Die TZ-Historienseite vom 2. März 2017

HISTORIE
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DONNERSTAG, 2. MÄRZ 2017 | SEITE 16
„Bist du das,
meine Kleene“
Torgau – früher und heute
Kindheitserlebnisse aus einer vergangenen Zeit
TORGAU. Im Dezember kam ein neues Torgau-Buch auf den Markt. Das Autorenduo Bernd Blume und Corinna Karl-Sander zeigt mit 55
eindrucksvollen Bildpaaren, wie sich die Stadt herausgeputzt hat. Hier die Bäckerstraße.
Quelle: „Torgau. Früher und heute“ – ISBN: 978-3-95400-780-6
Nach dem Feuersturm in Torgau gestrandet
Selma machte dein Eindruck eines „Sonderlings“ und wurde von vielen gemieden
TORGAU. Selma war eine Frau, die zu
manchen Zeiten etwas eigenartig auf ihre
Umwelt reagierte. Sie schien etwas fahrig, durcheinander. Selma hatte die Bombenangriffe auf Dresden miterlebt und
überlebt. Sie hatte panische Angst vor
Feuer. Das ging soweit, dass sie im Winter selten den Ofen heizte, einfach weil
sie es nicht fertig brachte, ihren Ofen anzuheizen. So machte Selma natürlich den
Eindruck eines Sonderlings und wurde
von ihren Mitmenschen gemieden, wie
es so oft ist. Wer nicht in die Norm passt,
kann nicht normal sein. Ein Mensch ist
schnell in eine Schublade gesteckt, aus
der er schwer wieder herauskommt. Es
ist immer gut zu hinterfragen und die Geschichte hinter der Geschichte in Erfahrung zu bringen. Da ich ein neugieriger
Mensch bin, wartete ich einen geeigneten Augenblick ab, um Selmas Geschichte zu erfahren.
Selma saß wie so oft vor dem Haus auf
der Bank und starrte in die Natur. Sie
machte auf mich den Eindruck, dass sie
ansprechbar sei und so setzte ich mich zu
ihr auf die Bank. Nach anfänglichem
Misstrauen öffnete sie sich mehr und
mehr. Sie merkte wohl, dass ich sie nicht
veralbern wollte und ein ehrliches Inter-
esse an ihrer Geschichte hatte. Was ich
dann erfuhr, ließ mir das Blut in den
Adern erstarren. Selma hatte bei der
Bombardierung Dresdens ihre Mutter sowie zwei Geschwister verloren. Jedes
Jahr im Februar durchlebte sie diese
furchtbaren Ereignisse aufs Neue.
So ist ihr Verhalten zu erklären und zu
verstehen. Ich glaube Selma war froh, darüber reden zu können. Sie war nicht
durcheinander, sie berichtete mit großer
Klarheit über diese Zeit, die ihrem Leben
einen negativen Verlauf geben sollte. In
vielen Gesprächen machte ich Selmas
Geschichte bei den Nachbarn bekannt,
das Unverständnis über ihre zeitweilige
Schrulligkeit änderte sich grundlegend.
Als ich mein erstes Auto kaufte, einen gebrauchten Saporosch, auch Stalins letzte
Rache genannt, machte ich Selma den
Vorschlag, doch einmal nach Dresden zu
fahren. Nach anfänglichem Zögern
stimmte sie zu. Ich hoffte, dass Selmas
Narben durch die Begegnung mit der
Vergangenheit vielleicht besser heilen
würden und sie ihr eigenes Leben doch
schmerzfreier leben könnte.
An einem wunderschönen Samstagmorgen fuhren wir los. Selma hatte belegte
Brote und eine Thermoskanne mit Kaffee
mitgebracht. Umso näher wir Dresden
kamen, umso unruhiger wurde Selma. Ich
beobachtete sie im Spiegel und war kurz
davor umzudrehen. Selma konnte wahrscheinlich meine Gedankengänge erahnen und sagte: „Nun sind wir so weit,
jetzt ziehen wir das durch.“ So war ich
froh, dass sie mir die Entscheidung abnahm.
Sie wohnte damals in der Nähe des sogenannten Italienischen Dörfchens. Wir arbeiteten uns von der Frauenkirche, die
damals nur eine Ruine war, in Richtung
ihres Elternhauses vor. Selma war völlig
entspannt, völlig klar. Sie atmete ihre
Vergangenheit. An ihren Gesichtszügen
konnte ich erkennen, dass sie wieder
Kind war und diese Zeit nochmals durchlebte. Leider konnten wir den Standort
ihres Elternhauses nicht mehr genau bestimmen, hätte mich auch gewundert,
denn Dresden war nach der Bombardierung ein einziger Schutthaufen. Man war
gerade dabei, die Wunden des Krieges
notdürftig zu schließen. Selma war aber
nicht traurig. Sie war da, wo sie glaubte
einmal gelebt zu haben, was viel wichtiger war, sie konnte mit ihrer Vergangenheit abschließen. Sie schaute mich mit
Tränen in den Augen an, es waren keine
Tränen der Trauer sondern der Freude.
Sie sagte: „Heute war ich noch einmal in
meinem alten zuhause, konnte meinen
Lieben noch einmal Lebewohl sagen und
jetzt fahren wir in mein neues zuhause,
wo es Menschen wie dich gibt.“
Na das ging mir runter wie Öl.
Auf der Heimfahrt wollte zunächst kein
Gespräch aufkommen. Selma lebte in der
Erinnerung. Ich ließ sie träumen. Nach
einiger Zeit versuchte ich sie mit gezielten Fragen in die Gegenwart zurück zu
holen. Es gelang mir. Aus ihr sprudelten
die Erinnerungen nur so heraus, sodass
die Fahrt viel zu schnell zu Ende ging.
Seit dieser Zeit lebte sie ein ganz normales Leben, der Fluch der Vergangenheit
war von ihr genommen.
Wenn ich heute Selma fragen könnte,
was Dresden ausmacht, so würde sie sagen: „Der Dresdner trägt sein Licht in die
Dunkelheit, das Licht des Friedens, der
Verständigung. Der Feuersturm Dresdens
muss der Sturm der Menschlichkeit sein.
Aus dem Feuersturm muss eine Fackel
des Friedens werden, an der sich jene die
Hände verbrennen, die damit spielen und
zündeln wollen. Das Feuer der Herzen ist
wichtiger und wärmer, als alle Feuer der
Jürgen Schulz
Welt.“
AUDENHAIN. Bei bestimmten Persönlichkeiten war es damals üblich, dass die
Frau auch den Titel des Ehemannes tragen durfte, und so wurde sie auch in diesem Fall als Frau des Pastor Mahn – Frau
Pastor angeredet. Sie war eine lebenslustige und interessante Persönlichkeit.
Wenn sie mit ihrem Fahrrad durchs Dorf
fuhr, hatte sie immer ein Lied auf den
Lippen. Singen war ihr Leben. Mit ihrer
schönen klaren Stimme beeindruckte sie
schon sehr. Da sie gut Klavierspielen
konnte, erklärte sie sich bereit, mir auch
Unterricht zu geben. Aber das war reine
Nebensache. Viel mehr interessierte sie
sich für meine langen Zöpfe. Sie probierte Frisuren aus und wenn ich dann nach
Hause kam, sagte meine Mutter: „Bist du
das, meine Kleene?“ Einmal hatte ich einen Hahnenkamm, ein andermal Schnecken, dann 2 seitliche Kämme im Haar.
Also der Fantasie gab es keine Grenzen.
Es musste wohl angesteckt haben, denn
ich entdeckte auch plötzlich Variationsmöglichkeiten beim Haarschopf meiner
Mutter. Sie war total einverstanden und
ließ sich von mir ihr wunderschönes, damals schon etwas silbernes Haar, kämmen und bürsten. Ich stand auf dem alten weinroten Plüschsofa hinter ihr und
dachte, eine Prinzessin könnte kein schöneres Haar haben. Für die Mama war es
wohltuende Massage.
Wenn wir heute unsere Wohnungen ansehen, dann haben wir weichen Teppichboden, Sessel und Liegelandschaften.
Zur damaligen Zeit konnten wir das nicht
aufweisen. Es gab ein Plüschsofa und
Holzstühle, wo selbstgenähte Kissen darauf drapiert waren. Eine gute Stube und
eine für alle Tage. Auch, als wir den ersten Fernseher in der Stube aufgestellt
hatten, saßen wir immer noch aufrecht
und nicht hingelümmelt auf unseren
Stühlen. Es war egal, wie hart es sich saß.
Die Hauptsache war, wir konnten die
„Aktuelle Kamera“, den „Schwarzen Kanal“, die „Rumpelkammer“ mit Willy
Schwabe und alte Filme gucken. Diese
bildhafte Welt zu erleben, war eine Sensation und diesen Einschnitt in das visuelle Erlebnis wird keiner von uns vergessen können.
Für den Kindersegen im Dorf aber war
damals die wunderbare Dorfhebamme
Frau Dähnert zuständig. Sie erschien wie
die Mutter Theresa, gütig und vertrauensvoll. Die Babys wurden von ihr noch
lange nach der Geburt betreut und auch
später weiter im Auge behalten. Es waren ja alles ihre Kinder. Sie wusste immer Rat und bei jedem Bäuerchen ein
Mittelchen. Ihr gebührt mehr als Dank.
Damit die Landbevölkerung gesund
blieb, dafür sorgten die Kinder im Dorf
mit dem Sammeln von Heilkräutern, die
Überlieferung der magischen Künste der
Alten und das fachliche Wissen des Dr.
med. Paul Geus, der im Nachbarort
Mockrehna seine Praxis hatte. Er war der
Hausarzt der Dorfleute in Audenhain. Es
war wie eine Suggestion „Dieser Arzt
macht mich gesund.“ Kindliches Gottvertrauen, die Nähe des Menschen, der
Jeden kannte und das Vertrauen in ihm
half allen über die Sorgen und Nöte hinweg. Zu jeder Zeit, ob Tag und Nacht,
war dieser Doktor für sie da. Stand ein
Notfall an, radelte er auch gleich mal auf
dem Fahrrad in Filzpantoffeln zu seinen
Patienten. Er blickte tief in die Seelen der
Menschen. Er war eben etwas Besonderes. Ich hatte damals, als ich 6 Jahre alt
war, mit meiner Freundin im April im eiskalten Wasser des Entendeiches gebadet
und mich so erkältet, dass ich steifgefro-
rene Beine hatte und ganz lange damit
zubrachte, bevor ich wieder laufen konnte. Ich wurde natürlich wieder gesund,
aber diese dramatischen Prozeduren
werde ich mein Lebtag nicht vergessen.
Außer der Medizin vom Doktor Geus hatte meine Mutter noch andere Mittelchen
zum Kurieren. Mit einem großen Brennesselstrauß schlug sie auf meine Beine.
Das brannte höllisch, sollte aber helfen.
Sicher war es allerdings nicht. Es tat ihr
auch unendlich Leid dieses Vorhaben.
Dann wurde ich in einen Schwitzkasten
gesteckt, wo sehr heiße Feldkümmeldämpfe meine Krankheit vertreiben sollten. Und tatsächlich, alles zusammen, die
Paarung medizinisches Fachwissen, Vertrauen auf die Heilkräuter und Beten,
verjagten das „Böse“ in meinen Beinen.
Das Beste beim Krankmachen war, dass
meine Lieblingskatze in meinem Bett
schlafen durfte. Sie sollte mich mit ihrem
Fell wärmen und vielleicht war auch diese liebe Seele mein Retter.
Man muss sich geborgen fühlen, eine
Heimat haben. Es fällt mir schwer, sich
vorzustellen, wie es den Flüchtlingen
ging, die zu uns ins Dorf kamen und um
Asyl baten. Sie hatten auch eine Zukunft,
ein Zuhause, Träume mit ihren Kindern
und dann kommt ein Nichts. Der Krieg
und seine Auswirkungen haben ihnen
alles genommen. Was haben ihre Seelen
für Wunden, können sie jemals heilen?
Meine Eltern hatten auch Vertriebene
aufgenommen. Ein junger Mann, der
sich bei uns meldete, war meiner Mutter
besonders ans Herz gewachsen. und erhielt sozusagen die Mutterliebe für einen
Sohn.
Egal, was geschah, es bestand ein unzertrennliches Band. Überhaupt war die Intimität im Dorf sehr groß. Es ist mir aufgefallen, dass die Jahrgänge meiner Eltern und auch in Folge, sich nicht mit
Herr und Frau anredeten, sondern ein
verwandtschaftliches Verhältnis aufbauten, sozusagen eine Duzfreundschaft, wo
man Nähe zuließ. Es hieß also nicht:
„Jetzt gehe ich mal zu Herrn Wendt“,
sondern es wurde lapidar gesagt: „Jetzt
gehe ich mal zu Wendts Fritzen oder zu
Köhlers Hanni.“ Es ist so ungefähr wie
„Wir sind alle gleich, vor jeder Haustür
stehen Holzlatschen, wir kennen unseren Wert.“ Ausnahmen bildeten allerdings bestimmte Persönlichkeiten wie
der Pastor, der Arzt und der Bürgermeister.
Die schönsten Wiesen- und Feldblumen
habe ich im Huxel gefunden. Das ist der
Dorfteil, der nach geschichtlichen Recherchen zuerst gegründet wurde. Hier
gibt es moorige Wiesen mit wunderschönen Gräsern, Schlüssel- und Butterblumen. Ja der Herrgott muss seinen Farbtopf ausgeschüttet haben, um so eine
bunte Pracht zu entwickeln. Auch die
Schmetterlinge, Bienen und Hummeln
sind vom Duft der Blüten berauscht und
gleiten leicht und beschwingt über diese Märchenpracht. So entsteht ein Aquarell ohne Pinselstrich, gemalt von der Natur mit der Anmut der Feen und Elfen.
Der Heidedichter Hermann Löns hat viele Menschen mit seinen Geschichten und
dem Duft der blühenden Heide verzaubert. Jeder, der bereit ist seine Sinne zu
öffnen, kann dieses Wunder erleben.
Dankbar können wir sein für die damalige Zeit. Sie hat uns mit der Natur verbunden, sie hat uns gelehrt, mit wachen
Augen durchs Leben zu gehen. Volksund Kinderlieder sind entstanden, Spiele, Reime und Bräuche.
Jugert/Liebmann
Historische Aufnahmen: Die „Schildsche“ trifft am Bahnhof in Oberaudenhain ein
SCHILDAU/MOCKREHNA. In der Eisenbahnwelten-Ausstellung im Torgauer Museum spielte auch die Strecke Schildau-Mockrehna eine
wichtige Rolle (TZ berichtete). Hier zwei historische Fotos aus der Audenhainer Chronik. Links: Ankommender Zug aus Mockrehna im
Bahnhof Oberaudenhain. Rechts: Nahaufnahme vom Bahnhofsgebäude Oberaudenhain aus dem Jahr 1942. In der Tür Fahrkartenverkäuferin „Böhms Mutter“- wie sie von allen genannt wurde.
Fotos: privat