Einordnung des Projektes in die Innovationsallianz Virtuelle

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Einordnung des Projektes in die
Innovationsallianz Virtuelle Techniken
Marco Schumann
Besonders deutlich wird dieser Ansatz der Innovationsallianz in der Kooperation der Projekte „Angewandte virtuelle Technologien im Produkt und Produktionsmittel-Lebenszyklus“ (AVILUS) und „Angewandte virtuelle Technologien mit Langfristfokus im
Produkt- und Produktionsmittel-Lebenszyklus“ (AVILUSplus). Im Rahmen des Technologieverbundes AVILUS entwickelt ein Konsortium von 28 Partnern aus Wirtschaft und
Wissenschaft leistungsstarke Technologien im Kontext virtueller und erweiterter Realität.
Im Fokus des Projekts steht der Mensch. Er soll mit Hilfe virtueller Techniken in die
gesamte Produktentwicklung eingebunden werden und Entscheidungen in unterschiedlichen Entwicklungsphasen deutlich schneller und zuverlässiger treffen können. Bereits zu
einem sehr frühen Zeitpunkt soll der Entwickler die Rolle des späteren Nutzers oder Käufers einnehmen, um das virtuelle Produkt funktional bewerten und bei Bedarf optimieren
zu können. Für die Lösung komplexerer Aufgabenstellungen müssen sowohl das virtuelle
Produkt als auch seine Umgebung möglichst realitätsnah erleb- und bedienbar sein.
Um dieses Ziel zu erreichen, werden im Projekt AVILUS die Technologien zu den
Themen Informationsmanagement, Darstellung virtueller Informationen, Trackingsysteme, Systeme zur Visualisierung (Renderer), mobile Informationsaufnahme und
Anzeigegeräte sowie Erstellung und Verarbeitung von Informationen (Engineering und
Autorensysteme) weiterentwickelt und ganzheitlich verknüpft.
Die im Projekt adressierten inhaltlichen Schwerpunkte bilden jedoch nur einen
Teil der Basistechnologien die aus Sicht der Industrie mittelfristig produktivitätssteigernd eingesetzt werden können. Eine Übersicht dieser Technologien und deren
M. Schumann (*) 
Früher: Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF,
Magdeburg, Deutschland
E-Mail: [email protected]
© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2016
M. Schenk und M. Schumann (Hrsg.), Angewandte Virtuelle Techniken im
Produktentstehungsprozess, DOI 10.1007/978-3-662-49317-5_2
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Abb. 2.1  Einsatz produktivitätssteigernder Basistechnologien im Lebenszyklus. (© Volkswagen
Group)
phasengerechte Zuordnung für das Arbeiten in digitalen und realen Umgebungen ist in
Abb. 2.1 dargestellt.
Die in AVILUS entstehenden Methoden und Technologien sollen dafür sorgen, virtuelle Technologien mit der realen Arbeitswelt in Deutschland zu verbinden. Sie sollen
direkt und mit einem Zeithorizont von weniger als drei Jahren in den Arbeitsalltag integriert und anwendernah erprobt werden. Auszugsweise sind folgende geplante Anwendungen in den unterschiedlichen Teilprojekten zu nennen:
• Realistische Darstellung von Fahrzeugen in der frühen Entwicklungsphase unter Verzicht auf physische Prototypen
• Vergleich der digitalen Daten der Fertigungseinrichtungen mit den später realisierten
Anlagen (Rückkopplung für die digitale Fabrik)
• Mitarbeiterunterstützung in der Kommissionierung oder im Service
• Produktpräsentation im Kundenumfeld
Mit dem Start von AVILUS wurde schnell deutlich, dass auch ein Bedarf nach Technologien mit einem längerfristigen Forschungsbedarf über einen Zeithorizont von drei Jahren
und mehr besteht. Da hier das Risiko für den wissenschaftlichen und wirtschaftlichen
Erfolg deutlich höher ist, haben sich für diese Aufgabe im Projekt AVILUSplus neun
renommierte Forschungseinrichtungen mit einem Fokus auf Anwendungs- bzw. Grundlagenforschung zusammengeschlossen. Vorarbeiten bestanden hier durch das virtuelle
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Kompetenznetzwerk zur virtuellen und erweiterten Realität (ViVERA), deren Partner
bereits auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit auf diesem Gebiet zurückblicken können.
Die Teilprojekte von AVILUSplus entsprechen in ihren thematischen Schwerpunkten
den von den AVILUS-Partnern vorgegebenen Technologien. In direkter Abstimmung mit
den AVILUS-Partnern wurden ergänzende Forschungsarbeiten identifiziert, die ein hohes
zukünftiges Einsatzpotenzial erwarten lassen.
Die Technologien in AVILUSplus sind fünf Themenschwerpunkten zugeordnet:
• Information im Produkt-Lebenszyklus-Management-Prozess:
Das Thema virtuelle Realität wird vorrangig mit der Vorstellung von visuellen Darstellungen verbunden. Darüber hinaus sind jedoch Informationen notwendig, die das
Verhalten der virtuellen Objekte sowie die Reaktionen auf die Interaktion des Benutzers beschreiben. Um diese Informationen zu erfassen und zu beschreiben ist nach
heutigem Stand der Technik ein aufwendiger Autorenprozess notwendig. Ein wesentliches Ziel der Technologieentwicklungen ist deshalb, automatisierte Lösungen zu
konzipieren, die in der Lage sind, multimediale Handlungsanleitungen zu erstellen.
Zukünftig soll es möglich sein, anhand real durchgeführter Handlungsprozeduren virtuelle Abläufe automatisiert zu erstellen und damit den Entwicklungsaufwand deutlich zu reduzieren.
• Simulation und Rendering
Inwieweit virtuelle Technologien produktiv einsetzbar sind und akzeptiert werden,
hängt davon ab, wie realistisch, detailliert und physikalisch korrekt Simulationen
von komplexen Modellen und von Objektverhalten in virtuellen oder teilweise realen
Umgebungen dargestellt werden können. Dafür werden unter anderem Echtzeit-Simulationsverfahren für physikalisch korrektes Objektverhalten entwickelt [Juh08]. Um
einen Produktionsprozess virtuell in Betrieb nehmen zu können, muss eine Lösung
entwickelt werden, reale Steuerungskomponenten und virtuelle Szenarien zu verknüpfen [Böh09, Ken07].
Für das Rendering bedeutet das, Produkte und ihre Eigenarten wie z. B. lackierte Flächen physikalisch korrekt und möglichst hochwertig wiederzugeben. Ziel ist eine insgesamt realistischere und detailreichere Bildberechnung, die durch Verwendung von
spektralen Reflexionsdaten erreicht werden sollen.
•Tracking
Eine entscheidende Voraussetzung für die virtuelle und erweiterte Realität ist das
„Tracking“, die Verfolgung von realen Objekten, um Informationen über den Verlauf
ihrer Bewegung und ihrer Lage zu erhalten. Bisher arbeiten Tracking-Lösungen nur in
speziell dafür markierten Umgebungen und unter eingeschränkten Beleuchtungsverhältnissen. Hier ist es ein wesentliches Ziel, insbesondere die Verfahren des markierungsfreien Trackings hinsichtlich ihrer Robustheit zu verbessern.
Es werden Forschungsansätze zur Identifikation charakteristischer Bildmerkmale in
einem 2D-Kamerabild [Hin08] untersucht. Für den industriellen Einsatz auf unebenen
Untergrund werden von Inertialsensoren gemessene Bewegungen (Verwackelungen)
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in die Bildauswertung einbezogen, um auf diese Weise die Genauigkeit zu erhöhen
[Wal09]. In einem weiteren Teilprojekt werden sphärische Kameras verwendet, um
gleichzeitig Navigation und Gestenerkennung durchführen zu können.
•Interaktion
Im Bereich der Interaktionstechniken werden zwei Schwerpunkte verfolgt: Zum einen
wird die Robustheit bekannter Interaktionstechniken erhöht. Zum anderen werden
neuartige Eingabegeräte untersucht.
Für Augmented-Reality-Anwendungen auf Basis von See-Through-Brillen muss für
jeden Benutzer eine individuelle Kalibrierung durchgeführt werden, damit die in der
Brille sichtbaren Überlagerungen der Realität lagerichtig eingeblendet werden. Bisherige Kalibrierungsverfahren bestehen aus mehreren Schritten, in denen der Benutzer eine
reale Markierung aus verschiedenen Positionen mit einer eingeblendeten Überlagerung
in Übereinstimmung bringen muss. Im praktischen Einsatz ist dies recht zeitaufwendig, wenn die Kalibrierung oft zu wiederholen ist. Daher beschäftigt sich ein Teilprojekt
innerhalb von AVILUSplus mit der Optimierung der Kalibrierung zu einem Ein-SchrittVerfahren. Da werden verschiedene Kalibrierkörper getestet und die erreichbare Genauigkeit sowie der zeitliche Aufwand gegen das bisher verwendete Verfahren getestet [Gru08].
Erforscht werden auch komplett neue Möglichkeiten der Interaktion zwischen
Mensch und realen oder virtuellen Objekten wie z. B. die Entwicklung einer taktilen Haut. Die taktile Haut besteht aus Schaumstoffzellen verschiedenster Größe und
Dicke, die aufgrund ihres Aufbaus sowohl zur Ortsauflösung als auch als kraftmessende Einheit dienen kann. In zwei Szenarien wird die taktile Haut zum Verformen
virtueller Objekte sowie für die Interaktion zwischen Mensch und Roboter eingesetzt.
In einem weiteren Teilprojekt werden Tangible User Interfaces betrachtet. Diese
geben digitalen Funktionen und virtuellen Objekten eine physische Repräsentation.
Es handelt sich um fühlbare Werkzeuge mit funktionsspezifischer Form, die Teile der
Applikationslogik in sich tragen [Kra07]. Als potenzielle Anwendung wird das dreidimensionale Skizzieren in der Produktentstehungsphase untersucht.
•Geometrieerfassung
Insbesondere um Planungsfehler bei der Überlagerung von CAD-Daten und realen
Modellen aufzuspüren, ist es notwendig, die Geometrie realer Objekte schnell und
präzise erfassen zu können. Dabei liegen die Forschungsschwerpunkte auf 3D-Messverfahren, die mit Technologien der Erweiterten Realität kombiniert werden können.
Die „modellbasierte Objekterkennung und -überprüfung im Nahbereich“ soll neue
Technologien zur Geometrieerfassung und deren Auswertung bieten. Dazu wird a priori Wissen in Form von aus der digitalen Fabrik zur Verfügung gestelltem Modellwissen (Sollinformationen) genutzt. Die zu entwickelnden Technologien nutzen erfasste
Bilddaten und Positionsinformationen der zum Einsatz kommenden Aufnahmekameras. Am Beispiel der Werkerassistenz in der variantenreichen Montage ist sowohl eine
lagekorrekte Einblendung von Modellinformationen als auch eine Überprüfung jedes
einzelnen Montageschrittes möglich. Damit lässt sich z. B. der korrekte Ablauf eines
Wartungs- oder Montagevorgangs testen, um bei fehlerhaften Arbeitsschritten ein
Warnsignal zu geben.
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Diese fünf Themenschwerpunkte bilden die Grundlage für die weitere Gliederung der
Kapitel. Jedem Themenschwerpunkt ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Die Kapitel
folgen einer einheitlichen Struktur: Es wird zunächst der Stand der Technik dargestellt. Daraus werden die Herausforderungen an die Technologieentwicklungen abgeleitet. Ein weiteres Unterkapitel zeigt die Zusammenhänge zwischen den einzelnen
Technologieentwicklungen auf und erläutert, wie diese zur Lösung der Herausforderungen beitragen. Daran schließt sich eine detaillierte Beschreibung der jeweiligen
Technologieentwicklung an. Die Referenzen zu weiterführenden Informationen bilden jeweils den Abschluss des Kapitels.
http://www.springer.com/978-3-662-49316-8