Die Af D steht im Zentrum der Überlegungen all dieser
Menschen und ist zugleich Ausdruck einer immer enger
zusammenwachsenden Front. Sie reicht von Denkfabriken
wie dem Institut für Staatspolitik (IfS), der Hayek-Gesellschaft, rechten Publikationsorganen wie Junge Freiheit und
dem Compact Magazin über vermeintlich unabhängige
StichwortgeberInnen wie Thilo Sarrazin, Peter Sloterdijk
und Eva Hermann bis zu einer rechten sozialen Bewegung
auf der Straße. Dabei sind – im Gegensatz zur Linken
– Systemfragen und die Funktionsweisen des Systems
keineswegs tabuisiert ...
Geschickt organisiert die Af D einen ganzen Kranz von
Organisationen um sich herum. Organisatorisch werden
dazu die sogenannten „Freundeskreise“ (die es in fast jedem Landesverband gibt) sowie Kongresse von Zeitschriften als Trägerinnen eingesetzt.
Die Rechten waren schon Jahrzehnte vorher da, die
Debatten um Geflüchtete konnten sie nutzen, weil sich das
Thema bestens um ihren zentralen ideologischen Hebel
gruppieren lässt: den Kampf der Kulturen. Vom Standpunkt rechter KulturkämpferInnen aus gesehen gibt es auf
gesellschaftspolitischer Ebene einigen Anlass zur Sorge. Sie
wollen tendenziell in einer Gesellschaft wie in den 1950er
Jahren leben, als der Schwulenparagraf noch galt, Frauen
in der Ehe noch straffrei vergewaltigt wurden und MigrantInnen per se als Gäste galten, die jederzeit fortzuschicken sind. Dass die Merkel-CDU stärker auf das urbane,
modernisierte, biomarktaffine, perfekt Englisch sprechende Bürgertum schielt, hat das wertkonservative Milieu
weiter radikalisiert.
Die führenden Gruppen des Parteiapparats der AfD speisen sich aus reaktionären Teilen der Mittelschicht (Akademiker), dem Kleinbürgertum, „mittelständischen“ UnternehmerInnen sowie auch Teilen der ArbeiterInnenklasse.
Es ist derzeit offen, ob sie einen „rechten Kulturkampf “
beabsichtigen oder sich zunehmend aus dem Machtblock
etablierter Strukturen lösen. Der neoliberale Kapitalismus
ist für das Kleinbürgertum mehr und mehr zum Problem
geworden. Die Angst vor sozialem und ökonomischem
Abstieg kehrte auch bei jenen ein, die gut situiert sind und
in der Reihenhaussiedlung wohnen. Während der gerne
romantisierte rheinische Kapitalismus dank des Aufstiegsdie internationale 1/2017 25
DOSSIER RECHTSPOPULISMUS
versprechens integrierend wirkte, droht der Krisenkapitalismus allen mit Abstieg. Der optimistische Zukunftsblick
wich einer rückwärtsgewandten Vergangenheitsfixierung.
Sowohl in Baden-Württemberg als auch in Sachsen-Anhalt war die Af D mit Abstand stärkste Partei bei ArbeiterInnen und Erwerbslosen – ein Novum für die Partei.
Wie bei allen gesellschaftlichen Gruppen, sind auch bei
ArbeiterInnen und Erwerbslosen strukturkonservative bis
rassistische Einstellungen vorhanden. Erschwerend kommt
hinzu: Der Rassismus der weißen Arbeiterklasse kann sich
auf eine materielle Basis stützen. So geht etwa die Spaltung
der Belegschaften nicht spurlos an den noch einigermaßen
gesicherten Fraktionen vorbei.
Diejenigen ArbeiterInnen, die noch über relativ
hohe Löhne verfügen und denen die Mitbestimmung im
Betrieb nicht gänzlich entzogen wurde, sehen die Bedrohung Tag für Tag in ihrem Umfeld – bei den Gruppen, auf
die die Risiken verlagert wurden: WerkverträglerInnen,
ZulieferInnen, LeiharbeiterInnen. Sie schauen auf die
KollegInnen neben sich, die die gleiche Arbeit verrichten,
aber letztlich nur noch die Hälfte des Lohns bekommen.
Sie hören allerorts von Rationalisierungen, Fusionen und
Outsourcing.
Auch bei ArbeiterInnen gilt: Nicht mehr die Verbesserung der Situation ist die Perspektive, sondern der drohende Verlust bestehender Standards.
Aber die schrillsten Töne zur kollabierenden gesellschaftlichen Situation kommen aus verschiedenen Gruppen der New-Age- und Esoterik-Szene (ESO-Szene). So
ergibt sich die Anknüpfung an die ausdifferenzierte ESOSzene mit ihren vielfachen Bedrohungsszenarien schon fast
auf natürliche Weise. Die jährlichen „Querdenker“-Kongresse dienen der Af D zur Bearbeitung dieser Gruppen,
die oftmals noch nicht einmal verstehen, dass sie instrumentalisiert werden.
Wir stehen wieder einmal vor der Kardinalfrage aller
emanzipativer Prozesse: Wie erleben und deuten große
Teile der Bevölkerung den gesellschaftlichen Prozess, dem
sie unterworfen sind? Mit welchen Erklärungen reagieren
sie auf ihre eigene Situation? Wie schätzen sie sich selbst in
diesem Prozess ein?
Hochaktuelle Erklärungsansätze
„Nicht nur in erster Linie die Lust am Schmerz, wie das
im Wort ‚Masochismus‘ gewöhnlich angedeutet wird.
Sondern die Lust an der Unterwerfung unter etwas, was als
weit stärker erlebt wird. Die absolute Abhängigkeit. Und
damit aber auch die Erfüllung in der Bewährung. Es ist der
26 die internationale 1/2017
Wunsch, der eigenen Verantwortung ledig zu sein. Der
Masochist, der sich unterwirft, braucht nicht mehr über
sein Leben zu entscheiden. Er wird gelebt – durch die höhere Macht, die er bedingungslos akzeptiert.“ (E. Fromm)
Im Auftrag des „American Jewish Committee“ an der
Universität Berkeley führte Adorno als deutscher Emigrant 1944 ff. eine Untersuchung zu der Frage durch, ob
in der USA Faschismus denkbar wäre. Mit Fragebögen,
Interviews und psychologischen Tests wurden die Einstellungen von 2099 Probanden untersucht.
Die Ergebnisse: Die autoritäre Persönlichkeit hält starr
an Konventionen fest, wozu korrektes und unauffälliges
Auftreten und Aussehen gehören, Ordnung, Sauberkeit,
Tüchtigkeit. Stereotype und diskriminierende Vorurteile
bestimmen das Weltbild der autoritären Persönlichkeit,
alles Abweichende und Schwache wird verachtet, sie fühlt
sich von Feinden umzingelt, wittert überall Unrat, Verderben, vor allem sexuelle Ausschweifungen. Dazu kommt
ein ausgeprägtes hierarchisches Denken, die Unterwerfung unter Autoritäten der eigenen Gruppe, starre Kategorisierung von Richtig und Falsch, Gut und Böse – alles
dazwischen, alles Ambivalente, Sensibilität und Fantasie
sind verdächtig. Dabei kommt es zu einer radikalen und
stereotypen Fehlwahrnehmung der Realität.
Dabei muss berücksichtigt werden, dass dieser „autoritäre Charakter“ durchaus ambivalent reagiert: Die
blinde Unterwerfung unter einen Führer, einen Staat, eine
akzeptierte Macht erwartet im Gegenzug jedoch auch die
Gewährung von Sicherheit und sozialer Absicherung.
Ist diese nicht mehr gewährleistet, wird die Führung als
„schwach“ erlebt, und vermittelt sie den Eindruck, nicht
mehr den Prozess steuern zu können, so muss die Rückkehr zu überschaubaren Regeln und Normen eben mit
Gewalt erzwungen werden. Teile der Af D-Basis können
sich also sehr gut noch weiter radikalisieren.
Dass diese verbreitete Erwartungshaltung an den Staat
in Ostdeutschland mit der DDR-Vergangenheit traditionell stark ausgeprägt ist, ist evident. Aber auch die besser
verdienenden Schichten der Lohnabhängigen haben eine
ähnliche Haltung entwickelt: Man folgt der Organisation,
solange sie etwas „rausholt“.
Es bleibt festzuhalten: Die Af D ist keine „Eintagsfliege“ und wird auch so schnell nicht mehr verschwinden.
Unser Kampf muss vielfältig ausgefächert vorgehen. Gegen alle Formen der „Ideologien“ menschlicher Ungleichheit ist der Kampf hartnäckig und dauerhaft zu führen.
L I N K E R E G I E RU N G S B E T E I L I G U N G
EIN NEUER ANLAUF:
DIE LINKE IN BERLIN ALS
REGIERUNGSPARTEI
Wir dokumentieren im Folgenden die Kritik der
Antikapitalistischen Linken in der LINKEN-Berlin am Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen
und der LINKEN, der mit der Aufforderung
schließt, bei der Mitgliederbefragung zum Koalitionsvertrag mit Nein zu stimmen. Obwohl sich
auf den kollektiven Diskussionsveranstaltungen
in den Bezirken sehr viele Kritik- und Neinstimmen zu Wort meldeten, war die individuelle Mitgliederabstimmung erwartungsgemäß eindeutig
für den Regierungsvertrag. Gut 4000 Mitglieder
stimmten mit Ja (89 Prozent), lediglich gut 400
stimmten mit Nein.
Thies Gleiss
„
Seit dem 8. Dezember 2016 gibt es nach Thüringen und
Brandenburg eine weitere Regierung mit Beteiligung der
LINKEN, und zwar in Berlin.
Diese Regierungsbeteiligung ist in mehrfacher Hinsicht von besonderer Bedeutung. Erstens gibt es heftige
Anstrengungen von Kräften in der SPD, den Grünen und
der LINKEN ein „rot-rot-grünes“ Regierungsprojekt
auch für die Bundestagswahl 2017 interessant zu machen.
Zurzeit sind die drei Parteien in den Umfragen zwar weit
von einer Parlamentsmehrheit entfernt und die Debatten
zu „R2G“ finden im blutleeren Raum des parlamentarischen Hinterbänklertums statt, orchestriert von solchen
nicht gerade breitenwirksamen Einrichtungen wie dem
Institut Solidarische Moderne, aber mit einem neuen praktischen Experimentierfeld in der realen Politik entstehen
neue Illusionen, dass „Rot-Rot-Grün“ doch zu einem
gesellschaftlichen Projekt wird, getragen von einer breiten
politischen Wechselstimmung in den Betrieben, bei den
sozialen Bewegungen und in den Stadtteilen.
Zweitens ist die SPD-LINKE-Grünen-Regierung zumindest für zwei der Parteien die Fortsetzung eines zehnjährigen Regierungsabenteuers in Berlin, das politisch und
wahlpolitisch zu einem Fiasko wurde, insbesondere für die
LINKE, die ihre WählerInnenschaft mit dieser Regierung
des Sparens, Kürzens und Sozialabbaus glatt halbiert hat.
Jetzt schauen alle auf die Neuauflage der LINKEN-Beteiligung und es klingen die Versprechen in allen Ohren, es
jetzt wirklich besser zu machen.
Und drittens schließlich ist dies die erste Regierungsbeteiligung der LINKEN in einem zumindest halben
Westbundesland, also nicht in den Erblandschaften der
PDS im Osten. Bereits die frühere SPD-PDS-Regierung
in Berlin war ein großer Prüfstein bei der Herausbildung
der neuen Partei DIE LINKE. Auch diese neue Regierung wird mehr als die Regierungsbeteiligungen in den
Ostländern zu einer Belastungsprobe der jetzt zehn Jahre
alt werdenden Partei DIE LINKE. Entsprechend hoch sind
die Erwartungen an die Regierung, wie ihre Beobachtung
scharf sein wird.
Viele Mitglieder der Internationalen Sozialistischen
Organisation (ISO) arbeiten in der LINKEN mit. Sie und
viele andere teilen die Kritik der AKL am Koalitionsvertrag. Wer in eine solche Regierung eintritt, wird immer
für die Gesamtheit der Regierungspolitik in Mithaftung
genommen. Diese schon von Rosa Luxemburg erhobene
Mahnung ist heute in Berlin brandaktuell. Wer nur die
wenigen guten Teile der Regierungsplattform unterstützen kann und will, sollte es lieber mit einem Modell der
Tolerierung einer Minderheitsregierung versuchen – am
besten ohne Tolerierungsabkommen, sondern als Projekt
der wechselnden Mehrheiten, bei dem die LINKE nur
dem zustimmt, was in ihren Augen zustimmungsfähig
ist. Bei einer Zukunft von vielleicht sieben Parteien im
Bundestag von 2017 (so sehen es die aktuellen Umfragen)
die internationale 1/2017 27
L I N K E R E G I E RU N G S B E T E I L I G U N G
ist eine solche parlamentarische Taktik sicherlich auch auf
Bundesebene eine ernste Debatte wert.
In früheren Zeiten - wir denken an die Regierungsbeteiligung von Linken in Frankreich, Italien, selbst 1998 in
Deutschland mit dem SPD-Grünen-Wahlsieg und sogar
an die erste Berliner PDS-Regierungsbeteiligung – gab
es das, was die WahlforscherInnen „Wechselstimmung“
nannten. Eine linke Analyse würde eher von einer gewissen Politisierung des Klassenbewusstseins sprechen, sowohl
der ArbeiterInnen- als auch der KapitalistInnen-Klasse.
Nach den damaligen Wahlerfolgen gab es Freudenreaktionen, Straßenaktionen und eine linke Auf bruch- und
Partystimmung. Auf der anderen Seite formierte sich das
Bürgertum mit Angstkampagnen und Drohungen mit
Kapitalflucht und Investitionsstreik – zu denen es teilweise
auch kam.
Heute ist in Berlin davon keine Spur. Die politische
Klasse und ihre Medien gehen angesichts der neuen „rotrot-grünen“ Regierung zur Tagesordnung über und den
Massen in Betrieben und Stadtteilen ist es egal. Kaum eine
der in Berlin durchaus aktiven sozialen Bewegungen ist
angesichts der neuen Regierung in politische Erregung
versetzt worden. Der Grund ist so banal wie eingängig:
Zumindest ein „Rot“ in dieser Koalition ist schon lange
nicht mehr rot und das „Grün“ ist nicht mehr grün. SPD
und Grüne sind Technokraten der bürgerlichen Krisenverwaltung, ihr Personal ist verschlissen, korrupt und
mehr am persönlichen Fortkommen als an irgendwelchen
politischen Grundsätzen interessiert. Und auch das zweite
„Rot“, die LINKE, hat fleißig am Image zu arbeiten,
eine „etablierte Partei“ wie alle anderen auch zu sein.
Schon eine so kleine Angelegenheit wie die Berufung des
bekannten linken Stadtplaners und Gentrifizierungskritikers Andrej Holm zum Staatssekretär bei der Senatorin für
Wohnungsbau hat die spießig-biedere Grundstimmung
in der Koalition aufgemischt. Das Ende in dieser Sache ist
noch offen, und wenn die LINKE in dieser Personalfrage
noch umkippen sollte, könnte die neue Regierungserfahrung der LINKEN schon gleich nach Beginn im Elend
enden.
20.12.2016
28 die internationale 1/2017
L I N K E R E G I E RU N G S B E T E I L I G U N G
WARUM WIR MIT NEIN
STIMMEN
Stellungnahme der Antikapitalistischen Linken
Berlin zum Koalitionsvertrag von Rot-Rot-Grün
in Berlin
Die Verhandlungsteams von SPD, Grüne und DIE LINKE
haben sich auf einen Koalitionsvertrag in Berlin geeinigt.
Dieser enthält viele Absichtserklärungen, von denen
jedoch auch vieles unter Finanzierungsvorbehalt steht.
Die Projekte, die der mögliche Senat unabhängig von der
finanziellen Situation umsetzen will, reichen bei Weitem
nicht aus. DIE LINKE verpflichtet sich darüber hinaus,
im Abgeordnetenhaus stets einheitlich abzustimmen und
Anträge nur gemeinsam einzubringen (S. 248). Wenn
DIE LINKE damit Teil der Verwaltung der geschaffenen
Sachzwänge wird, kann sich die berechtigte Wut der Menschen Berlins an sozialen Missständen und Verdrängung in
Zukunft auch gegen DIE LINKE richten. Das wird bittere
Folgen haben.
Wenig ist viel zu wenig
Es gibt keine Koalitionsvereinbarung, in der keine Verbesserungen versprochen werden. Wir begrüßen ausdrücklich
die Maßnahmen zur Abschaffung sexistischer Werbung im
öffentlichen Raum, die Ächtung des racial profilings bei
der Polizei, den Ausbau der Fahrradwege, die Förderung
des Schulneubaus bzw. der -sanierung und die Senkung
der Kosten für das Sozialticket, um nur einige Beispiele zu
nennen.
Der gesamte Text wimmelt jedoch von Wendungen wie „wir werden jenes prüfen“, „wir wollen dieses
kritisch evaluieren“ oder „im Rahmen der rechtlichen
Regelungen streben wir an“. Am Beispiel der Regierung
in Thüringen haben wir gesehen, dass Papier geduldig ist
oder versprochene Maßnahmen wie der Winterabschiebestopp nach wenigen Monaten wieder kassiert wurden.
Die meisten Maßnahmen stehen unter Haushaltsvorbehalt – im Angesicht der hohen Verschuldung Berlins, der
wirtschaftlichen Lage und der ab 2020 greifenden Schuldenbremse, ist offen, wie viel davon am Ende umgesetzt
wird. Dennoch werden auf den Seiten 87 und 88 Projekte
genannt, die von einem generellen Haushaltsvorbehalt
ausgenommen sind. Das sind zwar Schritte in die richtige
Richtung, sie reichen aber bei Weitem nicht aus, um die
Lebenssituation der Berliner*innen generell zu verbessern.
Für uns bemessen sich Verbesserungen auch nicht an dem
vorherigen Senat, sondern an dem Notwendigen.
Im Konkreten
Der Neubau von 30 000 Wohnungen durch die städtischen
Wohnungsbaugesellschaften, darunter nur 15 000 Wohnungen für WBS-Berechtigte, innerhalb der nächsten fünf
Jahre sind ein Tropfen auf den heißen Stein und stehen
auch im Widerspruch zu der Absicht, Geflüchtete dezentral in Wohnungen unterzubringen. Derzeit fehlen mehr
als 100 000 preisgünstige Wohnungen in Berlin, Tausende
Wohnungen werden in den nächsten Jahren aus der Sozialbindung fallen. Es ist absehbar, dass die Wohnungsnot
unter Rot-Rot-Grün in Berlin erhalten bleibt.
Im Öffentlichen Dienst sollen netto ungefähr 1000
neue Stellen jährlich entstehen – gemessen an 35 000
abgebauten Stellen unter zehn Jahren Rot-Rot herzlich
wenig. Auch dies wird nicht zu einer spürbaren Entlastung
führen. 100 Mio. Euro für Schulneubau und -sanierung
sind (notwendige) Investitionen in Beton, Berlin braucht
aber zusätzlich deutlich mehr Lehrer*innen, zudem
müssen viel mehr Stellen für Sozialarbeiter*innen und
qualifiziertes pädagogisches Personal an Schulen geschaffen werden. Gymnasien bleiben erhalten. Dadurch werden
Gemeinschaftsschulen zwangsläufig geschwächt und abgewertet. Der Betreuungsschlüssel in den Kitas wird nicht
verbessert. Die Bundeswehr und der Verfassungsschutz
dürfen weiterhin an Schulen werben. Die Erhöhung des
Mindestlohns von 16 Cent im Vergleich zum Bund ist der
Rede nicht wert. Die Prüfung einer stufenweisen Erhöhung des Pensionsalters für Beamte ist ein Skandal. Wie
sollen wir für eine Absenkung des Renteneintrittsalters im
Bundestagswahlkampf streiten, wenn DIE LINKE eine
Erhöhung in Berlin in Aussicht stellt? Abschiebungen von
Geflüchteten wird es auch mit der LINKEN geben – wenn
auch vielleicht etwas weniger. Es wird kein ausreichendes
Nachtflugverbot beim BER geben. Die Formulierung auf
die internationale 1/2017 29
L I N K E R E G I E RU N G S B E T E I L I G U N G
Seite 55 zum Betrieb der S-Bahn nach Auslaufen des Verkehrsvertrags lässt für uns die Frage offen, ob damit auch
eine Teilprivatisierung des Betriebs möglich wird, wie ihn
Teile der SPD schon länger vorantreiben.
Auch wenn Kleinigkeiten abgemildert werden sollen: Die Ärmeren werden weiterhin mit Strom- und
Gassperren, mit Sanktionen beim Job-Center, mit EinEuro-Jobs etc. gedemütigt. Merkwürdig ist zudem, dass
im Koalitionsvertrag überdurchschnittlich viel Geld
in den personellen und materiellen Ausbau der Polizei
fließen wird. Bodycams und Anti-Terror-Training sowie
ein größeres Aufgebot an Polizist*innen sollen die Sicherheit Berlins gewährleisten. Das wird nicht nur, aber
auch unsere Verbündeten, die sozialen Bewegungen, die
Klima-Aktivist*innen, die Streikenden usw. und letztlich
auch uns selbst auf Kundgebungen, Demonstrationen oder
Protestaktionen des zivilen Ungehorsams treffen. Die Antwort der LINKEN auf Unsicherheit muss immer ein Mehr
an sozialer Sicherheit und nicht der Auf bau des bürgerlichen Staatsapparats sein.
Für uns unverständlich werden die Reichen und Konzerne geschont, denn auf die Erhöhung der Gewerbesteuer
und der Grunderwerbssteuer wird verzichtet.
Ab dem 8. Dezember würde DIE LINKE für alles in
Mithaftung genommen, was in Berlin schief läuft. Die
Glaubwürdigkeit der Partei steht damit auf dem Spiel.
Dies sind nur einige Punkte des Koalitionsvertrags, die
eine Ablehnung dringend erfordern. Von einem Politikwechsel kann keine Rede sein.
Mit der Sachzwanglogik des Systems brechen
DIE LINKE würde mit diesem Koalitionsvertrag neoliberale Bundesgesetze und Sachzwänge des Kapitalismus
akzeptieren. Sie würde damit das Hartz-IV-Regime
auf Landesebene nicht ablehnen, sie würde für einen
Mindestlohn stimmen, der die arbeitende Bevölkerung
später in Altersarmut treibt, sie würde an der Schuldenbremse im Land festhalten, sie würde den Verfassungsschutz nicht abschaffen. DIE LINKE müsste sich auch an
Abschiebungen beteiligen – nicht einmal ein Winterabschiebestopp wurde in das Vertragswerk aufgenommen.
Die wenigen finanziellen Möglichkeiten, die auf Landesebene existieren, um Reiche und Konzerne zu besteuern, werden nicht ergriffen (von der Weiterzahlung der
Zinsen an die Banken mal ganz zu schweigen). Dabei
muss auch klar sein, dass Koalitionsverträge immer
äußerst positiv geschrieben sind. So las sich der Regierungsvertrag von Rot-Grün auf Bundesebene von 1998,
30 die internationale 1/2017
als würden paradiesische Zustände ausbrechen. Aber auf
warme Worte wie „Außenpolitik ist Friedenspolitik“ in
den Vereinbarungen folgte eine brutale Kriegspolitik in
der Regierungsrealität.
DIE LINKE darf sich die Möglichkeit der Kritik am
Bestehenden jedoch nicht nehmen lassen. Die Abgehängten und Ausgestoßenen dieser Gesellschaft brauchen eine
unbequeme LINKE, die ihre Interessen im Parlament artikuliert, anstatt ihr Elend mitzuverwalten. Daher muss DIE
LINKE den sozialen Protest auf bauen und den Widerstand
gegen Neoliberalismus und Ausgrenzung formieren. Sie
darf sich nicht zur Steigbügelhalterin von SPD und Grünen machen lassen.
Das Scheitern der LINKEN im Senat und ihre Folgen
Sollte DIE LINKE diesem Vertrag zustimmen, wird die
Opposition, die notwendige Kritik am Bestehenden (und
auch am Senat) dem Gruselkabinett aus Af D, CDU und
FDP überlassen. Dass CDU und FDP wahrlich keine oppositionellen Parteien sind, ist den meisten klar. Dennoch
kann sich in dieser Horrorkonstellation die Af D weiter
als Anti-System-Partei aufspielen. Die rassistischen und
neoliberalen Deutungsmuster werden nicht geschwächt,
sie werden tendenziell gestärkt, wenn der Frust der Menschen mit der Situation anhält, es aber keine linke Opposition mehr gibt. Wenn DIE LINKE von der Mehrheit
zum etablierten Parteienkartell zugerechnet wird, weil
sie eine Senatspolitik mitträgt, die den Menschen keine
grundlegenden Verbesserungen beschert, werden sich die
Wähler*innen bestenfalls komplett von der Politik abwenden, schlimmstenfalls freuen sich aber die Rechten über
Zulauf. Die Erosion der Parteien der sogenannten Mitte
hat längst begonnen. Ehemalige Volksparteien fallen bei
Wahlen ins Bodenlose – zu Recht! Auf lange Sicht kann
DIE LINKE nur gewinnen, wenn sie standhaft, ehrlich
und rebellisch bleibt. Wir sind davon überzeugt, dass DIE
LINKE an der Seite von Bewegungen mehr erkämpfen
kann – ohne dass wir für neoliberale Sachzwangpolitik
verantwortlich gemacht werden.
Liebe Genoss*innen, lasst uns widerständig
bleiben! Stimmen wir der Beteiligung unserer
Partei am Berliner Senat nicht zu.
BUCHBESPRECHUNG
REVOLUTIONÄRE ANNÄHERUNG.
UNSERE ROTEN UND SCHWARZEN
STERNE
Beide Autoren sind seit vielen Jahren in den sozialen
Bewegungen in Frankreich aktiv. Olivier Besancenot,
Briefträger, war 2002 und 2007 französischer Präsidentschaftskandidat der trotzkistischen LCR (Ligue communiste révolutionnaire) und war 2009 Gründungsmitglied
der NPA (Nouveau Parti Anticapitaliste). Michael Löwy
ist marxistischer Sozialwissenschaftler mit vielen Publikationen, die zum Teil auch auf Deutsch vorliegen, zuletzt
2016 das Buch „Ökosozialismus. Die radikale Alternative zur
ökologischen und kapitalistischen Katastrophe“.
Die Zielsetzung der Autoren
Schriften der Arbeiter/innenbewegung berichten von den
Uneinigkeiten, Konflikten und Auseinandersetzungen
zwischen Marxist/innen und Anarchist/innen. Anhänger/
innen beider Strömungen haben nicht selten theoretische
oder historische Arbeiten verfasst, um die Gegenspieler/
innen anzuprangern. Ein recht bekanntes Beispiel ist
Stalins: Anarchismus oder Sozialismus? (1907). Der spätere
Generalsekretär der KPdSU schreibt darin: „Wir sind der
Auffassung, dass die Anarchisten richtige Feinde des Marxismus sind. Wir erkennen also auch an, dass man gegen
richtige Feinde einen richtigen Kampf führen muss.“
Besancenot und Löwy distanzieren sich ausdrücklich
von dieser destruktiven Tradition: „Ziel unseres Buches
ist das genaue Gegenteil…“: „Wir hoffen, die Zukunft wird
rot und schwarz sein: der Antikapitalismus, der Sozialismus
oder Kommunismus des 21. Jahrhunderts wird aus diesen
beiden Quellen der Radikalität schöpfen müssen. Wir
wollen einige Samen eines libertären Marxismus streuen,
in der Hoffnung, dass sie auf fruchtbaren Boden fallen, dass
sie wachsen und gedeihen.“
Inhalt/Themen
Marxistische und anarchistische Strömungen gehörten in
den revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts zu
den dynamischsten Kräften der sozialrevolutionären Bewegungen –zeitweise im Bündnis miteinander, aber auch
in unerbittlicher Gegnerschaft.
Im ersten Teil ihres Buches stellen B. und L. knapp dar:
die Erste Internationale und die Pariser Commune
(1871), den Ersten Mai und die Märtyrer von Chicago
(1886), den Syndikalismus und die Charta von Amiens
(1906), die Revolution in Spanien (1936-1937), den Mai
68, die Entwicklung von der globalisierungskritischen
Bewegung zu den Indignad@s.
Es folgt eine Reihe von Porträts libertärer Kämpfer/
innen: Louise Michel (1830-1905), Pierre Monatte (18811960), Rosa Luxemburg (1870-1919), Emma Goldman
(1869-1940), Buenaventura Durruti (1896-1936), Benjamin Péret (1899-1959) und Subcomandante Marcos (geb.
1957).
In einem zweiten Teil diskutieren die Autoren „Gemeinsamkeiten und Konflikte“: die Russische Revolution,
Kronstadt und Machno.
In einem dritten Teil stellen sie drei marxistisch-libertäre Theoretiker dar: Walter Benjamin (1894-1940), André
Breton (1896-1966) und Daniel Guérin (1904-1988).
Im vierten und letzten Teil diskutieren sie politische
Fragen, die zwischen Anarchisten und Marxisten strittig
sind, in der Perspektive einer möglichen Einigung: Individuum oder Kollektiv? Die Revolution machen, ohne die
Macht zu übernehmen? Autonomie oder Föderalismus?
Demokratische Planung oder Selbstverwaltung? Direkte
oder repräsentative Demokratie? Gewerkschaft oder Partei? Ökosozialismus oder libertäre Ökologie?
Sie beenden ihr Buch mit dem Plädoyer: „Für einen
libertären Marxismus!“
Mängel
Leider enthält das Buch ein paar unnötige Mängel:
etwa die wenig glückliche deutsche Übersetzung des
Titels; kein Inhaltsverzeichnis trotz vieler Kapitel und
Unterkapitel; gelegentliche sprachliche Mängel (von denen
ich nicht feststellen kann, ob sie auf die Autoren oder die
Übersetzer/innen zurückgehen, da mir das französische
Original nicht zugänglich ist) – so wird etwa Rosa Luxemdie internationale 1/2017 31
BUCHBESPRECHUNG
burgs Satz über die Freiheit, die immer nur die Freiheit des
anders Denkenden ist, sehr unangemessen, wie ich finde,
als „hübscher Satz“ charakterisiert.
Wenig überzeugend finde ich auch die Ernennung
von Walter Benjamin und André Breton zu „marxistischlibertären Theoretikern“. Das Wenige von Benjamin und
Breton, das - schwerstverständlich formuliert - in diese
Tradition gehört, scheint mir kein Beitrag zu sein, mit dem
sich die Zielsetzung oder die Strategie revolutionär-sozialistischer Bewegungen verbessern ließe.
Warum die beiden Autoren das marxistische Konzept
einer sozialistischen Ökonomie „jenseits des Mangels“ –
eine Möglichkeit, die von anarchistischer Seite keineswegs
bestritten, sondern vielmehr geteilt wird – für illusorisch
erklären, und zwar ohne ernsthaft zu argumentieren, ist
mir unverständlich.
Schließlich: Es trifft nicht zu, dass Besancenot und
Löwy mit ihrem Buch „eine Diskussion eröffnen“. Sie führen vielmehr eine Diskussion fort, wie etwa ihre intensive
Bezugnahme auf den libertären Marxisten Daniel Guérin
klar zeigt. Und bereits 1925 stellte der anarchistische Historiker des Anarchismus, Max Nettlau, die Frage:
„Müssen die Kämpfe zwischen den autoritären und den
freiheitlichen Richtungen auch erst Jahrhunderte dauern,
um dann wie einst das Theologengezänk beiseitegeschoben zu werden? Oder hat man den Willen, ist man imstande, aus jenem warnenden Beispiel zu lernen?“
Fazit
Trotz der genannten Mängel ist das Buch durchaus lesenswert, weil es – verständlich geschrieben – von inhaltlichem Reichtum ist und konstruktiv mit den vorhandenen
Gegensätzen und Konflikten umgeht.
Olivier Besancenot/Michael Löwy: Revolutionäre Annäherung. Unsere roten und schwarzen Sterne. Die Buchmacherei, Berlin 2016, 167 Seiten, 12 €
J.-F. Anders
TROTZKI-SAMMLUNG IN DER DARMSTÄDTER UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEK
In der Darmstädter Universitäts- und Landesbibliothek (ULB) ist
den Internet-Link https://hds.hebis.de/ulbda/Search/Results?lo
seit Mai 2016 eine ca. 3.000 Bände umfassende Sammlung von
okfor=Trotzki&trackSearchEvent=Einfache+Suche&type=allfiel
Büchern und von etwa 50 Zeitschriften zu den Themen Trotzki,
ds&service=catalog angesteuert werden kann oder indem man
Trotzkismus, Russische Revolution, Sowjetunion, Stalinismus
(über Google) „ULB Darmstadt“ anklickt, im Katalog TUFind die
etc. verfügbar. Diese „Trotzki-Sammlung“ besteht zum einen
Rubrik „Erweiterte Suche“ auswählt und dann im Signaturen-
aus der Literatur, die für die Herausgabe der deutschsprachigen,
Feld trotzki/* für den Gesamtbestand oder trotzki/j:* nur für den
kommentierten Trotzki-Schriften-Edition erforderlich war, von
Zeitschriftenbestand eingibt.
der (im Verlag Rasch & Röhring bzw. später im ISP-Verlag) bisher
Unter den in der Sammlung vorhandenen Zeitschriften befin-
sieben Teilbände (mit einem Gesamtvolumen von etwa 4.500
den sich u. a. die Cahiers Léon Trotsky (1979-2003), die Critique
Seiten) erschienen sind. (Drei weitere Bände sind in Vorbereitung.)
communiste (1975-2009), Inprekorr (1971-2010), die interna-
Ergänzt wird dieser Bestand durch den Nachlass Rudolf Segalls,
tionale (1968-1983), was tun (1968-1986), Express internati-
der seltene Trotzki-Ausgaben und vor allem eine Reihe von trotz-
onal (1962-1972), International Socialist Review (1956-1975),
kistischen und linkssozialistischen Zeitschriften gesammelt hat.
Sozialistische Politik (1954-1966), Pro und contra (1949-1954),
Die Sammlung ist im neuen Bibliotheksgebäude in der Stadtmitte
Fourth International (1940-1956), Gegen den Strom (1928-
(Magdalenenstraße 8, D-64289 Darmstadt, Tel.: 0049-6151
1985), New International (1934-1940), Permanente Revolution
16-76211) separat aufgestellt worden. Die dazu gehörigen Bücher
(1931-1933), Der Marxist (1931-1932), Bjulleten’ opposicii
und Zeitschriften können nicht ausgeliehen, sondern nur in einen
(1929-1941), Contre le courant (1927-1929), Russische Korres-
der Lesesäle bestellt werden. (Die Bibliothek stellt 850 Lese- und
pondenz (1920-1922), Archiv für die Geschichte des Sozialismus
Arbeitsplätze, Einzelarbeits- und Gruppenarbeitsräume zur
und der Arbeiterbewegung (Grünberg-Archiv) (1911-1930).
Verfügung.) Sämtliche Bücher und Zeitschriften der Sammlung
sind im Online-Katalog der ULB erfasst, der entweder direkt über
32 die internationale 1/2017
H. Dahmer, Wien, 7. 11. 2016
D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E
DOSSIER:
PROTEKTIONISMUS IN DER
ARBEITERKLASSE
KÖNNEN
GRENZEN DIE
ARBEITERINNEN
SCHÜTZEN?
Ob Trump, Le Pen oder Brexit: Grenzen sind im
Trend. Ist der Protektionismus, den die Demagogen in ihren Reden oft in die Fremdenfeindlichkeit
einstreuen, nur reaktionärer Firlefanz? Oder kann
er für die Lohnabhängigen eine schützende oder
sogar fortschrittliche Funktion haben? Yann Cézard
Angesicht der politischen Konfusion, die diese Milliardäre stiften, indem sie der armen Bevölkerung zu ihrem
„Schutz“ Grenzen versprechen, kann ein wenig Materialismus nicht schaden. Das bedeutet, dass man sie nicht beim
Wort nimmt und stattdessen zu erfassen versucht, welche
Tendenzen der Kapitalismus aktuell aufweist und wohin er
sich entwickelt. In diesem Dossier geht Henri Wilno der
Frage des modernen Freihandels nach, Gérard Florenson
untersucht den Protektionismus in der Landwirtschaft und
Régine Vinon die Programme der „linken SouveränitätsbefürworterInnen“.
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit beschränken sich
nicht auf die verbale Ebene, sondern haben immer schonungslosere konkrete Auswirkungen. Müssen wir uns
darauf gefasst machen, dass die protektionistischen „Ver-
sprechen“ – wenn auch nur Schritt für Schritt – umgesetzt
werden? Entspricht die in Frankreich und anderenorts
immer häufiger zu hörende Forderung nach einem Zurück
zu Handelsschranken gewissermaßen einer realen Entwicklung des Kapitalismus, veränderten Erfordernissen von
maßgeblichen Teilen der Bourgeoisie? Kann es umgekehrt
einen Linksprotektionismus geben?
Die kapitalistische Globalisierung hält an
Manche Ökonomen versichern, wir erlebten heute eine Umkehr der großen wirtschaftlichen Globalisierungsbewegung,
die vor 30 Jahren begonnen hat. Das behauptet beispielsweise François Lenglet, berühmt für seine Rolle als scharfer
Wächter über den ökonomischen Konformismus auf dem
TV-Sender France 2. Zwar ist er weder der brillanteste noch
der intellektuell redlichste Ökonom, aber er ist sowas wie ein
Gradmesser für die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der
„bürgerlichen“ Ökonomie anerkannten Ansichten.
In seinem letzten Buch mit dem Titel „Das Ende der
Globalisierung“ – ohne Fragezeichen – beteuert er: „Die
Zeichen deuten immer klarer darauf hin: Die aktuelle Phase
der Globalisierung kommt an ihre Ende. Die in den 80erJahren mit dem weltweiten Börsensystem und dem Fall der
Berliner Mauer beginnende Globalisierung beruhte auf der
Utopie einer durch Freihandel vereinten, von Markt und
Demokratie gelenkten Welt. Doch heute erleben protektionistische Strömungen einen Wiederaufschwung (…). Wir
befinden uns am Ende eines Zyklus.“
Dabei fackelt er nicht lange. Tatsächlich folgt auf eine
massive und spektakuläre Entwicklung im Wachstum des
Welthandels (und der internationalen Kapitalflüsse) in den
letzten dreißig Jahren, die das Wachstum des globalen BIP
übertrafen (der Anteil des Welthandels am globalen BIP
stieg zwischen 1975 und 2002 von 7,7 auf 19,5 %), nun eine
Verlangsamung … dieses Wachstums, das hinter das BIP
Inprekorr 1/2017 33
D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E
zurückfällt. Eine Folge der Krise von 2008? Zweifellos, aber
vor allem das Ergebnis des Erfolgs der kapitalistischen Globalisierung selbst, die bereits so weit vorangeschritten ist, dass
sie logischerweise an eine Obergrenze stoßen muss, was sich
unter anderem darin äußert, dass die Staaten bei der Aushandlung neuer Freihandelsverträge kaum vorankommen.
Denn die internationale Segmentierung der Wirtschaft
lässt sich nicht unendlich ausbauen, die Dienstleistungen lassen sich nicht im gleichen Maß international organisieren wie
die Industrie, China muss zwangsläufig ein auf den eigenen
Binnenkonsum orientiertes Wachstumsmodell zu entwickeln
versuchen und die Durchlässigkeit der Märkte der reichen
Länder für Waren der Schwellenländer stößt an Grenzen.
Doch eine wirkliche Umkehr in Bezug auf das globalisierte
Funktionieren der Wirtschaft gibt es nicht. Keine Hinterfragung der internationalistischen Strukturierung der Multis,
der Marktöffnung der reichen Länder für Industrieerzeugnisse aus armen industrialisierten Ländern, der Überflutung der
armen Länder durch ausländische Lebensmittel und erst recht
nicht der freien Kapitalzirkulation etc. Eine Umkehr der kapitalistischen Globalisierung findet nicht statt, wohl aber eine
Verlangsamung und Neukonfigurierung.
Die Demagogen nicht beim Wort nehmen
Was ist also davon zu halten, wenn manche amerikanischen
und europäischen PolitikerInnen wie Trump oder die britischen Brexit-Betreiber mit nationalistischen Äußerungen
um sich schlagen, obwohl sie der Großbourgeoisie angehören? Natürlich wollen sich diese politischen Abenteurer
über die Demagogie den Weg zur Macht bahnen, und sie
wissen, dass der übliche Diskurs des bürgerlichen Establishments, wonach es nötig sei, sich unter Blut und Tränen der
Globalisierung, dem verallgemeinerten Freihandel und der
internationalen Konkurrenz anzupassen, die als unvermeidliche Naturphänomene hingestellt werden, fast nur noch
Widerwillen hervorrufen. Doch wir sollten sie nicht beim
Wort nehmen. Bislang hat kein maßgeblicher Sektor der Bourgeoisie in
Europa oder den Vereinigten Staaten die Absicht, den gegenwärtigen Freihandel infrage zu stellen. Denn die kapitalistische Globalisierung ist ein „Glücksfall“ oder eine „Chance“
für die herrschenden Klassen, und das aktuelle Funktionieren des seit jeher auf Freihandel und freie Zirkulation des Kapitals gestützten Systems hat ihm immense Profite beschert,
indem es den Unternehmen erlaubt hat, alle Ressourcen der
Welt und vor allem die Menschen besser auszubeuten und
zudem die ArbeiterInnen, die Staaten und die Sozialsysteme
weltweit gegeneinander auszuspielen.
34 Inprekorr 1/2017
Dagegen werden die Großhändler des nationalistischen
Giftes nichts unternehmen. Das vertuschen die BrexitBetreiber auch nicht. Sie haben eine Überwindung der
„europäischen Gesetze“ versprochen und vor allem den
Einwanderungsstopp von MigrantInnen aus Osteuropa, sich
aber gleichzeitig zum Freihandel bekannt. Sie behaupten, es
sei möglich, beides zu bekommen: Das Ende der Personenfreizügigkeit und den Zugang zum europäischen Markt für
britische Dienstleistungen und Waren, und dass Großbritannien sogar freier wäre, neue Freihandelsverträge mit dem
Rest der Welt auszuhandeln. Nicht die Hinterfragung der
Tugenden des Freihandels prägte die Brexit-Kampagne, sondern Fremdenfeindlichkeit. Und wenn ein Teil des Politpersonals der britischen Bourgeoisie gegen die Empfehlungen
des Großkapitals und der Hochfinanz in der City of London
für den Brexit geworben hat, dann deshalb, weil der Austritt
aus der Europäischen Union für den britischen Kapitalismus
nicht dieselben Probleme aufwirft wie für Deutschland,
Frankreich oder Spanien.
Anders liegt es beim Wahlkampf von Donald Trump:
Er verspricht gleichzeitig, mexikanische MigrantInnen zu
vertreiben und chinesische Produkte zu besteuern. Wetten
wir, dass das erste „Versprechen“ eher Chancen hat, ansatzweise umgesetzt zu werden, als das zweite, und auch dann
wird es (zum Glück) wenigstens teilweise gebrochen werden,
denn die amerikanische Bourgeoisie (und selbst das Kleinbürgertum) wären nicht glücklich, ganz auf diese übermäßig
ausbeutbaren Arbeitskräfte verzichten zu müssen. Davon
weiß der Immobilien- und Kasinomagnat Trump ein Lied
zu singen. Trump lügt also schamlos, was ihn in unserer Klassifizierung von bürgerlichen Politmonstern in die Nähe des
Front National rückt. Die rechtsextreme französische Partei
verspricht ebenfalls eine sowohl protektionistische als auch
fremdenfeindliche Politik und präsentiert beide stets als
zwei Seiten einer Medaille, gegen die „Globalisierer“. Diese
massive Infragestellung des Freihandels (und der Europäischen Union) kann sich die Partei auch deshalb erlauben,
weil sie sich relativ weit weg von der Regierungsmacht
sieht. Dagegen beginnt sie diese Propaganda immer mehr
aufzuweichen, je mehr sie Wahlerfolge erzielt und in Umfragen gut abschneidet: Marine Le Pen spricht inzwischen
von „intelligentem Protektionismus“ …
Die neuen Grenzen der kapitalistischen
Globalisierung
Auch wenn die Bourgeoisie genauso wenig wie Milliardäre
und Politdemagogen à la Trump drauf und dran ist, den
D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E
gegenwärtigen Freihandel radikal infrage zu stellen, lässt
sich dieser doch vereinbaren mit dem Errichten neuer politischer Grenzen und, wie man heute sieht, sogar mit Tausenden von Kilometern Stacheldraht und Wachtürmen.
Diese traurige Feststellung macht Régis Debray in dem
2010 veröffentlichten, im Übrigen betrüblichen Büchlein
„Eloge des Frontières“ (Lob der Grenzen, S. 18): „Nie zuvor
wurden auf der Erdoberfläche so viele Grenzen gezogen
wie in den letzten fünfzig Jahren. Seit 1991 wurden 27 000
Kilometer neue Grenzen gezogen, speziell in Europa und
Eurasien. Für die nächsten Jahre sind zehntausend weitere raffinierte Mauern, Barrieren und Zäune geplant (…).
Ein obszönes Fossil, diese Grenze, die sich aber wie wild
gebärdet.“
Die kapitalistische Globalisierung ist mit dieser Entwicklung nicht nur nicht unvereinbar, sie leistet ihr sogar
Vorschub. Der Kapitalismus, der sich weltweit überall frei
entfalten kann, wie und wo er will, spaltet die Völker,
vertieft Ungleichheiten, konzentriert Reichtum und Armut
und verdammt Millionen dazu, dem Elend in ihrem Land
zu entfliehen, um gegen die Stacheldrahtverhaue der reichen Länder anzurennen. Selbst die Europäische Union bietet innerhalb ihrer Grenzen zwischen den zugehörigen Völkern ein flagrantes Beispiel dafür. In der von der weltweiten
Schwäche der ArbeiterInnenbewegung entstandenen Leere
fassen natürlich auch Angehörige der herrschenden Klassen,
Zuträger und Nutznießer dieses Systems, und zwar nicht
nur auf der extrem rechten Seite, Fuß, um die dadurch
entstandene Verunsicherung der Lohnabhängigen auszunutzen. Deshalb diese Stacheldrahtzäune gegen Flüchtlinge,
die man sich gegenseitig zuschanzt; daher auch fast überall
der aufkommende Mikronationalismus der Reichen.
Der Aufstieg des „linken“ Protektionismus
Soll denn die Arbeiterklasse ihrerseits von der Wiederherstellung von Handelsgrenzen träumen, nur weil die
Bourgeoisie vorläufig die momentane Globalisierung
sicher nicht widerrufen will? Muss man nunmehr für den
Protektionismus eintreten, um „links“ zu sein? Auch wenn
dieser Begriff nicht mehr (bzw. noch weniger als früher)
besonders aussagekräftig ist, es sei denn, man versteht darunter, die Verteidigung der Gesamtinteressen der lohnabhängigen Bevölkerung. Ungeachtet ihrer Nationalität,
übrigens.
Bekanntlich versteht sich Mélenchon als Kandidat der
„französischen Unabhängigkeitsbewegung“ und Montebourg als jener des „Made in France“. François Ruffin,
Herausgeber der alternativen Zeitschrift Fakir, macht sich
für einen Protektionismus zur Verteidigung der ArbeiterInnen und ihrer Fabriken stark und der Ökonom Frédéric
Lordon für einen Linksnationalismus. Und diese Ideen
finden unter den ArbeiterInnen, insbesondere in Gewerkschaftskreisen, immer mehr Gehör.
Es geht hier nicht darum, alle über einen Kamm zu
scheren. In diesem Zusammenhang sei auf den Artikel von
Régine Vinon in diesem Dossier (s. u. S. 47ff.) verwiesen,
die beschreibt, welche möglichen politischen Abgründe
solche Vorstellungen eines „Linksprotektionismus“ hervorbringen können: wenn Mélenchon sich am Exporterfolg der Rafale1 berauscht, oder wenn der Ökonom Jacques
Sapir, Verfasser von „La Démondialisation“ (die Entglobalisierung) – ein Titel, den in der Folge Montebourg vor
fünf Jahren aufgegriffen hat –, vorschlägt, eine „Front
der Fronten“ zu bilden, also eine Querfront von Front de
gauche und Front national, um die nationale Souveränität
wiederherzustellen und danach im wiederhergestellten
nationalen Rahmen „tatsächliche Wahlmöglichkeiten“ zu
schaffen etc.
Es geht auch nicht darum, diese in der Arbeiterbewegung immer lebhafter geführte Diskussion vom Tisch
zu wischen, weil wir als internationalistische Revolutionäre auf keinen Fall für Grenzen an sich sein dürfen. Die
Zukunft der Menschheit kann nicht in der Wiederherstellung von Grenzen vergangener Zeiten liegen und der
wirtschaftliche und ökologische Fortschritt nicht in einer
allgemeinen Abkapselung, selbst wenn antikapitalistische
RevolutionärInnen in einer Zwangslage zunächst durchaus eine wirtschaftliche Abschottung vorsehen können,
wie dies beispielsweise das revolutionäre Russland getan
hat. Das zentrale Problem ist aber gerade, in dieser Frage
des Protektionismus einen Klassenstandpunkt herausfiltern
zu können, nämlich einen Standpunkt der ArbeiterInnenklasse, genauer gesagt, ihrer Interessen.
Offensichtlich gibt es keinen speziellen Grund für die
ArbeiterInnenklasse in Frankreich und anderen Ländern, an der kapitalistischen Globalisierung und dem
momentanen Freihandel zu hängen. Schon viel zu lange
verspricht man uns eine „glückliche Globalisierung“ im
Interesse (fast) aller etc. Wie es darum bestellt ist, wissen
wir wohl, denn die Finanzgruppen und Multis haben sich
hinreichend darum bemüht, diese neue Weltwirtschaft zu
errichten, um die ArbeiterInnen in aller Welt immer noch
mehr auszubeuten. Dasselbe lässt sich zwar nicht über „Europa“ an sich, aber über die real existierende Europäische
Union sagen, ein wirtschaftlich ausgesprochen neoliberales und politisch ausgesprochen autoritäres Konstrukt,
Inprekorr 1/2017 35
D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E
gewissermaßen das politische Verhandlungsergebnis einer
gewissermaßen „heiligen Allianz“ aus kapitalistischen
Großkonzernen, Banken und („deren“, wie man getrost
sagen kann) nationalen Regierungen.
Noch einmal soll der bereits hinlänglich zitierte François Lenglet zu Wort kommen, der, nachdem er von einer
„Ungleichheit generierenden Maschine“ in „permanenter
Krise“ mit nachweislich antidemokratischen Auswüchsen spricht, feststellt: „Der Globalisierung muss man nicht
nachtrauern. Trotz des unbestreitbaren Aufholeffekts in armen Ländern haben letztlich nur wenige davon profitiert.“
Wenn schon er das sagt … Wobei festzuhalten gilt, dass
nicht die Globalisierung selbst für alle Übel des Kapitalismus verantwortlich gemacht werden kann und es andererseits ihre kapitalistische Ausrichtung ist, die für ihre abschreckendsten Züge in sozialer und ökologischer Hinsicht
verantwortlich ist. Und dass sie sogar, wie Henri Wilno im
gleichen Dossier zeigt, reichlich ambivalent ist.
Trotzdem: Was würde es beispielsweise den ArbeiterInnen in Frankreich bringen, die protektionistischen
Thesen zu übernehmen?
Alstom – eine erhellende Affäre
Das französische Unternehmen beschließt, seine Fabrik in
Belfort zu schließen. 450 Stellen sind futsch. Ein schönes
Symbol der französischen Deindustrialisierung. Marion
Maréchal Le Pen (um der Einfachheit halber nur von ihr
zu sprechen) ergreift die Gelegenheit, um zu fordern, die
Aufträge von Bahn (SNCF) und Pariser Verkehrsbetrieben
(RATP) seien ausschließlich an Alstom zu vergeben. Der
„nationale Vorrang“ als Monopol eines Privatunternehmens, um Stellen zu retten. Die Absurdität des Vorschlags
springt ins Auge: Das kanadische Unternehmen Bombardier würde bei der Auftragsvergabe also ausgeschlossen …,
obwohl es die größte Fabrik für Eisenbahnausstattungen
in Frankreich betreibt? Allgemeiner gesprochen würde
eine solche nationale Exklusivität von Aufträgen natürlich
internationale Vergeltungsmaßnahmen nach sich ziehen.
Alstom würde im Gegenzug den Zugang zu ausländischen
Märkten verlieren, deren Volumen über dem des französischen Binnenmarktes liegt.
Deshalb haben Andere realistischere Maßnahmen
vorgeschlagen, wie beispielsweise ... der Gruppe durch neue
Aufträge oder Einschießen von öffentlichem Kapital zu
helfen, wenn nicht sogar längerfristig auf den Aufbau eines
Protektionismus auf europäischer Ebene hinzuwirken:
Europäische Aufträge für Eisenbahnmaterial sollten Unternehmen – ob europäisch oder nicht – vorbehalten sein, die
36 Inprekorr 1/2017
sich verpflichten, auf europäischem Boden zu produzieren,
ähnlich wie die US-amerikanische Regierung vorgegangen
ist, damit (eben) Alstom den riesigen Vertrag für die Hochgeschwindigkeitsstrecke Boston–Washington bekommt,
nämlich unter der Bedingung, dass die Züge an den amerikanischen Standorten des Konzerns gebaut werden.
So viel zur Schwierigkeit des Protektionismus in einer
sowieso globalisierten Wirtschaft … Was aber liegt all
diesen Vorschlägen gleichermaßen zugrunde? Das Eigentum und die Macht der Aktionäre der Alstom-Gruppe zu
hinterfragen, davon ist nie die Rede.
Die Alstom-ArbeiterInnen tun gut daran, in erster
Linie auf sich selbst zu setzen und auf die Unterstützung,
die sie in der Bevölkerung gewinnen können. Das wissen
sie selbst zur Genüge. Wer glaubt 2016 noch an die seinerzeitigen Versprechen der Sarkozys und Hollandes, die
Stahlwerke Gandrange und Florange zu retten? Demnach
müsste unabhängig von den wirtschaftlichen Unwägbarkeiten des Augenblicks die Erhaltung der Arbeitsplätze
durchgesetzt, also deren Finanzierung garantiert werden.
Aber dafür müsste man auf die internationalen Profite der
Gruppe zugreifen und sogar auf das Vermögen, das die
AktionärInnen jahrzehntelang auf unsere Kosten angehäuft haben.
Langfristig müsste eine radikale Änderung des Wirtschaftsapparats durchgesetzt werden, angefangen bei der
Beschlagnahmung von Alstom (oder deren Vergesellschaftung, Nationalisierung oder wie immer man es nennen
mag, solange dies unter Kontrolle der ArbeiterInnen und
der Bevölkerung geschieht und nicht unter Kontrolle von
Regierungen, die für die Bourgeoisie arbeiten). Langfristig wäre auf alle Fälle die Vergesellschaftung des ganzen
französischen Finanzsystems erforderlich, um die Produktion in den Dienst der Bevölkerung und ihrer sozialen und
ökologischen Interessen zu stellen.
Ansonsten erwartet die Angestellten von Alstom eine
traurige Alternative: Entweder es läuft so ab wie bei Continental, PSA, den lothringischen Stahlwerken und so vielen
anderen Fabriken in Frankreich, die trotz allgemeinen Unmuts (und der hochtönenden Reden der jeweils Regierenden) letztlich geschlossen wurden; oder Hollande, wenn er
bereits im Wahlkampf wäre, würde sich dazu durchringen,
„keine Kosten zu scheuen“ und konkret den PrivataktionärInnen von Alstom einen kleinen Geldbetrag in Form von
als Aufträge für Waggons getarnten Subventionen zukommen zu lassen, um Stellen zu sichern – für acht Monate.
Danach wäre wieder business as usual: Nach einer Übergangsphase mit „nationalem Kapital“ und „wirtschaftli-
D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E
cher Souveränität“, das heißt in Wirklichkeit öffentlichen
Subventionen für private kapitalistische Konzerne über begrenzte Zeit, wäre der Alstom-Leitung erneut freigestellt,
ihren Laden zur Generierung von Profit umzustrukturieren. Schließlich kann man die Stellen doch nicht unendlich
lange am Tropf der Steuergelder hängen lassen, nicht wahr
… So sieht die ganze Geschichte der französischen Industrie, allen voran des Alstom-Konzerns, aus!
Die Illusion eines nationalen Kapitalismus
Was für Alstom gilt, gilt für die gesamte Wirtschaft. Der
wiedergefundene, mit „intelligentem Nationalismus“ und
„wirtschaftlicher Souveränität“ gekreuzte „nationale Kapitalismus“ ist eine Falle. Das Problem ist nicht, zwischen
„reinem“ Liberalismus und staatlichen Subventionen für
Privatkonzerne, zwischen Freihandel und Protektionismus
etc. zu wählen. Nicht darum geht es, in einen Wettlauf um
die Wiederaufrüstung der Zölle einzusteigen, um Grenzen
für ausländische Waren zu errichten oder zu verstärken,
was zwangsläufig alle gleich machen würden, sondern
darum, dem Kapital Grenzen zu setzen. Das Recht einzuschränken (oder warum nicht ganz aufheben), nach
Belieben überall zirkulieren und nach Belieben entscheiden zu können, wo man produziert, Steuern und Beiträge
zahlt, ArbeiterInnen und Gebiete gegeneinander ausspielt,
sie ausbeutet und Profit erwirtschaftet.
Wenn PolitikerInnen, die ganz und gar hinter dem
Kapitalismus und den Interessen der herrschenden Klasse
stehen, protektionistische Argumente anführen, tun sie das
sehr bewusst. Sie nutzen sowohl Vorurteile als auch den
gut nachvollziehbaren Überdruss über das verlogene Geschwafel derer aus, die eine strahlende Zukunft in Aussicht
gestellt haben, sofern man sich nur den „modernen Zeiten“
des Freihandels, der Globalisierung „anpassen würde“ etc.,
und verschieben das Problem dorthin, wo es keine Lösung
gibt, oder zumindest nicht für die ArbeiterInnen. Genau
deshalb sprechen die nationalistischen Demagogen, die an
den Lippen der Bourgeoisie hängen, fast nie von dem, was
doch die Hauptstütze der gegenwärtigen Globalisierung
(und übrigens auch der Europäischen Union) ist: die Freizügigkeit des Kapitalverkehrs.
Wenn Intellektuelle, GewerkschafterInnen und PolitikerInnen, die sich als „links“ oder als „linksradikal“
verstehen, an diesem Diskurs anknüpfen (genauer gesagt:
diese Maßnahmen erwähnen, ohne eine davon untrennbare
radikal antikapitalistische Politik zu fordern), tragen sie, ob
naiv oder zynisch, dazu bei, dass die Probleme nicht dort
angepackt werden, wo es nötig wäre, und nehmen in Kauf,
dass sich das nationalistische Gift noch mehr ausbreitet. Was
nicht bedeutet, dass man den beschaulichen Agnostiker
spielen sollte, was den wahren Charakter der Europäischen
Union betrifft, oder sich nicht für den Kampf gegen den
TTIP-Vertrag interessieren sollte, der als Freihandelsabkommen die großen kapitalistischen Konzerne ja gerade
von allen Sozial- und Umweltauflagen befreien soll und ein
Schiedsgericht einführt, das den Multis erlauben würde,
Staaten verurteilen zu lassen, wenn sie ihre Profite einschränken, indem sie so unerträgliche, so totalitäre Regeln
einführen wie die Zahlung eines Minimums an Steuern
oder das Verbot, Menschen allzu sehr zu vergiften … Plan A, plan B ...
Dabei geht es gerade aber auch um „vorausschauende“
Alternativszenarien, Plan A und Plan B, was gerade im
Fall der Europäischen Union besonders krass zutage tritt.
Das „linke Souveränitätsdenken“ behauptet in gewisser
Weise nicht nur, dass es keine mit den aktuellen Institutionen der Europäischen Union vereinbare fortschrittliche,
die ArbeiterInnen schützende Politik geben kann, was ja
weitgehend zutrifft, sondern auch, dass man vorab als eine
Art „übergeordnete (und vorrangige) Notmaßnahme“
zuerst aus der EU austreten müsste. Danach würde wieder
alles möglich …
Ist es nicht gefährlich (und verantwortungslos), die
Sachlage in dieser Weise darzustellen, wo heute unter den
gegebenen politischen Kräfteverhältnissen in Europa und
den Vereinigten Staaten durch solche „Brüche“, die die
„nationalen Souveränitäten“ wiederherstellen würden (die
im Übrigen auch nie verschwunden waren, denkt man nur
an die nationalen Regierungen, die sehr genau wissen, was
sie tun, und dies mit Inbrunst verfolgen), aller Voraussicht
nach reaktionäre politische Kräfte an die Macht kämen,
die den ArbeiterInnen für die „Heimat“ (und den Franc)
genauso viele Opfer abverlangen würden wie vorher, um
sich sozusagen „der Welt (Europa, dem Euro) anzupassen“?
Ist es überdies nicht erwiesen, dass der große Fehler
etwa der Regierung Syriza in Griechenland nicht nur
darin bestand, angesichts der Erpressungen der anderen europäischen Regierungen und der internationalen Finanzkonzerne den Austritt aus der Europäischen
Union und dem Euro nicht vorbereitet zu haben, sondern
darüber hinaus nicht einmal Maßnahmen vorgesehen zu
haben, um die Kontrolle über das griechische Kapital, die
griechischen Banken etc. zu übernehmen? Ohne solche
vorangehende antikapitalistische Maßnahmen war es unvermeidbar, dass die Beibehaltung des Euro wie auch die
Inprekorr 1/2017 37
D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E
Rückkehr zur Drachme der lohnabhängigen Bevölkerung
nur Blut und Tränen bringen und diese reformistische
Linke zur „Ohnmacht“ verdammen musste.
Der Macht des Kapitals zumindest Grenzen zu setzen,
von diesem (Klassen-)Standpunkt könnte man vernünftigerweise in der heutigen Welt den traditionellen Dreisatz
des Marxismus übernehmen: Personenfreizügigkeit ja,
Freizügigkeit des Kapitals nein, freie Warenzirkulation je
nachdem.
1 Die Rafale (französisch für Böe oder Windstoß) ist ein
zweistrahliges Mehrzweckkampfflugzeug des französischen
Herstellers Dassault Aviation (https://wikipedia.org/wiki/
Dassault_Rafale).
können. Zunehmend werden einander ähnliche Güter
ausgetauscht (Frankreich beispielsweise importiert und
exportiert Autos – die Ökonomen sprechen von einem
substitutiven oder brancheninternen Handel); oder es werden Komponenten gekauft bzw. verkauft, die in einem bestimmten Land zusammengebaut werden, aber ausgehend
von Gütern, die anderswo hergestellt werden. Überdies
sind oft gerade Herstellerfirmen die treibenden Kräfte der
Einfuhr und der Ausfuhr (die ihre Produktion ganz oder
teilweise auslagern: Nike und Apple haben diesen Prozess
bis zum Äußersten getrieben), oder Handelsfirmen, die im
Ausland die Güter für ihre Regale unter ihrer Kontrolle
fabrizieren lassen (so gehören H&M, Zara und Carrefour
zu den Auftraggebern in Bangladesch).
Die unterschiedlichen Facetten des internationalen
Handels
FREIHANDEL ALS
GLOBALISIERTE
KONKURRENZ
GEGEN DIE
LOHNABHÄNGIGEN
Die heutige Realität des Welthandels weicht
in seinen Formen weit von der traditionellen
Vorstellung ab, nach der ein Land A einem Land
B die Produkte abkauft, die ihm fehlen oder
die dieses zu besseren Bedingungen herstellen
kann: Seine Formen werden immer vielfältiger
und komplexer. Henri Wilno
Der internationale Warenverkehr beruht immer weniger auf Gütern, die nicht oder nur unvollständig auf dem
Gebiet der beteiligten Nationalstaaten hergestellt werden
38 Inprekorr 1/2017
Die internationalen Kapitalbewegungen sind seit den
1980er-Jahren liberalisiert worden und seither beträchtlich
angewachsen. Kapitalbewegungen und Warenbewegungen lassen sich nicht völlig voneinander trennen: Die aktiven französischen Auslandsinvestitionen (oder die passiven
Auslandsinvestitionen in Frankreich) zum Zwecke der
Produktion (im Unterschied zu Portfolioinvestitionen)
sind Kapitalbewegungen, die Warenbewegungen auslösen
werden (Einfuhren in Frankreich im Fall von Auslagerungen), oder sie werden frühere Warenbewegungen ersetzen
(wie beispielsweise die Erstellung einer Produktionseinheit
in China, die Güter für den chinesischen Markt produzieren soll, die früher vom Mutterunternehmen importiert
wurden).
Die Herausbildung von multinationalen Firmen ist die
Frucht solcher internationaler Investitionen. Diese Firmen spielen fortan eine sehr wichtige Rolle: Der Handel
innerhalb der Unternehmen (zwischen den Filialen der
gleichen Firma) beträgt zwischen 30 und 50 % (diese Zahl
ist schwierig zu ermitteln) des internationalen Handels,
wo die Rechnungsstellung aufgrund von „Transferpreisen“ und nicht aufgrund von „Marktpreisen“ erfolgt (auch
wenn dieser Begriff nicht immer einen Sinn ergibt). Dieser
Transferpreis erlaubt es, die Gewinne in denjenigen Staaten zu verrechnen, wo sie am wenigsten besteuert werden.
Alles in allem aber sind die Kapitalbewegungen nur
zu einem kleinen Teil an die reellen Warenbewegungen
gebunden: Die Finanzmärkte haben überall ihre Knospen
getrieben.
Und schließlich haben auch die internationalen Wanderungsbewegungen der Arbeitskräfte neue Formen ange-
D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E
nommen. Der Rückgriff auf illegale Einwanderer ohne
gültige Ausweispapiere spielt in den entwickelten kapitalistischen Ländern eine wichtige Rolle, so wie in China die
inneren Wanderungsbewegungen von Arbeitskräften, die
für die großen Städte keine gültigen Niederlassungsbewilligungen besitzen. Dazu kommt in Europa noch eine spezielle
gesetzliche Regelung der Illegalität für „entsandte Arbeitskräfte“ (s. u. S. 41f.),, die es den Unternehmern erlaubt, die
reduzierten Sozialabgaben des Heimatlandes der Lohnabhängigen zu bezahlen.
TTIP und CETA
Die großen kapitalistischen Unternehmen nutzen im Alltag
das gesamte Spektrum dieser Elemente aus. Die kapitalistische Welt lebt vom Schwung der Liberalisierungsmaßnahmen des Waren- und Kapitalverkehrs, die vom GATT und
später von der WTO und vom IWF im letzten Viertel des 20.
Jahrhunderts angestoßen wurden. Regionale Wirtschaftsabkommen wie NAFTA (USA-Kanada, Mexiko) ergänzen
und verstärken diese, während die Europäische Union (EU)
eine umfassende Freihandelszone aufgezogen hat.
Die neuerlichen internationalen Freihandels-Verhandlungen der EU wie der transatlantische Freihandelsvertrag
mit den USA (TTIP) sowie CETA (Freihandelsvertrag
mit Kanada) betreffen die Zollrechte nur am Rande. Diese
sind im Allgemeinen für industrielle Erzeugnisse bereits
schwach, selbst wenn sektorielle Ungleichheiten vorhanden sind. Es geht dabei im Wesentlichen um Normen, die
juristische, finanzielle, kulturelle, ökologische, gesundheitliche etc. Fragen betreffen. Allgemein gesprochen betreffen
diese Normen die Merkmale der hergestellten Produkte
und die Bedingungen ihrer Vermarktung. Es geht nicht
darum, diese Regelungen zu idealisieren, denn die Lobbys
der Unternehmer haben auf ihre Festlegung großen Einfluss ausgeübt; sie sind aber in mancher Hinsicht, gerade im
Bereich der Landwirtschaft und der Nahrungsmittel (etwa
in der Frage der gentechnisch veränderten Organismen) in
den USA weniger strikt.
Bei diesen Verhandlungen geht es auch um den Abbau
von Schiefergas, die öffentlichen Dienstleistungen, die
Reglementierung der Finanzmärkte, das Versicherungswesen etc. Gegenwärtig (und vielleicht nur vorläufig)
hat das TTIP Startschwierigkeiten: Hollande hat eine
Aussetzung der wegen der US-Wahlen ohnehin derzeit
ruhenden Verhandlungen gefordert, CETA könnte aber
demnächst ratifiziert werden. Es beruht auf denselben
Grundsätzen wie das TTIP, insbesondere der Einrichtung
eines privaten Schiedsgerichtes, das den kanadischen Mul-
tis (und der Mehrheit derjenigen US-amerikanischen Firmen, die in Kanada Niederlassungen betreiben) erlaubt,
die europäischen Staaten zu belangen, sofern diese eine
Politik betreiben, die die Rentabilität ihrer Investitionen
gefährdet; dazu kommen Zollsenkungen für landwirtschaftliche Produkte, die Absenkung der Umweltstandards, der Abbau der öffentlichen Dienstleistungen usw.
Ein abgekartetes Spiel gegen die Lohnabhängigen
Die Globalisierung „mit menschlichem Angesicht“ hat
sich als abgekartetes Spiel herausgestellt. Die Lohnabhängigen wissen sehr wohl, dass diese letztlich nur darauf
hinausläuft, sie untereinander in Konkurrenz zu setzen,
um die Profite zu maximieren. Es erstaunt daher nicht,
dass die protektionistischen Forderungen wie in anderen
Epochen des Kapitalismus ein breites Echo finden, das
durch verschiedene Politiker und Politikerinnen nur noch
verstärkt wird, in Frankreich von Le Pen bis zu Mélenchon. Sie teilen alle die Ansicht, dass die ausländische Konkurrenz an der Zerstörung der Arbeitsplätze und an der
Schließung von Fabriken schuld sei.
Zunächst jedoch muss klargestellt werden, dass eine
Vielzahl von Arbeitsplätzen nicht oder nur marginal der
ausländischen Konkurrenz unterworfen ist; dies gilt für die
öffentlichen und privaten Dienstleistungen (Verwaltung,
Gesundheit, Banken, usw.) wie auch für den Bausektor
bei öffentlichen Aufträgen. Wenn in diesen Bereichen die
Beschäftigung zurückgeht, dann haben dies die öffentlichen oder privaten Arbeitgeber zu verantworten, genauso
wie die Beschäftigung von entsandten Lohnabhängigen
oder SchwarzarbeiterInnen. Was die Auswirkungen des
Außenhandels auf die Beschäftigung angeht, sind vor allem
die Industrie und bestimmte Dienstleistungen, die auslagerbare Bereiche beinhalten, wie Call center, InformatikDienstleitungen usw., betroffen. Sicher werden die Verluste
von Arbeitsplätzen schlussendlich alle Bereiche betreffen,
da ein abgebauter Arbeitsplatz in der Industrie mindestens
einen Arbeitsplatz anderswo gefährdet.
Sämtliche ernsthaften ökonomischen Untersuchungen
zeigen, dass die Standortverlagerungen nur einen beschränkten Teil der abgebauten industriellen Arbeitsplätze
erklären: höchstens 20 % im Zeitraum von 1995 bis 2001,
als sich der wirtschaftliche Aufstieg von China und den
zentral- und osteuropäischen Ländern (die mittlerweile
Mitglieder der EU sind) vollzog. Einer Studie der französischen Zentralbank zufolge haben die Importe aus China
zwischen 2001 (als China der WTO beitrat) und 2007 in
der französischen Industrie zur Zerstörung von 90 000
Inprekorr 1/2017 39
D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E
Arbeitsplätzen geführt, was 13 % der insgesamt abgebauten
industriellen Arbeitsplätze entspricht.
Dies bedeutet nicht, dass diese Entwicklung einzelne
Bereiche nicht erheblich getroffen hätte (Textil-, Schuhindustrie etc.), vor allem, wenn man die Billigimporte durch
die Supermarktketten berücksichtigt. Diese Arbeitsplatzverluste haben für die betroffenen Lohnabhängigen oft
dramatische Auswirkungen. Grundsätzlich jedoch drückt
das hemmungslose Streben des Kapitals nach Produktivitätsgewinnen angesichts schwindender Absätze auf dem
Binnenmarkt infolge des Lohndumpings viel schwerer auf
die Arbeitsplätze.
Die „Deindustrialisierung“ und das Außenhandelsdefizit
verweisen zudem auch auf die Schwächen der industriellen Struktur Frankreichs. Diese Schwächen sind ihrerseits
Folgen staatlicher Entscheidungen (Überbetonung der
atomar-militärischen Sektoren, Mängel im Kreditsystem,
Subventionierung der privatwirtschaftlichen Forschung, die
im Großen und Ganzen einer zusätzlichen Subvention für
die Unternehmer gleichkommt) und/oder Konsequenz von
Unternehmensentscheidungen, die in Verbindung mit dem
Druck der Aktionäre von einer kurzfristigen Logik geprägt
sind; es sei an die Tatsache erinnert, dass die Großunternehmen, beispielsweise in der Automobilindustrie, ihre Standortwahl treffen, ohne sich um ihre Nationalität zu kümmern,
sich aber sehr wohl daran erinnern, wenn sie Hilfe brauchen.
Jede fortschrittliche – und erst recht jede antikapitalistische – Position zum internationalen Freihandel sollte zwei
Aspekte berücksichtigen:
„ Sowohl im Norden wie im Süden haben die Lohnabhängigen andere Interessen als ihre Bourgeoisie.
„ Die Völker des Südens müssen ihren Weg selbst bestimmen und die Ketten des Kapitalismus abschütteln. Die Länder des Nordens, die die Weltwirtschaft lange beherrscht
haben – und dies im Großen und Ganzen weiterhin tun –,
haben kein Recht, den Ländern des Südens die Bedingungen ihrer Entwicklung zu diktieren.
Daraus resultiert, dass das Prinzip des Protektionismus abzulehnen ist, zumindest in den imperialistischen
Ländern wie Frankreich. Am Ende des 19. Jahrhunderts
unterstrich Jaurès, dass der Protektionismus die falsche
Lösung ist, die nur „der Minderheit der Großagrarier
nützen kann“. Die nichtstalinistische Tradition des Marxismus betrachtet in diesem Sinne alle protektionistischen
Maßnahmen der dominierenden Staaten im Kapitalismus mit Misstrauen. Zumal die Industrialisierung in den
dominierten Ländern, selbst wenn sie barbarische Formen
annimmt, diese aus der Abhängigkeit von der Landwirt40 Inprekorr 1/2017
schaft herausführt, wohingegen ihre Landwirtschaft
weiterhin gegen die Produkte aus den reichen Ländern
konkurrieren muss.
Die zerstörerischen Aspekte der kapitalistischen
Globalisierung
Marx hat indessen die Ungleichheit zwischen den Ländern
(„ein Land kann sich auf Kosten des anderen bereichern“)
und die strategische Wichtigkeit bestimmter Industriezweige betont, „welche alle anderen beherrschen und den
sie vorzugsweise betreibenden Völkern die Herrschaft auf
dem Weltmarkt sichern“.
Auch wenn wir jede Solidarität mit den Unternehmern ablehnen, sollten wir auch die nachteiligen Folgen
des Freihandels beachten. Zunächst die Folgen für die
Arbeitsbedingungen und die Löhne in den Ländern des
Nordens. Die direkten Auswirkungen der Standortverlagerungen und des Handels mit den Billiglohnländern
auf die Beschäftigung in den Ländern des Nordens sind
sicher begrenzt; aber das Lohndumping ist auch eine Waffe
der Konkurrenz zwischen entwickelten kapitalistischen
Ländern: In der Europäischen Union begaben sich der
deutsche Staat und die deutschen Unternehmer zu Beginn
der 2000er-Jahre mit Nachdruck daran, das Lohnniveau
zu senken.
Der Druck auf die Löhne ist in den Ländern des Südens
ebenfalls stark. Die Drohung, die Produktion in Gebiete
zu verlagern, wo die Lohnabhängigen gezwungen sind,
zu noch härteren Bedingungen oder zu noch geringeren
Löhnen zu arbeiten, ist andauernd vorhanden. Die Sektoren in den Entwicklungsländern, die nicht in der Lage
sind, den Normen des Welthandels zu genügen, werden
beiseite gedrängt; am deutlichsten wird dies in der sogenannten traditionellen Landwirtschaft.
Schlussendlich hat der verallgemeinerte Freihandel
zerstörerische Auswirkungen auf die Umwelt. Die Globalisierung der kapitalistischen Produktionsweise wird
von massiven Strömen industrieller und landwirtschaftlicher Produkte begleitet, die teilweise mit den natürlichen
Gegebenheiten der Länder in keinerlei Beziehung stehen.
So werden zahlreiche Waren oder teilgefertigte Waren
zwischen den Ländern, aber auch innerhalb der Länder,
unnötigerweise über weite Strecken transportiert, mit all
den nachteiligen Auswirkungen auf die Umwelt.
Den freien Kapitalverkehr bekämpfen
In Frankreich konzentriert sich die Debatte im Wesentlichen auf den Handel mit Niedriglohnländern und, in
D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E
diesem Rahmen, auf die Einfuhren und die Standortverlagerungen. Dieser Akzent auf den Warenhandel geht einesteils auf die unmittelbaren Sorgen der Lohnabhängigen
in der Industrie zurück, die in ihrem Alltag der Erpressung
der Unternehmer mittels der Konkurrenz der Niedriglohnländer ausgesetzt sind. Er entspringt aber auch einer
falschen Analyse oder der Absicht, sich vor einer großen
Hürde drücken zu wollen, die der freie Kapitalverkehr für
jedwede Politik bedeutet, die die Gesellschaft ernsthaft
transformieren will.
Die Ablehnung des Protektionismus bedeutet keinesfalls die Einwilligung in die zwischen den kapitalistischen
Industrieländern ausgehandelten Freihandelsverträge wie
TTIP oder CETA, die den Gesundheitsschutz untergraben oder die öffentlichen Dienstleistungen gefährden.
Diese Verhandlungen werden oft als ein Interessenkonflikt zwischen der EU und den USA dargestellt. In Tat
und Wahrheit geht es um ein Instrument der neoliberalen
Offensive, das auf beiden Seiten des Atlantiks entwickelt
wurde, und die multinationalen Konzerne zielen ebenso
auf bestimmte US-amerikanische Bestimmungen, speziell
auf die Aufträge der öffentlichen Hand . US-amerikanische Gewerkschaften verweisen übrigens darauf, dass die
US-amerikanischen Lohnabhängigen in keiner Weise davon profitieren können, wenn die stärkeren europäischen
Schutzklauseln infrage gestellt werden.
Die Kapitalbewegungen spielen ihrerseits – wegen der
Spekulation gegen die internationale Verschuldung und
gegen die Währungen – eine zentrale Rolle bei der Rechtfertigung der Austeritätspolitik. Der freie Kapitalverkehr
verstärkt überall den Druck auf die Löhne und die Arbeitsbedingungen, da er überall den maximalen Profit herauspressen will. Dadurch können die großen Kapitalgruppen
ihre Gewinne der Versteuerung entziehen. Insofern ist es
Pflicht jeder antikapitalistischen Politik, gegen den freien
Kapitalverkehr zu kämpfen.
Quelle: l’Anticapitaliste, la revue mensuelle du NPA, N°80,
Oktober 2016.
Übersetzung: Willi Eberle
„
ENTSANDTE
ARBEITER_INNEN:
AUSGEBEUTETE,
KEINE KONKURRENTINNEN!
„Ein grenzüberschreitend entsandter Arbeiter […]
stiehlt den einheimischen Arbeitern das Brot“,
erklärte Jean-Luc Mélenchon1 am 5. Juli vor dem
Europaparlament. Derlei dummdreistes und
ekelerregendes Gedankengut muss unbedingt
widerlegt und bekämpft werden Henri Wilno
Ein „grenzüberschreitend entsandter“ Arbeiter ist ein
Lohnabhängiger, der von seiner Firma in ein anderes
Mitgliedsland der EU geschickt wird, um dort vorübergehend eine Dienstleistung zu erbringen. Geregelt wird diese
Entsendung durch eine EU-Richtlinie von 1996. Dabei
müssen der gesetzliche Mindestlohn (sofern vorhanden)
des Ziellandes und die dortigen gesetzlichen Regelungen
zur Höchstarbeitszeit, Lohnfortzahlung im Urlaubs- und
Krankheitsfall sowie Sicherheit und Hygiene am Arbeitsplatz zur Anwendung kommen. Für die Beiträge zur
Sozialversicherung gelten jedoch die Bestimmungen des
Herkunftslandes.
2015 waren in Frankreich offiziell 286 025 entsandte
ArbeiterInnen registriert, was einer Zunahme von 25 %
binnen Jahresfrist und einer Verzehnfachung innerhalb
von zehn Jahren entspricht. Am stärksten davon betroffen
ist das Baugewerbe, wo 27 % der entsandten ArbeiterInnen
tätig sind. Danach kommen die Zeitarbeitsbranche mit
25 % und die Industrie mit 16 %.
Die Zahl der nicht gemeldeten EntsendearbeiterInnen
liegt bei mindestens 80 000, manchen Quellen zufolge sind sie sogar gleich hoch wie die offiziellen Zahlen.
Spitzenreiter sind dabei bestimmte Unternehmen wie die
Werft STX France in Saint-Nazaire, wo nach Angaben der
Direktion während Auftragsspitzen 25 bis 30 Prozent Entsendearbeiter tätig sind, also 1500 bis 2000 der insgesamt
Inprekorr 1/2017 41
D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E
6000 Beschäftigten bei STX und den Subunternehmen.
Ein anderes Beispiel ist EDF, die in Dunkerque bei der Errichtung des Flüssiggas-Terminals bis zu 59 % ausländische
Arbeitskräfte beschäftigt hat.
Eine kürzlich im Auftrag des Finanzministeriums
durchgeführte Studie (Trésor Eco n° 171, Juni 2016) ergab,
dass es für ein französisches Unternehmen gleich teuer ist,
ob es auf einem zum Mindestlohn bezahlten Arbeitsplatz
einen offiziell gemeldeten Entsendearbeiter aus Portugal,
Rumänien, Polen oder Spanien beschäftigt oder direkt
einen, der den heimischen Bestimmungen unterliegt.
Dies trifft freilich nur zu, wenn die gesetzlichen Normen,
besonders hinsichtlich der Überstunden, beachtet werden,
was nach den Erfahrungen der Aufsichtsbehörden oft nicht
der Fall ist.
Unterqualifiziert beschäftigt und rechtlos
In vielen Unternehmen gelten tarifliche Zuschläge, von
denen die Entsendearbeiter jedoch nichts sehen. Außerdem
werden sie zumeist unterhalb ihrer Qualifikation bezahlt.
Libération hat sich am 19. Juli 2016 mit den polnischen
EntsendearbeiterInnen auf einer Baustelle in Paris befasst,
wo Gebäude entstehen, in denen Dienststellen des Premierministers Valls untergebracht werden sollen.
Die Schweißer dort verdienen den französischen Mindestlohn und normalerweise werden ihre Überstunden
bezahlt. Die Zeitung schreibt dazu: „Wie aber kann sicher
gestellt werden, dass der Unternehmer sie [die Überstunden] auch deklariert und keinen Missbrauch betreibt? Die
Geschäftsführerin des Unternehmens, das die betreffenden
Arbeiter beschäftigt, versichert, dass „es die Entsendearbeiter sind, die auf Überstunden drängen. So können sie für
44 Stunden pro Woche einschließlich Überstunden zwischen 1700 und 1900 Euro netto verdienen. Für uns ist dies
natürlich billiger [als wenn franz. Arbeitskräfte beschäftigt
wären].“ Auch hier wieder sind diese Zahlen unmöglich
zu überprüfen, da wir keinen Arbeitsvertrag zu Gesicht
bekommen konnten. Sicher jedoch ist, dass ein französischer Schweißer zwischen 2500 und 4000 Euro netto hier
verdienen würde …“
Die oben zitierte Studie des Finanzministeriums
schreibt, dass nach einer EU-Untersuchung die EntsendearbeiterInnen in bestimmten Branchen, besonders im
Speditionsgewerbe, bis zu 50 % weniger verdienen als
einheimische Fahrer.
Dies zeigt, dass nicht die EntsendearbeiterInnen den
französischen KollegInnen die Butter vom Brot nehmen.
Vielmehr sind sie ArbeiterInnen wie die anderen auch,
42 Inprekorr 1/2017
nämlich Opfer einer verschärften Ausbeutung, und wie bei
ihren französischen KollegInnen sind es die französischen
Unternehmer, die sie einstellen und entlassen. Die EURichtlinie von 1996 sieht keine betriebliche Vertretung
für die EntsendearbeiterInnen vor, was die Einhaltung
der gesetzlichen und tariflichen Regelungen natürlich
erschwert. Anstatt die einen ArbeiterInnen gegen die anderen auszuspielen, müssen wir für die Losung eintreten:
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“.
Und dem wäre nach europäischem Recht eigentlich
so, meint der Jurist Jacques Freyssinet, wenn nicht in der
Richtlinie von 1996 die Entsendearbeit als Dienstleistung
eingestuft würde, sondern als das, was sie in Wahrheit auch
ist: ein grenzüberschreitender Verkehr der betreffenden
ArbeiterInnen zu ihrem Arbeitsplatz jenseits der Grenze.
Übersetzung MiWe
1 Vorsitzender des Parti de Gauche und Präsidentschaftskandidat 2017, der u. a. von dem Bündnis „Faisons front commun“
unterstützt wird, das weit in die Reihen von Ensemble reicht.
MARX UND JAURÈS ÜBER ZOLLSCHRANKEN
Im Zuge damaliger Debatten haben Karl Marx
und später Jean Jaurès die noch immer aktuellen
Grundzüge für eine antikapitalistische und
sozialistische oder kommunistische oder überhaupt
fortschrittliche Position zur Frage des Freihandels
und des Protektionismus dargelegt. Henri Wilno
In seiner „Rede über die Frage des Freihandels“ vom 9. Januar
18481 nimmt Marx zur Diskussion über die Abschaffung
der Korngesetze2 Stellung. Gegenüber den Liberalen,
die diese Gesetze abschaffen wollten, argumentierte er:
„Um zusammenzufassen: Was ist also unter dem heuti-
D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E
gen Gesellschaftszustand der Freihandel? Die Freiheit des
Kapitals.“ Aber weiter unten schreibt er: „Glauben Sie aber
nicht, meine Herren, daß, wenn wir die Handelsfreiheit
kritisieren, wir die Absicht haben, das Schutzzollsystem zu
verteidigen. […]
Aber im allgemeinen ist heutzutage das Schutzzollsystem konservativ, während das Freihandelssystem zerstörend wirkt. Es zersetzt die bisherigen Nationalitäten und
treibt den Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie
auf die Spitze. Mit einem Wort, das System der Handelsfreiheit beschleunigt die soziale Revolution. Und nur in
diesem revolutionären Sinne, meine Herren, stimme ich
für den Freihandel.“
Der Kontext im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts
lag anders: Die Protektionisten griffen die Konkurrenz
aus dem Ausland an und Jaurès wies nachdrücklich auf
die Grenzen solcher protektionistischen Lösungsvorschläge hin 3: „Es ist vor allem von der Auslandskonkurrenz
die Rede und die anderen Ursachen der Misere werden
übergangen, selbst die, gegen die man etwas unternehmen
könnte; dabei wäre das am einfachsten zu lösende Problem
die Zollfrage“. Über die Grundpositionen der Sozialisten
äußert er sich so: „Es geht hier nicht um die Schutzzölle als
Prinzip. Die Sozialisten sind keine Protektionisten, so wie
Méline, aber genauso wenig sind sie Verfechter des Freihandels wie Say oder Aynard4 […] Der Sozialismus, nämlich die gesellschaftliche Organisation der Produktion und
des Handels, schließt zugleich den Protektionismus, der
heutzutage nur der Minderheit der Großagrarier nutzen
kann, und den Freihandel aus, der nur die internationale
Form der wirtschaftlichen Anarchie darstellt.“
Beide Zitate liefern eine Antwort auf eine nationale
Debatte – zunächst in England, dann in Frankreich – die
da lautet: Kann die Arbeiterbewegung an protektionistischen Maßnahmen interessiert sein? In der bereits zitierten
„Rede über die Frage des Freihandels“ geht Marx in sehr
hellsichtiger Weise auf die Auswirkungen des Freihandels
auf die internationale Arbeitsteilung ein: „Alle destruktiven Erscheinungen, welche die freie Konkurrenz in dem
Innern eines Landes zeitigt, wiederholen sich in noch
riesigerem Umfange auf dem Weltmarkt. […] Man sagt
uns zum Beispiel, daß der Freihandel eine internationale
Arbeitsteilung ins Leben rufen und damit jedem Lande
eine mit seinen natürlichen Vorteilen harmonierende Produktion zuweisen würde.
Sie glauben vielleicht, meine Herren, daß die Produktion von Kaffee und Zucker die natürliche Bestimmung
von Westindien sei. Vor zwei Jahrhunderten hatte die
Natur, die sich nicht um den Handel kümmert, dort weder
Kaffeebäume noch Zuckerrohr gepflanzt.
Und es wird vielleicht kein halbes Jahrhundert dauern,
bis Sie dort weder Kaffee noch Zucker mehr finden. denn
bereits hat Ostindien durch billigere Produktion gegen
diese angeblich natürliche Bestimmung von Westindien
den Kampf siegreich aufgenommen. […]
Noch ein Umstand darf dabei nie aus dem Auge
gelassen werden: der nämlich, daß, wie alles Monopol
geworden ist, es auch heute einige Industriezweige gibt,
welche alle anderen beherrschen und den sie vorzugsweise
betreibenden Völkern die Herrschaft auf dem Weltmarkt
sichern.
Wenn die Freihändler nicht begreifen können, wie
ein Land sich auf Kosten des anderen bereichern kann, so
brauchen wir uns darüber nicht zu wundern, da dieselben
Herren noch weniger begreifen wollen, wie innerhalb
eines Landes eine Klasse sich auf Kosten einer anderen
bereichern kann.“
Übersetzung: MiWe
„
1 Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 4, S. 444 – 458,
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1972
2 Die „Korngesetze“ waren zwischen 1815 und 1828 in
Großbritannien verabschiedet worden, um die Getreideeinfuhr aus dem Ausland einzudämmen. Die mit der Industrie
verbundenen britischen Liberalen hingegen befürworteten
niedrige Getreidepreise, um somit die Löhne niedrig halten
zu können, und versuchten in diesem Sinne auf die Regierung
einzuwirken. Schließlich konnten sie sich 1846 durchsetzen.
Ihre Propaganda zielte auf die Einbindung der unteren Klassen
in die Kampagne: Billiges Brot und die Schaffung von Arbeitsplätzen seien die natürliche Folge des Freihandels.
3 Vgl. auch Rita Aldenhoff-Hübinger, Agrarpolitik und
Protektionismus. Deutschland und Frankreich im Vergleich, 1879
- 1914 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Bd.
155), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002
4 Alle drei Genannten waren Politiker und Wirtschaftswissenschaftler in der damaligen Zeit.
Inprekorr 1/2017 43
D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E
FREIHANDEL
UND SCHUTZZÖLLE IN DER
LANDWIRTSCHAFT
Wie in anderen Bereichen auch verlangt die
mittlerweile bis zum Äußersten vorangetriebene
Logik des kapitalistischen Systems, immer mehr
zu immer geringeren Kosten zu produzieren
– nicht um menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, sondern um Profite zu erzielen. Wenngleich der globalisierte Freihandel verheerende
Auswirkungen hat, so sind die mitunter gepriesenen protektionistischen Lösungsansätze bloße
Augenwischerei. Gérard Florenson
Wenn der Handelspreis für Schweinefleisch weit unter die
Produktionskosten fällt, vergreifen sich die aufgebrachten Viehzüchter am importierten Schweinefleisch in den
Supermarktregalen. Laster mit Frischobst werden an der
spanischen Grenze blockiert und leer geräumt, genauso
inzwischen Tanklaster mit Wein. Ein Teil der Landwirte
fordert, Importe zu beschränken oder gar zu verbieten,
moderatere Kreise vertrauen lieber auf das Etikettieren der
Waren und auf Medienkampagnen mit dem Tenor „Esst
und trinkt französische Produkte!“. Damit erhebt sich
Volkes Stimme gegen den Freihandel und die Abschaffung
der Schutzzölle entlang der GATT-Verträge und plädiert
für eine Rückkehr zum Protektionismus.
Dies ist kein französischer Sonderfall, sondern gilt auf
unterschiedlichen Ebenen für alle Industrieländer, selbst
für jene, die – wie Kanada und die USA – Exportriesen
sind und in der Theorie den freien Warenverkehr befürworten. Durch die EU-Erweiterung auf stark agrarisch
geprägte Länder mit geringeren Lohnkosten hat sich die
Lage erst richtig zugespitzt, wobei die armen Länder nicht
einmal mitbestimmen können.
44 Inprekorr 1/2017
So ist eine paradoxe Situation entstanden, in der sich
die Frage stellt, ob ein Industriestaat wie Frankreich, das
in so großem Umfang landwirtschaftliche Rohprodukte
oder durch die Lebensmittelindustrie weiterverarbeitete
Produkte exportiert1, dass Giscard d’Estaing einst von
„grünen Bodenschätzen“ gesprochen hat, es sich noch
erlauben kann, seine Grenzen zu schließen, ohne eine
Retourkutsche zu riskieren, bspw. weiterhin Weizen und
Wein exportieren zu wollen, aber Melonen und Tomaten
nicht ins Land zu lassen. Dieser Widerspruch zwischen
einer vorgeblichen „Berufung“ als Exportnation und
der Abschottung des Landes wegen seiner „vorbildlichen
Handhabung der sozialen und ökologischen Belange“,
die allenfalls noch in Europa ihresgleichen hat, wird auch
nicht durch die Befürworter eines „intelligenten Protektionismus“ ausgeräumt. Die Scharlatane des Front National
berufen sich auf ökologische Gründe, wenn sie gegen den
Import minderwertiger Produkte zu Felde ziehen, die
schädlich seien, wie alles, was von woanders kommt. Im
gleichen Atemzug unterstützen sie diejenigen, die weniger „Umweltschutzauflagen“ fordern, da die doch nur der
Wettbewerbsfähigkeit „unserer“ Agrarunternehmen schaden, und machen sich dafür stark, auf Putin zuzugehen,
um wieder Zugang zum russischen Markt zu erhalten.
Aber kann man umgekehrt dem kleinen Gemüsebauern Großmachtchauvinismus vorhalten, wenn er sieht,
wie inmitten seiner Ernte Obst und Gemüse angeliefert
werden, deren Verkaufspreis unter seinen eigenen Produktionskosten liegt? Wenn sich die Wurst aus Spanien
gut verkauft, dann packt den bretonischen Schweinezüchter die Wut und es kann ihn kaum trösten, dass zugleich
Milch und Getreide nach Spanien exportiert werden.
Die Verfechter des Protektionismus können sich darauf
berufen, dass regionale Erzeugung und Direktvertrieb sowie die Versorgung von Großküchen mit lokalen Produkten Vorteile bringt. Ebenso haben sie gute Argumente gegen Langstreckentransporte, den hemmungslosen Einsatz
von Pestiziden und Antibiotika in den konkurrierenden
Ländern und die miesen Arbeitsbedingungen der dortigen
Beschäftigten. Natürlich teilen nicht alle dieselben fortschrittlichen Schlussfolgerungen. Es gibt etliche, die in der
französischen Landwirtschaft lieber weniger Sozial- und
Umweltbewusstsein haben und sich nicht um Feuchtgebiete scheren wollen und Gentechnologie befürworten.
Aber dies stößt immer weniger auf allgemeine Akzeptanz.
Zudem kommen solche reaktionären Positionen vorwiegend von den Landwirten, die weitgehend vom Export
ihrer Güter leben und Einbußen befürchten. Daher auch
D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E
die Leugnung der Grünalgenplage in der Bretagne durch
überhöhte Nitratbelastung oder die Befürwortung des
Staudamms am Sivens-Massiv durch manche.
Wie kam es zu Zollschranken?
Alle Industriestaaten haben in der Vergangenheit auf
protektionistische Maßnahmen zurückgegriffen und tun
dies oft auch noch heute, um ihre Landwirtschaft vor
der ausländischen Konkurrenz zu schützen. Auch wenn
Großbritannien Mitte des 19. Jahrhunderts die gesetzlichen Hürden für Getreideimporte abgeschafft hat, um
die eigene Arbeiterklasse billiger ernähren zu können,
und damit einen anderen Weg als die anderen Nationen
beschritten hat, darf man nicht vergessen, das sich das Land
auf diese Weise vorwiegend für das eigene Kolonialreich
geöffnet hat. In Frankreich hingegen haben manche Kolonialerzeugnisse, die ja per se keinen Handelsschranken
unterlagen, den Protektionismus quasi umgangen und der
einheimischen Produktion Konkurrenz bereitet. So hat
etwa der Weinimport aus Algerien zu schweren Krisen
geführt oder das Erdnussöl den heimischen Raps- und
Olivenanbau in Bedrängnis gebracht.
Der Freihandel im Landwirtschaftsbereich beruht auf
der Theorie der komparativen Vorteile und der internationalen Arbeitsteilung, nämlich die Kosten zu senken
und die Bevölkerung billig zu ernähren, indem Anbau
und Viehzucht schwerpunktmäßig in den Regionen
angesiedelt werden, die sich durch ausreichend Land und
klimatische Bedingungen dafür eignen. Zudem sollte der
Freihandel Innovationen fördern, da Bauern, die von der
Konkurrenz abgeschottet sind, in Routine verfallen und
keinen Anreiz haben, die Erträge durch bessere Techniken
zu steigern. Dadurch stagniert die Produktion und die
Preise steigen, was wiederum höhere Lohnforderungen
bei der Arbeiterklasse hervorruft.
Die Freihändler sind sich seit dem 19. Jahrhundert über
die sozialen Folgen im Klaren, nämlich dass Kleinbauern, die nicht den „Weg des Fortschritts“ gehen können,
verschwinden werden und dies zur Landflucht führt. Was
aber keineswegs störte, weil die Industrie ja Arbeitskräfte
brauchte und das Proletariat aus den landlosen Bauern
gespeist wurde, somit also der Nachschub rollte. Der heutige Kapitalismus hat nicht mehr diese Ressourcen, so dass
wegfallende Arbeitsplätze in der Landwirtschaft nur das
Arbeitslosenheer vergrößern und in den armen Ländern
die Landflucht zur Auf blähung der Elendsviertel in den
Großstädten führt.
Zollschranken sind aus zweierlei Gründen entstanden.
Einerseits sollte die Ernährungssicherheit gewährleistet
sein, auch in Zeiten, in denen kriegerische Auseinandersetzungen die Transportwege gefährdeten oder schlechte
Wetterverhältnisse herrschten, was voraussetzte, dass eine
breitgefächerte Landwirtschaft in sämtlichen Regionen erhalten blieb. Andererseits war man daran interessiert, dass
möglichst viele Kleinbesitzer als eigene Klasse erhalten
blieben, die dem herrschenden System treu ergeben waren.
Im Gegensatz zu den Unkenrufen der Freihandelsbefürworter ermöglichte der Protektionismus in Frankreich und
den anderen Industrieländern, dass sich über lange Zeit
hinweg die Agrarproduktion im Rahmen kleinbäuerlicher
Betriebe so entwickeln konnte, dass eine Selbstversorgung
gewährleistet war und sogar darüber hinaus produziert
wurde. Da sie vor der Konkurrenz durch Importwaren
abgeschottet waren, konnten die Landwirte hinreichende
Preise erzielen, die nicht nur zum Leben sondern auch für
Investitionen langten. Erst ab dann verfügten die Herrschenden die Öffnung der Märkte, und zwar nicht, um sie
für Importe zu öffnen, sondern um „unserer Berufung als
Exportnation“ nachzukommen.
Die Schaffung des EWG-Agrarmarkts 1962 folgte
keineswegs einer liberalen Agenda, sondern passte eher
die Zollschranken den Verhältnissen an. Die weiland sechs
Mitgliedstaaten verfügten über unterschiedliche Schwerpunkte, nämlich mehr Ackerbau im Süden und mehr
Viehzucht im Norden und für alle ein als viel zu hoch erachtetes Importvolumen für Nahrungsmittel. Also war die
EWG bestrebt, den Handel untereinander zum gegenseitigen Vorteil auszubauen und gleichzeitig Schranken nach
außen zu errichten, um die Landwirtschaft der Mitgliedsländer zu schützen. Durch in Abgaben umgetaufte Zölle
sollte ein Schwellenpreis erzeugt werden, der den Preis für
Importwaren auf das Niveau der einheimischen Produktion hob. Umgekehrt erleichterten Subventionen, die man
Erstattungen nannte, den Export zu den herrschenden
Weltmarktkonditionen.
Die Methoden, die weiland die Entwicklung der Landwirtschaft in den Industrieländern ermöglicht haben, würden heute in den unterentwickelten Ländern sicherlich ein
vergleichbares Ergebnis zeitigen, da dort die einheimische
landwirtschaftliche Produktion viel zu schwach ist, um
gegen die oftmals subventionierten Massenimporte bestehen zu können.2 Aber da sind die Wächter der liberalen
Tugend außen vor und verhindern, dass die armen Länder
dem Beispiel der Industrieländer folgen, die den Freihandel
erst für sich entdeckt haben, als ihre Hegemonialstellung
gesichert war. So importiert das traditionelle MaisanbauInprekorr 1/2017 45
D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E
land Mexiko bspw. immer mehr Mais im Rahmen des
Freihandelsabkommens mit seinen Nachbarn im Norden,
da die enormen Ertragsunterschiede nicht durch die billigere heimische Arbeitskraft kompensiert werden können
und so der Mais aus Mexiko teurer ist. Ein Gleichgewicht
könnte nur durch Zölle und/oder Subventionen für die
einheimischen Erzeuger hergestellt werden.
Weltweite Handelskriege unter neoliberalen
Vorzeichen
Durch die fortschreitende Entwicklung des Transportwesens hat der Handel, auch in der Landwirtschaft, sprunghaft zugenommen. So kann bspw. Weizen von den Great
Plains in den USA nach Europa verschifft werden oder
argentinisches Rindfleisch und Lammfleisch aus Neuseeland die Weltmärkte erobern.
Ursprünglich hatte Frankreich seine Getreidebauern
erfolgreich vor der ausländischen Konkurrenz geschützt
und war dadurch selbst zur Exportnation aufgestiegen.
Aber inzwischen ist – allein auf dem Getreidesektor – ein
harter Konkurrenzkampf entbrannt, nicht nur mit den
USA, sondern auch mit Argentinien, Kanada, Australien
oder der Ukraine. Auch andere Länder, die traditionell
eher Getreide eingeführt haben, haben inzwischen die
Produktion hochgefahren, während es auf den zahlungsfähigen Märkten immer enger zugeht. Der Agrarhandel ist
zu einem regelrechten Schlachtfeld geworden, wo multinationale Industriekonzerne, aber auch Getreideriesen
mit Unterstützung ihrer Herkunftsländer gegeneinander
antreten. Alle Kniffe sind erlaubt, um Anteile auf dem
unerwartet wenig ausbaufähigen Markt zu gewinnen.
Die französische Ehrenlegion mag stärker wiegen als eine
brasilianische Auszeichnung, wenn es darum geht, den
saudischen König davon zu überzeugen, dass das gefrorene Geflügel aus Frankreich besser ist, ausschlaggebend ist
jedoch das (stille) Einvernehmen mit den Verbrechen des
dortigen Regimes. Manchmal sind es auch die gewährten
Darlehen, die helfen, einen Markt zu erschließen.
In diesem Handelskrieg gebärden sich natürlich diejenigen am liberalsten, die sich auf der Gewinnerstraße
wähnen, sofern keine Wettbewerbsverzerrung herrscht.
Mehr noch als die USA haben die sog. Schwellenländer BRICS auf die Abschaffung der Zollschranken und
Subventionen gedrängt. Es gibt aber auch Hürden im
Freihandel, die nicht finanzieller Natur sind, sondern aus
nationalen oder kontinentalen Normen entspringen, nach
denen die Einfuhr von nicht normgerechten Produkten
oder ihr Vertrieb unter einer irreführenden Bezeichnung
46 Inprekorr 1/2017
verboten ist. In diesem Zusammenhang wird sogar die Etikettierung, auf der Herkunft oder Zusammensetzung des
Produkts erwähnt wird, als protektionistisches Manöver
angeprangert. Ziel des TTIP ist daher auch, die multinationalen Konzerne von dieser Pflicht zu entbinden. Und die
französischen Konzerne gehören sicherlich nicht zu den
letzten, die gegen die Etikettierungspflicht angehen.
Es gibt auf der einen Seite die Agrarerzeuger und auf
der anderen die Industrie. Zwischen den großen Lebensmittelkonzernen herrscht ein erbitterter Konkurrenzkampf. Ihr Interesse liegt im freien Handel der Roh- oder
Halbfertigprodukte wie Zucker oder Ei- und Milchpulver,
um ihre eigenen Produktionskosten zu senken. Genauso
müssen sie auf die Preise von Kaffee oder Kakao drücken,
natürlich zum Nachteil der Produzenten in den Entwicklungsländern. Selbstredend hält sich das französische Landwirtschaftsministerium, das auch für die Nahrungsmittelindustrie zuständig ist, in dieser Frage vornehm zurück
– schließlich geht es ja um „unsere“ Wettbewerbsfähigkeit.
Die Grenzen des Protektionismus
Wenn die Winzer aus dem Languedoc gegen den Wein
aus Spanien wettern, Tanklaster leeren oder die Anlagen
der Importeure demolieren, macht dies wenig Sinn. Selbst
wenn unter den Vorzeichen der Krise ein paar Flaschen
billigen Weines in die Supermärkte gelangen, wird der
französische Markt dadurch nicht gefährdet. Der Weinexport aus Frankreich zielt auf die hochpreisigen Segmente
und darin sind die edlen Tropfen aus Spanien genauso
teuer. Die importierten Weine aus Spanien kommen
vorwiegend offen und ohne Herkunfts- oder Qualitätsbezeichnung und sind Billigware, die hauptsächlich
verschnitten und in Drittländer verkauft werden. Insofern
findet der Krieg auf diesem Sektor nicht unter dem Vorzeichen „Trinkt französische Weine!“ statt, sondern eher
als „Exporte aus Frankreich stärken!“. Aber auch wenn
die Tricksereien einzelner Händler zu verurteilen sind,
sind protektionistische Maßnahmen kaum dafür geeignet,
den französischen Winzern Wettbewerbsvorteile auf dem
chinesischen Markt zu verschaffen gegenüber den spanischen Weinbauern. Dasselbe gilt für Getreide: Frankreich
importiert nur wenig davon, es geht vielmehr um Weltmarktanteile.
Innerhalb Europas nimmt Frankreich eine wenig
komfortable Position ein. Noch weist Frankreich einen Bilanzüberschuss aus, was den Handel mit frischem Schweinefleisch angeht. Ganz anders sieht es bei Wurstwaren
aus, wo sehr viel mehr importiert wird. Die Konkurrenz
D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E
hierbei sitzt in Deutschland, Spanien oder Dänemark. Die
Tomaten kommen aus Spanien, aber auch aus Holland und
viel weniger aus Marokko. Dies zeigt, dass eine Abschottung des europäischen Marktes gegenüber der restlichen
Welt vielleicht vorstellbar, aber unwirksam wäre. Und ein
Rückzeug jedes einzelnen Landes hinter seine Grenzen
wäre nur dann sinnvoll, wenn es selbst auf den Export
eigener Produkte verzichten oder sich auf marginale Handelsvolumina beschränken würde.
Alle Rezepte, die den Freihandel zähmen wollen,
stoßen genauso wie die, die den Kapitalismus angeblich
regulieren oder zivilisieren wollen, an die Grenzen, die
ihnen die immanente Logik des Systems setzt: immer
mehr produzieren, nicht um die Bedürfnisse der Menschen
zu befriedigen, sondern um zu verkaufen und Profite zu
erzielen. Die Globalisierung dient dabei als Instrument
und ihre sozialen und ökologischen „Kollateralschäden“
verlangen Antworten, die mit dem Kapitalismus nicht vereinbar sind. Dies bedeutet nicht, dass damit keine Kämpfe
zur Schadensbegrenzung geführt werden sollen, wie etwa
gegen TTIP oder die Allmacht der Saatgut- und Pflanzenschutzkonzerne. Auch schließt dies nicht die Unterstützung alternativer Entwicklungsprojekte aus, aber eher,
weil diese Beispielscharakter haben und nicht weil sie das
System schleichend unterminieren könnten.
Wenn man in den reichen Länder, die sich mit Nahrungsmitteln selbst versorgen können, gegen Freihandel
und Protektionismus zugleich kämpfen will, muss man gegen übermäßige Exporte schlechthin eintreten und für das
Recht jeder Nation, sich nach eigenem Gutdünken entwickeln zu können. Dies bedeutet, mit dem Produktivismus
zu brechen und auf qualitativ gute und umweltgerecht
hergestellte Produkte zu setzen, die auch für die einfache
Bevölkerung erschwinglich sind. Dies ist allerdings nicht
umsetzbar ohne die Sozialisierung der relevanten Produktionsmittel (darunter auch die Nahrungsmittelkonzerne)
und der Handelsstrukturen (darunter auch der Großhandel) sowie natürlich der Banken. Ein solches Umdenken
beinhaltet zwangsläufig auch die Frage nach einer gerechten, d. h. gesellschaftlich garantierten Entlohnung der
LandarbeiterInnen, deren Lohn heute von konjunkturellen
Schwankungen und Agrarsubventionen abhängt.
Übersetzung: MiWe
„
1 Im Jahr 2015 lag die positive Handelsbilanz für landwirtschaftliche Produkte und Nahrungsmittel bei 10,2 Mrd. Euro
und damit höher als 2014. Für das laufende Jahr ist wegen der
schlechten Getreideernte mit einem Rückgang zu rechnen.
Getragen wird der Export hauptsächlich von Getreide, alkoholischen Getränken und Milchprodukten, während Fleisch
und Schlachtprodukte defizitär sind. Für Obst und Gemüse ist
die Bilanz u. a. wegen des Konsums von exotischen Früchten
durchwachsen und der hohe Konsum von Tabak, Tee und
Kaffee drückt natürlich auch auf die Bilanz.
2 Teils konkurrieren identische Produkte wie Geflügel, Mais
oder Milch, teils setzen sich neue Essgewohnheiten durch. So
wird etwa Maniok, der relativ wenig ertragreich ist und von
der Agrarforschung vernachlässigt wird, durch Importweizen
ersetzt.
WIDER
DEN LINKSNATIONALISMUS
In der radikalen Linken macht sich zunehmend
ein nationalistischer Unterton breit, bspw. bei
Jean-Luc Mélenchon, Frédéric Lordon oder
Jacques Nikonoff, dem ehemaligen Kodirektor
von Attac. Angeblich gäbe es in Frankreich ein
Problem, wieder zur nationalen Souveränität
zu finden – nicht im Sinne des Front national,
sondern von einer linken, antikapitalistischen
Warte aus. Régine Vinon
Die Herrschaft Deutschlands über Europa und besonders
über Griechenland führt angeblich dazu, dass wir unseren
freien Willen aufgegeben und uns den Befehlen der EU,
konkret dem Hegemon Deutschland untergeordnet haben.
Mag diese Argumentation auch nicht neu sein, scheint
sie nach der Krise in Griechenland doch stärker auf und
manche behaupten gar, dass Stimmverluste des Front de
gauche an den Front national auf uneindeutige Positionen
zu Freihandel, EU und nationaler Souveränität zurückzuführen seien und dass wir unsere nationale Souveränität
wiedererlangen müssten. Das kapitalistische System steckt
in einer tiefen und lang anhaltenden Krise, die eigentlich
nach einem Sturz des alten und seiner Ersetzung durch ein
neues System schreit, und da kommen Leute daher, die uns
Inprekorr 1/2017 47
D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E
die alte Leier der Volkssouveränität als fortschrittlich Idee
verkaufen wollen, die uns aus der Misere rettet.
Was heißt eigentlich Volkssouveränität?
Da sind sich die Befürworter uneinig. Laut F. Lordon muss
man auf die Französische Revolution zurückgehen und
sich auf die souveräne Nation von 1789 beziehen, die „für
alle Bürger gilt und insofern links ist. Und nur, weil sich
die Linke unverständlicherweise von dieser Idee verabschiedet hat, gilt sie inzwischen als ausschließlich rechtes
Gedankengut.“ Lordon folgert daraus, dass man sich die
Idee wieder zu eigen machen müsse und sie nicht der
Rechten überlassen dürfe.
Die „Deglobalisierungspartei“ (Pardem)1 des ehemaligen PCF-Mitglieds Nikonoff meint: „Die nationale
Souveränität gehört dem Volk als res publica, direkt oder
über seine Vertreter, die Abgeordneten. Mit dem neuen
Arbeitsgesetz (loi El Khomri) geht diese Souveränität in
die Hände des Unternehmerverbandes Medef über […]
und die Abgeordneten haben das Volk, das sie gewählt hat,
mit ihrer Zustimmung zu dem Gesetz verraten.“ Hier wird
die Illusion verbreitet, dass das Volk durch das Parlament
an der Macht sei und diese Volksvertreter ihre Verpflichtungen verraten hätten. Also bräuchte man nur sein Kreuz
an der richtigen Stelle zu machen und man hätte sich die
gestohlene Macht wieder zurückerobert.
Mélenchon hingegen hat sich ganz und gar auf
Deutschland eingeschossen. Am 23. August erklärte er in
Journal du Dimanche: „Wenn es gilt, zwischen dem Euro
und der nationalen Souveränität zu wählen, dann wähle
ich die nationale Souveränität. Es gibt letztlich keinen
Grund, weswegen wir Franzosen den Deutschen nachgeben sollten.“ Er bedient damit wieder einmal alle abgelutschten Klischees über Deutschland, seinen bevorzugten
Sündenbock, der ihm dazu dient, nicht nach dem Naheliegenden zu sehen, nämlich den französischen Kapitalisten, die ja außen vor bleiben, da der Bösewicht allein der
Deutsche ist. Dies weckt eher peinliche Erinnerungen an
einen hemmungslosen Nationalismus.
Alle gegen Deutschland?
Alle Linksnationalisten prügeln aus Leibeskräften auf
Deutschland ein, weil dies angeblich allen anderen seine
Gesetze aufzwingt. Da jedoch kein Krieg herrscht, müssen
wundersame Mächte am Werk sein. Wie sollte denn ein
Land alle anderen beherrschen? Darüber hüllen sich die
Verfechter dieser These in Schweigen.
Dabei liegt die Erklärung auf der Hand, wenn man
48 Inprekorr 1/2017
die allseits zugänglichen ökonomischen Rahmendaten
ein wenig zu Rate zieht: Der deutsche Imperialismus
beherrscht Europa auf wirtschaftlichem Gebiet. Deutschland liegt in seiner ökonomischen Leistungsfähigkeit weit
vor Frankreich und der Abstand nimmt weiter zu, wie die
folgenden Beispiele zeigen. Der Gesamtbestand an Ausrüstungsmaschinen, die jünger als 15 Jahre sind, hat sich in
Frankreich um 10 000 Stück verringert, während er sich
im selben Zeitraum in Deutschland von einem ohnehin
besseren Ausgangsniveau aus um 95 000 Stück erhöht hat.
Der französische Produktionsapparat veraltet zusehends.
Im Vergleich zu Deutschland liegt Frankreich 5–7 Jahre
zurück, was die Modernisierung der Industrieanlagen
betrifft, sagt der Maschinenbauunternehmerverband. Die
Gründe für die Deindustrialisierung Frankreichs und sein
hohes Außenhandelsdefizit liegen in der Schwäche seiner
Industrie, die wiederum auf staatliche und unternehmenspolitische Entscheidungen zurückzuführen ist, wonach
eher die kurzfristigen Gewinnerwartungen der Aktionäre
(shareholder value) bedient werden, anstatt langfristige
produktive Investitionen zu tätigen.
Dieser ökonomische Rückstand Frankreichs ist für die
Vorherrschaft Deutschlands in Europa mitverantwortlich.
Die unstillbare Gier der französischen Großkonzerne nach
der „schnellen Mark“ veranlasst sie, auf Teufel komm raus
und zum Schaden der Industrie des Landes die Produktion
auf neue Standorte in jedem beliebigen Land zu verlagern.
Das sog. „Vaterland“ spielt dabei keine Rolle.
So einfach ist das. Aber wer nicht sehen will, der sieht
nicht. Mélenchon liefert dazu eine für ihn typische Erklärung. In seinem Buch Der Bismarckhering schreibt er, dass
die Mehrzahl der französischen Politiker durch die deutsche Wirtschaftsdoktrin infiziert und handlungsunfähig
geworden ist. Ausgerechnet die Politiker, die mit Haut und
Haaren die Interessen der Kapitalkonzerne verteidigen?
Von wegen! Die französischen Kapitalisten glauben, dass
ein Austritt aus dem Euro ihnen viel mehr Nachteile als
Vorteile bringen würde, da ihre multinationalen Konzerne
vom europäischen Binnenmarkt stark profitiert haben und
dies noch immer tun. Und die deutsche Vormachtstellung
kommt ihnen gut zupass, weil sie sich so hinter der EU
verschanzen können, wenn sie zur Mehrung ihrer Profite
den französischen „Proleten“ ans Leder gehen und deren
hart erkämpfte soziale Errungenschaften kassieren wollen.
Dieses Phänomen gilt für den Kapitalismus weltweit
und die französischen Eliten brauchen darin keinerlei
Nachhilfe seitens Deutschlands. Und die wirtschaftliche
Konkurrenz zwischen den französischen und deutschen
D O S S I E R : P ROT E K T I O N I S M U S I N D E R A R B E I T E R K L A S S E
Großkonzernen hindert sie keineswegs daran, in gegenseitigem Einverständnis dem gemeinen Volk die Krisenlasten
aufzudrücken. Bestens veranschaulichen dies die Ein-Euro-Jobs und die wachsende Armut von großen Teilen der
deutschen Bevölkerung. Die deutschen und die französischen Kapitalisten mögen sich gegenseitig bekriegen, aber
in erster Linie geht es bei beiden gegen die Arbeiterklasse
in diesen Ländern. Die Austeritätsmaßnahmen gleichen
sich überall in Europa und auf der Welt.
Die Französische Revolution als Vorbild?
Frédéric Lordon bemüht die Französische Revolution als
Vorbild und geht dabei ganz locker über den Klassencharakter dieser Revolution hinweg. Sich heute darauf zu
beziehen, ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass die
Gesellschaft damals radikal umgewälzt wurde und das alte
Regime mit aller Konsequenz verjagt wurde. Dasselbe gilt
auch für die Revolutionäre der Arbeiterbewegung, von
Marx bis Lenin oder Trotzki, die sehr wohl verstanden
hatten, wie die Nationen geschichtlich entstanden sind
und dass sie gegenüber dem Feudalismus und der damals
herrschenden Kleinstaaterei sehr wohl einen Fortschritt
darstellten und dass der Kampf für die nationale Souveränität von einer Bourgeoisie geführt wurde, die im Aufstieg
begriffen war.
Zugleich aber wurden diese vereinigten Nationen
durch die Bourgeoisie kontrolliert, die ihre Eigeninteressen als solche der ganzen Nation ausgaben. Daher berief
sich auch die republikanische Bourgeoisie auf die Volkssouveränität, als sie das Proletariat während der Revolutionen von 1830 und 1848 auf die Barrikaden schickte, um sie
anschließend wieder zu entmachten. Aus bitterer Erfahrung begriff die Arbeiterbewegung rasch, dass sie ihre
eigenen Interessen von denen der Bourgeoisie zu trennen
hatte, auch wenn diese damals noch in ihrer revolutionären
Phase steckte. Ebenso verstanden sie, dass mit den Begriffen „Volk“, „Nation“ und „nationale Souveränität“ nur die
Klassengegensätze verkleistert werden sollten. Und wenn
heute jemand diese Begriffe hoch hält, dann bedeutet dies
schlichtweg, sich über deren Klassencharakter hinwegzusetzen.
Marx schrieb bereits 1848: „Die neue französische
Revolution ist gezwungen, sofort den nationalen Boden
zu verlassen und das europäische Terrain zu erobern, auf dem
allein die soziale Revolution des 19. Jahrhunderts sich
durchführen kann.“2 Wenn dies 1848 zutraf, dann erst
recht heute im Zeitalter der Globalisierung. Die nationale
Souveränität hat schon längst jede fortschrittliche Seite
verloren, auch wenn sie mit dem Prädikat „links“ versehen
wird, was ohnehin wenig besagt, wenn eine sog. „sozialistische“ Regierung eine rücksichtlose neoliberale Politik im
Land betreibt.
Es gibt keine linke oder rechte Nation, sondern nur
einen Staat in den Händen der Kapitalisten, in dem die
Bevölkerung außen vor ist, selbst wenn sie ihr Wahlrecht
ausübt. Und sollte sie protestieren, wie dies in den vergangenen Monaten gegen das Arbeitsgesetz der Fall war, wird
deutlich, wem sie gegenübersteht, nämlich der Polizei, die
im Bedarfsfall das letzte Bollwerk der bürgerlichen nationalen Souveränität darstellt.
Dass die Bourgeois auch in den Zeiten der multinationalen Konzerne und der Globalisierung von Handel und
Produktion noch immer ihren jeweiligen Nationalstaat
brauchen, liegt daran, dass sie mit dessen Hilfe neue Märkte erobern wollen. Zudem waren es diese Staaten, die nach
der Krise von 2008 Milliarden in die Wirtschaft gepumpt
und die Automobilkonzerne und andere Wirtschaftszweige subventioniert haben, ohne die Aktionäre nur im
Geringsten zu belasten. Die Folgen waren Haushaltskürzungen für alle öffentlichen Dienste und eine repressivere
Politik gegen alle Aufmüpfigen. Und so schließt sich der
Kreis zwischen Staat und Nation.
Linksnationalismus – ein Widerspruch in sich selbst
Volkssouveränität und Rückbesinnung auf die Nation
sind Begriffe, die nicht links sein können, zumindest
wenn man unter links nicht die „Linke“ an der Regierung versteht, sondern ein soziales Lager, nämlich das der
Ausgebeuteten. Hinter der „Nation“ verbergen sich die
Klassenunterschiede, die inzwischen gravierender denn je
sind. Wir sollen bloß glauben gemacht werden, dass wir
mit unseren Ausbeutern gemeinsame Interessen haben und
dass – wie Mélenchon meint – nicht die eigene Bourgeoisie im Land unser Feind ist, sondern die konkurrierenden
Staaten, d. h. die anderen Imperialisten. Indem er sich
jedoch stets auf den Kapitalismus „im Ausland“, ob deutsch
oder US-amerikanisch, kapriziert, stimmt Mélenchon
in das nationalistische Alarmgeheul ein. Er wischt die
Klassenunterschiede beiseite, schiebt den „vaterlandslosen
Finanzhaien“ die Verantwortung für die Krise und die
Austeritätspolitik in die Schuhe und wäscht en passant die
französischen Kapitalisten und ihre politischen Handlanger rein.
Frédéric Lordon prügelt ausdrücklich auf den sog.
„Scheininternationalismus“ ein, nämlich „gewisse revolutionäre Internationalisten, die von vornherein jeden
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Lösungsansatz in einem einzelnen Land verdammen und
stattdessen Gewehr bei Fuß darauf warten, dass sich die
ganze Welt zugleich erhebt, bevor sie irgendeine Initiative
ergreifen“. Indem er die internationalistischen Positionen
ins Lächerliche zieht, will er bloß eine Politik salonfähig machen, die sich in erster Linie auf den Rahmen der
Nation beschränkt. Dabei wissen die von ihm dergestalt
geschmähten Revolutionäre in Frankreich sehr wohl,
dass der Kampf zunächst im eigenen Land beginnt, aber
auch, dass sie darüber hinauswachsen müssen, wenn sie die
Macht der Herrschenden wirklich brechen wollen. Wir
verstehen unter Internationalismus, dass unsere natürlichen Verbündeten die Ausgebeuteten aller Länder sind und
nicht unsere eigene Bourgeoisie. „Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der Weltarena“, schrieb
Trotzki zu Recht in Die permanente Revolution. Und Marx
unterstrich bereits 1848, dass man den Staat nicht von den
Kapitalisten übernehmen kann, sondern dass er zerstört
werden muss. Das aber scheinen die „Entglobalisierer“ der
Pardem nicht verstanden zu haben. Ihr Ehrgeiz liegt darin,
„den Staat zu repolitisieren, um ihn wieder in die Hände
des Volks übergehen zu lassen“ – eine völlige Ignoranz
gegenüber den jahrzehntelangen Kämpfen der ArbeiterInnen, die sich dabei auch stets mit dem Staat auseinandersetzen mussten, wie die Mobilisierungen gegen das Arbeitsgesetz wieder einmal gezeigt haben.
Alter Wein in neuen Schläuchen
Das Programm des „Linksnationalismus“ ist insofern
reformistisch, als es nicht die Grundlagen der wirtschaftlichen Macht der Kapitalisten infrage stellt. Indem sie auf
die Finanzialisierung der Wirtschaft, die internationalen
Verträge und die supranationalen Organisationen einprügeln – mit oftmals guten Gründen, aber in völliger Ignoranz gegenüber dem Wesen des Kapitalismus – nehmen sie
zugleich die real existierenden Kapitalisten aus der Schusslinie. Mélenchon wird nicht müde, zu betonen, dass seine
„Bürgerrevolution“ keine sozialistische ist, und Lordon
pflichtet ihm eifrig bei, indem er alle möglichen Szenarien
für die Eurozone entwirft, aber niemals die Frage konkret
stellt, welche Klasse in der Gesellschaft herrschen soll. Damit wird die sog. „Volkssouveränität“, auf die Mélenchon
und Lordon so versessen sind, jeglichen Inhalts beraubt.
Denn solange eine kleine Minderheit von Ausbeutern die
Wirtschaft zum Nachteil der überwiegenden Mehrheit der
Bevölkerung kontrolliert, solange wird die „Volkssouveränität“ bestenfalls ein süßer Traum bleiben, wenn nicht gar
50 Inprekorr 1/2017
ein Schwindel. Es kann keine reale Entscheidungsgewalt
der Bevölkerung geben, wenn nicht die arbeitende Bevölkerung die Kontrolle über die Wirtschaft, den Staat und
die ganze Gesellschaft übernommen hat.
Die Probleme der griechischen wie auch der französischen, spanischen, deutschen, italienischen etc. Volksmassen werden sich nicht im Rahmen des Kapitalismus lösen
lassen, weder inner- noch außerhalb der Eurozone. Und
die heutigen Führer der sog. „radikalen Linken“ sind von
dieser Erkenntnis weit entfernt. Das Scheitern des Reformismus in Griechenland hat mit dem Linksnationalismus
einen Reformismus in neuer Gestalt befördert, einen Homunculus, der durchaus radikaler daherkommen mag.
Die Losung „nationale Interessen sind die Interessen
des Kapitals“ ist noch immer gültig, und dem Linksnationalismus stellen wir unbeirrt den internationalen Kampf
der Ausgebeuteten in der ganzen Welt gegenüber. „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ hat auch heute noch
sehr viel mehr Gültigkeit als „Linksnationalisten aller
Länder, vereinigt Euch!“, ganz zu schweigen von dem
böswilligen Wortspiel des Front national, wonach man
„inter-nationalistisch“ (man beachte den Bindestrich!) sein
müsse..
Überlassen wir daher den Begriff der Volkssouveränität
getrost jenen, die ihn zu Recht für sich reklamieren, d. h.
den Rechten und Rechtsextremisten. Denn wenn man
sich auf dieses Terrain begibt, könnte man früher oder
später wie Jacques Sapir enden, der als Linksnationalist
startete, um sich nunmehr immer weiter dem Front national anzunähern.
Übersetzung: MiWe
„
1 Eine Entsprechung im deutschen Sprachraum ist das „Personenkomitee EuroExit“ (euroexit.org), das vorwiegend in
Österreich organisiert ist, aber bspw. in Person von Inge Höger
auch in die BRD reicht.
2 Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 7, „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850“, S. 34
Dietz Verlag Berlin/DDR 1960
KUBA
DURCH WELCHE TÜR
GEHT KUBA?
Die „Reformen“ der vergangenen 20 Jahre hatten
bereits viele der einstigen revolutionären Errungenschaften untergraben. Infolge der ökonomischen, sozialen und politischen Krise findet eine
weitere „Öffnung“ des Landes gegenüber dem
Westen und damit dem globalisierten Kapitalismus statt. Dass dieser Marsch in die Richtung
des chinesisch-vietnamesischen Modells nicht
alternativlos ist, versucht der Autor im folgenden
Beitrag darzulegen.
Samuel Farber
„
Im Juli 2016 hat der inzwischen entlassene Wirtschaftsminister Kubas, Marino Murillo, angekündigt, dass die
Regierung wegen der um 20 % geringeren Erdöllieferungen aus Venezuela die Elektrizitätsversorgung um 6 % und
die Treibstoffversorgung um 28 % kürzen will. Derweil
wurden unverzügliche Energieeinsparungen im öffentlichen Sektor mit dem auf dem Fuße folgenden Stellenabbau
verfügt. Murillo warnte vor möglichen Stromausfällen und
weckte damit Erinnerungen an die Schrecken der „Sonderperiode“ der 90er Jahre.
Damit verpasste er den Bemühungen der Regierung
Raul Castro, eine kubanische Version des chinesisch-vietnamesischen Modells, das sich auf eine Einheitspartei im Staat
verbunden mit einer privat- und marktwirtschaftlichen
Öffnung stützt, einen zusätzlichen Dämpfer. Auf politischer
Ebene sollte eigentlich die Kontrolle des Staates über die
BewohnerInnen gelockert werden, aber demokratischere
Verhältnisse haben sich nicht eingestellt. So haben bspw. die
neuen Einwanderungsbestimmungen von 2012, nach denen
die Kubaner die Insel leichter verlassen und zurückkehren
können sollten, nie dazu geführt, Auslandsreisen zu einem
Recht der Bürger werden zu lassen.
Wirtschaftspolitisch wurden eher bescheidene und
auch widersprüchliche Wege beschritten. So ermöglichen
bspw. die Strukturreformen in der Landwirtschaft, Land
für maximal 20 Jahre zu pachten – anders als in China und
Vietnam, wo solche Verträge über einen längeren oder gar
unbegrenzten Zeitraum gelten. Gegenwärtig dürfen Betriebe in etwas mehr als 200 Sparten privat betrieben werden.
Wenn dies auf die Gesamtwirtschaft ausgedehnt worden
wäre, abgesehen von sozial relevanten Bereichen wie dem
Gesundheitswesen, wäre dadurch das Angebot an Produkten und Dienstleistungen auf der Insel deutlich gestiegen.
Die ergänzenden Maßnahmen der Regierung, um die
Strukturreformen zu unterlegen, etwa die Einführung von
Großmärkten oder Geschäftskredite, waren unzureichend
und letzten Endes sogar kontraproduktiv. Obendrein haben
die Bürokratie und Ineffizienz der staatlichen Agentur (Acopio), die ein Abnehmermonopol für den Großteil der landwirtschaftlichen Produkte zu staatlich festgelegten Preisen
besitzt, die Agrarproduktion gebremst. Und viele Produkte
sind vergammelt, weil sie in den staatlichen Fabriken nicht
rechtzeitig weiterverarbeitet wurden.
Dauerhafte Wirtschaftskrise
Vor der gegenwärtigen Krise hat sich die kubanische Wirtschaft von den Folgen der Sonderperiode, die Ende der 80er
Jahre nach dem Zusammenbruch der Comecon-Staaten zu
einer schweren Rezession geführt hatte, teilweise erholen
können. Damals hatte sie zwischen 1992 und 1994 ihren
absoluten Tiefpunkt erreicht, als die Lebensmittelknappheit sogar zu gesundheitlichen Schäden führte – fast 50 000
Menschen erkrankten an der sog. nutritiven Optikusneuropathie. Das BIP liegt inzwischen wieder auf dem Niveau
von 1989, aber die Löhne und Renten hinken noch weit
hinterher und betragen inflationsbereinigt aktuell 27 % bzw.
50 % des damaligen Niveaus. Indessen gehen die Sozialausgaben noch immer zurück.
Der Privatverbrauch der Haushalte dürfte 2016 um
2,8 % und 2017 sogar um 7,5 % zurückgehen. Zwar gibt es
keine Hungersnot mehr, wie damals Anfang der 90er Jahre,
aber die Bevölkerung muss weiterhin schwer um ihr täglich
Inprekorr 1/2017 51
KUBA
Brot kämpfen. Die vielzitierte Entwicklung der urbanen und
ökologischen Landwirtschaft in Kuba im Gefolge der Krise
macht nur einen relativ geringen Anteil an der Gesamtproduktion aus und reicht nicht aus, um den Rückgang der
Nahrungsmittelproduktion nach 1989 zu kompensieren.
Der kubanische Ökonom Juan Triana Cordoví berichtet,
dass Hotels wegen des mangelnden Angebots sogar Gemüse
importieren müssen, bis hin zum Maniok, der in Kuba zu
den Grundnahrungsmitteln gehört. Insgesamt muss Kuba
mehr als die Hälfte der Lebensmittel für jährlich 2 Milliarden Dollar importieren.
Auch im Erziehungs- und Gesundheitswesen wurden
viele der gesteckten Ziele nicht erreicht. Viele Lehrer, die
wegen der geringen Löhne den Beruf gewechselt haben,
wurden nicht ersetzt und inzwischen hat die Zahl der
Privatlehrer – meist Schullehrer, die in ihrer Freizeit dazuverdienen – sprunghaft zugenommen. Zahlreiche Schulen,
Bibliotheken und Forschungsanstalten sind baufällig. Zu
Beginn des Schuljahres mussten gar 350 Schulen deswegen
geschlossen werden. Gleiches gilt für zahlreiche Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen, die
mit reduziertem Personal am unteren Level arbeiten, da
die Regierung viele Allgemein- und Fachärzte im Tausch
gegen Erdöl und Devisen nach Venezuela und in andere
Länder geschickt hat.
Sehr wahrscheinlich werden die vorsichtigen und teils
widersprüchlichen Reformen des gegenwärtigen Regimes
ihre Urheber aus der alten Garde der Revolutionsführer
nicht überdauern. Ihre Folgegeneration in der Staatsbürokratie wird wahrscheinlich das chinesisch-vietnamesische
Modell kopieren, eher noch mit einer Portion russischer Kapitalismus versehen, wo eine Oligarchie das Staatseigentum
geplündert hat und eine Nominaldemokratie herrscht, gerade ausreichend, um dem US-Kongress die formale Handhabe zu verschaffen, das Helms-Burton-Gesetz von 1996 und
damit die Wirtschaftsblockade der Insel abzuschaffen.
Der kommenden Führungsgeneration wird es nicht nur
um das bloße Wohlwollen der USA zu tun sein, sondern
auch um die Unterstützung durch Auslandskapital und wenigstens teilweise auch des exilkubanischen Kapitals in den
USA. Dies soll natürlich unter dem Vorzeichen einer totalen
Kontrolle des Staates, der Massenmedien und der Massenorganisationen – einschließlich der Staatsgewerkschaften
– durch die Regierung geschehen, um künftigen Investoren
„Frieden, Recht und Ordnung“ zu garantieren.
Allerdings gibt es auch inner- und außerhalb der Regierung andere Wirtschaftsmodelle, die zur Diskussion stehen,
die natürlich sehr diskret verläuft, da das politische System
52 Inprekorr 1/2017
nun mal keine offene, ehrliche und umfassende Diskussion
erlaubt.
Staatsbürokratie vs. Selbstverwaltung?
Seit geraumer Zeit propagieren „modern“ gesonnene Regimekritiker die Errichtung einer freien Marktwirtschaft
als einzig „vernünftiger“ Alternative zur bürokratischen
Verwaltung der Wirtschaft unter Kontrolle der Kommunistischen Partei. Dabei umfasst diese Position ein breites
Spektrum an Meinungen, das von Hardcore-Marktliberalen
bis zu sozialdemokratischen Sozialstaatsideologen reicht.
Letztere überschneiden sich mit kubanischen Wirtschaftswissenschaftlern einschließlich der Mitglieder des Studienverbands für die kubanische Wirtschaft an der Universität
von Havanna.
Aber fast keiner dieser Kritiker hat bisher offen die Frage
angesprochen, was mit den großen staatseigenen Unternehmen werden soll, die den bedeutendsten Teil der kubanischen Wirtschaft ausmachen. Stattdessen setzen sie auf
die Gründung kleiner und mittlerer Unternehmen, wobei
offen bleibt, was sie unter einem „mittleren“ Unternehmen
verstehen. Zugleich unterstützen sie die Maßnahmen der
Regierung zur Schaffung eines anderen Rationierungssystems, bei dem bedürftige Personen anstatt der Produkte
subventioniert werden. Gegenwärtig erhalten alle Kubaner
unabhängig von ihrem Einkommen eine bestimmte Menge
an Produkten zu niedrigen, weil subventionierten Preisen.
Nach dem neuen System sollen nur noch die Ärmsten und
Bedürftigsten diesen Vorzug genießen, was Umstellungen auf dem Markt für landwirtschaftliche Erzeugnisse
und Budgetersparnisse für die Regierung mit sich brächte.
Den ersten Schritt in diese Richtung hat die Regierung
bereits unternommen, als sie die Zahl der subventionierten
Produkte gekürzt hat. Letztlich befürworten diese Kritiker
auch die Abschaffung des staatlichen Außenhandelsmonopols. Stattdessen sollen die Kubaner alles importieren
dürfen, was sie sich leisten können.
Wie die anderen Oppositionellen musste auch die kritische Linke, die vorwiegend anarchistische und sozialdemokratische Strömungen umfasst, mit staatlicher Überwachung und Repression zurechtkommen. Sie sind gegen die
Kürzungen im Sozialhaushalt und plädieren – ein Novum
in der Geschichte der kubanischen Linken! – für eine Wirtschaft unter Selbstverwaltung der Lohnabhängigen. Dabei
lassen sie jedoch den Aspekt einer demokratischen Planung
oder Koordination zwischen den einzelnen Wirtschaftssektoren außer Acht. Nach ihrem Verständnis sollen die
autonomen Unternehmen untereinander konkurrieren, was
KUBA
in etwa dem jugoslawischen System zwischen 1950 und 1970
unter Tito entspricht.
Dort herrschte ein Marktsozialismus mit Selbstverwaltung auf lokaler Ebene, aber unter der Kontrolle des Bundes
der Kommunisten Jugoslawiens auf regionaler und nationaler
Ebene. Dies führte zwar zu einer stärkeren Beteiligung der
Arbeiter an den Entscheidungen und mehr Produktivität
auf lokaler Ebene, aber wegen der Konkurrenzsituation
und der fehlenden Planung auch zu Arbeitslosigkeit, starken
konjunkturellen Schwankungen, ungleichen Löhnen und
starken regionalen Unterschieden zugunsten der Teilstaaten
im Norden. Da die Beschäftigten nichts entscheiden durften,
was über ihren Arbeitsplatz hinausging, entwickelten sie eine
provinzielle Sichtweise ohne Blick auf wirtschaftliche Notwendigkeiten von nationaler Tragweite. Daher gab es für sie
auch keinen Grund, Investitionen in andere Unternehmen zu
unterstützen, besonders nicht, wenn diese weit entfernt lagen.
Wie Cathérine Samary in Die Zerstörung Jugoslawiens
schreibt, ist das jugoslawische Selbstverwaltungsmodell letzten Endes daran zugrunde gegangen, dass es nicht zugleich
einer bürokratischen Planwirtschaft und den Markterfordernissen genügen konnte. Die 70er Jahre waren die letzten, in
denen noch ein Wirtschaftswachstum zu verzeichnen war,
bevor dann eine Gesamtverschuldung von 20 Milliarden
Dollar erreicht wurde, was schließlich den IWF auf den Plan
rief.
Insofern würde es eher neue Probleme schaffen, wollte
man dem jugoslawischen Modell nacheifern. Zudem hat sich
niemand aus diesen linksoppositionellen Strömungen damit
befasst, wie denn ein Selbstverwaltungsmodell ohne eine
Arbeiterbewegung entstehen oder wie es funktionieren soll,
ohne dass sich die Lohnabhängigen dafür engagieren.
Es gibt eine andere Strömung innerhalb der kritischen
Linken, die jedes Zugeständnis an das Kapital und private
Unternehmen mit dem Argument ablehnt, dass ein solches
per definitionem mit dem Sozialismus nicht vereinbar ist.
Zugleich aber liefert diese Strömung keine Antwort auf die
entscheidende Frage, wie ein sozialistisches und demokratisches Kuba aus der gegenwärtigen Armut und wirtschaftlichen Stagnation heraus ohne jedwede Kompromisse entstehen soll.
Übergangswirtschaft
Immer mehr Kubaner im In- und Ausland halten den Sozialismus, ob autoritär oder demokratisch geprägt, für utopisch
und auch weniger erstrebenswert. Auch denjenigen, die an
ihm festhalten wollen, erscheint er – angesichts der Wirtschaftssituation und des Drucks der kapitalistischen Staaten –
als unrealistisch. Den Sozialismus in einem einzelnen Land
errichten zu wollen, ist nach der marxistischen Theorie
nicht möglich, v. a. wenn dieses Land wirtschaftlich unterentwickelt und von einer kapitalistischen Welt umgeben
ist, die nicht mehr durch eine revolutionär-sozialistische
Bewegung angefochten wird. Aber selbst wenn Kuba keinen imperialistischen Nachbarn zum Feind hätte, könnte
sich das Land nicht wirtschaftlich in Form eines „autarken
Sozialismus“ entwickeln, da es weitgehend vom Außenhandel abhängt. Abgesehen von den Erdöleinfuhren basiert die
Wirtschaft auf Tourismus und dem Export medizinischer
Versorgungsleistungen, von Nickel und Pharmazeutika
sowie auf dem extrem anfälligen Zuckerrohranbau. Insofern verhindert allein die Integration in den kapitalistischen
Weltmarkt die Entfaltung einer vollständigen sozialistischen
Demokratie.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass Kuba die sozialistische
Idee aufgeben müsste, sondern dass es sich vielmehr Gedanken über eine Übergangswirtschaft machen muss, die ein
Überleben in feindlicher Umgebung ermöglicht, bis sich die
internationale Lage wieder geändert hat. In seinem Werk
Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft
unterschied Engels zwischen dem modernen Kapitalismus,
in dem die Produktion vergesellschaftet ist, aber die Produkte vom Kapitalisten kontrolliert und angeeignet werden,
und dem Sozialismus, in dem sowohl die Produktion als
auch das Eigentum an den Produktionsmitteln vergesellschaftet sind. Der dahinter stehende Gedanke ist, dass das
Eigentum an den Produktionsmitteln, das auf kollektiver
Arbeit gründet, vergesellschaftet werden muss und nicht
das Eigentum, mit dem in familiärem oder individuellem
Rahmen produziert wird, und noch weniger das, was dem
persönlichen Gebrauch dient, wie Kleidung, Möbel oder
Fahrzeuge.
Folglich muss Kuba in einer Übergangswirtschaft den
privaten Kleinbesitz an Produktionsmittel gestatten, nicht
aus einer opportunistischen Anpassung an die sog. freie
Marktwirtschaft, sondern weil dies einer marxistischen
Analyse des Kapitalismus entspricht. Dabei wäre der Privatsektor der Kleinunternehmen, der nach Marktmechanismen
funktioniert, dem öffentlichen Sektor untergeordnet, in
dem die Großindustrie zusammengefasst ist: Tourismus,
Pharmaindustrie, Bodenschätze und Banken. Diese Sektoren müssen unter der Kontrolle der Beschäftigten stehen
und untereinander koordiniert und demokratisch geplant
werden. Aufgabe der Regierung wäre es, diese staatliche
Wirtschaft mit der der Kleinunternehmen auf einem demokratisch festgelegten Weg in Einklang zu bringen, indem
Inprekorr 1/2017 53
KUBA
es den aktuellen und künftigen gesellschaftlichen Bedarf an
Gütern genauestens abwägt.
Ökonomische …
Zunächst einmal geht es um eine ehrliche Bestandsaufnahme der Wirtschaftslage, die sich deutlich verschlechtert hat,
auch schon vor der gegenwärtigen Krise infolge der verminderten Erdöleinfuhren aus Venezuela. Da ist zum einen der
große öffentliche Sektor, der drei Viertel der Volkswirtschaft
umfasst und auf brüchigen Beinen steht. Wie der kubanische
Wirtschaftswissenschaftler Pedro Monreal sagt, hat selbst die
Regierung eingestanden, dass 58 % der staatlichen Unternehmen „schlecht oder unzureichend“ funktionieren. Schon
vor der Krise waren die Wachstumsraten niedrig und haben
sich seither weiter verschlechtert. Nach den Berechnungen
eines anderen Ökonomen, Pavel Vidal Alejandro, wird das
BIP 2016 stagnieren und 2017 voraussichtlich sogar um 3 %
zurückgehen. Damit wäre erstmals seit Ende der 90er Jahre
wieder eine Rezession vorhanden.
Unter der linken Opposition gibt es Stimmen, die sich
u. a. aus ökologischen Gründen gegen ein Wirtschaftswachstum aussprechen. Dabei wird übersehen, dass eine wirkliche
Demokratisierung u. a. nur möglich ist, wenn die Bewohner
bessere materielle Bedingungen haben. Die permanente
Stagnation der Wirtschaft und die Verschlechterung der
Lebensbedingungen führen zu massiver Auswanderung, was
nicht nur an sich schon tragisch ist, sondern auch das Potential allein für eine demokratische und fortschrittliche – um
noch nicht einmal von einer sozialistischen zu sprechen –
Oppositionsbewegung in Kuba weiter schwächt.
Noch beunruhigender ist, dass die Investitionsrate für
die einfache Reproduktion des bestehenden Kapitals eine
der niedrigsten in Lateinamerika ist und unter 12 % des BIP
liegt. Für 2016 sieht die Regierung gar eine Senkung um
17 % und für 2017 um 20 % vor. Damit würden die Bruttoinvestitionen auf unter 10 % des BIP sinken und nur halb so
hoch sein, wie für die wirtschaftliche Entwicklung notwendig wäre.
Diese geringe Investitionsquote verhindert nicht nur ein
Wirtschaftswachstum, sondern führt zu einem weiteren Verfall der ohnehin geringen Wirtschaftsleistung und damit des
Lebensstandards. Zudem kann das Land keine weiteren Ressourcen zur Verfügung stellen, um die wachsenden Touristenzahlen zu bewältigen, die sich 2014 auf 3 Millionen, 2015
auf 3,5 Millionen und 2016 voraussichtlich auf 3,7 Millionen
erhöht haben – auch eine Folge der Wideraufnahme der Beziehungen zwischen Kuba und den USA. Indem die Regierung Obama das Verbot aufgehoben hat, dass Exilkubaner
54 Inprekorr 1/2017
ihre Verwandten auf der Insel mit Devisen unterstützen, hat
sich die Nahrungsmittelknappheit noch weiter verschärft, da
die gestiegene Nachfrage auf ein zu geringes Angebot stößt.
Auch die wirtschaftliche Produktivität hinkt hinterher. Mit Ausnahme der Süßkartoffeln sind die Agrarerträge
niedriger als im sonstigen Lateinamerika. In der Industrie
ist lediglich der Biotechnologiesektor produktiver als in den
umliegenden Staaten. Eine Steigerung der Produktivität, d. h.
mit der vorhandenen Arbeitskraft mehr zu erzeugen, ist nicht
nur im profitorientierten Kapitalismus unerlässlich sondern
dient insgesamt dazu, beschwerliche Arbeit zu mindern, den
Lebensstandard zu verbessern und mehr Freizeit zu schaffen.
Wenn Che Guevara einst vermehrten Arbeitseinsatz einforderte (eher durch moralische als durch materielle Anreize),
so ist dies inzwischen zu einem Zwangsmittel verkommen.
Dabei könnten eine bessere Organisation der Arbeit, mehr
Technologie und v. a. Arbeiterkontrolle zum selben Ergebnis
führen. Selbstverwaltung wäre an sich bereits ein erheblicher
Anreiz, die Produktivität zu steigern, aber das herrschende
bürokratische System führt zu Desorganisation und Chaos
und schafft für die Beschäftigten weder politische Anreize,
indem sie bspw. über ihre Arbeitsbedingungen mitbestimmen könnten, noch materielle, wie sie das kapitalistische
System vorsieht. Aus den einstigen „moralischen Anreizen“
ist eine Methode geworden, den Arbeitern die Verantwortung und mehr Arbeit aufzulasten, ohne ihnen tatsächliche
Kontrollbefugnisse oder bessere Bezahlung zu gewähren.
…und ökologische Hindernisse
Die linken Wachstumskritiker berufen sich hauptsächlich auf
ökologische Gründe. Kuba hat erhebliche Umweltprobleme,
u. a. wegen zunehmender Leckagen in der veralteten und
kaum gewarteten Wasserversorgung. Dadurch gehen erhebliche Mengen an Wasser verloren, die sich auf den Straßen
oder auf ungenutztem Land stauen, während zugleich die
Bewohner nicht ausreichend versorgt werden. Ein gefährlicher Nebeneffekt dabei ist die Zunahme von Aedes Aegypti,
einem Insekt, das u. a. das Dengue-Fieber überträgt.
Daneben führt die zunehmende Haltung von Schweinen
und Geflügel und der Gemüseanbau im eigenen Garten – von
der Regierung als „urban gardening“ propagiert – im Verbund mit der immer schlechter funktionierenden Abfallentsorgung – zu einer Zunahme gesundheitlicher Risiken in den
Städten. Insofern sind die jüngsten Erfolgsmeldungen, was
die Eindämmung der Zika-Epidemie und die nahezu komplette Ausrottung des Dengue-Fiebers anlangt, mit Vorsicht
zu genießen, da die Bedingungen, die zur Ausbreitung dieser
Krankheiten führen, nicht beseitigt sind.
KUBA
Die linke Opposition in Kuba hat ihren wachstumskritischen Kurs noch verstärkt, seit der Wirtschaftswissenschaftler Jeffrey Sachs kürzlich bei einem Besuch in Havanna „dem
kubanischen Volk [geraten hat,] nicht den Weg des 20. Jahrhunderts weiter zu verfolgen“. Wie der linke Journalist
Fernando Ravsberg berichtet, hat Sachs dabei den Kubanern
eine nachhaltige Entwicklung ans Herz gelegt und den
Aufbau einer biologischen Landwirtschaft, die ohne Traktoren, Dünger und Pestizide auskommt. Wenn diese Aussage
zutrifft, dann hat Sachs bei seinen umweltfreundlichen
Empfehlungen keine Kosten-Nutzen-Rechnung angestellt.
Kleine, verbrauchsarme Traktoren, wie sie die kubanische
Regierung im Joint Venture mit US-Kapital produzieren
will, verbrauchen zwar weiterhin Diesel, aber diese Umweltbelastung ist nicht zu vergleichen mit den Nachteilen einer
Landwirtschaft, in der Menschen und Tiere als Zugkraft
eingesetzt werden. Damit sänke die Produktivität erheblich
und zugleich müsste ungeheuer viel Energie seitens Mensch
und Tier investiert werden.
Kuba hat bereits die geschichtliche Erfahrung gemacht,
wie die zwangsweise Aufgabe des Maschineneinsatzes in der
Landwirtschaft zu Beginn der Sonderperiode zu enormen
Einschränkungen unter der Bevölkerung geführt hat. Dasselbe gilt für die Transportmittel, wo in den 90er Jahren immer weniger Fahrzeuge im Stadtverkehr eingesetzt wurden
und die Bewohner vieler Städte auf aus China importierte
Fahrräder zurückgreifen mussten. Dies wurde später wieder
aufgegeben, nicht weil die Kubaner lieber auf das spärliche
Angebot überfüllter Busse oder teurer Sammeltaxis zurückgegriffen hätten (nur wenige Kubaner besitzen ein eigenes
Auto), sondern weil sie damit nicht rechtzeitig aus ihren
abgelegenen Wohnorten an ihren Arbeitsplatz gelangen
konnten und in der Regenzeit obendrein Sturm und Regen
ausgesetzt waren.
Die chinesische Regierung animiert die eigene Bevölkerung, sich Autos zu kaufen, was zu massiven Schadstoffbelastungen der Atemluft in den Städten führt. Dies sollte für
Kuba Warnung genug sein, aus Umweltschutzgründen ein
effizientes öffentliches Personenverkehrssystem einzuführen.
Außerdem muss Kuba dringend die Stromerzeugung auf der
Basis erneuerbarer Energien ausbauen. Diese repräsentieren aktuell bloß 5 % der Gesamterzeugung, was unter dem
lateinamerikanischen Durchschnitt liegt.
Eine sozialistische Alternative
Eine Orientierung auf eine sozialistische Gesellschaft erfordert nicht nur ein entsprechendes Programm, sondern auch
dessen politische Umsetzung. Dies beinhaltet eine konkrete
Strategie und taktische Erwägungen, um sich gegenüber
den Vorstellungen seitens der Regierung und der verschiedenen Oppositionsströmungen positionieren zu können.
Dabei mag es durchaus Bereiche geben, in denen die sozialistische Opposition mit Linkskatholiken oder kritischen
Sozialdemokraten übereinstimmt. Dies betrifft etwa die
bäuerliche Landwirtschaft und deren Produktivität, indem
der Nießbrauch für die Kleinbauern festgeschrieben wird
und die Ernte nicht zu staatlich festgelegten Preisen abgegeben werden muss oder indem für die Kleinbauern und
Kleinbetriebe ein Großmarkt eingerichtet wird.
Für die Schaffung von Arbeitsplätzen in den Städten
müsste auf die Bildung von Kooperativen gesetzt werden, in
denen sich die Beschäftigten freiwillig zusammenschließen
und nicht auf Weisung durch die Regierung, die bloß defizitäre Unternehmen oder zentral schwierig zu verwaltende
Geschäftsbereiche, wie etwa kleine Gaststätten, loswerden
will. Zugleich muss sich die Opposition gegen jegliche
Vorstöße verwahren, die lauthals alle Bereiche privatisieren
wollen, einschließlich derer der öffentlichen Daseinsvorsorge, wie Erziehungs- und Gesundheitswesen. Den Gegnern
des staatlichen Außenhandelsmonopols kann entgegnet
werden, dass ein demokratisch geführter Staat seinen
Außenhandel auf strikter Basis von Prioritäten betreiben
können muss, entlang von sozialen Kriterien zugunsten der
bedürftigsten Bevölkerungsschichten und zum Erwerb von
Investitionsgütern, die der wirtschaftlichen Entwicklung
am dienlichsten sind. Ohne diese Kautelen würden nur die
reichsten Kubaner die spärlichen Devisenvorräte plündern,
um Luxusartikel wie Nobelkarosserien oder Designermöbel
etc. zu importieren.
Auch gegen einen anderen Trend muss man sich wehren, der sowohl von Teilen der Opposition als auch zunehmend aus dem Regierungslager vertreten wird. Nämlich
dass Beihilfen künftig personenbezogen und nicht durch
subventionierte Waren gewährt werden sollen, wodurch ein
universell geltendes System durch eines ersetzt würde, das
sich nur an die bedürftigen Kubaner wendet. Selbst wenn
bei Ersterem auch reichere Leute profitieren, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass eine solche Umstellung den
sozialen Zusammenhalt unterminieren würde. Weltweit
wurde die Erfahrung gemacht, dass diese Form von Sozialhilfe zur Stigmatisierung der Empfänger führt und auf lange
Sicht dazu, ihr die politische Rechtfertigung abzusprechen,
so dass sie am Ende nicht mehr finanziert und durchgesetzt
werden könnte. Eine Alternative könnte darin bestehen,
eine gleitende Beihilfeskala einzuführen, die sich reziprok
zum Einkommen verhält. Damit wäre den unterschiedliInprekorr 1/2017 55
KUBA
chen Bedürfnissen Rechnung getragen und zugleich bliebe
die politische Akzeptanz gewahrt.
Als Marxisten verstehen wir sehr wohl, dass die Beihilfen
selektiv gewährt werden müssen, da unter den gegenwärtigen Bedingungen die Wirtschaft eines Landes kurzfristig
zusammenbrechen würde, wenn alles gratis zur Verfügung
gestellt oder unterhalb der Produktionskosten verkauft
würde. Und ein relativ unterentwickeltes Land wie Kuba hat
erst recht zu wenige Überschüsse, um die Produkte umsonst
oder verbilligt abgeben zu können. Dennoch halten wir
am Prinzip der Universalität der Beihilfen fest, da auch die
Spielräume dafür in dem Maße größer werden, wie sich die
Wirtschaft produktiver und stärker entwickelt.
Neoliberale Kritiker und selbst die Regierung plädieren
für Investitionen aus dem Ausland, um die Unterkapitalisierung der kubanischen Wirtschaft aufzufangen. Viele
Linke sind dagegen, weil sie darin ein Einfallstor für den
Kapitalismus und eine Beherrschung des Landes von außen
sehen. Da jedoch die produzierende Industrie im Lande
unterentwickelt ist, ist eine kontrollierte und selektive Öffnung für ausländische Kapitalinvestitionen unumgänglich.
Damit könnten neue Produktionsanlagen geschaffen und das
Transportsystem sowie die allfällige Infrastruktur erneuert
werden.
Zugleich könnten dadurch erheblich mehr Arbeitsplätze
geschaffen werden und ein Triggereffekt zur Entwicklung
neuer Industriezweige entstehen, mit denen die bereits bestehenden ergänzt oder weiter entwickelt würden. Zugleich
müssten unabhängige Gewerkschaften darüber wachen,
dass über ausländisches Kapital nicht die Löhne und Arbeitsbedingungen im Lande angegriffen werden. Eine der
ersten Maßnahmen in diesem Zusammenhang müsste darin
bestehen, dass nicht die Regierung wie bisher die Lohnsummen ausländischer Investoren für die einheimischen
Beschäftigten einkassiert und nur einen Bruchteil davon an
die Bevölkerung weiterreicht unter dem Vorwand, damit
Sozialausgaben und Regierungsaufwendungen bestreiten zu
müssen. Diese Ausgaben könnten auch über ein transparentes und gerechtes Steuersystem bestritten werden anstatt über
das Monopol des Staates beim Verkauf und der Kontrolle der
einheimischen Arbeitskräfte.
Natürlich könnten ausländische Investoren abgeschreckt
werden, wenn die Produktion durch die Beschäftigten und
starke Gewerkschaften kontrolliert würde. Trotzdem könnte
dieses Handicap überwunden werden, wenn die öffentliche
Verwaltung und das Steuersystem ehrlich gehandhabt werden und daneben natürliche Ressourcen und Arbeitskräfte
zur Verfügung stehen, die es woanders nicht gibt.
56 Inprekorr 1/2017
Kritiker und Oppositionelle von rechts unterschätzen oder ignorieren gar die entscheidende Bedeutung der
wachsenden Ungleichheit auf Kuba. Für die Linke hingegen
sollte dies ein wichtiger Ansatzpunkt sein, um für unabhängige Gewerkschaften und ein progressives Steuersystem
zu kämpfen. Damit wäre eine effizientere Politik machbar
als gegenwärtig, wo durch bürokratischen Wildwuchs die
Kleinunternehmen und Selbständigen gemaßregelt werden.
Dies soll nicht heißen, dass es gar keine Regulierung
mehr geben soll. Vielmehr ist diese unerlässlich, wenn es
um die Sicherheit der Arbeitsbedingungen, das Gesundheits- und Rechtswesen und die gewerkschaftlichen Rechte
geht. Aber sie müsste durch fachspezifische Organisationen
unter Kontrolle und Überwachung durch die Lohnabhängigen und nicht durch eine zentrale Bürokratie gewährleistet
werden, um den Beschäftigten und nicht den Eigentümern
zugute zu kommen. Dafür müsste man eindeutig trennen
zwischen den Regulierungen, die die Interessen der Lohnabhängigen schützen sollen, und denen, die nur den Interessen der Bürokratie dienen.
Indem sich die kubanische Linke eindeutig gegen die
Vorstellungen der undemokratischen Regierung und der
pro-kapitalistischen Opposition positioniert, könnte sie
spezifische Forderungen aufstellen, mit denen sie die Bevölkerung mobilisieren kann. Damit ließe sich eine Bewegung
aufbauen, oder zumindest eine eindeutige organisatorische
Alternative, auch wenn dafür erst einmal die Repression
seitens der Regierung und die skeptische Zurückhaltung bei
der Bevölkerung überwunden werden müssen.
Gegenwärtig lässt das kubanische Regime keine anderen politischen Parteien zu, genauso wenig unabhängige
Gewerkschaften oder freie Medien. Dies wäre natürlich eine
Voraussetzung, um den hier dargelegten Übergang zu einem
anderen politischen und gesellschaftlichen System zu erleichtern. Nichtsdestotrotz muss die linke Opposition öffentlich
für ein alternatives Modell eintreten, wo die Chancen und
Probleme bei der Errichtung einer sozialistischen Demokratie klar benannt werden. Damit würde sie die Bevölkerung in die Lage versetzen, statt zu resignieren, für die real
vorhandene Perspektive einer antikapitalistischen, radikal
demokratischen und sozialistischen Alternative zu kämpfen.
Aus Jacobin https://www.jacobinmag.com/2016/10/alternative-cuba-socialism-left-opposition-worker-control/
Übersetzung: MiWe
„
D O S S I E R : B E S TA N D S AU F N A H M E D E R A R B E I T E R K L A S S E
DOSSIER:
BESTANDSAUFNAHME DER
ARBEITERKLASSE
NUR WER LEBT,
KANN KÄMPFEN
Ein Dossier aus l’Anticapitaliste 354 vom
13.Oktober 2016, übersetzt von MiWe
Es ist schwer, eine Arbeiterklasse, die aus über drei
Milliarden Individuen besteht, in einem Zug zu
porträtieren. Nie zuvor war diese Klasse so zersplittert und reicht vom Techniker, der in einem Labor
eines französischen Elektronikunternehmens arbeitet, bis hin zur Näherin in einer einsturzgefährdeten Klitsche in Bangladesch. Dennoch wollen
wir diese seit langem bestehende Debatte in Form
einer Skizze aufgreifen.
„Als Klassen bezeichnet man große Menschengruppen, die sich voneinander unterscheiden nach ihrem
Platz in einem geschichtlich bestimmten System der
gesellschaft lichen Produktion, nach ihrem (größtenteils in Gesetzen fixierten und for mulierten) Verhältnis zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in
der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und
folglich nach der Art der Erlangung und der Größe
des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, über den
sie verfügen. Klassen sind Gruppen von Menschen,
von denen die eine sich die Arbeit einer andern aneignen kann infolge der Ver schiedenheit ihres Platzes
in einem bestimmten System der gesellschaft lichen
Wirtschaft.“1
Da die Arbeiterklasse zunehmend weniger durch
ihre Kämpfe in Erscheinung tritt, wird selbst dieser Begriff inzwischen infrage gestellt, und vom Proletariat
will erst recht niemand mehr schreiben oder sprechen.
Gewerkschafter und Soziologen machen für die gesunkene soziale Konfliktbereitschaft die gegenüber Anfang
und Mitte des vorigen Jahrhunderts fundamental
gestiegene Zersplitterung der Klasse verantwortlich.
Fand nach 1930 noch im Zuge der Taylorisierung und
des Fordismus ein Konzentrationsprozess in Großfabriken statt, der die Mehrheit der Klasse umfasste, werden
heute die Betriebe zerlegt, abgebaut oder ausgegliedert
– woran auch das Bestehen riesiger Arbeitersiedlungen
in Asien nichts ändert. Dieser Prozess führt zu einer
Schwächung der Kollektive und der Organisationen,
die sich gegen soziale Einschnitte zur Wehr setzen
können. In den traditionellen Industrieländern geht es
aktuell vorrangig um Abwehrgefechte gegen Entlassungen und Betriebsschließungen. In den Schwellenländern steht der Kampf um humane Arbeitsbedingungen, um Arbeitsschutzgesetze und gegen Hungerlöhne
im Vordergrund.
„Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft
des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse
bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht
für sich selbst. In dem Kampf […] findet sich diese Masse
zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst.“2
Nach dem Zusammenbruch der beiden großen historischen Strömungen der Arbeiterbewegung zwingt
uns der dringend erforderliche Sturz des kapitalistischen
Systems dazu, wieder Wege zu finden, die von den bloßen
Abwehrkämpfen zum entscheidenden „letzten Gefecht“
Inprekorr 1/2017 57
D O S S I E R : B E S TA N D S AU F N A H M E D E R A R B E I T E R K L A S S E
führen. Die folgenden Beiträge sollen einen Baustein der
hierfür fälligen Bestandsaufnahme liefern.
fall, ganz zu schweigen vom zunehmend grassierenden
Union Busting.
1 W.I.Lenin - Werke, Band 29, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1976
2 MEW 4, 180 f
Gestern …
DIE ARBEITERBEWEGUNG ZWISCHEN GESTERN
UND HEUTE
Nicht nur die Strukturen der Arbeitsprozesse
und deren Auswirkungen auf das Proletariat
haben sich unter dem Neoliberalismus
verändert sondern auch Umfang und
Formen gewerkschaftlicher und betrieblicher
Organisation. Robert Pelletier
Die tiefgreifende Umstrukturierung des Produktionssektors seit Mitte der 70er Jahre wurde mit der Zerlegung von
Belegschaften und der Individualisierung der Beschäftigten vollzogen. Dieser Prozess ging einher mit einer druckvollen ideologischen Kampagne, in der die unternehmerfreundliche Presse die Verdienste des Unternehmens und
die Qualität seiner Produkte hervorhob, und mit einer
Neuordnung der Hierarchie, wo aus den „Unteroffizieren“
des Kapitals, wie Marx die Aufseher, Meister und Vorarbeiter genannt hat, Animateure und Propagandisten der
„Unternehmenskultur“ gemacht wurden, damit sich die
Lohnabhängigen als Individuen freudig in die Selbstausbeutung dreingeben.
Die Begleitmusik dieser Entwicklung besteht in der
Zunahme von Selbstmorden am Arbeitsplatz quer durch
die Berufsgruppen – ob Fließbandarbeiter in der Automobilfabrik, Bedienstete bei der Post oder Angestellte im
Supermarkt – und immer mehr Mobbing im Krankheits58 Inprekorr 1/2017
Außer seinem wirtschaftlichen Bankrott hat der „real existierende“ Sozialismus in den Parteien und Gewerkschaften
ein ideologisches und politisches Vakuum hinterlassen. Mit
ihrer ausdrücklichen Integration in die Maschinerie des
kapitalistischen Systems haben die sozialdemokratischen
Parteien, denen weder etwas Sozialistisches noch Demokratisches anhaftet, besiegelt, dass sie noch nicht einmal
mehr als fallweise Alternative zu den klassisch bürgerlichen
Parteien gelten können.
Ende der 90er Jahre gab es ein Zusammenwachsen der
Klassenkämpfe mit den sozialen Bewegungen, etwa der
Frauenbewegung (besonders über den Weltfrauenmarsch),
der LGBT*-Bewegung oder der Umweltbewegung, als
die Antiglobalisierungsbewegung ihren vielversprechenden Aufschwung nahm (Seattle, ESF, WSF etc.) und mit
einer Massenbewegung und antikapitalistischen Mobilisierungen gerechnet werden konnte. Stattdessen haben
wir erlebt, wie in den letzten Jahren der arabische Frühling
unter der Konterrevolution zusammenbrach und die Erwartungen an die fortschrittlichen Regierungen Lateinamerikas in Brasilien, Venezuela oder Bolivien weitgehend
zerschellten.
Zwar gibt es noch immer Mobilisierungen und soziale
Kämpfe, aber die politischen Alternativen sind völlig
heterogen und reichen von der linksnationalistischen
Wahlkandidatur eines Mélenchon über Bernie Sanders,
der 5-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo oder Syriza
bis hin zu Podemos. Angesichts dieser wenig plausiblen
und inkonsistenten Alternativen erleben wir einen Aufschwung rechtspopulistischer und klerikal-reaktionärer
Strömungen.
Auf dem gewerkschaftlichen Sektor ähnliches Bild: Die
Comisiones obreras in Spanien (früher KP-nah) sind der
sozialdemokratischen UGT auf dem Weg in die Sozialpartnerschaft gefolgt und unterstützen die Sparpolitik der
Regierung; die vormals ebenfalls KP-nahe CGIL hat sich
den Erpressungen der italienischen Unternehmer gebeugt; die US-Automobilgewerkschaften haben im Zuge
der Produktionsverlagerung von Detroit in die Südstaaten Lohnsenkungen um 50% hingenommen etc. In den
osteuropäischen Staaten vereinen die Gewerkschaften
Bürokratisierung mit Korruption und in Großbritannien
hat sich die Gewerkschaftsbewegung nie mehr von den
Attacken unter Thatcher erholt. Auch in anderen Ländern
D O S S I E R : B E S TA N D S AU F N A H M E D E R A R B E I T E R K L A S S E
wie Frankreich geht der Bedeutungsverlust der Gewerkschaften mit der Technokratisierung des Apparats einher,
der die konzertierte Aktion inzwischen wohl wie die Luft
zum Atmen benötigt.
Anders verhält es sich in den Ländern wie Pakistan oder
Bangladesch, die von den Auswirkungen des Klimawandels auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen unmittelbar
betroffen sind. Dort müssen sich die Gewerkschaften auch
diesen Herausforderungen stellen und agieren im Gleichklang mit den Mitgliedsorganisationen von Via Campesina. Von solchen Bewegungen könnten in den kommenden
Jahren Impulse für eine weltweite antikapitalistische Orientierung ausgehen, wie bereits bei den Mobilisierungen
zu COP21 ersichtlich war.
…und heute?
In einer solchen Abwärtsphase mit vorwiegend defensiven
Kämpfen verliert auch die politische Arbeiterbewegung
beständig und mit jeder Kapitulation an Substanz. Die
Gewerkschaftsbewegung, die ja in die täglichen Abwehrgefechte fest involviert ist, wehrt sich trotz empfindlicher
Mitgliederverluste gegen diesen Trend und versucht, als
Antwort auf die wirtschaftliche Globalisierung sich auf
internationaler Ebene zu organisieren. Der 2006 wiedergegründete Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) reklamiert 176 Millionen Mitglieder in 151 Ländern für sich
und unterstützt neue unabhängige und oftmals dynamischere Gewerkschaften und internationale Berufsverbände
wie die Internationale Transportarbeitergewerkschaft oder
Studentenvertretungen. Durch seine radikale Ausrichtung
in der poststalinistischen Ära organisiert der Weltgewerkschaftsbund (WGB) etliche radikale Gewerkschaften wie
die baskische LAB, die britische RMT, die italienische
USB oder Teile der südafrikanischen COSATU. Auch das
Alternative Gewerkschaftsnetzwerk um Conlutas (Brasilien), Solidaires (Frankreich), CGT (Spanien), NUMSA
(RSA) etc. verzeichnet Fortschritte.
In Zeiten, wo die traditionell starken Belegschaften mit
dem Rücken zur Wand stehen, entstehen regelmäßig Mobilisierungen in eher randständigen Sektoren mit geringerem gewerkschaftlichen Organisationsgrad. In Frankreich
sind dies bspw. Reinigungskräfte oder Hotelpersonal,
die vielerlei Kämpfe führen und dabei oft von lokalen
Gewerkschaftsgliederungen außerhalb der traditionellen
Berufsvertretungen unterstützt werden und wiederum
Einzelgewerkschafts-übergreifende Allianzen wie die
CLIC-P im Pariser Einzelhandel ins Leben rufen.
Auch in Großbritannien gerät das traditionelle Selbst-
verständnis der Gewerkschaftsbewegung ins Wanken,
da zunehmend wilde Streiks stattfinden, etwa bei den
Zustelldiensten, und zwar dort, wo die Beschäftigten den
autonomen Independent Workers of Great Britain (IWGB)
angehören, oder bei den in den United Voices of the World
(UVW) organisierten Reinigungskräften der Stadt London. Sie und auch die prekär beschäftigten Wachleute und
Reinigungskräfte bei Sotheby’s haben durch ihre Kämpfe
höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen können.
Vergleichbare Beispiele, wie man mit unorthodoxen
Organisierungsformen auch traditionell randständige
Sektoren unter den Lohnabhängigen erreichen kann,
gibt es auch in den USA. Erinnert sei an die landesweiten
Demonstrationen von 2012, an die Beschäftigten bei Walmart und ihre Initiative unter dem Namen Our Walmart
(OWM) oder an die Beschäftigten in den Imbissketten
McDonald, Burger King oder KFC, die für 15 Dollar
Mindestlohn, etwa in der Kampagne Fast Food Forward,
streiten. In den USA hat sich die gewerkschaftliche Landschaft in den letzten zehn Jahren geändert. Die traditionellen Organisationen der AFL-CIO sind im Rückgang und
stehen zusehends radikalen und konfrontativ ausgerichteten
Neugründungen gegenüber wie Change to Win (CTW),
die durch eine Allianz zwischen der Service Employees
International Union (SEIU), der United Food and Commercial Workers International Union (UFCW) und den
Teamsters entstanden ist und die bislang unorganisierten
Bereiche ansprechen.
In den kommenden Jahren wird es darum gehen,
sowohl die Organisierung zu stärken, um den Attacken
von Staat und Kapital zu trotzen. Aber auch darum, in
Verbindung mit den sozialen Mobilisierungen eine politische Bewegung aufzubauen, die offensiv für den Sturz des
Kapitalismus kämpft.
Inprekorr 1/2017 59
D O S S I E R : B E S TA N D S AU F N A H M E D E R A R B E I T E R K L A S S E
DER FRAGMENTATIONSPROZESS
DES PROLETARIATS
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs findet
ein tiefgreifender Umwälzungsprozess der
Gesellschaft statt, in dem das Proletariat durch
das Kapital aufgesplittert wird und dadurch
seine Identität verlieren und als organisierte
soziale Kraft abtreten soll. Patrick Le Moal
Das Proletariat ist die Klasse derjenigen, die ihre Arbeitskraft verkaufen, durch entfremdete Arbeit enteignet
werden und eine untergeordnete Position bekleiden, in
der sie ausgebeutet und unterdrückt werden. Die Mehrheit
der Weltbevölkerung ist dieser Klasse zuzurechnen und
nahezu 80 % der französischen Bevölkerung. Bloß unter
welcher Form?
U-Bahnen und 33 % der Straßenbahnen her. Der Jahresumsatz liegt bei 6,9 Milliarden Euro und die Zahl der
Beschäftigten bei 31 000 in über 60 Ländern, wobei gerade
mal 9000 in Frankreich arbeiten. Der Industriesektor, das
Herzstück der Arbeiterbewegung im 19. und 20. Jahrhundert, geht in Europa beständig zurück oder liegt gar, wie in
Großbritannien, in der Agonie, während zugleich die Zahl
der Beschäftigten im Dienstleistungssektor die Überhand
gewinnt.
Die Größe der Betriebe, in denen das Proletariat arbeitet, hat die den vergangenen 40 Jahren abgenommen.
Ein Paradebeispiel hierfür ist Renault, in der Vergangenheit ein Vorreiter der Klassenkämpfe in Frankreich, wo
bspw. 1955 die dritte und 1962 die vierte Urlaubswoche
durchgesetzt wurde. Gab es dort 1950 insgesamt 49 000
Beschäftigte, darunter 40 000 in Billancourt, und 1975
gar 101 000, darunter 31 000 in Billancourt und 20 000
in Flins, so ist deren Zahl inzwischen zwar auf 120 000
in über 125 Ländern gestiegen, in Frankreich aber arbeiten bloß noch knapp 50 000, davon gar bloß noch
27 000 in der industriellen Fertigung. Abgesehen vom
Entwicklungszentrum in Guyancourt mit 9000 Beschäftigten arbeiten an keinem Standort mehr als 4000 Leute.
Bestimmte Fahrzeuge lässt der Konzern vorsichtshalber
in mehreren Fabriken verteilt auf verschiedene Länder
zugleich fertigen.
Wachsende Konzerne, schrumpfende Betriebe
Zeit seines Bestehens hat der Kapitalismus permanent die
Produktion und demnach auch das Proletariat umgestaltet.
Zwischen dem britischen Proletariat des 19. Jahrhunderts
und dem heutigen in China sowie im zeitgenössischen
europäischen Kapitalismus bestehen grundlegende Unterschiede. Durch die technischen Entwicklungen steigt die
Produktivität und es werden sowohl in der Industrie als
auch im Dienstleistungssektor weniger Arbeitskräfte für
dieselbe Menge an Produkten benötigt.
Durch die Entwicklungen im Transportsektor werden
Auslagerung und Standortverlagerung immer einfacher.
Ein Fünftel der weltweit Beschäftigten produzierte 2015
Waren oder Dienstleistungen, die in anderen Ländern
konsumiert oder weiterverarbeitet wurden – eine Steigerung um 20 % innerhalb von 20 Jahren. Die Hälfte der
Fahrzeugteile eines PKW – wertmäßig sogar drei Viertel
– die bei Zulieferbetrieben gekauft werden, wird woanders
in Europa oder Asien hergestellt.
Die Konzerne wachsen unaufhörlich, ohne deswegen
mehr Arbeitsplätze in Europa zu schaffen. Alstom stellt
weltweit 70 % der Hochgeschwindigkeitszüge, 25 % der
60 Inprekorr 1/2017
Neue Herrschaftsformen
Die Veränderungen im Proletariat sind jedoch kein rein
mechanisches Produkt der Entwicklungen im Produktionsprozess, sondern zugleich das Ergebnis politischer
Entscheidungen der Bourgeoisie, die damit ihre Herrschaft
festigen will. So war bspw. die Entscheidung, auf Erdöl
statt auf Kohle als Energieträger zu setzen, zwar unter
militärischen Aspekten interessant, nicht aber unter wirtschaftlichen, da das Erdöl teurer war und zunächst einmal
erheblicher Subventionen bedurfte. Ausschlaggebend für
diese Option war jedoch u. a. die Absicht, damit die Arbeiterhochburgen zu schwächen, in denen die Bergarbeiter
als gut organisierte und zahlenmäßig starke Kraft großes
Gewicht hatten und damit eine zentrale politische Rolle in
vielen Ländern spielten.
Das Ziel der Vorläufer des Neoliberalismus in den
1930er Jahren war, eine andere Form der Kapitalherrschaft zu errichten, indem die durch den Industriekapitalismus entwurzelten Massen „entproletarisiert“ und ihre
Hochburgen geschliffen werden sollten. Die Proletarier
sollten nicht zu Nutznießern der „sozialen Hängematte“
D O S S I E R : B E S TA N D S AU F N A H M E D E R A R B E I T E R K L A S S E
werden, sondern zu Eigentümern, Sparern, unabhängigen Produzenten … zu Individuen, die das Funktionsprinzip und die innere Logik der Unternehmen verinnerlicht haben.
Der neoliberale Rollback seit Beginn der 80er Jahre
dient nicht nur dazu, zu privatisieren, den „Wohlfahrtsstaat“ in seinen verschiedenen Ausprägungen und die
sozialen Sicherungssysteme zu zerschlagen und die Löhne
und Errungenschaften des Proletariats zurückzuschrauben.
Es geht auch nicht um die bloße Restauration des Kapitalismus des 19. Jahrhunderts und des traditionellen Liberalismus, sondern um die Reorganisation der gesamten
Gesellschaft und der weltweit durchgesetzten Marktwirtschaft hin zu einer Marktgesellschaft.
Der Neoliberalismus begnügt sich nicht damit, die
Lohnabhängigen auszubeuten, die Produktivität zu
maximieren und immer höhere Arbeitsergebnisse einzufordern. Er will vielmehr den Menschen systematisch
ein „Unternehmerdenken“ einbläuen, sie zu Individuen
machen, die sich für die Arbeit gleichermaßen (eigen-)
verantwortlich wie für ihr Privatleben fühlen und sich als
ganze Person in die ihnen zugedachte Tätigkeit einbringen. Die Gesellschaft soll nach den Prinzipien der
Konkurrenz zwischen Allen funktionieren, auch bei der
täglichen Arbeit.
ZUKUNFT DER
ARBEIT
Nicht das vor über 20 Jahren prognostizierte
„Ende der Arbeit“ durch zunehmende Automatisierung ist eingetreten, sondern eine arbeitspolitische Regression mit drastischem Rückgang
der sozialstaatlich abgesicherten Vollzeitbeschäftigung und deren Ersetzung durch zunehmend
prekäre Arbeitsverhältnisse. Eine kurze Bestandsaufnahme … Leon Cremieux
Während die Weltbevölkerung seit 2005 von 6,5 Milliarden auf 7,4 Milliarden Menschen gestiegen ist, hat die
erwerbstätige Bevölkerung nur von 3 auf 3,4 Milliarden
zugenommen.
Das entscheidende Moment dabei ist, dass die Mehrheit
der Bevölkerung seit Ende des vorigen Jahrzehnts nicht
mehr auf dem Land lebt und diese Entwicklung weiter
fortschreitet: 2025 werden 65 % der Weltbevölkerung in
den Städten wohnen und bereits jetzt gibt es 23 Megastädte
mit mehr als 10 Millionen Einwohnern. Der Rückgang
der Landwirtschaft wird begleitet von einem enormen
Industrialisierungsprozess in den Schwellenländern.
Ungleiches Wachstum der Arbeitsplätze …
In Industrie und Dienstleistungssektor entstehen zunehmend neue Arbeitsplätze. Lag 2005 die Quote noch bei
22 % bzw. 42,5 %, so waren es 2013 bereits 24,5 % bzw.
45 %. Nach einem Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) wird die Zahl der Arbeitsplätze
zwischen 2014 und 2019 mit jeweils 11 – 12 Millionen
jährlich in zwei Regionen besonders stark zunehmen,
nämlich im subsaharischen Afrika und auf dem indischen Subkontinent. Für Lateinamerika und die Karibik
wird mit einer jährlichen Zunahme von 5 Millionen
und für Nordafrika und den Nahen Osten von jeweils
1,3 – 1,8 Millionen gerechnet. Demgegenüber sind die
prospektiven Wachstumsraten in den anderen Regionen
sehr gering: 2,3 Millionen für EU, USA und Australien
zusammen und 1,8 Millionen für China, während in
Osteuropa und Russland sogar von einem Nullwachstum
ausgegangen wird.
Diese neu entstehenden Arbeitsplätze ändern aber
nichts an der Grundaussage der ILO in ihrem Bericht von
2015 über die Folgen der Wirtschaftskrise von 2008 für
die Entwicklung der globalen Beschäftigung: „Wenn man
bedenkt, wie viele Menschen in den kommenden fünf
Jahren auf den Arbeitsmarkt drängen werden, müssten
280 Millionen Stellen bis 2019 neu geschaffen werden,
um dies aufzufangen. Die Jugend und ganz besonders die
jungen Frauen werden auch weiterhin überproportional
vom Anstieg der Arbeitslosigkeit betroffen sein. Fast 74
Millionen junger Menschen zwischen 15 und 24 Jahren
waren 2014 arbeitssuchend, womit die Arbeitslosenquote
unter ihnen dreimal so hoch wie bei den Erwachsenen
liegt.“
In den letzten Jahren konnten die Arbeitslosenzahlen
in einigen Ländern Europas, in den USA und Japan abgebaut werden, aber nur, weil es zu einer sprunghaften Zunahme von Lohnsenkungen und prekärer Beschäftigung
kam. Es ist damit zu rechnen, dass in Lateinamerika und
Inprekorr 1/2017 61
D O S S I E R : B E S TA N D S AU F N A H M E D E R A R B E I T E R K L A S S E
der Karibik sowie in China, Russland und bestimmten
arabischen Ländern Unterbeschäftigung und informelle
Jobs auch in den nächsten fünf Jahren unverändert hoch
sein werden.
…bei gleichzeitig sinkenden Löhnen
Der globale Anstieg der Löhne (2 % in 2013) war den
Schwellen- und Entwicklungsländern zu verdanken, wo
die Reallöhne seit 2007 – mitunter rasch – zugenommen
haben. Lässt man allerdings die VR China bei dieser Kalkulation außen vor, halbiert sich der Satz nahezu von 2 %
auf 1,1 %.
Betrachtet man allein die Gruppe der Zwanzig Entwicklungs- und Schwellenländer (G 20+), so lag dort 2013
der Anstieg der Reallöhne bei 5,9 %. In den klassischen
Industrieländern hingegen stagnierten die Löhne nahezu
(+0,1 % in 2012 und +0,2 % in 2013). In manchen Ländern wie Spanien, Griechenland, Irland, Italien, Japan
und Großbritannien lagen 2013 die durchschnittlichen
Reallöhne sogar unter dem Niveau von 2007.
In diesen klassischen Industriestaaten wuchsen zwischen 1999 und 2013 die Reallöhne weniger stark als die
Produktivität. Seit 30 Jahren schrumpft die Lohnquote,
wie die ILO in ihrem globalen Lohn-Report 2012-13
festgestellt hat. Michael Husson schreibt hierzu, dass
„jüngste Erhebungen zeigen, dass diese Entwicklung seit
Jahrzehnten anhält, ganz im Gegensatz zu den vorherigen
Annahmen. In 16 Industrieländern ist der Anteil der Löhne am Volkseinkommen von 75 % Mitte der 70er Jahre
auf 65 % in den Vorkrisen-Jahren gesunken. Selbst in
China, wo sich die Löhne in den vergangenen 10 Jahren
verdreifacht haben, ist deren Anteil am Volkseinkommen
gesunken.“
Massenmigration
Im Jahr 2014 gab es 240 Millionen internationale MigrantInnen, darunter 150 Millionen Lohnabhängige,
sowie 740 Millionen landesinterne MigrantInnen, davon
240 Millionen allein in China. So waren bspw. 10 % der
erwerbsfähigen Bevölkerung der Philippinen zur Auswanderung gezwungen, um Beschäftigung zu finden.
Hinzu kommen 40 Millionen (nicht anerkannter) Klimaflüchtlinge, deren Zahl bis 2050 auf 200 Millionen steigen
dürfte. Der überwiegende Anteil (60 %) dieser Migrationsbewegungen vollzieht sich zwischen Ländern, die auf
der gleichen Entwicklungsstufe stehen. Bloß 37 % der
MigrantInnen gehen aus einem Entwicklungsland in die
Industrieländer.
62 Inprekorr 1/2017
Afrika weist mit fast 200 Millionen Jugendlichen
zwischen 15 und 24 Jahren die weltweite jüngste Bevölkerung auf – Tendenz rasch steigend. Bis 2045 wird sich diese
Zahl verdoppelt haben. Aber nicht nur nimmt deren Zahl
immer weiter zu, sondern auch deren (Aus)bildungsniveau.
Der gegenwärtige Trend zeigt, dass 59 % der 20–24-Jährigen im Jahr 2030 über eine höhere Schulbildung verfügen
werden. Dies hat zur Folge, dass viele unter ihnen keine
Arbeit oder nur eine gering qualifizierte Arbeit finden, mit
entsprechend niedriger Produktivität und Löhnen. Die
Armutsrate unter den Jugendlichen in Nigeria, Äthiopien,
Uganda, Sambia und Burundi liegt bei über 80 % und am
stärksten sind darunter die Frauen und die Landbevölkerung betroffen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das globale
Bevölkerungswachstum mit einer wachsenden Verstädterung und einer kontinuierlichen Zunahme der Lohnabhängigen einhergeht, wobei ein gleich hoher Anteil
(45 %) prekär Beschäftigter unter der erwerbstätigen
Bevölkerung vorhanden ist. Zugleich – und verstärkt
durch die Globalisierung – nimmt der Anteil des Kapitalvermögens am erwirtschafteten Reichtum und damit die
Ungleichheit zu. Infolge der höheren Lebenserwartung
und eines besseren Bildungszugangs – besonders in Afrika – steigen jedoch zugleich die strukturellen prekären
Verhältnisse und die Massenarbeitslosigkeit, besonders
unter der Jugend.
R E G I S T E R 2 0 16
REGISTER 2016
REGISTER NACH LÄNDERN
Titel
AutorIn
Heft
Seite
Argentinien
Das Großkapital an der Regierung
Martín Noda, Dani- 2/2016
ela Cobet, Virginia
de la Siega
32
Paris wacht auf
Für ein starkes Arbeitsrecht
Ihr habt Milliarden, wir sind Millionen!
Unruhige Zeiten in Frankreich
„Unsere Entschlossenheit war nie so
groß.“
MiWe
Leon Crémieux
Léon Crémieux
Florent, Bertrand
3/2016
3/2016
3/2016
4/2016
4/2016
39
40
41
4
10
Joseph Daher
2/2016
27
Socialist Democracy
Harkin Shaun
3/2016
35
3/2016
37
Julien Salingue
Ilan Pappe
2/2016
6/2016
60
31
Diego Giachetti
6/2016
Franco Turigliatto 6/2016
10
13
Raúl Zibechi
6/2016
34
3/2016
Erklärung des
Internationalen
Komitees der
IV. Internationale
15
Jan Malewski
5/2016
47
Awami Workers
Party
5/2016
47
Ilan Pappe
6/2016
31
Alex de Jong
5/2016
50
Ilja Budraitskis
2/2016
17
Joseph Daher
2/2016
27
Johnathan Shafi
4/2016
12
MiWe
Manuel Garí
Antoine Rabadan
Antoine Rabadan
1/2016
1/2016
1/2016
1/2016
5
5
8
14
Esther Vivas
1/2016
20
Iran
Brasilien
Der unaufhaltsame Abstieg der PT
Absetzung von Dilma Rousseff: Was
ist los in Brasilien?
Öl ist ihr Schicksal
Tárzia Maria de
Medeiros, João
Machado
Ricardo Antunes
4/2016
21
Irland 1916 und heute
4/2016
27
3/2016
28
Die Arroganz einer Kolonialmacht
Schimon Peres aus der Perspektive
seiner Opfer
Maria Isabel
5/2016
Altamirano, Tanya
de la Torre, Alba
Aguinaga
44
Italien
Mamadou Ba
3/2016
3/2016
Erklärung des
Internationalen
Komitees der
IV. Internationale
4
11
Pierre Rousset
Ecuador
Der Feminismus in Ecuador
Europa
Den Kreislauf durchbrechen!
Internationalismus von unten gegen
die Festung Europa
Irlands bedeutendster Revolutionär
Israel
China
Der chinesische Imperialismus
Irland
Das Modell Renzi in der Krise
Die widersprüchliche Natur des M5S
Kolumbien
Ein (schwacher) Staat, zwei (starke)
Länder
Kurdistan
Unterstützung für den Kampf des
kurdischen Volkes für ein Leben in
Freiheit und Würde
Europäische Union
„Plan B“, der „Plan A“ ist
Josep María
Atentas
Für Einheit und Solidarität in Europa, Büro der Vierten
gegen Rassismus und Sozialdumping Internationale
GB und der Brexit: Dichtung und
Phil Hearse
Wahrheit
Für ein anderes Europa ohne Grenzen Galia Trépère
und Ausbeutung
Nach dem Brexit – eine EU-Kritik von Socialistisk Arbejlinks
derpolitik (SAP)
Jakob Schäfer
Die EU nach dem Brexit – in einer
politischen Krise oder in einer unlösbaren Strukturkrise?
Kein „Lexit“ ohne „Ein anderes Euro- Catherine Samary
pa ist möglich“
4/2016
16
5/2016
5
5/2016
7
5/2016
9
5/2016
12
Schimon Peres aus der Perspektive
seiner Opfer
5/2016
14
Philippinen
6/2016
16
Flexicurity à la française
Warnschuss bei den Regionalwahlen
Der Verfall der Sozialistischen Partei
Frankreich – der Staat rüstet auf
Ausnahmezustand für die Arbeiterklasse
Widerstand statt Notstand!
Baba Jan – Opfer der pakistanischen
Klassenjustiz
Freiheit für Baba Jan! Internationale
Solidarität gefordert!
Palästina
Der neue „starke Mann“ der Philippinen
Russland
Russland im Würgegriff der Krise
Frankreich
Gegen den IS und seine Attentate
– gegen Notstand und Rassismus –
gegen den imperialistischen Krieg
Pakistan
1/2016
Resolution des
Politischen
Komitees der NPA
(Frankreich)
MiWe
2/2016
Galia Trépère
2/2016
Antoine Larrache 2/2016
Henri Wilno
2/2016
Vanessa Codaccioni2/2016
Pressekommuniqué 2/2016
der Richtergewerkschaft
Syndicat de la
magistrature
26
Saudi-Arabien
Öl ist ihr Schicksal
5
6
8
10
13
15
Schottland
Zukunft der Linken in Schottland
Spanischer Staat
Spanien nach der Wahl
Empörung trifft auf Friedhofsruhe
Der Nachhall der Empörung
Über die Kunst, den Himmel über
Wahlen erstürmen zu wollen
Katalonien – Stunde der Wahrheit
Inprekorr 1/2017 63
R E G I S T E R 2 0 16
Von Laclau zu Iglesias – Theorie und
Praxis des (Neo)populismus
Wege aus der Sackgasse
Emmanuel Barot
1/2016
22
Antoine Rabadan 6/2016
4
Internationalismus von unten gegen
die Festung Europa
Erklärung des
3/2016
Internationalen
Komitees der
IV. Internationale
11
Charles Michaloux 4/2016
59
3/2016
Erklärung des
Internationalen
Komitees der
IV. Internationale
Daniel Tanuro
3/2016
45
Südafrika
„Wir brauchen einen neuen Anfang“
2/2016
36
Nachruf
Frank Gaudichaud 1/2016
43
Ökologie
Fathi Chamkhi
2/2016
23
Sarah Parker
2/2016
19
Emre Öngün
5/2016
Erklärung von Yeni 5/2016
Yol
21
22
Yvan Lemaitre
Socialist Action
Solidarity
3/2016
5/2016
5/2016
25
30
31
Yvan Lemaitre
5/2016
34
Xavier Guessou
5/2016
35
Galia Trépère
Galia Trépère
Stan Miller
5/2016
5/2016
5/2016
37
39
42
Brian Ashley
Claude Jacquin (1947–2016)
Südamerika
Ende einer Ära in Südamerika?
Tunesien
Die Wut kehrt zurück
Türkei
Erdogan – ein Despot als Schutzschild
Europas
Ein zweifacher Staatsstreich
Gegen den Staatsstreich des Militärs
und den aus dem Serail
COP21 – Perspektiven des Klassenkampfs
Kapitalismus, Arbeit und Natur: Den
Teufelskreis durchbrechen
Jean Batou
3/2016
Von Mücken und Menschen – die
soziale Genesis des Zika-Virus
Ökosozialismus aus marxistischer Sicht Friedrich Voßkühler3/2016
Ökologie als Klassenfrage begreifen
Friedrich Voßküh- 3/2016
ler, Jakob Schäfer
51
54
58
63
USA
Zurück zu alter Stärke?
Deine Stimme für Socialist Action
Für Jill Stein und eine unabhängige
Politik
USA – Klassensolidarität gegen rassistische Gewalt
US-Arbeiterbewegung und Rassismus
(1930/40)
Die Bürgerrechtsbewegung
Wege der Befreiung
Abschwung nach den 70ern
AutorIn
Heft
Seite
Debatte
Neue Strategie, neue Partei?
Willi Eberle
Sozialismus von unten. Für eine organi- Michael Sankari,
sierende und verbindende Linke
Thomas Linnemann
Grundzüge einer bedürfnisorientierten Bernhard Brosius
Ökonomie
1/2016
4/2016
52
62
6/2016
44
2/2016
50
Yann Cézard
Yvan Lemaitre
Pierre Rousset
Yvan Lemaitre
3/2016
3/2016
3/2016
4/2016
20
25
28
49
IV. Internationale 6/2016
52
Daniel Tanuro
Daniel Tanuro
1/2016
2/2016
30
43
Mamadou Ba
3/2016
4
Migration
Den Kreislauf durchbrechen!
64 Inprekorr 1/2017
34
4/2016
4/2016
33
35
Camille Lefèbvre
Henri Wilno
Jakob Schäfer
4/2016
4/2016
4/2016
40
45
48
4/2016
68
Reiner Tosstorff
5/2016
58
Reiner Tosstorff
5/2016
62
Daniel Bensaid
6/2016
38
Spanischer Bürgerkrieg
Historisches Stichwort „Spanischer
Bürgerkrieg 1936 bis 1939“
Die POUM und der Trotzkismus
Theorie
Titel
Cinzia Arruzza
Klima
COP 21 – Viel Lärm um nichts
Nach COP 21 – der Atmosphäre CO
entziehen?
1/2016
DIE INTERNATIONALE
Imperialismus
Imperialismus und Globalisierung
Zurück zu alter Stärke?
Der chinesische Imperialismus
Der neoliberale Imperialismus als neues Stadium des Kapitalismus
Kapitalistische Globalisierung, Imperialismen, geopolitisches Chaos und
die Folgen
Jean-Claude
Vessillier
Yann Cézard
Yann Cézard
Sommercamp
Politik als strategische Kunst
Feminismus
Marxismus und Feminismus
Automobilindustrie – same procedure
…
Die Angst vor der Uberisierung
Von der Kooperative zum multinationalen Konzern
„Uberisiert“ statt lohnabhängig?
Uber – eine rückschrittliche Moderne
Sharing Economy – ein neues Anlagefeld für das Kapital
Lernen, die Welt zu verändern
REGISTER NACH THEMEN (AUSWAHL)
Titel
Ökonomie
Neue Strategie, neue Partei?
Marxismus und Feminismus
Ökosozialismus aus marxistischer Sicht
Ökologie als Klassenfrage begreifen
AutorIn
Heft
Willi Eberle
1/2016
Cinzia Arruzza
2/2016
Friedrich Voßkühler3/2016
Friedrich Voßküh- 3/2016
ler, Jakob Schäfer
Sozialismus von unten. Für eine organi- Michael Sankari, 4/2016
sierende und verbindende Linke
Thomas Linnemann
Historisches Stichwort „Spanischer
Reiner Tosstorff 5/2016
Bürgerkrieg 1936 bis 1939“
Die POUM und der Trotzkismus
Reiner Tosstorff 5/2016
Politik als strategische Kunst
Daniel Bensaid
6/2016
Grundzüge einer bedürfnisorientierten Bernhard Brosius 6/2016
Ökonomie
Kapitalistische Globalisierung, Impe- IV. Internationale 6/2016
rialismen, geopolitisches Chaos und
die Folgen
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