Manuskript

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Ernst Eduard Hirsch – ein Jude prägt
das türkische Rechtswesen
Von Andrea Lueg
Sendung: 3.3.2017, 8.30 Uhr
Erstsendung: 19.2.2016
Regie: Andrea Lueg
Redaktion: Udo Zindel
Produktion: SWR 2015
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MANUSKRIPT
Atmo:
Türkisch-Deutsche Universität/Studierende auf dem Campus/blenden/unterlegen
O-Ton Detlev Leenen:
Das Experiment – ich kenne nichts Vergleichbares. Den Versuch zu machen, gerade
in der Türkei deutsche Rechtswissenschaften in den Unterricht einzubringen macht
sehr viel Sinn, weil die türkische Rechtsordnung in weiten Teilen an Gesetzen
orientiert ist, die aus Deutschland kommen, aus der Schweiz kommen, wirklich
Grundlagen des türkischen Rechts aus Deutschland kommen und es dann auch Sinn
macht, türkische Studenten in Ergänzung zum türkischen Recht in deutschen
Grundlagen zu unterrichten.
Ansage:
Ernst Eduard Hirsch – ein Jude prägt das türkische Rechtswesen. Eine Sendung von
Andrea Lueg.
Regie: Atmo nochmal hoch/unterblenden
Sprecherin:
Detlev Leenen, emeritierter Jurist der Freien Universität Berlin, unterrichtet an der
Türk-Alman Üniversitesi – der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul, die 2014
gegründet wurde. Studierende werden hier überwiegend auf Deutsch unterrichtet. Zu
den ersten Fächern, die angeboten wurden, gehörte Jura. Detlev Leenen unterrichtet
Zivilrecht und sieht große Vorteile darin, dass seine Studierenden die Quellen
türkischen Rechts im deutschen Original lesen können.
O-Ton Detlev Leenen:
Ich finde, davon hat auch Deutschland was, wenn wir wissen, dass in der Türkei
ausgebildete Rechtsanwälte in den deutschen, schweizerischen, kontinentalen
Grundlagen des Rechts auskennen, das ist auch in unserem Sinne.
Sprecherin:
Die Türkisch-Deutsche Universität knüpft damit an eine lange Tradition des
Austausches an. Denn es waren deutsche Juristen, die die Grundlagen des Rechts
und auch des Jurastudiums in die Türkei brachten.
Regie: Musikakzent
Sprecherin:
Während die Nationalsozialisten in Deutschland immer mehr Gewicht bekamen und
1933 schließlich die Macht übernahmen, suchte man in der noch jungen Türkei nach
geeigneten Professoren für die neu gegründete Universität in Istanbul. Kemal Atatürk
hatte der Türkischen Republik nach ihrer Gründung 1923 ein beispielloses
Reformprogramm verordnet.
O-Ton Enver Hirsch:
Es wurden neue Gesetze eingeführt, die alten islamisch geprägten wurden
abgeschafft, dafür wurden neue europäische Gesetze eingeführt, ein Sammelsurium
2
aus verschiedenen Staaten. So war das Bürgerliche Gesetzbuch das Schweizer
Zivilgesetzbuch ins Türkische übersetzt, das Handelsrecht war das deutsche
Handelsrecht, das Strafrecht war Italienisch, das Verwaltungsrecht Französisch und
das passierte aber alles in den ersten zehn Jahren der jungen Republik bis 1933. Es
wurde damals auch das berühmte Kopftuchverbot eingeführt, die Männer durften
keinen Fez tragen und als letztes stand jetzt noch an, die Ausbildung der
akademischen Jugend eben neu zu gestalten.
Sprecherin:
Enver Hirsch ist der Sohn von Ernst Eduard Hirsch, einem der ersten deutschen
Professoren, die in die Türkei kamen. Er hat sich mit der Biografie seines Vaters und
seiner Zeit im Exil, während der er auch selbst geboren wurde, intensiv beschäftigt.
Ernst Eduard Hirsch war Landgerichtsrat und Privatdozent für Handelsrecht an der
Universität Frankfurt. 1933 wurde er als Jude nach dem so genannten "Gesetz zur
Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" aufgefordert, seine Ämter
niederzulegen. Zunächst überlegte Ernst Eduard Hirsch, als Rechtsanwalt zu
arbeiten und weiter in Deutschland zu bleiben, entschloss sich dann aber doch zu
emigrieren. Ursprünglich wollte er in die Niederlande umsiedeln, wo ihm die
Universität Amsterdam eine Anstellung geboten hatte. Doch dann, so notierte er:
Atmo:
Garten/blenden/unterlegen
Zitator:
Eines Spätnachmittags, als ich, im Garten auf und ab gehend, Vokabeln memorierte,
wurde ich zu meiner Überraschung ans Telefon gerufen. Aus Zürich meldete sich ein
Professor Schwartz, der im Namen eines Komitees fragte, ob ich bereit sei, an der
Universität Istanbul, die zurzeit reformiert werde, den Lehrstuhl für Handelsrecht zu
übernehmen.
Sprecherin:
Der jüdische Pathologie-Professor Philipp Schwartz aus Frankfurt war ebenfalls zur
Aufgabe einer Professur in Deutschland gezwungen worden und hatte die
ausweglose Lage hunderter Wissenschaftler in Nazi-Deutschland erkannt. Er
gründete die "Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland".
Bald erfuhr er, dass der Genfer Pädagogikprofessor Albert Malche im Auftrag
Atatürks und seines Erziehungsministers Resit Galip dabei war, das türkische
Hochschulwesen zu reformieren. Neue Universitäten nach westlichem Vorbild sollten
aufgebaut werden. Dafür wurden auch fähige Professoren gesucht. Schwartz konnte
den türkischen Erziehungsminister überzeugen, dass er über die Notgemeinschaft
genügend Kandidaten vermitteln könne, um 30 Professuren zu besetzen. Ernst
Eduard Hirsch sollte einer von ihnen werden. Im September 1933 reiste er mit seiner
juristischen Privat-Bibliothek, seinem Flügel und seiner Geige im Gepäck nach
Istanbul.
Atmo:
Geigenmusik/geht über in:
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Atmo:
Schiffshorn/Schiffsanleger Istanbul
Sprecherin:
Am 28. Oktober 1933 schon wurde Ernst Eduard Hirsch zur Feier des 10.
Jahrestages der Gründung der Türkischen Republik in den prachtvollen
Dolmabahce-Palast eingeladen, damals Regierungssitz des ersten Präsidenten der
Türkischen Republik, Kemal Atatürk. Danach notierte er in seinen Erinnerungen:
Zitator:
Da stand ich nun, ein in der deutschen Heimat als Jude missachteter, wegen seiner
"minderwertigen" Rasse aus seinen Ämtern verjagter, unter Aufgabe von Heim und
Herd ins ausländische Exil emigrierter "Refugié", inmitten eines von Kristall,
Alabaster, Marmor, Porphyr, Intarsien strotzenden, mit kostbaren Möbeln, Teppichen
und Gemälden ausgestatteten ehemaligen Thronsaals als einer zu den oberen
Tausend gerechneter deutscher Professor! Es war eine Sternstunde, die zu erleben
mir gleich zu Beginn meiner türkischen Jahre vergönnt war."
Sprecherin:
Sein ganzes Leben lang sollte Ernst Eduard Hirsch der Türkei für diese Aufnahme
dankbar und verbunden bleiben.
Regie: Musikakzent
Sprecherin:
In Istanbul erhielt Hirsch zunächst einen auf drei Jahre befristeten Arbeitsvertrag.
Darin verpflichtete er sich, wie die anderen deutschen Professoren, beim Aufbau der
Universität Istanbul nach europäischen Standards mitzuhelfen. Sie sollten nicht nur
unterrichten, sondern unter anderem auch Lehrbücher schreiben und den Kontakt zu
ausländischen Hochschulen pflegen. Der Vertrag enthielt aber auch eine
Sprachklausel, erzählt sein Sohn Enver Hirsch:
O-Ton Enver Hirsch Sprachklausel:
Die besagte, dass die Professoren für die ersten drei Jahre einen Dolmetscher zur
Seite gestellt bekamen, aber nach diesen drei Jahren ihre Vorlesungen auf Türkisch
zu halten hätten und auch in Türkisch zu publizieren hätten. Mein Vater hatte das
Glück, dass er gleich in seiner ersten Vorlesung einen Studenten hatte, der in
Deutschland zur Schule gegangen war und auch schon in Deutschland studiert hatte
und der fließend Deutsch sprach. Der machte ihn am Ende seiner ersten Vorlesung
darauf aufmerksam, dass das, was der Dolmetscher übersetzte, nicht sehr viel mit
dem zu tun hatte, was mein Vater eben den Studenten beibringen wollte. Problem
war: Diese Dolmetscher waren ja keine Juristen oder Fachkräfte, sie verstanden
eigentlich das Fachchinesisch gar nicht so richtig und haben dann versucht, das
aufgrund ihrer Dolmetscherkenntnisse zu übersetzen.
Sprecherin:
Der Student war Halil Arslanli, der später Hirschs Assistent und dann auch sein
Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Handelsrecht an der Universität Istanbul werden
sollte.
4
Zitator:
Da er ebenso wie ich in Kadiköy wohnte, gingen wir gemeinsam nach Ende der
Vorlesungen von der Universität hinunter zur Anlegestelle des Fährschiffes und
tranken in dessen Kabine den Bekanntschaftskaffee. In diesem Augenblick begann
zwischen uns eine enge Freundschaft, die bis zu seinem frühen Tode währte.
Atmo:
Anlegestelle Fähre Bosporus/blenden/unterlegen
Sprecherin:
Die beiden vereinbarten, dass Arslanli Ernst Eduard Hirsch Türkisch beibringen und
seine Vorlesungen übersetzen sollte – und der ihn umgekehrt in Jura unterweisen
würde.
O-Ton Enver Hirsch:
Das ging auch sehr gut und so ziemlich zum Ende dieser drei Jahre hin passierte
Folgendes: Es ist ja so, dass im Winter am Goldenen Horn es oft sehr neblig ist,
mein Vater und auch sein Türkischlehrer wohnten beide auf der asiatischen Seite
und waren darauf angewiesen mit dem Schiff, es gab damals noch keine Brücken
über den Bosporus – auf die europäische Seite zu fahren. Nun fuhren gerade auf
dem kürzesten Weg keine Schiffe, aber mein Vater wusste, es gibt einen alten
Raddampfer, der, von den Prinzeninseln kommend, noch an einer anderen
Anlegestelle nach Istanbul rüber fährt und der bei jedem Wetter fährt.
Atmo:
Raddampfer/blenden/unterlegen/weiter:
O-Ton Enver:
Und diesen benutzte er und als er in den Hörsaal kam waren natürlich alle Studenten
da, bloß es fehlte sein Übersetzer. Er hatte aber mit seinem türkischen Studenten
bereits einen Aufsatz verfasst. Und diesen Aufsatz las er dann vor und hielt somit
seine erste türkische Vorlesung.
Sprecherin:
Weil er sehr sprachbegabt war, gelang es Hirsch nicht nur, nach drei Jahren seine
Vorlesungen auf Türkisch zu halten, er nahm auch Prüfungen in der Landessprache
ab und schrieb wissenschaftliche Aufsätze. Dabei befand sich die türkische Sprache
damals im rasanten Umbruch. Nicht nur war das arabische Alphabet durch eine
Variante des lateinischen ersetzt worden. Oberstes Ziel war es auch, viele
Lehnwörter aus dem Arabischen und Persischen zu ersetzen. Das geschah zum Teil
mit vorhandenen türkischen Begriffen und zum Teil mit neu gebildeten. Auch die
juristische Sprache musste erneuert werden.
O-Ton Enver Hirsch:
Es gab damals noch gar keine Rechtssprache, es fehlten also die Begriffe, in die
man jetzt aus dem Deutschen bestimmte Begriffe übersetzen konnte.
Musikakzent
5
Sprecherin:
Die Istanbul Üniversitesi war die erste nach westlichem Vorbild konzipierte türkische
Universität. Zuvor waren alle Bildungsinstitutionen sehr stark islamisch geprägt
gewesen, erzählt Enver Hirsch.
O-Ton Enver Hirsch:
Es gab islamisch geprägte Hochschulen, einmal die Medressen, das waren die
reinen Islam-Hochschulen und dann gab es noch sogenannte Dürülfünum, das
waren profane Ausbildungsstätten für Medizin, für Recht, für Philosophie und so
weiter, aber im Grunde genommen waren das alles, man würde heute sagen
Fachhochschulen, es war nicht, was eine Universität im europäischen Sinne
darstellte, nämlich eine Stätte der Forschung und der Lehre.
Sprecherin:
Im August 1933 war in der Türkei ein Gesetz erlassen worden, das die Dürülfünum
schloss und die Gründung einer neuen Hochschule vorsah, der Istanbul Üniversitesi.
So hart sollte der Schnitt sein, dass der damalige Unterrichtsminister Resit Galip
erklärte, die neue Universität habe zu den Dürülfünum keinerlei Beziehung. Sie sei
eine neue Anstalt, deren Tradition mit ihr selbst beginne.
Der Lehrkörper, und damit tat sich ein neues Problem für Ernst Eduard Hirsch auf,
sollte aus drei Gruppen bestehen: Lehrkräfte der Dürülfünum, die, wie es hieß
"Eigenschaften echter Wissenschaftler hätten". Dann, als zweite Gruppe, junge
Wissenschaftler, die in Europa ausgebildet worden waren. Und schließlich, als
drittes, ausländische Professoren. Viele altgediente türkische Lehrkräfte waren
entlassen worden und hatten keine neue Anstellung an der Universität Istanbul
bekommen, weil sie der Modernisierung im Weg standen. Doch davon ahnten die
Exil-Professoren bei ihrer Ankunft nichts, schreibt Hirsch in seinen Erinnerungen:
Zitator:
Wie viele Missverständnisse und Spannungen, Krisen und Streitigkeiten hätten
vermieden werden können, wenn man den ausländischen Professoren bei Beginn
ihrer Tätigkeit einige Hinweise gegeben hätte, wie heikel das Thema Dürülfünum
gewesen ist.
Sprecherin:
In der türkischen Presse wuchsen Ressentiments gegen die Exil-Professoren, die
auch von einem Teil der mitübernommenen türkischen Professoren innerhalb der
Universität geschürt wurden, erinnert sich Enver Hirsch.
O-Ton Enver Hirsch:
Eines war, das natürlich im Rahmen der Gründung der neuen Universität auch viele
türkische Fachhochschullehrer ihre berufliche Tätigkeit einbüßten und entlassen
wurden und natürlich darüber sehr erbost waren und gegen die ausländischen
Professoren intrigierten. Wobei sie damit eigentlich nicht die ausländischen
Professoren meinten, sondern die türkische Republik, die ihnen ihren Broterwerb
genommen hatte.
Regie: Musikakzent
6
Sprecherin:
Ernst Hirsch stürzte sich in seine Arbeit an der juristischen Fakultät der Universität
Istanbul. Und er stellte verdutzt fest: Es gab hier keine brauchbare Bibliothek. Was
an Büchern vorhanden war, bezog sich ausschließlich auf das islamische Recht des
Osmanischen Reiches, schreibt Hirsch in seinen Erinnerungen. Literatur zu der
neuen türkischen Gesetzgebung gab es kaum, schweizerische oder deutsche
Referenzliteratur gar nicht.
Zitator:
Diesen Zustand fand ich unerträglich. Wie sollte ich Seminare mit Studenten
abhalten, denen ich zur Vorbereitung keine Hinweise auf einschlägige, in einer
Bibliothek vorhandene Literatur geben konnte?
Sprecherin:
Zum Glück gab es einen erstaunlich hohen Etat im türkischen Staatshaushalt für
Bauten, Apparate und Unterrichtsmittel für die Universität Istanbul, so dass Bücher
angeschafft werden konnten.
In den folgenden Jahren baute Ernst Eduard Hirsch die Rechtswissenschaftliche
Bibliothek der Universität Istanbul auf.
Regie: Musikakzent
Sprecherin:
Der Aufbau der juristischen Fakultät war insgesamt sehr schwierig, denn ein Zweck
der Universitätsgründung war, den islamischen Geist der Medressen, also der
juristisch-theologischen Koranschulen, die an Moscheen angegliedert waren, zu
beseitigen. Er sollte ersetzt werden durch freie, religiös nicht gebundene
Wissenschaft an einer Universität westeuropäischer Tradition.
Zitator:
In Wirklichkeit ging es darum, eine juristische Medrese islamischer Prägung durch
eine laizistische rechtswissenschaftliche Fakultät zu ersetzen.
Sprecherin:
Die türkischen Professoren waren aber von der islamisch ausgerichteten
Rechtsprechung – der Scharia – geprägt. Wenn man das türkische Recht
säkularisieren wollte, so war Hirsch überzeugt, war es sinnvoll, die schweizerischen
Gesetze zum Zivilrecht und Prozessrecht zum Beispiel, die in der Türkei in Kraft
getreten waren, von ausländischen Professoren lehren zu lassen. Hirsch selbst
startete mit einer Vorlesung im Fach Handelsrecht. Und er versuchte, moderne
Unterrichtmethoden einzuführen: einen Wechsel von Vorlesungen, praktischen
Übungen und Seminaren. Nicht bei allen Kollegen stieß er damit auf Gegenliebe,
erzählt Enver Hirsch:
O-Ton Enver Hirsch:
Auf der anderen Seite war man gewöhnt, dass eben der Professor, oder wie es auf
Türkisch heißt: der Hodscha, auf dem Katheder sitzt und dort im wahrsten Sinne des
Wortes etwas vorliest und die Studenten alles mitschreiben was der große Hodscha
sagt.
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Mein Vater sagte, so würde er keine Vorlesungen machen, er sei es von Frankfurt
her gewöhnt, dass er ein Zwiegespräch mit den Studenten führt, dass er Fragen stellt
und ein Frage- und Antwort-Spiel macht und damit eben mit den Studenten ins
Gespräch kommt und das das seine Art ist Vorlesungen zu halten. Darüber waren
natürlich sein Kollegen, auch zum Teil seine deutschen Kollegen, die das auch so
nicht kannten, man muss dabei bedenken, mein Vater war damals 31 Jahre alt und
gehörte damit zu den jüngsten Professoren, die mit ihm in die Emigration gegangen
waren. Aber er hatte mit dieser Art der Vorlesung großen Erfolg.
Sprecherin:
Ernst Eduard Hirsch schrieb bald auch Lehrbücher und forschte zum neuen
türkischen Handelsrecht. Außerdem beschäftigte er sich mit der Wirtschaftsordnung
der Türkei und gegen Ende seiner Istanbuler Zeit erarbeitete er ein neues
Urheberrechtsgesetz.
Regie: Musikakzent
Sprecherin:
In den 40-er Jahren, Ernst Hirsch lehrte inzwischen fast zehn Jahre an der
Universität Istanbul, veränderte sich die politische Lage in der Türkei. Im August
1944 brach sie ihre diplomatischen Beziehungen zu Deutschland ab, im März 1945
folgte die Kriegserklärung. Die sogenannten Reichsdeutschen mussten die Türkei
verlassen. Denn neben Exil-Wissenschaftlern lebten in der Türkei auch Diplomaten,
Wirtschaftsmigranten oder Missionare aus Deutschland. Darunter auch viele
Nationalsozialisten.
Viele Exilanten dagegen verloren die deutsche Staatsangehörigkeit, auch Ernst
Hirsch und seine Familie, denn mit ihm lebten inzwischen seine zweite Frau und
seine Mutter in Istanbul. Der Jurist steckte gerade in Verhandlungen über seine
Vertragsverlängerung und hatte sogar überlegt, die Türkei wieder zu verlassen. 1943
erhielt er aber die türkische Staatsbürgerschaft ohne Probleme und schrieb dazu:
Zitator:
Unter diesen Umständen war die Verwirklichung meines Planes, nach Beendigung
meines Anstellungsvertrages die Türkei zu verlassen, unmöglich geworden, aus
rechtlichen und vor allem aus moralischen Gründen. Denn dadurch, dass man mich
in die türkische Staatsangehörigkeit aufgenommen hatte, war deutlich gemacht
worden, dass die Regierung mich nicht mehr als nur vorübergehend anwesenden
ausländischen Spezialisten, sondern als einheimischen türkischen Professor
betrachtet und behandelt wissen wollte.
Regie: Musikakzent
Sprecherin:
Bis an sein Lebensende behielt Hirsch die türkische Staatsangehörigkeit. Doch so
sehr er sich darüber freute, zunächst stand er vor neuen Schwierigkeiten.
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O-Ton Enver Hirsch:
Das Problem, was sich daraus ergab, war, dass mein Vater jetzt plötzlich türkischer
Professor war, und die Gehälter für die türkischen Professoren waren erheblich
niedriger als die der Gastprofessoren. Und jetzt war die große Frage, wie kann man
jetzt meine Mutter, meine Großmutter, ich lebte damals ja noch nicht, ernähren mit
einem so niedrigen Gehalt. Das war nicht möglich.
Und da kam dann Ankara ins Spiel, nämlich dann trat die türkische Regierung an ihn
heran und machte ihm das Angebot, er könnte ja an die inzwischen zweite
Universität, die in Ankara gerade gegründet worden war, kommen und gleichzeitig
Berater der Regierung werden und dann könnte man eine Möglichkeit finden, ihm
eben die Bezüge zukommen zu lassen, die er als Gastprofessor gehabt hatte.
Sprecherin:
In Ankara war Ernst Eduard Hirschs wichtigster Auftrag, die dortige Fachhochschule
für Rechtswesen auf den Stand einer wissenschaftlich einwandfreien juristischen
Fakultät zu bringen. Daneben verfasste er aber auch noch Entwürfe für das türkische
Warenzeichen-, Patent-, Muster- und Modellschutzgesetz und arbeitete am
Handelsgesetzbuch, für das er hauptverantwortlich war. Außerdem leitete er die
Lehrstühle für Handelsrecht, für Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie. Er spürte,
dass er mit seinen Kräften langsam an Grenzen kam. Denn zu aller Arbeit kamen
private große Sorgen. Anni, die Schwester von Ernst Hirsch, ihr Mann und Sohn
waren in Theresienstadt interniert. Im Herbst 1943 schrieb er:
Zitator:
Ich fühle, dass ich mit den Kräften und Nerven, die mir noch geblieben sind, sehr
haushalten muss. Ich lebe dementsprechend: ich gehe nicht in Gesellschaft, lege
mich früh zu Bett, halte meine Mittagsruhe regelmäßig und machen zwischen der
Arbeit auch dann und wann einmal eine Pause.
Regie: Musikakzent
Sprecherin:
Im Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa und viele von Hirschs Kollegen
begannen, über eine Rückkehr nach Deutschland nachzudenken. Im August wurde
sein Sohn geboren und er gab ihm zwei türkische Vornamen: Enver Tandogan. Eine
Rückkehr kam für Ernst Eduard Hirsch nicht infrage. Stattdessen stürzte er sich in
seine wissenschaftliche Arbeit in Ankara und in seine Vorlesungen.
Ende der 40er-Jahre wurde Hirsch zu verschiedenen Gastvorträgen in Deutschland
eingeladen. Seine türkischen Fakultätskollegen redeten im zu, er solle bei der
Gelegenheit auch gleich prüfen, ob es nicht möglich wäre, den kulturellen Austausch
mit Deutschland wieder aufzunehmen. Ernst Eduard Hirsch reiste also mit türkischem
Diplomatenpass. Vor allem in München aber, wo er sechs Vorlesungen halten sollte,
wurde er so unfreundlich aufgenommen, dass er gleich nach der ersten Vorlesung
wieder abreiste. Hirschs Beziehungen zu seiner alten Heimat wurden dadurch nicht
besser. 1950 entschloss er sich dennoch, ein Gastsemester an der Freien Universität
in Berlin zu verbringen. Sein Sohn Enver Tandogan erinnert sich:
9
O-Ton Enver Hirsch:
Es waren nachher zwei Gründe, die ihn doch bewogen zurückzukehren. Das erste
war, er hatte damals gerade, 1948, seine spätere Frau kennen gelernt, die Ehe
meiner Eltern war also, man kann heute schon sagen, zu diesem Zeitpunkt schon
zerrüttet. Das war ein Grund. Und der andere Grund war, dass ihn Ernst Reuter, der
inzwischen ja regierender Bürgermeister in Berlin war und die Freie Universität ihren
Geschäftsbetrieb aufgenommen hatte, das Ernst Reuter ihn bat, doch nach Berlin zu
kommen und die schlechten Erfahrungen, die er an den alt eingesessenen
Universitäten hier gemacht hatte, die seien in Berlin nicht zu erwarten, das sei eine
junge Universität und man wollte alles ganz anders dort machen als es in den alten,
etablierten Universitäten Deutschlands üblich war.
Sprecherin:
Ernst Reuter hatte ebenfalls als Exil-Wissenschaftler an der Universität in Ankara
gearbeitet, daher kannte und schätzte Ernst Hirsch ihn. Reuter war schon 1946 nach
Berlin zurückgekehrt und dort der erste Regierende Bürgermeister nach dem Krieg
geworden. Und er war dabei, die Freie Universität in Berlin mit aufzubauen. Er
schrieb an Ernst Hirsch:
Zitator:
Sie haben bei dem Aufbau der Universitäten Istanbul und Ankara an vorderster Linie
gestanden und sich um das Aufblühen dieser Hochschulen verdient gemacht. Ist es
denn nicht möglich, Ihre in fast zwei Jahrzehnten erworbenen Erfahrungen beim
Aufbau der neuen Berliner Universität fruchtbar zu machen?
Sprecherin:
Hirsch sagte zu und stellte in seinem Gastsemester zum einen fest, dass die
rechtswissenschaftliche Entwicklung in den 20 Jahren seiner Abwesenheit rasant
weitergegangen und er etwas in den Rückstand geraten war. Das wollte er unbedingt
aufholen. Und, so schreibt er:
Zitator:
Die Aufgabe reizte mich. Die Studenten, größtenteils Kriegsteilnehmer, imponierten
durch ihren Ernst, ihren Fleiß und ihre Aufmerksamkeit. Niemals zuvor und niemals
danach habe ich die Vorlesung Rechtsphilosophie vor 600 Studenten in einer so
überzeugenden Weise halten können wie damals im sogenannten Reitstall in
Dahlem, einem früheren Depot der U-Bahn, das mit roh gezimmerten schmalsitzigen
Bänken als Hörsaal ausgestattet war.
Atmo:
Klopfen auf Holzbänke/Applaus
Sprecherin:
1952 schließlich entschied er sich, endgültig nach Deutschland zurückzukehren. Er
übernahm den Lehrstuhl für Handelsrecht und Rechtssoziologie an der Freien
Universität Berlin. Ein Jahr später wurde er Rektor der FU.
Regie: Musikakzent
10
Sprecherin:
Jutta Limbach, die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, war in
den 50er-Jahren Assistentin am Lehrstuhl von Ernst Hirsch:
O-Ton Jutta Limbach:
Er war mir ja schon aus der Studentenzeit als ein strenger, aber gerechter
Hochschullehrer bekannt, der damals auch besondere Bedürfnisse der studentischen
Jugend nach integren Persönlichkeiten erfüllte. Er war ja emigriert und das hat ihn
nicht nur davor bewahrt, irgendwie in nationalsozialistisches Unrecht verstrickt zu
werden, sondern er hat durch die Emigration in die Türkei und die Tatsache, dass er
dort alsbald Unterricht im Handelsrecht und in der Rechtsphilosophie aufgenommen
hat, in besonderer Weise wirklich gelernt, über den Tellerrand der juristischen, häufig
sehr selbst genügsamen Dogmatik hinauszuschauen.
O-Ton:
Vorurteile duldete er nicht. Und Sie können sich vorstellen, ich war häufig in meinem
Leben die erste Frau, die erste Frau die hier promoviert hat, die erste Frau, die sich
hier habilitiert hat und dann Professorin geworden ist. Das ging nur mit einem Mann
wie Ernst Eduard Hirsch, der Geschlechtsunterschiede in Geisteswelten nicht
akzeptierte.
Sprecherin:
Ernst Eduard Hirsch blieb aber auch in Berlin eng mit der Türkei verbunden. Er
veröffentlichte über das türkische Aktien-Recht, das Urheberrecht und die türkische
Verfassung von 1961. Und er pflegte weiter die türkische Sprache und den
Austausch mit türkischen Wissenschaftlern.
O-Ton Jutta Limbach:
Zu unseren Assistenten und Studenten zu meiner Assistentenzeit gehörten Türken in
jedem Lebensalter – Professoren, Assistenten, Studenten – waren hier und es
kommt ja nicht von ungefähr, dass mein erster Doktorand auch ein Türke gewesen
ist.
Sprecherin:
Bis zu seinem Tod behielt Ernst Hirsch beide Staatsbürgerschaften, er blieb
Deutscher und Türke. Im Jahre 1967 ließ er sich vorzeitig emeritieren. Da begannen
in Berlin die Unruhen der 68er-Generation. Die Themen dieser Jugendrebellion
verstand er nicht. Er zog sich in den Schwarzwald zurück und lebte dort bis zu
seinem Tode. Er selbst sagte über seine Rückkehr nach Deutschland:
Zitator:
Ich weiß nicht, was "Ressentiment" ist – ein Mangel, der es mir ermöglicht hat, nach
zwei Jahrzehnten des Exils an eine deutsche Universität zurückzukehren.
***
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