HISTORIE Ihr Ansprechpartner Nico Wendt Tel. 03421 721052 [email protected] DONNERSTAG, 2. MÄRZ 2017 | SEITE 16 „Bist du das, meine Kleene“ Torgau – früher und heute Kindheitserlebnisse aus einer vergangenen Zeit TORGAU. Im Dezember kam ein neues Torgau-Buch auf den Markt. Das Autorenduo Bernd Blume und Corinna Karl-Sander zeigt mit 55 eindrucksvollen Bildpaaren, wie sich die Stadt herausgeputzt hat. Hier die Bäckerstraße. Quelle: „Torgau. Früher und heute“ – ISBN: 978-3-95400-780-6 Nach dem Feuersturm in Torgau gestrandet Selma machte dein Eindruck eines „Sonderlings“ und wurde von vielen gemieden TORGAU. Selma war eine Frau, die zu manchen Zeiten etwas eigenartig auf ihre Umwelt reagierte. Sie schien etwas fahrig, durcheinander. Selma hatte die Bombenangriffe auf Dresden miterlebt und überlebt. Sie hatte panische Angst vor Feuer. Das ging soweit, dass sie im Winter selten den Ofen heizte, einfach weil sie es nicht fertig brachte, ihren Ofen anzuheizen. So machte Selma natürlich den Eindruck eines Sonderlings und wurde von ihren Mitmenschen gemieden, wie es so oft ist. Wer nicht in die Norm passt, kann nicht normal sein. Ein Mensch ist schnell in eine Schublade gesteckt, aus der er schwer wieder herauskommt. Es ist immer gut zu hinterfragen und die Geschichte hinter der Geschichte in Erfahrung zu bringen. Da ich ein neugieriger Mensch bin, wartete ich einen geeigneten Augenblick ab, um Selmas Geschichte zu erfahren. Selma saß wie so oft vor dem Haus auf der Bank und starrte in die Natur. Sie machte auf mich den Eindruck, dass sie ansprechbar sei und so setzte ich mich zu ihr auf die Bank. Nach anfänglichem Misstrauen öffnete sie sich mehr und mehr. Sie merkte wohl, dass ich sie nicht veralbern wollte und ein ehrliches Inter- esse an ihrer Geschichte hatte. Was ich dann erfuhr, ließ mir das Blut in den Adern erstarren. Selma hatte bei der Bombardierung Dresdens ihre Mutter sowie zwei Geschwister verloren. Jedes Jahr im Februar durchlebte sie diese furchtbaren Ereignisse aufs Neue. So ist ihr Verhalten zu erklären und zu verstehen. Ich glaube Selma war froh, darüber reden zu können. Sie war nicht durcheinander, sie berichtete mit großer Klarheit über diese Zeit, die ihrem Leben einen negativen Verlauf geben sollte. In vielen Gesprächen machte ich Selmas Geschichte bei den Nachbarn bekannt, das Unverständnis über ihre zeitweilige Schrulligkeit änderte sich grundlegend. Als ich mein erstes Auto kaufte, einen gebrauchten Saporosch, auch Stalins letzte Rache genannt, machte ich Selma den Vorschlag, doch einmal nach Dresden zu fahren. Nach anfänglichem Zögern stimmte sie zu. Ich hoffte, dass Selmas Narben durch die Begegnung mit der Vergangenheit vielleicht besser heilen würden und sie ihr eigenes Leben doch schmerzfreier leben könnte. An einem wunderschönen Samstagmorgen fuhren wir los. Selma hatte belegte Brote und eine Thermoskanne mit Kaffee mitgebracht. Umso näher wir Dresden kamen, umso unruhiger wurde Selma. Ich beobachtete sie im Spiegel und war kurz davor umzudrehen. Selma konnte wahrscheinlich meine Gedankengänge erahnen und sagte: „Nun sind wir so weit, jetzt ziehen wir das durch.“ So war ich froh, dass sie mir die Entscheidung abnahm. Sie wohnte damals in der Nähe des sogenannten Italienischen Dörfchens. Wir arbeiteten uns von der Frauenkirche, die damals nur eine Ruine war, in Richtung ihres Elternhauses vor. Selma war völlig entspannt, völlig klar. Sie atmete ihre Vergangenheit. An ihren Gesichtszügen konnte ich erkennen, dass sie wieder Kind war und diese Zeit nochmals durchlebte. Leider konnten wir den Standort ihres Elternhauses nicht mehr genau bestimmen, hätte mich auch gewundert, denn Dresden war nach der Bombardierung ein einziger Schutthaufen. Man war gerade dabei, die Wunden des Krieges notdürftig zu schließen. Selma war aber nicht traurig. Sie war da, wo sie glaubte einmal gelebt zu haben, was viel wichtiger war, sie konnte mit ihrer Vergangenheit abschließen. Sie schaute mich mit Tränen in den Augen an, es waren keine Tränen der Trauer sondern der Freude. Sie sagte: „Heute war ich noch einmal in meinem alten zuhause, konnte meinen Lieben noch einmal Lebewohl sagen und jetzt fahren wir in mein neues zuhause, wo es Menschen wie dich gibt.“ Na das ging mir runter wie Öl. Auf der Heimfahrt wollte zunächst kein Gespräch aufkommen. Selma lebte in der Erinnerung. Ich ließ sie träumen. Nach einiger Zeit versuchte ich sie mit gezielten Fragen in die Gegenwart zurück zu holen. Es gelang mir. Aus ihr sprudelten die Erinnerungen nur so heraus, sodass die Fahrt viel zu schnell zu Ende ging. Seit dieser Zeit lebte sie ein ganz normales Leben, der Fluch der Vergangenheit war von ihr genommen. Wenn ich heute Selma fragen könnte, was Dresden ausmacht, so würde sie sagen: „Der Dresdner trägt sein Licht in die Dunkelheit, das Licht des Friedens, der Verständigung. Der Feuersturm Dresdens muss der Sturm der Menschlichkeit sein. Aus dem Feuersturm muss eine Fackel des Friedens werden, an der sich jene die Hände verbrennen, die damit spielen und zündeln wollen. Das Feuer der Herzen ist wichtiger und wärmer, als alle Feuer der Jürgen Schulz Welt.“ AUDENHAIN. Bei bestimmten Persönlichkeiten war es damals üblich, dass die Frau auch den Titel des Ehemannes tragen durfte, und so wurde sie auch in diesem Fall als Frau des Pastor Mahn – Frau Pastor angeredet. Sie war eine lebenslustige und interessante Persönlichkeit. Wenn sie mit ihrem Fahrrad durchs Dorf fuhr, hatte sie immer ein Lied auf den Lippen. Singen war ihr Leben. Mit ihrer schönen klaren Stimme beeindruckte sie schon sehr. Da sie gut Klavierspielen konnte, erklärte sie sich bereit, mir auch Unterricht zu geben. Aber das war reine Nebensache. Viel mehr interessierte sie sich für meine langen Zöpfe. Sie probierte Frisuren aus und wenn ich dann nach Hause kam, sagte meine Mutter: „Bist du das, meine Kleene?“ Einmal hatte ich einen Hahnenkamm, ein andermal Schnecken, dann 2 seitliche Kämme im Haar. Also der Fantasie gab es keine Grenzen. Es musste wohl angesteckt haben, denn ich entdeckte auch plötzlich Variationsmöglichkeiten beim Haarschopf meiner Mutter. Sie war total einverstanden und ließ sich von mir ihr wunderschönes, damals schon etwas silbernes Haar, kämmen und bürsten. Ich stand auf dem alten weinroten Plüschsofa hinter ihr und dachte, eine Prinzessin könnte kein schöneres Haar haben. Für die Mama war es wohltuende Massage. Wenn wir heute unsere Wohnungen ansehen, dann haben wir weichen Teppichboden, Sessel und Liegelandschaften. Zur damaligen Zeit konnten wir das nicht aufweisen. Es gab ein Plüschsofa und Holzstühle, wo selbstgenähte Kissen darauf drapiert waren. Eine gute Stube und eine für alle Tage. Auch, als wir den ersten Fernseher in der Stube aufgestellt hatten, saßen wir immer noch aufrecht und nicht hingelümmelt auf unseren Stühlen. Es war egal, wie hart es sich saß. Die Hauptsache war, wir konnten die „Aktuelle Kamera“, den „Schwarzen Kanal“, die „Rumpelkammer“ mit Willy Schwabe und alte Filme gucken. Diese bildhafte Welt zu erleben, war eine Sensation und diesen Einschnitt in das visuelle Erlebnis wird keiner von uns vergessen können. Für den Kindersegen im Dorf aber war damals die wunderbare Dorfhebamme Frau Dähnert zuständig. Sie erschien wie die Mutter Theresa, gütig und vertrauensvoll. Die Babys wurden von ihr noch lange nach der Geburt betreut und auch später weiter im Auge behalten. Es waren ja alles ihre Kinder. Sie wusste immer Rat und bei jedem Bäuerchen ein Mittelchen. Ihr gebührt mehr als Dank. Damit die Landbevölkerung gesund blieb, dafür sorgten die Kinder im Dorf mit dem Sammeln von Heilkräutern, die Überlieferung der magischen Künste der Alten und das fachliche Wissen des Dr. med. Paul Geus, der im Nachbarort Mockrehna seine Praxis hatte. Er war der Hausarzt der Dorfleute in Audenhain. Es war wie eine Suggestion „Dieser Arzt macht mich gesund.“ Kindliches Gottvertrauen, die Nähe des Menschen, der Jeden kannte und das Vertrauen in ihm half allen über die Sorgen und Nöte hinweg. Zu jeder Zeit, ob Tag und Nacht, war dieser Doktor für sie da. Stand ein Notfall an, radelte er auch gleich mal auf dem Fahrrad in Filzpantoffeln zu seinen Patienten. Er blickte tief in die Seelen der Menschen. Er war eben etwas Besonderes. Ich hatte damals, als ich 6 Jahre alt war, mit meiner Freundin im April im eiskalten Wasser des Entendeiches gebadet und mich so erkältet, dass ich steifgefro- rene Beine hatte und ganz lange damit zubrachte, bevor ich wieder laufen konnte. Ich wurde natürlich wieder gesund, aber diese dramatischen Prozeduren werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Außer der Medizin vom Doktor Geus hatte meine Mutter noch andere Mittelchen zum Kurieren. Mit einem großen Brennesselstrauß schlug sie auf meine Beine. Das brannte höllisch, sollte aber helfen. Sicher war es allerdings nicht. Es tat ihr auch unendlich Leid dieses Vorhaben. Dann wurde ich in einen Schwitzkasten gesteckt, wo sehr heiße Feldkümmeldämpfe meine Krankheit vertreiben sollten. Und tatsächlich, alles zusammen, die Paarung medizinisches Fachwissen, Vertrauen auf die Heilkräuter und Beten, verjagten das „Böse“ in meinen Beinen. Das Beste beim Krankmachen war, dass meine Lieblingskatze in meinem Bett schlafen durfte. Sie sollte mich mit ihrem Fell wärmen und vielleicht war auch diese liebe Seele mein Retter. Man muss sich geborgen fühlen, eine Heimat haben. Es fällt mir schwer, sich vorzustellen, wie es den Flüchtlingen ging, die zu uns ins Dorf kamen und um Asyl baten. Sie hatten auch eine Zukunft, ein Zuhause, Träume mit ihren Kindern und dann kommt ein Nichts. Der Krieg und seine Auswirkungen haben ihnen alles genommen. Was haben ihre Seelen für Wunden, können sie jemals heilen? Meine Eltern hatten auch Vertriebene aufgenommen. Ein junger Mann, der sich bei uns meldete, war meiner Mutter besonders ans Herz gewachsen. und erhielt sozusagen die Mutterliebe für einen Sohn. Egal, was geschah, es bestand ein unzertrennliches Band. Überhaupt war die Intimität im Dorf sehr groß. Es ist mir aufgefallen, dass die Jahrgänge meiner Eltern und auch in Folge, sich nicht mit Herr und Frau anredeten, sondern ein verwandtschaftliches Verhältnis aufbauten, sozusagen eine Duzfreundschaft, wo man Nähe zuließ. Es hieß also nicht: „Jetzt gehe ich mal zu Herrn Wendt“, sondern es wurde lapidar gesagt: „Jetzt gehe ich mal zu Wendts Fritzen oder zu Köhlers Hanni.“ Es ist so ungefähr wie „Wir sind alle gleich, vor jeder Haustür stehen Holzlatschen, wir kennen unseren Wert.“ Ausnahmen bildeten allerdings bestimmte Persönlichkeiten wie der Pastor, der Arzt und der Bürgermeister. Die schönsten Wiesen- und Feldblumen habe ich im Huxel gefunden. Das ist der Dorfteil, der nach geschichtlichen Recherchen zuerst gegründet wurde. Hier gibt es moorige Wiesen mit wunderschönen Gräsern, Schlüssel- und Butterblumen. Ja der Herrgott muss seinen Farbtopf ausgeschüttet haben, um so eine bunte Pracht zu entwickeln. Auch die Schmetterlinge, Bienen und Hummeln sind vom Duft der Blüten berauscht und gleiten leicht und beschwingt über diese Märchenpracht. So entsteht ein Aquarell ohne Pinselstrich, gemalt von der Natur mit der Anmut der Feen und Elfen. Der Heidedichter Hermann Löns hat viele Menschen mit seinen Geschichten und dem Duft der blühenden Heide verzaubert. Jeder, der bereit ist seine Sinne zu öffnen, kann dieses Wunder erleben. Dankbar können wir sein für die damalige Zeit. Sie hat uns mit der Natur verbunden, sie hat uns gelehrt, mit wachen Augen durchs Leben zu gehen. Volksund Kinderlieder sind entstanden, Spiele, Reime und Bräuche. Jugert/Liebmann Historische Aufnahmen: Die „Schildsche“ trifft am Bahnhof in Oberaudenhain ein SCHILDAU/MOCKREHNA. In der Eisenbahnwelten-Ausstellung im Torgauer Museum spielte auch die Strecke Schildau-Mockrehna eine wichtige Rolle (TZ berichtete). Hier zwei historische Fotos aus der Audenhainer Chronik. Links: Ankommender Zug aus Mockrehna im Bahnhof Oberaudenhain. Rechts: Nahaufnahme vom Bahnhofsgebäude Oberaudenhain aus dem Jahr 1942. In der Tür Fahrkartenverkäuferin „Böhms Mutter“- wie sie von allen genannt wurde. Fotos: privat
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