Urlaubsinseln oder Aufnahmelager?

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2
Urlaubsinseln oder Aufnahmelager?
Von Marianthi Milona
Sendung: 01. März 2017
Redaktion: Wolfram Wessels
Regie: Maria Ohmer
Produktion: SWR 2017
Bitte beachten Sie:
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O-Ton: Theofilos Havoutsiotis
ov. Männlich):
Ich sage sogar, es ist eine jungfräuliche Insel. Der Besuch lohnt. Die
Sehenswürdigkeiten sind zahlreich. Wir haben den versteinerten Wald, der
einzigartig in Europa ist. Die gesamte Insel ist deshalb in die Liste des
Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommen worden. Dann gibt’s die Berge mit
entsprechenden Rad- und Wanderwegen. Lesbos ist keine Insel allein für Sonne und
Strandleben. Sie ist auch die Heimat von Ouzodestillerien, Olivenprodukten und
Imkereien. Ihr kulturelles Erbe wartet nur darauf, entdeckt zu werden.
Erzähler:
Theofilos Havoutsiotis ist glücklich, wenn er von Lesbos spricht. Von seiner
Heimatinsel zu schwärmen, dazu hatte er in den vergangenen Monaten allerdings
nur selten Gelegenheit.
Ansage:
Urlaubsinseln oder Aufnahmelager?
Der griechische Tourismus im Schatten der Flüchtlingskrise
Ein Feature von Marianthi Milona
Atmo: typischer Karfreitagsgesang auf der Insel Agathonissi
Erzähler:
Sechs Bootfahrtsstunden von Lesbos entfernt, bereiten sich die 180 ständigen
Einwohner der nördlichsten Dodekannes Inseln, Agathonissi, auf den Karfreitag vor.
Die Frauen stimmen den typischen, traditionellen Gesang des orthodoxen Festtags
an und schmücken den Epitaph, das symbolische Grab Christi mit Orchideen, Nelken
und Fichtenzweigen. Im Frühjahr 2016 besuche ich zum ersten Mal die beiden
Inseln, um zu erfahren wie sich die Hoteliers, Restaurant- und Kafenion-Besitzer auf
die neue Saison vorbereiten, nach der Wirtschaftskrise und dem Flüchtlingsansturm
2015.
Atmo: Franzeska Kotteros bei den Frauen am Epitaph
Erzähler:
Ich treffe Franzeska Kottoros. Sie hat sich auf Heimatinsel ihres Vaters, Agathonissi,
im Jahr 2013 einen Traum erfüllt. Die 28jährige studierte Anglistin hat gemeinsam mit
ihm ein kleines, modern gestaltetes Appartmenthotel errichtet. Es hat nur 6 dafür
großangelegten Zimmern mit Blick auf die Hafenbucht und das Meer. Finanziert
haben sie es mit dem Familienkapital und europäischen Fördergeldern. Zwei Jahre
später wurde es vom griechischen Tourismusministerium sogar mit einem
besonderen Preis ausgezeichnet - für seine Architektur, die Verwendung
umweltfreundlicher Baumaterialien und seine ökologische Kläranlage. Ausgerechnet
im Jahr 2015. Dem Jahr, als die Insel die größte Flüchtlingswelle aller Zeiten erlebte.
Auf den 40 großen, steilen Stufen, die zu Franzeska Kottoros Hotelrezeption hinauf
führen, sind die Spuren des Flüchtlingsdramas noch immer zu sehen.
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O-Ton Franzeska Kottoros
(ov weiblich):
Sehen Sie diese schwarzen Punkte auf meiner Hoteltreppe? Die kriege ich einfach
nicht mehr weg. Die stammen von den Zigaretten, die die Flüchtlinge auf dem Stein
auszumachen versucht haben. Überall auf den Stufen hast du nur Menschen
gesehen. Sie wollten sich hier ausruhen. Ich hab in diesen Tagen nicht mehr hier
runter kommen können. Das war zu viel. Es hat mich total mitgenommen. Ich hatte
zwei Zimmer vermietet. Die Leute sind am nächsten Tag abgereist, weil sie gar keine
Möglichkeit sahen, ungehindert aus dem Hotel zu kommen.
Erzähler:
Agathonissi ist seit den 60er Jahren eine wichtige Anlaufstelle für Segler, die sich auf
der nahegelegenen Insel Samos eine Yacht für ihren Urlaub mieten. Der geschützte
Hafen der Insel war schon immer ein frequentierter Anlegeplatz für die Nacht. Die
Insel wurde für ihre Natürlichkeit, Ruhe und Abgeschiedenheit bei Individualtouristen
sehr geschätzt. Diese Idylle charakterisiert die Insel noch heute.
Mit dem Unterschied, dass im Frühjahr 2016 nur eine einzige Yacht im Hafen von
Agathonissi liegt.
Als der Präfekt des Regierungsbezirks Dodekannes die Insel besuchte, hat ihn
Franzeska Kotteros zur Rede gestellt.
O-Ton Franzeska Kottoros
(ov weiblich):
Auf der offiziellen Website der Dodekannes wird Agathonissi mit dem englischen
Begriff „Defining Tranquility“ charakterisiert. Ich fragte den Präfekten, das sei ja eine
tolle Idee, aber wie könnten wir diesem Begriff in diesem Jahr überhaupt gerecht
werden? Wenn wir nicht wissen, ob und wie viele Flüchtlinge kommen!
Atmo: Touristenrummel in Molivosstadt
Erzähler:
Zurück auf der Insel Lesbos in der Touristenhochburg Molivos, am nördlichen Zipfel.
Mit seinen Häuschen im traditionellen Stil und ihrer mittelalterlichen Burg, war das
Bilderbuchstädtchen bei den Inselgästen immer sehr beliebt. Molivos erlebte
jahrzehntelang wahre Hoch-Zeiten des Tourismus. In den 60er Jahren wurde der Ort
von amerikanischen Feministinnen sogar zum Urlaubsort Nummero 1 auserkoren.
Dann folgten viele Künstler aus dem In- und Ausland. In Molivos wurde eine
Kunstschule etabliert. Seitdem lebt die Mehrzahl der 86.436 Einwohner auf Lesbos,
von einem stetig anwachsenden Tourismus.
Atmo: stechender Ton
Sprecher:
Bis zum Sommer 2015.
Atmo: Ankommende Flüchtlinge auf Lesbos
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Erzähler:
Als 2015 die großen Massen von Geflüchteten Lesbos mit Booten erreichen, wird die
Touristenhochburg Molivos davon am heftigsten getroffen. Der Weg nach Europa ist
hier sehr kurz. Nur 6 Seemeilen trennen die kleinasiatische Küste vom nördlichen
Zipfel der Insel. Innerhalb weniger Monate erreichen mehr Flüchtlinge den Strand
von Molivos, als die Insel Einwohner hat. Es sind fast Hundert Tausend. Und die
Tourismusbranche ist dem hilflos ausgeliefert.
Atmo: Hotelrezeption Sunrise Resort
Erzähler:
Als ich im Frühjahr 2016 den junge Theofilos Havoutsiotis, Besitzer eines 4-Sterne
Resorts in Molivos treffe, erklärt er die Saison bereits für gescheitert. Dabei hat sie
noch einmal begonnen.
O-Ton Theofilos Havoutsiotis
(ov. Männlich):
Wir haben höchstens 10 Vorbuchungen im Monat. Damit sie es sich vorstellen
können. Im vergangenen Jahr waren die Vorbuchungen 50 mal höher. Das war eine
komplett andere Situation. Ich hatte einen Reiseveranstalter aus Dänemark, der mich
stark unterstützte und der in diesem Jahr aber überhaupt nicht kommen will.
Erzähler:
Sein Hotel stellt keinen Einzelfall dar. Die Flüchtlingskrise hat die gesamte Branche
getroffen. 80% der Betriebe leiden stark oder stehen vor dem Ruin.
O-Ton Theofilos Havoutsiotis
(ov. Männlich):
Ob es uns nun mal gefällt oder nicht, wir sind jetzt in den Köpfen der potentiellen
Gäste, als Flüchtlingsinsel gebrandmarkt und das macht uns unglücklich.
O-Ton Nikos Molvalis
(ov. Männlich):
Viele Journalisten sind hier gewesen, doch leider haben sie ein falsches Bild
vermittelt. Sie waren nur auf die Flüchtlinge fixiert.
Erzähler:
So erklärt Nikos Molvalis die Lage. Der Direktor des Tourismusverbands von Molivos
Stadt auf Lesbos.
O-Ton Nikos Molvalis
(ov. Männlich):
Ich hab irgendwann aufgehört Interviews zu geben. Wir hatten anfangs versucht ein
richtiges Bild der Ereignisse zu vermitteln, doch es wurde immer anderes berichtet:
Dass wir nämlich überfordert wären, die Flüchtlinge nicht wollten, sie schlecht
behandelten usw. Sie haben uns nur benutzt, um am Ende ihre eigene Geschichte
im Ausland zu verkaufen.
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Erzähler:
Nikos Molvalis ist sehr erzürnt. Dieses Stigma würde die Zukunft der
Tourismusbranche auf Jahre hinaus belasten. Die Wahrheit sieht in den Augen des
Tourismusdirektors anders aus.
O-Ton Nikos Molvali
(ov. männlich):
Wir gaben Interviews zu einem Zeitpunkt, als die Insel versuchte zu helfen, wo sie
nur konnte, und wir hofften auf Solidarität. Doch Fehlanzeige! Das Resultat war, dass
uns niemand geholfen hat. Es wäre wichtig gewesen uns moralisch und finanziell zu
unterstützen. Die Hilfsaktionen haben uns in Wahrheit ruiniert. Und zwar grundlos.
Wissen Sie, man braucht hier nicht viel, um zu leben. Aber uns ist im Augenblick
nicht mal dieses Wenige geblieben.
Erzähler:
Auf einem Tisch breitet Nikos Molvalis verzweifelt die neusten Wanderkarten aus.
Die werden in seinem Verein jedes Jahr aktualisiert. In diesem Jahr haben sie sogar
in neue Wanderschilder investiert und in moderne GPS-Technik.
Atmo aus OT Nikos Molvalis blättert in den neuen Inselkarten
Erzähler:
Alle in Molivos glaubten, dass dieses Jahr eher mehr Gäste nach Lesbos reisen
würden, um den Einheimischen für ihr Engagement in der Flüchtlingskrise zu
danken. Für Oktober 2016 hatte Nikos Molvalis sogar einen Bergmarathon auf
Lesbos geplant. Ob der nach dem dramatischen Einbruch der Frühbucherzahlen
noch stattfinden kann, weiß der Leiter des Tourismus-Vereins nicht.
O-Ton Nikos Molvalis
(ov. männlich):
Das Einzige, was wir im Augenblick feststellen ist, dass von den 26
Chartermaschinen in der Woche, jetzt nur noch 6-7 die Insel anfliegen werden. Mit
ein wenig Glück werden es vielleicht in der Hochsaison Acht werden. In
Touristenzahlen übersetzt heißt das, dass die Reiseanbieter von den ursprünglich
5000 reservierten Sitzplätzen pro Woche, jetzt nur noch 1000 für Lesbos offeriert
haben und diese sind bisher nur zu 30% gebucht worden. Mit anderen Worten: wir
erleben einen Rückgang um 70%.
Atmo Franzeska begrüßt einen Gast.
(ov. weiblich) Übersetzerin:
Kalimera und viel Glück Jimmy, ja jetzt kannst du endlich fischen. Was du hast
keinen Köder? Hat hier jemand einen Köder übrig?
Ruft: hier ist was. Holen sie sich einen Kalmar von den Jungs hier!
Erzähler:
Franzeska Kottoros auf Agathonissi begrüßt einen Gast. Die 180 ständigen
Einwohner der Insel kennen und unterstützen sich gegenseitig. Viele Familien sind
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miteinander verwandt. Doch die Ausnahmezustände mit den Flüchtlingen und das
Ausbleiben der Touristen, haben die kleine intakte Gemeinde der Insel ins Wanken
gebracht. Die Inselgesellschaft ist seitdem gespalten. Franzeska Kottoros hat es am
eigenen Leib erlebt.
O-Ton Franzeska Kottoros
(ov weiblich):
Manche haben mit den Flüchtlingen ein gutes Geschäft gemacht. Einer hat Zimmer
vermietet, die anderen haben in ihren Cafes ganz gut verkauft. Ich fand das gut, dass
sie Einkommen hatten. Wir hingegen konnten nicht arbeiten, weil mein Hotel eine
Kategorie ist, die man nicht einfach so vermietet. Ich will nicht sagen, ich war
eifersüchtig, ich war eher verzweifelt. Der eine verdient gut und ich hab so viele
Schulden und kriege keinen einzigen Gast. Bei den Leuten, die Geschäfte machten,
entstand so eine komische Situation. Manche dachten, dass wir ihnen etwas Böses
wünschen. Einige reden nicht mehr mit uns.
Erzähler:
Franzeska gibt den Flüchtlingen nicht die Schuld für ihre wirtschaftlichen Einbußen.
Ihre Wut richtet sich vielmehr gegen die Verantwortlichen auf dem griechischen
Festland und in Europa. Sie fühlten sich auf der Insel alleingelassen. Viel zu lange
mussten die Menschen schutzlos auf ihre Abreise warten. Es dauerte viel zu lange,
bis sie in ein organisiertes Lager kamen.
O-Ton Franzeska Kottoros
(ov weiblich):
Ich denke, dass sich das was wir im vergangenen Jahr erlebt haben, kein anderes
Land in Europa hätte gefallen lassen. Überlegen sie mal: Wir hatten keine Arbeit. Es
gab Tage da waren wir 120 Einheimische gegenüber 1200 Flüchtlingen. Wem sollten
wir zuerst helfen? Sie kamen um den 20. August herum und das ging dann so weiter
bis in den Oktober. Es gab Tage da kamen mal 400, dann 700, 800, 1200 Menschen.
Erzähler:
Es wurde zu wenig von offizieller Seite getan, damit der normale Tourismusbetrieb
hätte weiterlaufen können. Und die finanziellen Verluste? Davon will bis heute
niemand etwas hören. Jetzt fürchtet
Franzeska Kottoros um ihren Bankkredit.
O-Ton Franzeska
(ov weiblich):
Wir müssen neue Rückzahlungsmodalitäten für unseren Kredit aushandeln.
Ausgemacht war, dass wir 800 Euro monatlich zurück zahlen. Realistisch betrachtet
gehen jetzt allenfalls 200 Euro. Ich will gar nicht daran denken, dass wir aufgrund der
Verzögerungen ein Vielfaches zurückzuzahlen haben, wegen der sich anhäufenden
Zinsen.
O-Ton: Voula Micheli
(ov weiblich):
Wir bekamen das Gefühl, dass wir viele Rechte verloren hatten. Auch das, uns sicher
zu fühlen. Die Situation war total außer Kontrolle geraten.
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Erzähler:
Eine andere junge Frau aus Agathonissi die dramatische, wirtschaftliche Verluste im
letzten Jahr erlitten hat, ist Voula Micheli. Sie führt eine kleine Taverne im Hafen, mit
einer Pension darüber.
O-Ton Voula Micheli
(ov weiblich):
Man nahm uns das Recht, auf eine bessere Zukunft unserer Kinder zu hoffen. Und
ebenso gab es kein Anrecht mehr auf Ordnung und Sicherheit. Du musst dir
vorstellen, dass es Morgenstunden gab, so vier, fünf Uhr in der Früh, wo ich geweckt
wurde und sah, dass die gesamten Tische und Stühle des Restaurants am Strand
waren. Natürlich wolltest du Nichts sagen, denn du konntest ganz unmittelbar die Not
dieser Menschen empfinden.
Erzähler:
In ihrer romantischen Taverne im Hafen von Agathonissi erinnert Nichts mehr an das
Flüchtlingsdrama des Sommers 2015. So war die
junge Geschäftsfrau mit ihren langen, roten Locken und ihrem freundlichen Gemüt
sehr optimistisch gestimmt, als die Feriensaison 2016 begann. Auch die Versprechen
der griechischen Politiker nahm sie ernst, die versicherten, wo immer sie konnten,
dass mit keinen weiteren Flüchtlingsströmen zu rechnen sei.
Atmo backround Despina in ihrem Hotel
Erzähler:
Ähnliches erfuhr ich auf Lesbos. Auch die 68jährige Hoteliersfrau Despina Vati wurde
durch die Folgen der Flüchtlingskrise im hart getroffen. Nach über 50 Jahren Arbeit
im Tourismus steht sie heute praktisch vor dem Ruin. Und eigentlich versteht sie gar
nicht genau warum.
Ihr kleines Hotel liegt idyllisch auf der Nordseite von Molivos, mit Blick auf die
türkische Küste. Vom Sommer 2015 bis in den Winter hinein hatte sie bei den
Rettungsaktionen aktiv mitgeholfen. Nur wenige Meter von ihrer Haustüre entfernt,
kamen die Flüchtlinge an Land. Heute fragt sich Despina Vati, ob der Rest der Welt
glaubt, dass es falsch gewesen sei, den Notleidenden geholfen zu haben.
O-Ton Despina Vati
(ov. weiblich):
Wir haben es von unseren Eltern, Großvätern und Großmüttern so gelernt, dass wir
unseren Mitmenschen helfen. Wenn Du etwas zu essen hast, dann denke auch an
deinen Nachbarn, wurde uns immer gesagt. Hat er auch genug zu essen? Wenn
nicht, dann gib die Hälfte deines Essens ab. Wir sind mit solchen Prinzipien groß
geworden.
Erzähler:
Das haben offenbar nicht alle ihre Gäste so gesehen. Es gab einige, die ihr erklärten,
sie müssten sofort abreisen, weil die Ankunft der Flüchtlinge für sie ein schrecklicher
Anblick sei. Und das konnte die Geschäftsfrau sogar gut nachempfinden.
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O-Ton Despina Vati
(ov.weiblich):
Ich hatte Gäste, die saßen morgens auf der Frühstücksterrasse des Hotels und vor
ihren Augen liefen Scharen von hungrigen Menschen vorbei. Da kommen natürlich
furchtbare Gefühle in einem hoch. Die abweisenden Reaktionen sind menschlich
nachvollziehbar. Du kriegst dann wirklich keinen Bissen mehr runter, oder?
Erzählerin:
Doch bei allem Verständnis, sah es Despina Vati als eine Sache der Ehre an, alles
zu geben, um zu helfen. Die Erlebnisse, die sie dabei hatte, wird sie niemals im
Leben vergessen.
Atmo: Hilfsaktion der Menschen von Molivos
O-Ton Despina Vati
(ov. weiblich):
Ob es Großmütter waren oder andere Frauen und Männer. Wer ein Boot besaß, der
fuhr raus zur See, um Menschen zu retten. Dabei stellten wir fest, dass viele der
Schwimmreifen, an denen sich die Menschen festhielten, aus dicker Pappe waren
und sie irgendwann damit untergingen. Wir wissen es nicht genau, waren es
Zweihundert oder Dreihundert, die vor unseren Augen ertranken. Man hatte auf ihren
morschen Booten eine zweite Ebene gebaut, aus dünnen Holzbalken. Die konnten
das Gewicht nicht halten und zerbrachen irgendwann. Andere Boote zerschellten.
Die Menschen ertranken bitterlich. Wir zogen in jenen Tagen nur Leichen aus dem
Wasser.
Erzähler:
Im Frühjahr 2016 hat Despina Vati keine Frühbuchungen erhalten - bis auf die
einiger Freunde, die privat kommen. Es wurden praktisch keine Reisen nach Lesbos
von ausländischen Tourismusanbietern mehr angeboten. Das hält die Despina Vati
für einen fatalen Fehler.
O-Ton Despina Vati
(ov. weiblich):
Wenn sie mich fragen, ich finde, da hätte sich sogar die europäische Politik einmal
richtig einmischen sollen. Es hätte bestimmt geholfen, wenn Frau Merkel für eine
Reise nach Lesbos plädiert hätte. Wir alle glauben, die deutsche Reisebranche hätte
uns jetzt erst recht unterstützen müssen!
Atmo Umbauarbeiten im Akti/ Despina Vati im backround
Erzähler:
Despina Vati versucht irgendwie weiterzumachen. Aufzugeben entspricht nicht ihrem
Naturell, versichert sie. Deshalb hat sie kurz vor Saisonbeginn auch die Handwerker
ins Haus bestellt. Sie muss in die Renovierung einiger Gästezimmer investieren. Von
erspartem Geld, das eigentlich für ihre Rente vorgesehen war.
Atmo: Despina im Frühstücksraum, mit dem Fernglas
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Erzähler:
Vom großen Fenster ihres Frühstücksraums aus kann Despina Vati die
gegenüberliegende kleinasiatische Küste mit dem Fernglas in einem Umkreis von
180° gut beobachten.
Atmo: Despina Vati, schaut im Fernglas
Übersetzerin:
Siehst du, da fahren jetzt die Frontexboote täglich die Küste rauf und runter
Erzähler:
Doch als vor einem Jahr die Flüchtlingsströme kamen, waren sie nicht da, standen
die Menschen auf Lesbos ganz allein.
O-Ton Despina Vati
(ov. weiblich):
Ich sage Ihnen ganz ehrlich, wenn es eine neue Flüchtlingswelle geben würde, ich
würde wieder helfen. Es war Mitte August. Ich zog meinen Pulli aus und zog es einer
Frau über. Sie war völlig durchnässt. Ich hatte alles von meinem Frühstücksraum mit
dem Fernglas beobachtet. Da war dieses Boot und es war übervoll mit Menschen
und so schwer, dass der Bootsrand auf einer Höhe mit der Wasseroberfläche stand.
Und ich sagte mir: Um Gottes Willen, diese Menschen haben in der Hitze Nichts zu
trinken, sie kriegen einen Sonnenstich. Können sie das Boot nicht richtig lenken? Ist
ihnen das Benzin ausgegangen? Ist das Boot beschädigt? Sie konnten sich nicht
fortbewegen. Da musste etwas passiert sein.
Erzähler:
So rief Despina die naheliegenden Fischer an. Für die Menschen auf Lesbos war die
Ankunft von Flüchtlingen schon damals nichts Außergewöhnliches. Schließlich
kamen sie seit Jahren. Doch dieses Mal war es anders.
O-Ton Despina Vati
(ov. Weiblich):
Ich hatte es plötzlich vor meinem Hotel mit 1000 Menschen zu tun. Sie kamen, wie
aus dem Nichts. Ich sah ständig Boote ankommen. Ca. zwanzig auf einmal. Das was
mich am meisten erschreckte, war ein zehn Tage altes Baby, das ich später in meine
Hände nahm und zu waschen begann. Seine Nabelschnur war noch voller Blut, es
saß stundenlang eingepfercht in einem kleinem Boot zusammen mit 60, vielleicht 80
Personen, während das Wasser offenbar ständig ins Boot rein geschwappt sein
musste, da alle ganz nass waren. - Ich könnte heute noch weinen. Dann gab es so
viele Mütter mit ihren kleinen Kindern. Sie wollten sich retten. Und das bei einem
solch fürchterlichen Sturm, der da draußen tobte. Sie wussten, sie hätten sterben
können, aber sie gingen das Risiko ein.
Erzähler:
Ich möchte einlenken, doch Despina Vati, winkt nur ab. Es ist ihr egal, ob sie weinen
muss, erklärt sie. Es sei gut darüber zu sprechen, sagt sie, auch dass andere davon
hörten, was sie als Hoteliersfrau alles erleben musste. Niemand hätte während
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dieser Zeit die Möglichkeit gehabt, die Augen vor diesem menschlichen Drama zu
verschließen.
O-Ton Despina Vati
(ov. Weiblich):
Das Zweite, was mich schockierte war, es gab viele Kinder, die allein waren. Es frisst
mich innerlich auf, wenn ich darüber nachdenke, wohin all diese Kinder gingen.
Plötzlich tauchte vor unserem Hotel ein vielleicht 8jähriger Junge auf und mein Mann
sah, wie er zwei seiner kleineren Geschwister an den Händen hielt und versuchte sie
zu trösten. Ihre Eltern waren bei der Überfahrt ertrunken. Das ist eine Szene, die kein
Mensch aushalten, geschweige denn jemals vergessen kann.
Erzähler:
Als die ersten Flüchtlinge von ihrem Hotel mit dem Bus abfuhren, erwartete Despina
Vati in ihrem Garten eine weitere Überraschung.
O-Ton Despina Vati
(ov weiblich):
Ich fand eine Decke. Ich schaute darunter und sah ein verlassenes Baby auf dem
kalten Boden liegen. Zuerst dachte ich, es ist tot und man hat es hier
zurückgelassen. Ein Schock fuhr mir in die Glieder. Ich weiß nicht, ob du dich in
diese Situation versetzen kannst. Ich kann nicht beschreiben, wie ich mich gefühlt
habe, als ich versuchte herauszufinden oder es tot war oder noch lebte. Als ich
schließlich merkte, dass es noch atmete, lief ich los, um Hilfe zu holen. Ich fragte
mich dann, als sie es mitnahmen, was mit ihm wohl geschehen würde. Ich hätte es
gerne aufgenommen, hätte ihm gerne etwas zum Essen gegeben und es behalten,
aber das war nicht erlaubt.
Atmo: Despina im Wohnzimmer
Erzähler:
Ein Photograph hat später Despina einige Photos aus dieser Zeit vorbeigebracht. Die
Hoteliersfrau ist darauf zu sehen. Und im Hintergrund ihrer Hotelanlage erkennt man
überall übermüdete Menschen. So viele, dass es keinen Platz mehr gab, um sich
fortzubewegen. Irgendwie absurde, unwirkliche Szenen, erklärt Despina Vati.
O-Ton Despina Vati
(ov weiblich):
Meine holländische Freundin, die seit 40 Jahren hier lebt, wollte immer, dass ihre
Kinder hier heiraten. Am 29. August 2015 war es dann soweit. Sie hatte ca. 100
Gäste nach Lesbos eingeladen und charterte zwei Boote, um mit ihnen zum Ort
„Skala Sikamenias“ zu fahren, dort sollte das Fest stattfinden. Die Braut wurde mit
den Frauen in das eine Boot gesetzt, im zweiten fuhren die Männer. Immer die Küste
entlang.
Erzähler:
Vom Wasser aus, konnten die Hochzeitsgäste überall die Flüchtlinge am Strand
liegen sehen. Sie lagen oder standen am Ufer mit ihren orangenen Schwimmwesten.
Später nannte sie es: die Invasion der Schwimmwesten.
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22. O-Ton Despina Vati
(ov weiblich):
Die Hochzeitszeremonie fand in der Kapelle am Hafen statt, dann kamen wir im
Restaurant zusammen, der Hochzeitskuchen wurde angeschnitten. Als der
Bräutigam gerade aufstand, um seine Braut zu einem Tanz aufzufordern, landete ein
neues Flüchtlingsboot. Vor unserem Lokal gingen völlig durchnässte Menschen an
Land und direkt an den Hochzeitsgästen vorbei. Natürlich verstummte alles, unsere
Feierlaune war vorbei. Wir standen auf, das Fest war zu Ende, wir fuhren wieder
zurück nach Hause.
Erzähler:
Hätte es nur eine vernünftige Organisation gegeben, dann hätte das anders ablaufen
können, sagt die Hoteliersfrau heute. An die Menschen, die zur Erholung nach
Lesbos gekommen waren, an die hat niemand gedacht. Man hätte die Menschen
auch an einer anderen Stelle an Land bringen können, wo der Tourismus weniger
gestört worden wäre. Despina Vati hatte aber nicht nur Gäste, die abreisten. Es gab
auch solche, die blieben, um zu helfen. Auch wenn es nur wenige waren.
O-Ton Despina Vati
(ov. weiblich):
Ich hatte eine Frau, die täglich Wasser, Bananen, Babyflaschen und Unterwäsche,
Schuhe und Sonnenhütte für die Flüchtlinge einkaufte. Die Hitze war ein Problem,
denn viele mussten von Molivos aus die gesamte Insel überqueren, um sich in der
Hauptstadt registrieren zu lassen. Es gab keine Organisation. Griechenland hatte
zwar zugestimmt, die Flüchtlinge vorläufig aufzunehmen. Aber wo sollten sie
hinkommen, fragte ich mich? Da gab es nichts! Noch war Nichts für sie hergerichtet.
Erzähler:
Die Gutmütigkeit der Tourismusleute wurde aber auch schon mal schamlos
ausgenutzt. Von freiwilligen Helfern, die von überall in Lesbos eintrafen, unter dem
Vorwand den Einheimischen helfen zu wollen, erinnert sich die Geschäftsfrau.
O-Ton Despina Vati
(ov. weiblich):
Wir hatten für die griechischen Helfer, die aus dem ganzen Land eintrafen dieses
Angebot gemacht, das Zimmer für 10 Euro die Nacht zu vermieten. Das hatte sich
wohl rumgesprochen. So kamen Amerikaner, Engländer, viele andere Europäer und
bestanden auch auf 10 Euro pro Zimmer, obwohl die meisten, wie wir feststellen
mussten, nur zum Urlaubmachen hier waren. Und als ich einem Amerikaner und
seiner Tochter, die mitten im Winter zwei Zimmer mit Frühstück belegten und die
Klimaanlage auf Volltouren lief, das Angebot nicht machte, wollten sie am Ende gar
nichts mehr zahlen.
Atmo: dunkler Zwischenton
Erzähler:
Der Leiter des örtlichen Tourismusbüros, Nikos Molvalis führt im 6 km von der
Hauptstadt entfernten Örtchen Vafios gemeinsam mit seinem Bruder eine
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traditionelle Taverne inmitten eines Olivenhains. Beide Familien leben von dieser
Arbeit. Als ich ihn im Herbst wieder besuche, erzählt er mir, dass sich seine
Befürchtungen vom Frühjahr leider bewahrheitet haben.
O-Ton Nikos Molvalis
(ov.männlich):
Wir leben jetzt alle mit noch weniger Geld oder mit geliehenem Geld. Die meisten
versuchen ihre Schulden auf das nächste Jahr zu schieben und die Händler warten
zu lassen. Da ist eine Schuldenblase entstanden, von der wir nicht wissen, wann sie
platzen wird. Im Moment zahlt jeder Gast 17% Mwst. auf seine Rechnung. Als
Geschäftsleute müssen wir dann unseren Gewinn mit 29% versteuern. An diesem
Tisch hier gehen also 46% an Steuern weg. Plus die lokalen Steuern von 2%. Von
den übrig bleibenden 52% muss ich die Einkäufe tätigen, Personal und Nebenkosten
bezahlen und meinen Gewinn daraus ziehen.
Erzähler:
In seiner Kalkulation hat der gelernte Koch noch nicht die Steuervorauszahlung für
2017 berücksichtigt. Er sitzt am Tisch und schüttelt heftig mit dem Kopf. Die
Wirtschaftskrise und dann auch die Flüchtlingskrise können die meisten
Geschäftsleute aus eigener Kraft nicht mehr stemmen. Vor allem dann nicht, wenn in
den Medien nur Bilder aus Flüchtlingscamps zu sehen sind.
O-Ton Nikos Molvalis
(ov. Männlich):
Schauen sie, zu Beginn unserer Reisesaison sah die Weltöffentlichkeit den Papst,
der hier her kam, um sich für das Elend der Flüchtlinge einzusetzen. Das war die
Nachricht ersten Ranges. Wie soll ein Gast herkommen, wenn unsere Insel mit dem
Besuch des Papstes einhergeht. Dann kam auch noch Schauspielstar Angelina Jolie
wegen der Flüchtlinge. Und auch da wurde kein Wort darüber verloren, dass man die
Insel jetzt erst recht einmal besuchen sollte.
Erzähler:
Am meisten aber stört Nikos Molvalis, dass es Berichte gegeben habe, die
suggerierten, die Einwohner von Lesbos seien fremdenfeindlich. Dabei hätten die
Menschen alles gegeben, um beides zu retten: die Notleidenden und den eigenen
Betrieb.
O-Ton Nikos Molvalis
(ov. männlich):
Das Problem, wie schwer es für uns gewesen ist, eine Balance zwischen
Flüchtlingen und Urlaubsgästen zu halten, wurde gar nicht nach außen getragen.
Wenn du ganz plötzlich vor deinem Hotel an einem Strand stehst und es strömen
Tausende Menschen rein, in dem Augenblick, wenn bei dir eine Veranstaltung
stattfindet und du das Haus voller Urlauber hast, wie gehst du mit dieser Situation
um? Die einseitige Berichterstattung hatte als Resultat, dass die Gäste heute
ausbleiben und die Hotels leer stehen.
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Erzähler:
Viele Reiseveranstalter hatten für die Saison 2016 ihre Pauschalangebote für Lesbos
drastisch zurückgefahren oder storniert. Obwohl die Spuren der
Flüchtlingskatastrophe längst beseitigt waren. Rettungswesten und Schwimmreifen,
alte Kleider, Schuhe und zurückgebliebener Müll, all das war auf Kosten der
Inselbevölkerung im Winter entfernt worden. Kein Strand auf Lesbos wies noch
irgendwelche Spuren der Flüchtlingskatastrophe auf. Für die Reinigung des
Meerbodens wurde sogar eine Spezial-Tauchermannschaft beordert. Deshalb ist
Nikos Molvalis vor allem von den westeuropäischen Reiseanbietern enttäuscht.
O-Ton Nikos Molvalis
(ov. Männlich):
Niemand von diesen Leuten will bis heute anerkennen, welche humanitäre Hilfe
diese Gesellschaft hier auf vorderster Front geleistet hat. Im Gegenteil: wir wurden
dafür sogar noch abgestraft.
Atmo dunkler Breakton:
Erzähler:
Als ich im Herbst auch Despina Vati wieder besuche, stellt sie fest, die schlimmste
Saison ihres Lebens erlebt zu haben. Kein einziger Auftrag von langjährigen
deutschen, holländischen und österreichischen Vertragspartnern stellte sich mehr
ein. Nur ein oder zwei Zimmer in der Woche, innerhalb von zehn oder zwanzig
Tagen. Belegt von Individualtouristen. Mehr Gäste kamen einfach nicht.
O-Ton Despina Vati
(ov. weiblich):
Wir haben einen Verlust von 80% eingefahren. Inzwischen rufen mich die Banker an
und ich sage ihnen: Hören sie, meine Tochter hat ein behindertes Kind. Und ich habe
uns ein Haus gebaut. Kommen sie und setzen sie uns auf die Straße, wenn sie das
Geld, das ich ihnen schulde, haben wollen. Ich gebe ihnen nur das, was ich kann, 50
oder 100 Euro im Monat, mehr ist momentan eben nicht drin. Was sollen wir
machen? Sollen wir auch wegziehen, unsere Heimat verlassen und emigrieren?
Erzähler:
In den vergangenen zwei Jahren hat Despina Vati zwei Herzinfarkte erlitten. Sie führt
sie auf ihre Erlebnisse mit den Flüchtlingen und den angehäuften Schuldenberg
zurück.
O-Ton Despina Vati
(ov. weiblich):
Ich sage also den Touristen, es gibt Nichts auf Lesbos zu fürchten. Es ist hier sehr
sauber. Wir alle warten auf sie. Ich bin sicher, sie werden es alle hier gut haben,
ohne irgendwelche Probleme. Wir hoffen, dass sie uns helfen, damit wir auch
weiterhelfen können. Es ist meine feste Überzeugung, dass wir uns gegenzeitig
unterstützen müssen, weil niemand voraussehen kann, was die Zukunft bringt.
Atmo Schafherde
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Erzähler:
Das 3-Sterne-Hotel von Despina Vati mit seinen 30 Zimmern, befindet sich inmitten
einer grünen und blühenden Landschaft auf Lesbos. Doch die Ruhe dieser
traumhaften Kulisse, breitet sich jetzt wie ein unsichtbares Phantom aus. Es wirkt in
diesem Herbst irgendwie bedrohlich. Despina Vatis blaue Augen blicken traurig, als
sie mich verabschiedet Abschied.
O-Ton Despina Vati
(ov weiblich):
Das Einzige, das sie uns nicht nehmen können, ist unsere saubere Luft zum Atmen.
Man lässt uns einfach nicht in Ruhe, die einfachen Dingen des Lebens zu genießen.
Wir müssen ständig darüber nachdenken, was morgen passieren wird. Wird man mir
noch mehr wegnehmen? Werden wir überleben können?
Erzählerin:
Auch Voula Micheli auf Agathonissi spricht von einem Waterloo, als ich sie im Herbst
2016 besuche. Der Blick auf die Abrechnung ihres Geschäftsjahres ist trostlos.
O-Ton Voula Micheli
(ov weiblich):
Selbst unsere Stammkunden, die die Insel immer besuchten, riefen uns an, um zu
fragen, ob denn unsere gut gemeinten Versprechen, dass von unserer Insel keine
Gefahr ausginge, überhaupt stimmten. Und wir erkannten schlagartig, dass die
Tourismusfrage noch sehr brüchig war. Manche Gäste, die normalerweise ganz zu
Beginn der Saison anreisten, schoben ihre Reise jetzt in den Mai. Der Mai hat dann
aus touristischer Sicht aber am Ende gar nicht existiert. Der Juni ebenso. Der Juli fiel
unglaublich miserabel aus. Erst Mitte August gab es eine kleine Tourismuswelle.
Erzähler:
Auf die Frage, ob sie es bereut habe, geholfen zu haben, antwortet Voula Micheli
entschieden mit einen klaren Nein.
O-Ton Voula Micheli
(ov weiblich):
Wir werden immer helfen, du kannst sowieso als Mensch nicht anders, wenn du
Zeuge einer solchen Tragödie wirst. Das Problem ist, dass viele, die keinen direkten
Kontakt mit Flüchtlingen haben, nur sehr schwer eine Meinung haben können über
diese Menschen. Was auch immer du glauben magst, es ist etwas völlig anderes es
unmittelbar mitzuerleben.
Atmo: Menschenansammlung in der Hauptstadt Mytilini
Erzähler:
Einer, der nicht mehr darauf warten will, dass ihm alles genommen wird, ist Stratis
Veros. Gemeinsam mit vielen anderen Geschäftsleuten auf Lesbos und den
Einwohnern des Ortes Moria, in dessen Nähe sich das bekannteste FlüchtlingsCamp Griechenlands befindet, nimmt er an einer Kundgebung teil. Wenn es nach
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ihm ginge, würde er gerne die Aufmerksamkeit der Welt wieder auf seine Insel
lenken wollen. Dieses Mal aber, um zu zeigen, wie es wirklich um sie steht.
O-Ton Stratis Veros
(ov männlich):
Diese Geschichte mit den Flüchtlingen hat uns um 30 Jahre zurückgeworfen. Auf den
Stand der 1980er Jahre. Ich glaube, dass Lesbos über alle Maßen sein
menschliches Gesicht gezeigt hat und einen großen Preis dafür bezahlt - bis heute.
Die Regierungen respektieren das nicht genug, noch wollen sie für eine finanzielle
Wiedergutmachung aufkommen. Wir verlangen, dass die Insel schnellstmöglich von
einer großen Zahl an Geflüchteten entlastet wird. Im Vergleich zum übrigen Land
trägt Lesbos 12% der Last. Das ist total ungerecht.
Erzähler:
Der 67jährige, kleingewachsene Mann besitzt eines der größten Hotels auf Lesbos,
ist aber von Haus aus Jurist. Nach seinem Studium in Harvard, lebte und arbeitete er
lange Zeit in New York. Irgendwann packte ihn das Heimweh und er kam mit einer
Tasche voller Geld, fest entschlossen, es auf seiner Heimatinsel zu investieren. Doch
im Sommer 2016 wirkte sein imposanter Hotelkomplex wie ein leer stehendes
Anwesen aus der Jahrhundertwende. Woanders würde es einen Aufstand geben,
glaubt er. Doch nicht in Griechenland. Und Stratos Veros glaubt auch zu wissen,
warum das so ist.
O-Ton Stratis Veros
(ov männlich):
Der Schäfer kann sich hier mit ein wenig Milch, Fleisch von seinen Ziegen und
vielleicht einem Huhn ganz gut ernähren. Er lebt nicht von künstlichen
Notwendigkeiten. Er ist kein bewusster Verbraucher. Und das macht seine Stärke
aus. Seine Schlichtheit ist seine unermessliche Stärke. Auf diese Art und Weise
haben ganze Generationen hier überlebt und sind dabei auch noch 100 Jahre alt
geworden. Aber derjenige, der loszieht, um sich einen Riesengewinn zu sichern und
eine starke Investition zu tätigen, der stirbt mit 60 Jahren an einem Herzinfarkt.
Erzähler:
Für den erfolgreichen Juristen liegt in dieser Schlichtheit auch das Geheimnis dieser
ungeheuren Hilfsbereitschaft der Menschen von Lesbos verborgen.
O-Ton Stratis Veros
(ov männlich):
Die Menschen hier sind human, sie sind menschlich. Das können wir nicht oft genug
betonen. Sie sind m e n s c h l i c h! Das was draußen in der Welt total verloren
gegangen ist. Aber wer soll für diese Menschlichkeit jetzt aufkommen? Und will er
seine Kinder in Gefahr bringen? Denn das ist hier momentan die aktuelle Frage. Weil
die Anzahl der Flüchtlinge in den Camps langsam außer Kontrolle gerät.
Erzähler:
Stratis Veros meint damit ganz sicher nicht, dass es gefährlich ist, auf Lesbos zu
leben. Im Gegenteil: Er ist zutiefst davon überzeugt, dass beides geht: Flüchtlinge
und Touristen. Dafür müssten die Camps aber entlastet werden. Dann könnten alle
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auf der Insel gut zusammen leben. Die eingefahrenen finanziellen Verluste könnten
in der Tourismusbranche sogar revidiert werden. Wenn alle mithelfen.
O-Ton Stratis Veros
(ov männlich):
Alle müssen verstehen, dass die Insel nach wie vor einen Besuch wert ist. Lesbos ist
eine sichere Insel. Der nördliche Teil, der die größten Verluste eingefahren hat, leidet
immens. Aber es gibt keine Flüchtlinge mehr in diesem Teil der Insel. Es gibt keinen
Grund für unsere Gäste zu fürchten, dass sich irgendetwas in diesen traditionellen
Urlaubsorten verändert haben könnte. Die Reiseveranstalter müssen sich dessen
bewusst werden und die Insel unterstützen. Schließlich haben wir humanitäre Hilfe
geleistet, das ist nicht Nichts.
Erzähler:
Die Kritik des Geschäftsmannes richtet sich vor allem an die europäischen Partner
und gegen die Zustände, die im Flüchtlingslager von Moria herrschen. Stratis Veros
ist davon überzeugt, dass im Fall von Moria europäisches Recht übergangen worden
ist.
O-Ton Stratis Veros
(ov männlich):
Wir glauben, dass die Situation im Camp gesetzeswidrig ist und unsere Rechte als
Inselbewohner missbraucht wurden. Wir bereiten gerade ein Schriftstück vor, in dem
wir unsere Positionen, unsere Verluste und unsere Erwartungen erläutern. Denn die
Verluste, die auf Lesbos eingefahren wurden aufgrund der gescheiterten
Flüchtlingspolitik, werden behandelt wie eine Naturkatastrophe. Aus finanzieller Sicht
betrachtet gibt es da keinen allzu großen Unterschied.
Erzähler:
In dem Schriftstück fordern sie:
a. Die sofortige Reduktion der Flüchtlinge auf ganz Lesbos auf höchstens 3 Tausend
Personen
b. ein Treffen von Regierungsvertretern mit der Inselverwaltung, zur Information, wie
die Regierung das Flüchtlingsproblem auf den Inseln angehen will.
c. Die Suche nach nationalen und internationalen Fördermitteln, um den Erhalt des
Lagers Kara Tepe auf der Insel zu gewährleisten. Darüber hinaus soll die
Verantwortung für das Lagers auf Träger der Insel übergehen und nicht länger bei
unabhängigen Hilfsorganisationen liegen, deren Praktiken für die Einheimischen
höchst fragwürdig erscheinen.
Der Jurist Stratis Veros setzt sich für bessere Aufnahmebedingungen der
Geflüchteten und eine raschere Entlastung der Insel ein.
O-Ton Stratis Veros
(ov männlich):
Wir verlangen, dass die beiden großen Camps der Insel, Moria und Kara Tepe auf
die Maximumaufnahmekapazität von 1200 Menschen heruntergefahren werden und
es nicht bei den 7 bis 8 Tausend Menschen bleibt, die in Wahrheit heute dort leben.
Atmo: Megaphon von Moria
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O-Ton Stratis Veros
(ov männlich)
Das ist ja auch der Grund, warum sie alle übereinander herfallen und wir gegen diese
Negativbilder von der Insel ankämpfen müssen. Da hängen Menschen aufeinander,
aus unterschiedlichen Kulturen und mit unterschiedlicher Bildung. Und diese
Menschen kommen nicht miteinander zurecht. Wie willst du einen Somali, einen
Afghanen und einen Taliban mit einem syrischen Arzt dazu bringen von nun an
zusammen zu leben?
Erzähler:
Die Einwohner der griechischen Inseln entlang der kleinasiatischen Küste sind sehr
empfindlich, wenn es um östliche Einflüsse geht. Zu lange haben sie unter der
osmanischen Okkupation Restriktionen hinnehmen müssen. Zu hart und langwierig
war der Kampf, um die Unabhängigkeit. Durch die Berichte der Großeltern sind diese
Ereignisse noch fest in den Köpfen der Menschen auf Lesbos verankert. Auch wenn
das alles über Hundert Jahre her ist. Sogar der weltoffene Stratis Veros kann sich
von solchen Ängsten nicht freisprechen. Vor allem dann nicht, wenn er über die
Zukunft der Flüchtlinge auf Lesbos zu spekulieren beginnt.
O-Ton Stratis Veros
(ov männlich):
Wir sind weder Rassisten noch fremdenfeindlich, aber die Situation wirft Fragen auf.
Hier soll Integration stattfinden? Auf Lesbos? Auf dieser geografisch sehr delikat
gelegenen Insel? Einer Insel, die an der Grenze Europas liegt, mit der Türkei als
Nachbarn und aufgrund dessen es einer ganz besonderen Gesetzgebung? Wo du,
ohne die Genehmigung des Verteidigungsministeriums, überhaupt kein Land
erwerben darfst! Und jetzt soll man hier plötzlich Menschen aus Somalia,
Afghanistan, Pakistan, Iran und Syrien integrieren? Woher stammt diese Idee? Soll
aus uns eine moslemische Insel werden? Habe ich Unrecht? Das ist doch ein sehr
ernst zu nehmendes Thema!
Erzähler:
Dabei ist es nicht so, dass fremde Religionen auf der Insel nicht respektiert würden.
Es gibt sogar eine Moschee, die von den Flüchtlingen auch genutzt werden kann.
Veros beunruhigen die Zahlen. Wie viele Moslems kann Lesbos aufnehmen, ohne
dass sich seine Geschichte, seine Kultur, womöglich seine Gesellschaft ändert? Von
ihm aus, kann ein Teil von ihnen durchaus auf der Insel integriert werden. Aber wie
hoch wäre dieser Teil?
Atmo von Agathonissi
Erzähler:
Bei Voula Micheli auf Agathonissi mit ihren circa 180 Inselmitbewohnern stellt sich
die Frage nach einer Aufnahmekapazität der Geflüchteten nicht. Wo sollten sie
überhaupt leben? Willkommen wären sie allemal, aber wer von ihnen würde sich
wohl entscheiden, auf Agathonissi zu bleiben? Dort am äußeren Rand Europas?
Die junge Frau hat erlebt, dass westeuropäische Urlaubsgäste die ankommenden
Flüchtlinge mitversorgt haben. Eine praktisch gelebte Solidarität, die sie als
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wohlwollend empfunden hat. Kommt sie aber auf Europa allgemein zu sprechen,
dann verfinstert sich ihr sonst so strahlende Blick.
O-Ton Voula Micheli
(ov weiblich):
Wir sind alle Europäer, aber das übrige Europa hat in der Flüchtlingskrise sehr
kopflos gehandelt. Wir sagen sprichwörtlich dazu: Europa ließ uns allein die
Schlange aus dem Loch ziehen! Man sah zwar, dass es über die Flüchtlingswelle
nachdachte, aber in keinem Fall hat es in unserem Sinne gehandelt.
Erzähler:
Zu spät setzten die Kontrollen im Meer ein, zu wenige Flüchtlinge wurden von den
westlichen EU-Ländern aufgenommen, zu viel ist Voula Micheli von
Grenzschließungen und von Mauern die Rede.
O-Ton Voula Micheli
(ov weiblich):
Wenn sie mich fragen, der Niedergang Europas ist durch die Flüchtlingskrise zum
ersten Mal sichtbar geworden. Die Vision des Wortes Gemeinschaft ist in unseren
Augen total zusammengebrochen. Ich denke, wir Menschen hier auf dieser Insel
haben das schon früher gespürt, als die übrige Welt. Die Flüchtlingswelle entpuppte
sich als Spiegel, für alle großen Probleme, die Europa im Zusammenhang mit dem
Wort Gemeinschaft haben kann.
Atmo: Kostas Kottoros telephoniert
O-Ton Kostas Kottoros
(ov männlich):
Sie müssen Eines bedenken: wir haben im Vergleich zur Anzahl unserer Einwohner,
die meisten Flüchtlinge und Emigranten im Jahr 2015 aufgenommen, mehr als
irgendeine andere Insel in der Ägäis. Insgesamt waren das 32 Tausend. Ja, sie
haben richtig gehört. 32 Tausend Seelen auf einer Insel, in der nur 183 ständige
Einwohner leben. Mehr brauchen wir gar nicht zu sagen!
Erzähler:
Der Sohn des Bürgermeisters von Agathonissi, Kostas Kottoros, bei der Eröffnung
der Ausstellung „Karikaturen des Flüchtlingsdramas“ mit Arbeiten griechischer
Künstler. Unterstützt wird sie vom Kreisbezirk Nordägäis. Als Wanderausstellung ist
sie auf Rhodos gestartet und soll auf allen Inseln der Dodekannes gezeigt werden.
Mit einer kurzen Zwischenstation in Athen soll sie in Brüssel zu Ende gehen. Um, wie
es heißt, den EU-Vertretern die entsprechende Nähe das Flüchtlingsdramas zu
vermitteln. Auf Agathonissi sind bis auf die ganz alten Leuten alle Einwohner
gekommen. Auch Franzeska Kottoros ist anwesend. Und blickt gefangen auf eine
Karrikatur.
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O-Ton Franzeska
(ov weiblich):
Das Bild, das ich sehe, beschreibt auch meine Missbilligung gegen Europa. Da steht
auf einem Papier: Unterschreibt unverzüglich ein Memorandum, das unmittelbar
durchgesetzt wird; willigt in den Kredit ein und dann kriegt ihr den Schwimmreifen zur
Rettung. Wir sehen dabei Flüchtlinge, die zu ertrinken drohen, weil Europa sie in die
Tiefe drückt. Im Wesentlichen geht es bei dieser Karikatur darum zu zeigen, wie
Griechenland zu seinem Handeln gezwungen ist. Die Aussage lautet: Wenn ihr nicht
unsere Bedingungen akzeptiert und nicht alles so macht, wie wir in Europa wollen,
sprich: die Flüchtlinge nicht aufnehmt, werden wir euch und den Flüchtlingen nicht
helfen.
Erzähler:
Die Erkenntnisse aus der Saison 2016 haben die Einwohner Agathonissis dafür
genutzt, um sich gegen neue Flüchtlingsdramen auf ihrer Insel zu wappnen. Auch mit
Hilfe der Hilfsorganisation MLS. Das Mobile Landing Rescue Team hat im
Binnenland der Insel ein kleines Aufnahmelager eingerichtet. Um zukünftigen
Flüchtlingen Erste Hilfe zu leisten und sie medizinisch zu versorgen. Weit weg vom
touristischen Hafen und seinen Urlaubsgästen. So blicken die Einwohner
Agathonissis der Sommersaison 2017 gelassener entgegen. Wenn Franzeska
Kottoros jetzt auf der Terrasse ihres Hotels steht, kommt sie fast wieder ein bisschen
ins Schwärmen. Beinahe so, wie vor der Flüchtlingskrise.
Musik: griechisch
O-Ton Franzeska Kottoros
(ov weiblich):
Sie schauen hier auf das Meer. In der Ferne sind die Inseln Leros und Lipsi gut zu
erkennen. Und da unten ist der Hafen von Agathonissi. Das ist atemberaubend, nicht
wahr? Es ist ganz friedlich. Du störst niemanden und wirst von niemanden gestört.
Du hast den Berg neben dir, die Natur, die Tiere. Morgens und abends kommen die
wilden Rebhühner und Ziegen hier vorbei. Und immer wieder gibt’s dieses
Wechselspiel von Berg und Meer. Das alles hast du als Städter nicht. Du siehst die
kleinen Fischkutter in die Bucht reinfahren. Du siehst den Fischer, der seine Musik
auf dem Boot abspielt. Für mich ist es ein wahres Vergnügen.
Atmo: Fischer mit Musik auf seinem Boot
Deutscher O-Ton Otto Gerner:
Die Griechen sind mehrfach belastet, durch die Eigenentwicklung wohl vordergründig
veranlasst, aber anschließend auch durch Entwicklungen, die ihr eigenes
Selbstbewusstsein genommen hat, durch Auflagen, die der Kreditgeber
üblicherweise mit der Kreditgewährung verbindet. Und anschließend hat der Grieche
insgesamt, insbesondere der Inselgrieche, sehr viel Gutes getan, um Soforthilfe zu
leisten bei den Flüchtlingen.
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Erzähler:
Das erzählt mir Otto Gerner, deutscher Unternehmensberater, der seit vielen Jahren
den Sommer in seinem Ferienhaus auf Samos verbringt. Er hat die Krise im
Tourismussektor in seinem unmittelbaren Umfeld erlebt.
O-Ton Otto Gerner:
Die Griechen waren verzweifelt. Durch die Folgen der Flüchtlingssituation ist der
Tourismus, von dem direkt und indirekt etwas 80% der Bevölkerung leben, deutlich
eingebrochen, um etwa die Hälfte. Die Existenzen waren und sind teilweise bedroht.
Und die Angestellten haben, um ihre Jobs und die Einkommen ihrer Familie
gefürchtet.
Erzähler:
Um die leidenden griechischen Inseln in den Augen Dritter wieder als attraktive
Destinationen vermarkten zu können, wird es nach Einschätzung des
Unternehmensberaters Gerner weitere drei bis fünf Jahre brauchen. Vorausgesetzt
die Reiseveranstalter lassen sich nicht abschrecken.
In Deutschland und Österreich hat sich der heute 60jährige Firmenexperte auf small
und medium small companies spezialisiert, mit dem Fokus: die Beseitigung und
Vermeidung von strategischen Problemen.
Atmo aus der Zusammenkunft im Hotel
Erzähler:
In dieser dramatischen Situation setzte sich Otto Gerner mit einigen Unternehmern,
die auf Samos aktiv sein wollten zusammen, um eine Initiative zu ergreifen. Diese
sollten unabhängig vom politischen Willen und unabhängig von den Fördergeldern
Dritter, selbständig agieren, um die Existenzen zu sichern.
O-Ton Otto Gerner:
Diese Gemeinschaft hat sich den Namen gegeben „Friends of Samos“, die zunächst
Prioritäten gesetzt hat in den Aktivitäten, die hießen: „Lass uns versuchen die Insel
zu promoten, um die negativen Bilder der Presse und der NGOs zu übertünchen, und
den potentiellen Touristen die Furcht zu nehmen, dass sie hier auf eine Umgebung
stoßen, die den Urlaub nicht urlaubswürdig macht.
Erzähler:
So wie auf Lesbos und Agathonissi wurde auch auf der Insel Samos über falsche
Bilder in der Presse immer wieder geklagt. Das hat Otto Gerner selbst so
empfunden.
O-Ton Otto Gerner:
Weil sie nicht die Lage beurteilen können, aufgrund von Fehlinformationen oder
mangelhaften Informationen. Man kann hier als proof anführen, die Dauergäste von
Samos, die Wiederholer, die lassen sich von negativen Informationen auch nicht
beeinflussen, freuen sich aus ihrer Sicht, dass die Strände wieder etwas leerer sind
und die Preise etwas niedriger.
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Erzähler:
Reiseveranstalter und Touristen werden ganz sicher irgendwann wieder offen sein,
für Angebote nach Lesbos, Agathonissi und Samos. Die Frage ist nur, wie lange wird
das wohl dauern? Eine Wiederbelebung der griechischen Tourismusbranche, erst in
drei bis fünf Jahren, käme für viele Geschäftsleute auf den griechischen Inseln
vermutlich zu spät.
Absage:
Urlaubsinseln oder Aufnahmelager?
Der griechische Tourismus im Schatten der Flüchtlingskrise
Ein Feature von Marianthi Milona
Die Sprecher waren:
Ton und Technik:
Regie: Maria Ohmer
Redaktion Wolfram Wessels
Produktion: Südwestrundfunk 2017
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