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Seite 64: Schach-Fragen
Gawain Jones
Vom Turniersieg in der B-Gruppe (Challengers) in Wijk aan Zee ein paar
Tage zu Hause in London erholt, für seine London Towers in der Pro Chess
League online gezockt (siehe auch S. 21, rechte Spalte), ein Punktspiel in
der Oberliga Bayern für den Münchener SC 1836. Einen Tag später saß der
29-jährige Engländer mit seiner ebenfalls schachspielenden Ehefrau Sue
(Elo 2157) auch schon im Flugzeug nach Malaysia. Urlaub! Von einem
Zwischenstop sandte uns der Globetrotter die Antworten auf unsere
SCHACH-Fragen.
Der »Drachen«-Spezialist ist aktuell mit einer Elozahl von 2677 die Nr. 2
Englands. In Wijk qualifizierte er sich für die nächstjährige A-Gruppe und
wird dort mit den Carlsen & Co. die Klingen kreuzen.
1. Wo möchten Sie im Moment gerne sein?
In Neuseeland. Dort ist gerade Sommer und es ist die
Heimat meiner Frau Sue. Wir versuchen, alle zwei
Jahre dorthin zu reisen, aber das ist schwierig, weil
es so abgelegen liegt und es immer so viele Turniere
gibt, die ich gern spielen würde.
In diesem Jahr haben wir einen Kompromiss gefunden und sind gerade auf dem Weg nach Malaysia
und Indonesien, um Zeit mit der Familie zu verbringen. Aber ich fürchte, dort ist gerade Monsunzeit.
2. Was würden Sie tun, wenn es ab morgen absolut
kein Schach mehr in Ihrem Leben geben würde?
Dann hätte ich endlich Zeit! Seit ich sechs Jahre alt
bin, wollte ich Schachprofi werden. Ich sollte eigentlich Klassische Zivilisation in Dublin studieren, aber
aus einem Brückenjahr wurde ein »Brückenleben«.
Ich interessiere mich für Sprachen und Geschichte,
vielleicht würde ich mich dann damit beschäftigen.
3. Was halten Sie für die beste und für die schädlichste Entwicklung im modernen Schach?
Schachsoftware ist fantastisch, aber ein großes Problem sind die Amateure, die mit laufenden Engines
die Partien der Elitegroßmeister verfolgen. Immer
mehr denken nicht mehr selbst mit oder begeistern
sich für das Schaffen der Großen, sondern achten
ausschließlich darauf, wie die Bewertung steigt oder
fällt. Und schon schreien sie »Fehler!«.
Kann man diese »Sessel-Generäle« nicht lehren,
wie inhaltsreich und schwer Schach ist?
4. Wer ist Ihrer Meinung nach die am meisten überbewertete Persönlichkeit der Schachgeschichte?
Ohne große Hingabe und Aufopferung bringt man es
nicht weit in der Schachwelt. Ich fände es daher
unfair, von »überbewertet« zu reden. Max Euwe
scheint den Titel des »schwächsten Weltmeisters« zu
tragen, was ich für ungerecht halte.
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5. Mit welchen Klischees über Schachspieler sehen
Sie sich konfrontiert und wie kommentieren Sie diese?
Schachspieler haben versucht, die Meinung zu streuen, dass sie sehr intelligent sind. Ich glaube nicht,
dass das unserem Bild in der Öffentlichkeit förderlich ist. Es führt dazu, dass die Leute denken, sie sind
nicht klug genug zum Schachspielen und sehen uns
als Freaks an. Um in diesem Spiel gut zu sein, bedarf
es aber der gleichen Zutaten wie bei vielem anderen
auch: Talent, aber hauptsächlich Freude an der Sache, harte Arbeit und viel Praxis.
6. Mit welchen Vorurteilen über Ihr Schach oder
Ihre Person würden Sie gerne aufräumen?
In meiner Jugend spielte ich ziemliches Kraut in der
Eröffnung und landete folgerichtig häufig in
schlechten Stellungen. Ich fand meistens taktische
Auswege, so dass ich als »cheapo merchant« (»Billighändler«, jemand, der viel mit Tricks arbeitet)
oder als »Hacker« (kann nur angreifen) verschrieen
war. Ich hoffe, dem ist heute nicht mehr so.
7. Welche Themen möchten Sie in der Schachöffentlichkeit/Schachpresse stärker behandelt wissen?
Wir sollten darüber nachdenken, wie wir Schach zu
einem populäre(re)n Sport machen können. Im Moment scheinen wir eine breite Öffentlichkeit nur mit
Skandalen à la »merkwürdiger idiotischer Gelehrter
macht irgend’was Dummes« zu erreichen.
8. Was möchten Sie in Ihrem Leben unbedingt noch
erlernen bzw. bedauern, es nie erlernt zu haben?
Es wäre großartig, mehr Sprachen zu beherrschen.
Ich spreche etwas Italienisch, da ich zwischen meinem 13. und 15. Lebensjahr in Italien gelebt habe,
aber leider nicht flüssig. Und ich wünschte, ich könnte ein Instrument spielen und hätte mehr Klavier
geübt, als ich jung war. Meine Geschwister sind
beide sehr musikalisch, worum ich sie beneide.
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9. Was ist Ihnen peinlich?
In der Öffentlichkeit reden zu müssen! Ich ziehe es
vor, mein Schach für mich sprechen zu lassen, und
werde immer nervös, sobald ich vor Publikum trete.
10. Was gefällt Ihnen an sich und was missfällt Ihnen
an sich?
Man sagt mir häufig, dass ich für einen Schachspieler recht normal bin, was wahrscheinlich ein Kompliment ist. Auf der anderen Seite wäre ich wirklich
gern etwas eloquenter! Rein schachlich bedauere
ich, dass ich nicht mehr studiert habe, als ich jünger
war – statt endlos Ein-Minuten-Schach zu spielen.
11. Welchen Missstand würden Sie in Ihrem Land
beseitigen, wenn es in Ihrer Macht stünde?
Großbritannien durchlebt gerade eine harte Zeit. Die
Brexit-Diskussionen spalten das Land, es gibt unzählige Schuldzuweisungen. Ich wünschte, wir wären eine empathischere Gesellschaft.
12. Wer sind Ihre Helden in der Gegenwart?
Ich bewundere jene, die gegen Autoritäten aufstehen, um die Schwächsten der Gesellschaft zu verteidigen. Meine Mutter und meine Schwester sind politisch in der Grünen Partei in Nordirland aktiv, und
ich bin stolz auf sie!
13. Welche drei Bücher können Sie empfehlen?
Das Studium von Kasparows Großen Vorgängern
hat tatsächlich meine Spielstärke verbessert. Daneben gehört die Endspiel-Universität von Dworezki
zur Pflichtlektüre jedes ernsthaften Schachspielers.
Soweit die Pflicht, als Kür könnten Yasser Seirawans Schachduelle gelten.
14. Welches ist die interessanteste Schachpartie, die
Sie je gespielt haben?
Meine denkwürdigste frühe Partie spielte ich gegen
Klaus Bischoff in Liverpool 2006. Ich konnte erfolgreich ein Danaergeschenk darbieten. Ich hatte damals das Gefühl, dass dies mein erster richtiger Sieg
gegen einen Großmeister war, in dem mein Gegner
nicht überzog oder etwas einstellte.
Ich lege meine Partien gewöhnlich extrem kompliziert an, sehen Sie zum Beispiel die letzte Runde in
Wijk aan Zee nach meinem Figurenopfer (ª S. 40f.,
d. Red.). Ich war mir zu keinem Zeitpunkt sicher, was
in meiner Begegnung gegen Arkadij Naiditsch bei
der Olympiade in Baku (2016) los war. Eine weitere
sehr interessante Partie spielte ich beim Politiken
Cup 2014 gegen Jean Pierre Le Roux. Und ich sollte
wahrscheinlich auch mein Damenopfer gegen
Magnus bei den London Chess Classic 2012 erwähnen, das wahrscheinlich korrekt war.
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15. Welche Spieler würden Sie zu einem Turnier
einladen und nach welchem Modus würde dieses
ausgerichtet werden, wenn ein Sponsor Sie mit der
Ausrichtung und Organisation beauftragen würde?
Wijk aan Zee hat mit der Verbindung der absoluten
Spitzenleute mit niedriger gewerteten, aber interessanten Spielern ein gutes Format gefunden. Wir sehen im allgemeinen mehr entschiedene Partien und
auch andere Eröffnungen als bei reinen Eliteturnieren. Nehmen Sie nur Adhiban ... Ich finde es gut,
wenn man mehr als »+2« braucht, um ein Turnier zu
gewinnen. Dann haben wir auch nicht so viele Berliner Mauern. Und natürlich hoffe ich, dass ich selbst
mitspielen darf!
16. Auf welche eigene Leistung sind Sie besonders
stolz und warum?
Wijk aan Zee! Ein Rundenturnier mit 14 Teilnehmern ist wahnsinnig anstrengend und ich bin stolz,
dass ich mich durchgekämpft habe.
Ich bin auch stolz auf meinen Sieg bei der Britischen Meisterschaft 2012 und froh, mehrmals gut
gepunktet zu haben, als ich für England gespielt
habe. Aber ich hoffe natürlich, dass mein Husarenstück noch in der Zukunft liegt!
17. Mit wem würden Sie gerne einen Tag lang tauschen und warum?
Ich sollte wohl mal einen normalen Tag in einem
Büro arbeiten. Dann würde mir so richtig klar werden, wie privilegiert ich bin, meinen Lebensunterhalt
mit Schachspielen bestreiten zu können.
18. Wann haben Sie zum letzten Mal etwas zum
ersten Mal getan und was?
Ich schreibe diese Antworten auf meinem Flug nach
Doha: es wird das erste Mal sein, dass ich Katar
besuche. Ich habe im Januar dem Alkohol abgeschworen, womit ich seit sehr langer Zeit wieder
etwas Neues gemacht habe.
20. Aktuelle Frage:
a) Was war entscheidend für Ihren Sieg in Wijk?
Zähigkeit und Glück! Ich rechnete nicht damit, dass
ich gewinnen würde, machte mir also keinen großen
Druck. Ich fand einen guten Rhythmus und schaffte
es, bis zum Ende zu kämpfen.
b) Welche persönlichen Erwartungen hegen Sie für
die A-Gruppe 2018?
Ich hatte das Glück, 2012 bei den London Classic zu
spielen, habe also eine gewisse Ahnung, was auf
mich zukommt. Ich möchte zeigen, dass ich kämpfen
kann, und werde versuchen, interessantes Schach zu
bieten.
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