„Der Kampf gegen Ungleichheit muss in das Zentrum der politischen Debatte rücken.“ (OECD – Generalsekretär José Ángel Gurría) „Wir leben in einer Welt, deren Regeln für die Superreichen gemacht sind.“ (Tobias Hauschild, Referent für Entwicklungsfinanzierung bei Oxfam) Dossier 2017 Marco Bülow, Bundestagsabgeordneter Wachsende Ungleichheit Vermögen und Einkommen gehen am oberen und unteren Rand immer weiter auseinander. Warum profitieren nur so wenig Menschen in Deutschland vom Wachstum? Was sind die Folgen von Ungleichheit und welche Handlungsoptionen gibt es? © FOTO: TILL HARDENBICKER, „ARMUT – UNBEMERKT VON DEN MASSEN“, CC-LIZENZ (BY 2.0), QUELLE: WWW.PIQS.DE Liebe Leserin, lieber Leser, in den Parlamenten und politischen Talkshows werden bestimmte Debatten aufgebläht und übermäßig inszeniert. Die wirklich existentiellen Themen und Diskussionen werden damit häufig verhindert und verschleiert. Dabei sollten wir uns endlich mit den Problemen auseinandersetzen, die unsere Grundlagen gefährden: Warum ist die Ungleichheit gerade in einem so reichen Land wie Deutschland besonders groß? Wie konnte aus einer Aufstiegs- eine Abstiegsgesellschaft werden? Warum steigen Alters- und Kinderarmut, während die Erbschaften jedes Jahr größer werden? Warum bekommt ein Manager, der sein Unternehmen an die Wand fährt, eine Rente von täglich 3.100 Euro, während viele andere von ihrem Lohn und ihrer Rente nicht leben können? Seit längerer Zeit engagiere ich mich für mehr Gerechtigkeit, diskutiere und untersuche die Hintergründe. Ich habe mit vielen Experten, aber auch ganz konkret mit Betroffenen gesprochen. Die Konzentration von Vermögen und Besitzverhältnissen, das Auseinanderklaffen der Einkommen, das Schrumpfen der Mittelschicht und eine verminderte Chancengleichheit gefährden den sozialen Frieden, unseren Lebensstandard und auch unsere Demokratie. Die Enttäuschung und Frustration über die herrschende Politik und ihre Gremien werden zunehmen und besonders Populisten in die Hände spielen. Mit diesem Dossier möchte ich Fakten aufführen, Anstöße geben und mithelfen, das Thema der sozialen Ungleichheit in Deutschland endlich ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung zu befördern. Einen Schwerpunkt lege ich aber besonders auf die Vorschläge und Maßnahmen, die wieder zu mehr Gerechtigkeit und besseren Aufstiegschancen führen. 1 Inhalt Teil I – Analyse: Ungleichheit .................................................................... 1 1. Armut und Ungleichheit in Deutschland - ein trauriges Rekordhoch ....................................... 1 2. Ungleichheit ist kein Nischenthema .......................................................................................... 4 3. Deutschlands Elite .................................................................................................................... 7 4. Deutschlands Reiche ................................................................................................................ 8 5. Deutschlands Mittelschicht ..................................................................................................... 11 6. Deutschlands Arme................................................................................................................. 13 6.1 Kinder und junge Menschen ........................................................................................... 15 6.2 Alleinerziehende .............................................................................................................. 15 6.3 Frauen ............................................................................................................................. 16 6.4 Arm trotz Arbeit ............................................................................................................... 17 6.5 Ältere ............................................................................................................................... 20 7. ChancenUNgleichheit ............................................................................................................. 22 8. Zementierung von Ungleichheit .............................................................................................. 27 9. Ungleichheit: Ein internationaler Vergleich ............................................................................. 34 Teil II – Maßnahmen: Investieren, Umverteilen, Chancen Stärken ...... 38 1. Umsteuern............................................................................................................................... 38 2. Geld haben wir ........................................................................................................................ 39 3. Forderungen............................................................................................................................ 42 3.1 International..................................................................................................................... 42 3.2 Pakt für Chancengleichheit ............................................................................................. 45 3.3 Neues Zukunftsinvestitionspaket (ZIP) ........................................................................... 46 3.4 Faire Steuern................................................................................................................... 47 3.5 Starke Kommunen .......................................................................................................... 50 3.6 Arbeit und Leistung müssen sich lohnen ........................................................................ 52 3.7 Zukunftssicheres Sozialsystem....................................................................................... 54 3.8 Vermögensaufbau und Selbständige fördern ................................................................. 56 Teil III – Fazit: Sozialwende ...................................................................... 58 Quellenangaben und weiterführende Literatur .............................................................................. 62 2 Teil I – Analyse: Ungleichheit 1. Armut und Ungleichheit in Deutschland - ein trauriges Rekordhoch Objektiv betrachtet war der Wohlstand in Deutschland noch nie so groß wie heute: Wirtschaftswachstum, sinkende Arbeitslosigkeit, Rentenerhöhungen, Vermögenssteigerungen, höchste Zahl an Studierenden in der Geschichte. Der Haken ist jedoch: Der Wohlstand wird immer ungerechter verteilt. Das, was es zusätzlich zu verteilen gibt, geht an die ohnehin Wohlhabenden. Die Armutsquote in Deutschland ist auf ein Rekordniveau gestiegen. Heute sind 12,5 Mio. Menschen (15,7% der Bevölkerung1) von Armut bedroht und es werden jährlich mehr. Dieser Trend setzt sich fort. Die Armut ist nicht nur im Gesamtbild gestiegen, auch innerhalb des Landes verstärkt sich die Kluft zwischen reichen und armen Regionen. So variieren die Armutsquoten in den Bundesländern sehr stark zwischen 11,4% und 24,1%. Gerade in Regionen, die einen heftigen Strukturwandel gestalten mussten, wie z. B. das Ruhrgebiet, sind besonders viele Menschen von Armut bedroht. Solange das Bildungsversprechen galt, waren die Menschen bereit, ein gewisses Maß an Ungleichheit zu akzeptieren. Aber der soziale Aufstieg ist immer schwieriger geworden. Zunehmend verfestigt sich die Position im Sozialgefüge: wer einmal an der untersten Sprosse der Leiter steht, dem gelingt immer seltener der Aufstieg. Die wirtschaftliche Entwicklung trägt eben nicht mehr alle mit nach oben. Stattdessen gilt: Wer stehen bleibt, steigt ab. Menschen verlieren ihre Sicherheit, Abstiegsängste setzen sich fest. Sind wir in einer Abstiegsgesellschaft angekommen? Diese Entwicklung ist gefährlich, denn aus Abstiegsängsten erwächst Konkurrenzdenken und gesellschaftliches Konfliktpotential. 2 Im Vergleich zu anderen OECD-Ländern ist in Deutschland die Ungleichheit bei Vermögen, Einkommen und Chancen besonders hoch und in den vergangenen Jahrzehnten massiv angestiegen. Aus diesem Grund beschäftige ich mich in diesem Dossier ausführlich mit diesen drei Schwerpunkten: Vermögensungleichheit Einkommensungleichheit Chancenungleichheit Sind die Besitzverhältnisse fair? Sind die Verdienstverhältnisse fair? Sind Aufstiegsmöglichkeiten fair verteilt? Wer leidet im Besonderen unter der Ungerechtigkeit? Wo kommen die Missverhältnisse her? Was können wir dagegen tun? 1 2 Statistisches Bundesamt. Ergebnisse des Mikrozensus. Stand 2015. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Soziales/Sozialberichterstattung/Tabellen/ArmutsgefaehrungsquoteBun deslaender.html Nachtwey, Oliver (2016): Die Abstiegsgesellschaft: Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Nachtwey, Oliver (2016) im Interview im Magazin Mitbestimmung. Oliver Nachtwey über schwieriger gewordene Aufstiegschancen. 1 Mittlerweile besitzen die reichsten zehn Prozent der Haushalte in Deutschland etwa 60% des Gesamtvermögens. Je nach Studie kommt die untere Hälfte der Bevölkerung auf etwa 1 – 3%. Damit weist Deutschland die höchste Vermögensungleichheit in der Eurozone auf. Das bleibt nicht unbemerkt. 82% der Menschen empfinden die ungerechten wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland als zu drastisch.3 Vermögensungleichheit in Deutschland alarmierend Eigene Grafik; Datengrundlage: Deutsche Bundesbank: Monatsbericht März 2016; Deutscher Gewerkschaftsbund: Verteilungsbericht 2016 Hinzu kommt: Während einige Wenige immer mehr haben, sinken die Vermögen hierzulande beachtlich. Laut DIW ist das reale Nettovermögen eines durchschnittlichen deutschen Haushalts seit 2002 um knapp 15% gesunken.4 Unter den Europäern haben wir Deutschen die kleinsten Vermögen, diese sind in den letzten Jahren für viele von uns sogar noch geschrumpft. Das ist nur mit Einschränkungen exakt zu berechnen, denn es erfordert, jedem Vermögensgegenstand einen Marktwert zuzuordnen. Dennoch lässt sich anhand der Zahlen eine klare Tendenz ablesen. Nicht nur Vermögen sind in Deutschland ungerecht verteilt. Bei den Einkommen sieht es nicht besser aus. Drei Beispiele: Erstens, ein DAX-Vorstandsvorsitzender verdient heute das 167-fache eines durchschnittlichen Einkommensbeziehers5. Zweitens, Einkommen durch Vermögen steigen viermal so stark wie Einkommen durch Arbeit6, wovon freilich jene mit ohnehin viel Vermögen profitieren. Drittens, die Mittelschicht schmilzt. Dies ist eine Folge davon, dass die Extreme am oberen und unteren Rand der Einkommensskala immer stärker werden. Sehr hohe Einkommen und sehr geringe Einkommen sind heute keine Ausnahme mehr7. Der größte Skandal ist: finanzschwache Haushalte haben schlechtere Voraussetzungen in nahezu allen Lebensbereichen – Bildung, Gesundheit, persönliche Entwicklung, soziale Teilhabe. Das darf sich eine Gesellschaft nicht leisten, wenn sie den sozialen Frieden nicht gefährden möchte. 3 4 5 6 7 Friedrich-Ebert-Stiftung: Wachsende Ungleichheit als Gefahr für nachhaltiges Wachstum 2016. Fratzscher, Marcel (2016). Verteilungskampf - Warum Deutschland immer ungleicher wird. Deutscher Gewerkschaftsbund: Verteilungsbericht 2016. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: DIW Wochenbericht Nr. 25/2015. Hans-Böckler-Stiftung: WSI-Verteilungsbericht 2015. 2 Betroffen sind besonders Erwerbslose, Alleinerziehende, junge Menschen, Kinder sowie zunehmend Rentnerinnen und Rentner. Jedes fünfte Kind ist in Deutschland von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht.8 Auch Menschen, die in Vollzeit arbeiten, können oft nicht davon leben, so etwa Geringverdienende oder auch Solo-Selbstständige. Der Mindestlohn liegt in Deutschland mit 48% des Medianeinkommens weit unter der sogenannten Armutsgrenze 9. Mit der Absenkung des Rentenniveaus bis 2030 werden dann auch viele Ältere nicht mehr von ihrer Rente leben können, obwohl sie jahrzehntelang gearbeitet haben. Das Problem ist: Vom Wachstum profitiert ein immer kleinerer Teil der Bevölkerung. Trotz guter wirtschaftlicher Entwicklung und sinkender Arbeitslosigkeit verschlechtert sich der Zustand. Armut und Ausgrenzung steigen, die Gesellschaft driftet immer mehr auseinander und Aufstiegschancen sinken. Die Schere zwischen hohen und niedrigen Einkommen öffnet sich immer weiter. Trotz sinkender Arbeitslosigkeit steigt die Armut in Deutschland eigene Darstellung Datengrundlage: Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Bundesagentur für Arbeit Betrachtet man die Arbeitslosenzahlen, muss man freilich beachten, diese Kennzahl nicht isoliert auf die goldene Waage zu legen. Das liegt unter anderem auch daran, dass die offizielle Arbeitslosenstatistik bestimmte Gruppen fälschlicher Weise außen vor lässt. So sind viele tatsächlich Arbeitslose nicht darin erfasst, z. B. solche in Fort- und Weiterbildungen; solche, die krank sind; solche, die über 58 Jahre alt sind und innerhalb eines Jahres kein Jobangebot erhalten haben; solche, die von privaten Arbeitsvermittlern betreut werden; solche, die sich nicht zur Arbeitssuche melden; solche, die einen Gründungszuschuss zur Selbstständigkeit bekommen; solche, die eine Vermittlung erschweren, z. B., weil sie nicht bereit sind, an Maßnahmen teilzunehmen oder eine bestimmte Beschäftigung anzunehmen sowie Ein-Euro-Jobber. So lag die offizielle Arbeitslosigkeit im September 2016 bei 2,6 Mio., tatsächlich aber bei 3,5 Mio. Es gibt über diese Zahl hinaus viele Menschen, die Leistungen des Staates empfangen und damit von ihm abhängig sind. So z. B. die umgangssprachlichen Aufstocker, die mindestens 15 Stunden die Woche arbeiten, aber zusätzlich Hartz IV-Leistungen erhalten, oder auch die Kinder, die in Hartz IV-Haushalten leben. Insgesamt lässt sich feststellen, dass eine bedeutend 8 9 Hans-Böckler-Stiftung: Sonderauswertung Mikrozensus 2014. Hans Böckler Stiftung: Böckler Impuls 04/2016. Die Armutsgrenze ist auf 60% des Medianeinkommens festgelegt. Der Median wird gebildet, in dem man alle Haushalte nach ihrem Nettoäquivalenzeinkommen aufreiht und dann bemisst, wie viel der Haushalt besitzt, der sich in der Mitte befindet. 3 große Zahl an Menschen in Deutschland von staatlichen Leistungen abhängig ist und diese Abhängigkeit vom Staat nimmt zu. Währenddessen schwindet die Chancengleichheit, das „sich nach oben arbeiten“ ist heute schwieriger. Der Ökonom Thomas Piketty10 hat in seiner internationalen Analyse eindrucksvoll beschrieben, dass das Aufstiegsversprechen hinfällig ist. Reicher wird man durch Erbschaften und durch bereits vorhandenes Kapital. Immer weniger machen die Löhne die Einkommen aus – stattdessen sind es die Gewinne, die durch Kapital erzielt werden. Der Reichtum bleibt somit bei dem obersten Segment der Wohlhabendsten. Diese Gruppe wird zudem durch weitere Steuerentlastungen bevorzugt. Kann man also in Deutschland noch von Chancengleichheit sprechen? Wo bereits im Kindesalter Weichen für die Zukunft gelegt werden, die später kaum veränderbar sind? Wo Erben zu Reichtum gelangen, der über Lohnarbeit nie hätte erreicht werden können? Wo Reiche Steuervorteile genießen und der Rest der Bevölkerung prozentual mit der Steuerlast benachteiligt ist? Wo Frauen immer noch weniger verdienen als Männer - für die gleiche Arbeit? Wo Erwerbslose und Menschen mit einem nicht „konventionellen“ Lebenslauf kaum die Möglichkeit auf ein reguläres Beschäftigungsverhältnis haben? Wo regionale Disparitäten zwischen „reichen“ und „armen“ Bundesländern derart auseinanderklaffen? Die Entwicklung gefährdet unseren sozialen Frieden und unser demokratisches System. Werte wie Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness werden immer weniger gelebt. Immer mehr Menschen haben nicht mehr das Gefühl, dass Politik den Zustand der Gesellschaft erkennt und Verantwortung übernimmt. Schlimmer noch, dass sie ihn erkennt und ignoriert. Die Bereitschaft, sich aktiv an demokratischen Prozessen zu beteiligen, nimmt ab. Wir sehen es am Sinkflug der Wahlbeteiligungsquoten. Wut, Unverständnis und der neue Rechtspopulismus fallen auf fruchtbaren Boden. Wir stehen vor einer tiefgreifenden Spaltung der Gesellschaft, das Auseinanderdriften zwischen den „Privilegierten“ und den „Abgehängten“ gilt es zu verhindern. 2. Ungleichheit ist kein Nischenthema Sich für den Abbau von extremer Ungleichheit einzusetzen, sollte längst nichts mehr mit politischen Ausrichtungen zu tun haben. Es gibt immer mehr Ökonomen, die aus wirtschaftstheoretischen Gründen davor warnen, dass extreme Ungleichheit wachstumshemmend ist. Natürlich ist es auch eine moralische Frage. Dies stellt auch Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, in den Vordergrund: „Wir haben es zugelassen, dass sich in dieser Gesellschaft – auch bei den Löhnen – immer mehr auseinander entwickelt und sich letztlich Parallelwelten auftun. Mitten in Deutschland.“11 Ulrich Schneider Weil die Ungleichheit mittlerweile so gravierend ist, ist das Thema auch auf die Agenda zahlreicher Forschungseinrichtungen gekommen. Seit geraumer Zeit gibt es hierzu umfangreiche Datenauswertungen und –analysen. Besonders prominent thematisiert das Deutsche Institut für 10 11 Piketty, Thomas: Das Kapital im 21. Jahrhundert. 2014. Schneider, Ulrich (2016). In: ARD: Beckmann - Die geteilte Gesellschaft. Sendung vom 31.05.16. 4 Wirtschaftsforschung (DIW) durch seinen Präsidenten Marcel Fratzscher den Missstand. Er fasst das treffend in seinem Buch „Verteilungskampf“ zusammen: „In kaum einem anderen Land beeinflusst die soziale Herkunft das eigene Einkommen so stark wie in Deutschland. In kaum einem anderen Land bleibt Arm so oft Arm und Reich so oft Reich – über Generationen hinweg. Die Hälfte des Einkommens eines Arbeitnehmers in Deutschland wird durch das Einkommen und den Bildungsstand der Eltern bestimmt. […] Diese bereits geringe Mobilität hat in den vergangenen Jahrzehnten sogar noch abgenommen. Einer der größten Verlierer dieser Entwicklung ist die deutsche Mittelschicht. […] Es sind die Menschen, die bislang das Rückgrat einer jeden Wirtschaft und Gesellschaft bilden – auch unserer.“12 Marcel Fratzscher In Deutschland setzen sich zahlreiche Forschende und Intellektuelle mit dem immer größer werdenden Problem der Ungleichheit auseinander, darunter Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftler wie u. a. Heiner Flassbeck, Christoph Butterwegge, Oliver Nachtwey. Das sind nur einige Namen. In der Wissenschaft ist das Thema angekommen, in anderen Gesellschaftsbereichen schon lange, so z. B. bei Gewerkschaften oder in der Wohlfahrtspflege. Auch auf internationalem Parkett kommt man an dem Thema nicht mehr vorbei. Der IWF, die OECD, internationale NGOs – bei allen steht Verteilungsgerechtigkeit auf der Agenda. Auch Managern bereitet das Thema Sorgen, wie im neuen Welt-Risiko-Bericht, den das Weltwirtschaftsforum veröffentlicht, steht. „Die Reform des Markt-Kapitalismus muss ebenfalls auf die Agenda“, schreiben die Autoren, was beachtlich ist, wenn man bedenkt, dass das Weltwirtschaftsforum von den größten Unternehmen weltweit getragen wird.13 „Der IWF hält eine gleichmäßigere Einkommensverteilung nicht nur für gute Sozialpolitik, sondern auch für gute Wirtschaftspolitik.“14 Christine Lagarde Weltweit beschäftigen sich bekannte Wissenschaftler mit dem Phänomen. Der bereits erwähnte Franzose Piketty ist 2013 durch sein Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ bekannt geworden, in dem er das Verhältnis zwischen Kapitalrendite und Wachstumsrate der Wirtschaft analysiert: „Wenn die Kapitalrendite dauerhaft höher ist als die Wachstumsrate von Produktion und Einkommen, […] erzeugt der Kapitalismus automatisch inakzeptable und willkürliche Ungleichheiten, die das Leistungsprinzip, auf dem unsere demokratischen Gesellschaften basieren, radikal infragestellen.“15 Thomas Piketty Auch der US-amerikanische Nobelpreisträger Joseph Stiglitz beschäftigte sich mit dem Problem der wachsenden Ungleichheit. Spätestens seit seinem Buch “Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht“ (2012) ist er eine bekannte, mahnende Stimme: 12 13 14 15 Fratzscher, Marcel (2016). Verteilungskampf - Warum Deutschland immer ungleicher wird. Koch, Hannes (2017): Wirtschaftselite fürchtet Rechtspopulisten. In: Taz. Lagarde, Christine (2017): „Gemeinsam für mehr Ausgleich“. In: Handelsblatt. Piketty, Thomas: Das Kapital im 21. Jahrhundert. 2014. 5 „Aus all diesen Gründen ist klar, dass Märkte gezähmt und gezügelt werden müssen, um sicherzustellen, dass sie dem Gemeinwohl – dem Nutzen der meisten Bürger – dienen. […]Die Finanzkrise machte vielen Menschen bewusst, dass unser Wirtschaftssystem nicht nur ineffizient und instabil ist, sondern auch von Grund auf ungerecht.“16 Joseph Stiglitz Der britische Ökonom Anthony Atkinson macht in seinem Buch „Ungleichheit. Was wir dagegen tun können“ (2016) fünfzehn Vorschläge für den Abbau von sozialer Ungleichheit. Seit einem halben Jahrhundert forscht er dazu an Englands besten Universitäten. „Ein entscheidender Punkt ist, dass ich nicht bereit bin, die steigende Ungleichheit als unvermeidlich hinzunehmen: Es gibt Maßnahmen zur Verringerung der gegenwärtigen Ungleichheit, die von Regierungen individuell oder kollektiv ergriffen werden können, von Firmen, von Gewerkschaften und Verbraucherverbänden – und von uns als Individuen.“17 Anthony Atkinson Dass eine zu starke Vermögenskonzentration zunehmend auch ein Problem für den Parlamentarismus darstellt, argumentieren der Philosoph Alain Badiou und der Journalist Harald Schumann. Wenn einige Wenige fast alles besitzen und die Mittelschicht zunehmend schwindet, fehlt der Demokratie die Stütze. Gleichzeitig erlangt eine kleine Elite von Superreichen unkontrollierbare Macht: „Ist ein bestimmter Grad von Ungleichheit erreicht, wird es sinnlos, von Demokratie oder demokratischer Norm zu sprechen. […] [Wir haben] weltweit eine Oligarchie, die etwa 10% der Weltbevölkerung ausmacht. Diese Oligarchie verfügt, ich sage es noch einmal, über 86% der Ressourcen, 10% der Weltbevölkerung, das entspricht ungefähr dem Anteil des Adels in der Feudalgesellschaft. […] Unsere heutige Welt rekonstruiert, restituiert oligarchische Verhältnisse, die sie vor langer Zeit gekannt und durchgemacht hat.“18 Alain Badiou „In der Folge verkommt alles Regieren, sogar in den stärksten Demokratien, zu einem bloßen Schauspiel der Ohnmacht. Und genau das ist es, was so viele Bürger spüren. […] Ihre Regierungen sind oft nur noch Getriebene eines anonymen Regimes zugunsten der Privilegierten, in dem die Interessen der einfachen Leute nicht zählen. […] Denn machen wir uns nichts vor: Wer über fast unbegrenzte Mittel verfügt, kann auch in unserer demokratischen Gesellschaft sehr großen Einfluss auf die Politik nehmen. Die Erbschaftssteuer ist da ja nur ein Fall von vielen. Das Gleiche geschieht in praktisch allen Politikfeldern, die irgendwie die Interessen der Besitzenden berühren, vom Klimaschutz bis zur Rüstungsindustrie. […] Der Einfluss des Geldes in der Politik ist auch deshalb so groß, weil Politiker aller Couleur, sobald sie an die Regierung kommen, nicht mehr konfliktfähig gegenüber dem Kapital sind. […] Ein zentrales Element dieser Fehlentwicklung ist die gegenseitige personelle Durchdringung von Konzernen und Staaten, der sogenannte Drehtüreffekt. […] es sind gerade die Barrosos, Schröders und Draghis, die den falschen Eindruck nähren, eigentlich seien alle Politiker käuflich. Diese von Gier nach Macht und Geld getriebenen Seitenwechsel sowie das ewige 16 17 18 Stiglitz, Joseph (2012): Der Preis der Ungleichheit. Atkinson, Anthony (2016): Ungleichheit. Was wir dagegen tun können. Badiou, Alain (2016): Wider den globalen Kapitalismus. 6 Schielen auf das Wohlwollen der Wirtschaftsmächtigen treiben unsere Demokratien immer tiefer in eine regelrechte Abwärtsspirale.“19 Harald Schumann 3. Deutschlands Elite Deutschlands Elite, das sind nicht zwangsläufig die Superreichen – es sind diejenigen Personen mit einer herausgehobenen Stellung, die in der Lage sind, gesellschaftliche Entwicklungen zu beeinflussen. Das schließt die Wirtschaftselite ein, aber auch Personen aus Politik, Justiz, Verwaltung, Wissenschaft, aus den Medien und gesellschaftlichen Organisationen mit großer Reichweite. Über Deutschlands Mächtigste gibt es der Sache nach nur sehr wenig belastbare Erhebungen. Elitenforscher gehen von einer Gruppe von etwa 1.000 Menschen aus, die als Mitglieder der Elite verstanden werden können. Wie setzt sich dieser kleine Kreis zusammen? Mehrheitlich aus sozialen Aufsteigern oder aus Bürgerund Großbürgerkindern? Forschungsarbeiten von Michael Hartmann gemeinsam mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung aus 2011/2012 zeigen deutlich, dass die Gruppe der deutschen Eliten nicht repräsentativ aus der Bevölkerung zusammengesetzt ist. Deutschlands Elite ist sehr geschlossen. 2/3 der Menschen sind in gut situierten Verhältnissen aufgewachsen, Arbeiterkinder besetzen nicht einmal jede achte Eliteposition: „Vier von fünf Spitzenmanagern stammen aus den oberen dreieinhalb bis fünf Prozent der Bevölkerung. In der Justiz sind es zwei von drei Personen, in der Verwaltung fast ebenso viele. In den privaten Medien kommen drei von vier aus der oberen Schicht, in den öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten ist es wie in der Politik: halbe-halbe. Auch da sind Bürger- und Großbürgerkinder noch deutlich überrepräsentiert. […] Es ist ein Indiz dafür, wie sozial undurchlässig unsere Gesellschaft ist. Und wie stark Vermögen, Macht und ähnliches von einer Generation auf die nächste vererbt werden.“20 Harald Schumann Welche Effekte dies hat, liegt auf der Hand: „Die Gewöhnung an Macht hat zur Konsequenz, dass man für sich oft andere Regeln reklamiert als die, die für den Rest der Bevölkerung gültig sind. Das gilt wieder ganz besonders für jene Elitemitglieder, denen die Verfügung über gesellschaftliche Macht schon aus der Familie vertraut ist. Wer einen Großunternehmer, ein Vorstandsmitglied, einen Gerichtspräsidenten oder einen Klinikchef zum Vater hatte, der hat meist schon in seiner Kindheit und Jugend erfahren, dass für ihn andere Regeln galten als für die Normalbevölkerung. […] Die Kehrseite der Parallelgesellschaft oben ist die Parallelgesellschaft unten. […] Es geht um den Rückzug eines erheblichen Teils der deutschen Bevölkerung, vorwiegend aus deren unterem Drittel, aus den politischen Willensbildungsprozessen. Besonders deutlich wird das bei der Wahlbeteiligung. […] Besonders häufig zur Wahl geht man in den gutbürgerlichen Wohnvierteln mit geringer Arbeitslosenquote, hohen Einkommen und Bildungsabschlüssen, besonders selten in den 19 20 Schumann, Harald (2016): Die Herrschaft der Superreichen. Blätter 12/2016, Seite 67-78. Hartmann, Michael (2016) im Interview mit DerFreitag „Spitzenmanager sind da nur arme Schlucker“ 7 Wohnvierteln mit hoher Arbeitslosigkeit und niedrigem Bildungs-stand. […] Wenn "die da unten" nicht mehr wählen gehen, so liegt der wesentliche Grund darin, dass sie sich von "denen da oben" nicht mehr vertreten und zunehmend auch aus der Gesellschaft ausgegrenzt fühlen. […] Für die Zukunft der parlamentarischen Demokratie und der Gesellschaft insgesamt ist das eine dramatische Entwicklung.“21 Michael Hartmann Zuletzt ist die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem „Establishment“ anhand von vielen Beispielen deutlich geworden. Manche Gruppen bauen gar kompromisslosen Hass auf. Unbestritten ist jedoch: Das Vertrauen in die Eliten sinkt bedrohlich: Nur jeder Vierte glaubt, Politiker verträten die Interessen der Bevölkerung. Jeder Dritte ist der Ansicht, die meisten Führungskräfte seien korrupt. Weitere 43% sagen das zumindest über „einige“ Manager und Vorstände. Etwa Vier von zehn Menschen denken, dass die Medien Sachverhalte verdrehten, Informationen verheimlichten und seitens der Regierung vorgegeben bekämen, worüber zu berichten ist. Jeder Zweite geht davon aus, dass Journalisten die Mächtigen stützten, statt sie zu kontrollieren.22 Wenn der Unmut derart groß und Vertrauen offensichtlich verloren gegangen ist, stellt das eine reale, immense Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt dar. 4. Deutschlands Reiche Statistisch gesehen besitzen die Menschen in Deutschland so viel Geldvermögen wie nie zuvor. Auf den Rekordwert von 5,401 Billionen Euro beziffert die Deutsche Bundesbank das Vermögen privater Haushalte in Form von Bargeld, Wertpapieren, Bankeinlagen sowie Ansprüchen gegenüber Versicherungen Ende des zweiten Quartals 2016. Eine gute Nachricht, könnte man meinen. Die traurige Realität ist jedoch: Das Vermögen ist immer ungleicher verteilt. Es sammelt sich bei den oberen Prozenten der Bevölkerung. Schaut man sich an, wie wenig Vermögende hierzulande abgeben müssen, erkennt man drastischen Handlungsbedarf. Die Belastungen für Vermögende sind in Deutschland noch nicht einmal halb so hoch wie im OECD-Durchschnitt: Steuern auf Vermögen in Prozent des BIP, 2013. Eigene Darstellung; Datenquelle: OECD 21 22 Hartmann, Michael (2014): Deutsche Eliten: Die wahre Parallelgesellschaft?; APUZ 15/2014. Frankfurter Allgemeine Woche: Titelthema Eliten am Pranger. 02.12.2016. S. 14. 8 Dünne Datenbasis Im Jahre 2016 zählte das US-Wirtschaftsmagazin "Forbes" 120 Milliardäre und Multimilliardäre mit deutscher Staatsangehörigkeit – im Jahr 2002 standen erst 34 Deutsche auf der Liste des globalen Geldadels. Abseits dessen gibt es jedoch große Datenlücken. Da es keine Vermögensteuer mehr gibt, fehlen amtliche Daten zum Besitz von Superreichen. Offizielle Registerdaten zur Vermögenssituation liegen für Deutschland nicht vor.23 An Befragungen nehmen sie in der Regel nicht teil, weil diese freiwillig sind. Sie kommen in den Verteilungsstatistiken der Bundesrepublik daher kaum vor24. Befragungen arbeiten mit Zufallsstichproben und die Chance, einen Multimillionär zu ziehen, ist freilich sehr gering. Die reichsten Haushalte sind in den Statistiken deutlich unterrepräsentiert und die Wissenschaft nimmt an, dass die wirkliche Ungleichheit noch weit höher ist als es die Zahlen anzeigen. Hinzuschätzungen aufgrund der Forbes-Liste gehen davon aus, dass sich das aggregierte Nettogesamtvermögen aller privaten Haushalte je nach Szenario um ein Drittel bis etwa 50% erhöht, wenn man die Superreichen miteinbezieht. Dieses zusätzliche Vermögen liegt ausschließlich in den Händen einiger weniger Menschen, wodurch der Anteil der reichsten 1% der Deutschen (das entspricht rund 400.000 Haushalten) am gesamten Nettovermögen von rund einem Fünftel auf rund ein Drittel steigt. Hierbei handelt es sich jedoch nur um Simulationen – man müsste die Datengrundlage verbessern, um Reiche sind in den Statistiken unterrepräsentiert. verlässliche Angaben zu erhalten.25 Reichtum ist in Deutschland insgesamt wenig erforscht. Diese Auffälligkeit ist sicher kein Zufall und macht deutlich, dass es hier nicht nur wissenschaftlichen Nachholbedarf gibt. Der Staat weiß bestens Bescheid über die Einnahmen eines Hartz-IV-Empfängers, jedoch nur wenig über das genaue Vermögen der Superreichen. Erst seit 2001 gibt es auf Antrag der SPD und der Grünen statt eines reinen Armutsberichts einen nationalen Armuts- und Reichtumsbericht. Die Faktenlage ist jedoch immer noch sehr dünn. Quellen von Reichtum Abschätzen kann man jedoch zumindest, wo der Reichtum Hochvermögender herkommt. Auf Basis einer nicht repräsentativen Erhebung des DIW Berlin und der Universität Potsdam26 wissen wir, dass Erbschaften und Schenkungen eine bedeutende Quelle von Reichtum sind. Demnach haben drei von vier Reichen in Deutschland geerbt. Zwei Drittel geben an, eine Erbschaft oder Schenkung sei der wichtigste Faktor für ihre Vermögenssituation. Die öffentliche Aufmerksamkeit konzentriert sich zwar oft auf die Spitzenmanager – wir müssten jedoch viel mehr über Drei von vier Reichen jene reden, die große Unternehmen oder Aktienpakete erben haben geerbt. Deutschland nicht die eigene Leistung, mit der man sich oder geschenkt bekommen. Es ist also im Wesentlichen in hocharbeiten kann, es ist schlichtweg das Glück einer reichen 23 24 25 26 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: DIW Wochenbericht Nr. 07/2015. Hans-Böckler-Stiftung: Reichstes Prozent dürfte rund ein Drittel des Privatvermögens in Deutschland besitzen – Neue Studie mit Schätzungen zu Superreichen; Pressemitteilung vom 11.02.2015. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: DIW Wochenbericht Nr. 07/2015. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: DIW Wochenbericht Nr. 42/2016. 9 Familie. Diese Zahlen sind so eindeutig; die milde Erbschafts- und Schenkungssteuer in Deutschland trägt zu dieser Fehlentwicklung bei. Eine immer drastischere Spaltung in Arm und Reich lässt sich erkennen – sowohl in Bezug auf Vermögen als auch in Bezug auf Einkommen. Und das sogar, ohne dass die Millionäre in den Statistiken berücksichtigt werden. Im zeitlichen Verlauf zeigt sich bei beiden Aspekten, dass der Koeffizient27 zur Berechnung der Ungleichheit sich ins Negative entwickelt hat. Gründe für das starke Auseinanderklaffen zwischen Arm und Reich sind die unzureichende Besteuerung von Vermögen und Kapitalgewinnen sowie die unverhältnismäßigen Einkommensunterschiede, die ihre Ursache u. a. in der Ausweitung des Niedriglohnsektors haben. Verdienten beispielsweise vor 30 Jahren die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung fünf Mal so viel wie die ärmsten zehn Prozent, liegt das Verhältnis heute bei sieben zu eins.28 Schaut man sich eine noch kleinere Gruppe an, nämlich die Spitzenmanager der großen Unternehmen, so stellt man mit Erschrecken fest: Die Manager der DAX-30-Unternehmen verdienen durchschnittlich das 57-Fache ihrer Beschäftigten. Die Verdienstrelationen in deutschen Unternehmen variieren stark von 141:1 bei VW bis 17:1 bei Beiersdorf.29 Vorstände erhielten 2014 so viel mal mehr als die übrigen Beschäftigten… Darstellung: Hans Böckler Stiftung (2016): Böckler Impuls 16/2016. Bei einer noch kleineren Gruppe, den Vorstandsvorsitzenden, sieht das Verhältnis je nach Studie mit 167:1 bzw. 175:1 noch absurder aus.30 Diese Relation ist im internationalen Vergleich sehr hoch. Während ein deutscher CEO31 also etwa das 170-Fache eines normalen Arbeitnehmers bekommt, erhält sein japanischer Kollege „nur“ das 67-Fache.32 Selbst Japan als strikt marktwirtschaftlich ausgerichtetes Land mit einer breit aufgestellten, technologisch hoch entwickelten und exportorientierten Wirtschaftsstruktur steht damit besser da als Deutschland. Eine Quote, nach der das Vorstandsgehalt ein bestimmtes Verhältnis zum Durchschnitt der Belegschaft oder zum niedrigsten Einkommen im Unternehmen nicht überschreiten darf, wird hierzulande, aber auch international, oft diskutiert. Das israelische Parlament verabschiedete im März 2016 dazu ein Gesetz. Versicherungs- 27 28 29 30 31 32 Der Gini-Koeffizient ist ein statistisches Standardmaß zur Messung der Ungleichheit einer Verteilung. Am häufigsten eingesetzt wird der Koeffizient zur Bestimmung von Einkommensungleichheit und Vermögensungleichheit. OECD: FOCUS on Inequality and Growth. Dezember 2014. Hans-Böckler-Stiftung: Mitbestimmungs-Report Nr. 25. Oktober 2016; Bloomberg; IWF: Global CEO Pay-to-Average Income Ratio Deutscher Gewerkschaftsbund: Verteilungsbericht 2016. Englisch für Vorstandsvorsitzender. OECD.Stat database. Berechnungen basieren auf den jährlichen Managergehältern von 2011 des Nikkei 225, dem japanischen Leitindex. 10 und Bankenchefs dürfen demnach höchstens 35-mal mehr verdienen als der am niedrigsten bezahlte Mitarbeiter ihres Unternehmens.33 Reichtum bedeutet Macht Dass Reichtum und Macht zusammenhängen, bestreitet kaum jemand. Vermögende haben die Ressourcen und Zugänge, Politik und Medien nach ihren Präferenzen zu beeinflussen. So steuern sie beispielsweise das Abstimmungsverhalten in politischen Gremien, indem sie über ihre Lobbyisten Investitionen in Aussicht stellen.34 [Die Politiker] wissen, dass es die Konzerne, Banken und Superreichen sind, die mit ihren Investitionen über das Wohl und Wehe ihrer Staaten, Bundesländer und Kommunen entscheiden. Sie haben erfahren, dass es eben die Vermögenden und deren Sachwalter an den Schaltstellen der großen Unternehmen sind, die ganz wesentlich die öffentliche Meinung beeinflussen können. Denn sie verfügen nicht nur über die Investitionen, sie verfügen auch über die Mittel, sich dafür das richtige gesellschaftliche Klima zu schaffen. Die einfachste, aber höchst wirksame Methode ist die Manipulation der Journalisten und Medien. Sie können zum Beispiel über Studien, Stiftungen, Thinktanks, Kongresse und Veranstaltungen aller Art einen endlosen Strom von Aussagen zu einem bestimmten Thema herstellen. […] Eine weitere gängige Methode ist die gegenseitige Instrumentalisierung von Lobbyisten und Politikern. Gute Lobbyisten haben Zugriff auf große Ressourcen und können Studien, gute Informationen und vor allem tolle, fernseh- und wählerwirksame Auftritte organisieren. Das hilft, die Stellung in der Fraktion und Partei abzusichern. Im Gegenzug kann man dann ruhig das eine oder andere Gesetz durchwinken.35 Harald Schumann 5. Deutschlands Mittelschicht In Studien wird häufig die finanzielle Definition der „Mittelschicht“ herangezogen, um den wirtschaftlichen Status einer Person zu erfassen. Sie umfasst Menschen, die (je nach Forschungsdesign) zwischen 60% bzw. 67% und 200% des Medianeinkommens36 verdienen. Oft zählen sich mehr Personen zur Mittelschicht als es den Zahlen nach tatsächlich sind. Angehörige dieser Schicht definieren sich meistens über: Soziodemographische Merkmale (Bildungsstand, Erwerbsstatus, soziale Lage) Finanzielle Kriterien (Einkommen, Vermögen) Subjektive Zuordnungen (Wertvorstellungen/Selbsteinschätzung) Nicht zu verwechseln ist die Mittelschicht jedoch mit der politischen Mitte, welche einen Standpunkt im politischen Spektrum zwischen links und rechts beschreibt. Die Mittelschicht wird also von der Unterund Oberschicht abgegrenzt; die politische Mitte wird hingegen von extremistischen Einstellungen abgegrenzt, die auf eine Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates fußen. Die zwei Ansätze – 33 34 35 36 Süddeutsche Zeitung online (2016): Israel verordnet Bankern Mini-Gehälter. Schumann, Harald (2016): Die Herrschaft der Superreichen. Blätter 12/2016, Seite 67-78. Schumann, Harald (2016): Die Herrschaft der Superreichen. Blätter 12/2016, Seite 67-78. Der Median wird gebildet, in dem man alle Haushalte nach ihrem Nettoäquivalenzeinkommen aufreiht und dann bemisst, wie viel der Haushalt besitzt, der sich in der Mitte befindet. 11 einer finanzieller, einer ideeller Natur – werden oft vermischt, wenn über „die Mitte der Gesellschaft“ diskutiert wird. Es lässt sich beobachten, dass der Gruppe der Einkommensmittleren immer weniger Menschen angehören. Stattdessen wandern sie ab – sowohl am oberen (hohes Einkommen) als auch am unteren Rand (geringes Einkommen) nimmt die Anzahl der Menschen zu. Damit schmilzt die Mittelschicht, die Einkommensschere wird immer größer. Verschiedene Studien berechnen, dass die Mittelschicht in Deutschland seit 1991 um 5% bzw. 6% geschmolzen ist. Die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer Verteilung der Einkommensschichten Niedrigeinkommen: weniger als 50% des Medians Untere Mitte: 50% - weniger als 67% des Medians Mittlere Einkommen: 67% - 200% des Medians Obere Mitte: mehr als 200% - 300% des Medians Hohe Einkommen: mehr als 300% des Medians Darstellung: DIW Berlin: DIW Wochenbericht 18.2016 Betrachtet wird das Haushaltseinkommen vor Steuern und Abgaben normiert auf 3-Personen-Haushalt Wie ist das Schrumpfen der Mittelschicht trotz des Beschäftigungszuwachses der letzten Jahre zu erklären? Das ist zum einen auf den sektoralen Wandel hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft zurückzuführen. Wir beobachten, dass der Anteil der Arbeitnehmerentgelte am Volkseinkommen in Deutschland seit 1980 um 5 Prozentpunkte gesunken ist. Das heißt, Einkommen aus abhängiger Beschäftigung verlieren an Bedeutung; Einkommen aus Kapitalverzinsung, Selbstständigkeit oder auch Mieteinkünfte gewinnen an Bedeutung. Die Löhne im Dienstleistungsbereich sind in Deutschland im Schnitt geringer als im gewerblichen Bereich, der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist niedriger und mehr Menschen sind in Teilzeit tätig.37 Zum anderen ist auch die politische Steuerung maßgeblich für das Schrumpfen der Mittelschicht. Ein Effekt der Agenda 2010 war beispielsweise die Ausweitung des Niedriglohnbereiches. Die Folge der Einführung eines fixen Steuersatzes auf Kapitalerträge war, dass vor allem sehr Vermögende weniger Steuern zu zahlen hatten. Durch die Reformprozesse der vergangenen Regierungen geht die Mittelschicht als Verlierer hervor, und zwar sowohl in Zeiten der Krise als auch in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs. Menschen, die dieser Kategorie angehören, tragen den Hauptteil der sozialen Abgaben. Auch der Großteil der Staatsverschuldung, die durch die Finanzkrise ausgelöst wurde, wird von der Mittelschicht bezahlt. Dennoch ist es größtenteils nicht die Mittelschicht, die vom Wirtschaftswachstum profitiert. Das liegt wie bereits erwähnt daran, dass Vermögenseinkommen viermal so schnell wachsen wie Arbeitnehmerentgelte38. Während der Lohn eines Arbeitnehmers nur mühsam steigt, vermehren sich die Gewinne aus Aktien- und Immobilienbesitz beispielsweise prächtig. Das heißt, diejenigen, die 37 38 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: DIW Wochenbericht Nr. 18.2016. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: DIW Wochenbericht Nr. 25/2015. 12 ohnehin sehr vermögend sind, profitieren am meisten. Frustration macht sich breit und das Vertrauen in die Chancengleichheit als elementarer Baustein der Bundesrepublik sinkt. Die Mittelschicht stellt zwar den Hauptteil der Wähler dar, jedoch wird Politik eher für die Vermögenden gemacht. Mittlerweile sind auch große Teile der Mittelschicht von Abstiegsängsten betroffen. In einigen größeren Städten ist es keine Ausnahme mehr, dass sich Familien nur mit Ach und Krach die Miete leisten können, obwohl beide Elternteile arbeiten. 6. Deutschlands Arme Armut ist als Mangel an Verwirklichungschancen zu sehen. Dabei geht es auch darum, welche Auswahlmöglichkeiten Menschen für eine selbstbestimmte Entwicklung haben. 39 Es ist daher ein Begriff, der sich sinnvoller Weise nicht nur an existenziellen Grundlagen (Wohnung, Kleidung, Essen, etc.) orientiert, sondern auch an Kriterien wie gesellschaftlichem Ausschluss und mangelnder Teilhabe. Zur Berechnung der Armutsgefährdung wird eine relative Grenze herangezogen. Haushalte, die über weniger als 60 % des mittleren Einkommens40 einer Gesellschaft verfügen, werden zu dieser Kategorie gezählt. Dass Armut nicht nur bedeutet, sich keine Urlaubsreise leisten zu können, ist lange bekannt. Erwiesen sind die negativen Korrelationen mit Lebenserwartung, psychischer Gesundheit, Teenagerschwangerschaften, Kriminalität, Drogenmissbrauch und ähnlichem. Doch auch in einem so reichen Land wie Deutschland müssen wir beobachten, dass Armut teilweise Existenzen bedroht. Um das Ausmaß zu erfassen, wird auf EU-Ebene seit 2010 der Anteil der Bevölkerung mit erheblichen materiellen Entbehrungen gemessen. In Deutschland konnten 2014 etwa 5% der Bevölkerung ihre Wohnung aus finanziellen Gründen nicht angemessen heizen. Knapp 33% und damit jeder Dritte in der Bevölkerung konnte unerwartet anfallende Ausgaben – z. B. für Reparaturen; in Höhe von 980 Euro – nicht aus eigenen Finanzmitteln bestreiten. Für knapp 8% der Bevölkerung war es aus finanziellen Gründen nicht möglich, jeden zweiten Tag eine Mahlzeit mit Fleisch, Geflügel oder Fisch oder eine hochwertige vegetarische Mahlzeit zu essen. 41 39 40 41 Der Paritätische Gesamtverband (2017): Stellungnahme des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband e.V. zum Entwurf eines 5. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung. Beim mittleren Einkommen handelt es sich nicht um das geläufige Durchschnittseinkommen. Dieses wird ermittelt, indem man alle Haushaltseinkommen addiert und die Summe dann durch die Anzahl der Haushalte teilt (arithmetisches Mittel). Es wird stattdessen der sogenannte Median, der mittlere Wert, errechnet: Alle Haushalte werden nach ihrem Einkommen der Reihe nach geordnet, wobei das Einkommen des Haushalts in der Mitte der Reihe den Mittelwert darstellt. Der Unterschied zwischen arithmetischem Mittel und Median kann sehr groß sein. In Euro lag der so ermittelte Wert, den die amtliche Statistik als Armutsgefährdungsschwelle bezeichnet, 2014 für einen Single bei 917 Euro und für einen Paarhaushalt mit zwei kleinen Kindern bei 1.926 Euro. (Der Paritätische Gesamtverband: Zeit zu handeln. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2016.) Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): materielle Entbehrungen. 2016. 13 Eigene Darstellung; Datenquelle: Bundeszentrale für politische Bildung (2016) Die offizielle Armutsquote in Deutschland ist mittlerweile auf ein Rekordniveau gestiegen. Heute sind 12,5 Mio. Menschen (15,7% der Bevölkerung42) von Armut bedroht. Das sind nur die offiziellen Zahlen. Darüber hinaus gibt es ein erhebliches Maß an „verdeckter Armut“. Viele Menschen nehmen Sozialleistungen nicht Anspruch, obwohl sie es könnten. Etwa jeder Dritte macht seinen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung nicht geltend. 43 Aber auch, wer Unterstützung einfordert, kommt damit oft nicht über die Runden. 40% der Hartz-IV-Bezieher können sich z. B. zuzahlungspflichtige medizinische Behandlungen wie den Zahnersatz oder eine Brille nicht leisten. 44 Sinnvoller Weise sollten bei Armutsanalysen auch die regionalen Preisunterschiede und die jeweilige Kaufkraft beachtet werden. Die Lebenshaltungskosten variieren stark. Aus diesem Grund rechnen manche Studien mit der sog. Kaufarmutsquote. Dabei zeigen sich besonders hohe Unterschiede zwischen Stadt und Land. 22% der Städter können als kaufkraftarm bezeichnet werden, dagegen 14% der Personen auf dem Land. Das Stadt-Land-Gefälle beträgt bei der Einkommensarmut 4,7 Prozentpunkte, bei der Kaufkraftarmut sogar 7,9 Prozentpunkte und ist damit deutlich höher als die OstWest-Differenz.45 Besondere Risikogruppen von Armut sind vor allem Kinder und Jugendliche, Alleinerziehende, kinderreiche Familien, Erwerbslose sowie Menschen mit nur niedrigen oder ganz ohne Bildungsabschlüssen und mit Migrationshintergrund. Über 40% der Alleinerziehenden und fast 60% der Erwerbslosen in Deutschland sind arm. Und zwar mit einer seit 2006 ansteigenden Tendenz. Der wohl gravierendste statistische Befund ist der, dass sich bei all den aufgezählten, besonders von Armut betroffenen Gruppen in den letzten Jahren so gut wie nichts bewegt hat 46. Der Schritt von der Armut in die Überschuldung ist für viele kurz. Hierzulande sind 10,1 % der volljährigen Bevölkerung überschuldet, d.h. sie können ihren Zahlungsverpflichtungen über einen längeren Zeitraum nicht nachkommen und geraten in eine dauerhafte Überschuldungsspirale. Seit Jahren ist diese Tendenz steigend. Dabei ist übermäßiges Konsum- und Ausgabenverhalten nur im 42 43 44 45 46 Statistisches Bundesamt. Ergebnisse des Mikrozensus. Stand 2015. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Soziales/Sozialberichterstattung/Tabellen/ArmutsgefaehrungsquoteBun deslaender.html Der Paritätische Gesamtverband (2017): Stellungnahme des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband e.V. zum Entwurf eines 5. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung. Der Paritätische Gesamtverband (2017): Stellungnahme des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband e.V. zum Entwurf eines 5. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung. Institut der deutschen Wirtschaft Köln (2016): Welche Regionen sind in Deutschland besonders von Armut betroffen? Der Paritätische Gesamtverband: Zeit zu handeln. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2016. 14 geringen Umfang für die Überschuldung verantwortlich, meist sind es der Verlust des Arbeitsplatzes, Unfälle, schwerwiegende Erkrankungen oder Trennungen. 47 6.1 Kinder und junge Menschen Kinderarmut ist keine Seltenheit. Sie ist in Deutschland auf 19% gestiegen – damit ist jedes fünfte Kind betroffen. Sie befindet sich seit einigen Jahren auf durchweg hohem Niveau und liegt über der durchschnittlichen Armutsquote von 15,7%48. Junge Menschen zwischen 18 und 24 sind sogar mit 24,6% betroffen. Laut einem Bericht der Bertelsmann Stiftung wachsen in Deutschland sogar mehr als 17% der unter Dreijährigen in Familien auf, die von staatlicher Grundsicherung leben49. In einigen Gegenden Deutschlands ist bereits die dritte Generation arbeitslos. Kinder, die in ein solches Umfeld geboren werden, haben fast keine Möglichkeiten, aus diesem herauszukommen. Jedes fünfte Kind ist arm. Von „Chancengleichheit“ kann also keine Rede sein. Wachsen Kinder in finanziell desolaten Verhältnissen auf, so hat dies weitreichende Folgen, sowohl für ihre weitere Entwicklung als auch hinsichtlich ihrer Aussichten auf dem Arbeits- und damit Kapitalmarkt. Studien haben ergeben, dass Kinder aus ärmeren Familien sich oft schlechter konzentrieren können und schlechter Deutsch sprechen als nicht armutsgefährdete Kinder 50. Dies erhöht die Schwierigkeit, einen hohen formalen Bildungsgrad zu erreichen und verringert die Chance auf einen guten Job. Während 77% der Akademikerkinder in Deutschland studieren, tun dies nur 23% der Nichtakademikerkinder51. Auch von der OECD wird Deutschland immer wieder deutlich kritisiert, wenn es um Gerechtigkeit in der Bildung geht. 6.2 Alleinerziehende Kinderarmut ist ganz wesentlich auf die Armut Alleinerziehender zurückzuführen. Heute wachsen 2,3 Mio. Kinder bei nur einem Elternteil auf. Die Hälfte der Alleinerziehenden erhält überhaupt keinen Unterhalt für ihre Kinder. Weitere 25% bekommen nur unregelmäßig Unterhalt oder weniger als den Mindestanspruch. Obwohl die Mehrheit der Alleinerziehenden erwerbstätig ist, kommen sie oft nicht über die Armutsgrenze. Etwa sechs von zehn alleinerziehenden Müttern sind erwerbstätig – das entspricht dem gleichen Verhältnis bei verheirateten Müttern oder Lebenspartnerinnen.52 In Deutschland werden Alleinerziehende steuerlich nicht ausreichend entlastet. Sie zahlen fast genauso viel wie Singles ohne Kinder und haben einen viel zu niedrigen Freibetrag von nur 1908 Euro/Jahr. Sie sind damit schlechter gestellt als beispielsweise ein kinderloses Jede(r) dritte Alleinerziehende in Hartz IV 47 48 49 50 51 52 DGB (2016): klartext 44/2016. Ohne Job: Arm und hochverschuldet. Der Paritätische Gesamtverband: Zeit zu handeln. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2016. Bertelsmann Stiftung, ZEFIR (Hrsg.): Aufwachsen in Armut gefährdet Entwicklung von Kindern - Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchung. 2015. Bertelsmann Stiftung, ZEFIR (Hrsg.): Aufwachsen in Armut gefährdet Entwicklung von Kindern - Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchung. 2015. Bundesministerium für Bildung und Forschung: Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2012. 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks 2013 Bertelsmann Stiftung (2016): Alleinerziehende unter Druck. 15 Ehepaar, bei dem nur einer arbeitet und welches damit maximal vom Ehegattensplitting profitiert. 53 Jede fünfte Familie ist alleinerziehend. 89% der Betroffenen sind Frauen. Das Armutsrisiko betrug bei Alleinerziehenden im Jahr 2014 nach den Ergebnissen des Mikrozensus 41,9%. Demgegenüber hatten Paare ein Armutsrisiko von 9,6% bei einem Kind, 10,6% bei zwei Kindern und 24,6% bei mindestens drei Kindern. Ein-Eltern-Familien sind mit einem Anteil von 37,6% etwa fünfmal häufiger im SGB-IIBezug als Paarfamilien. Das bedeutet, mehr als jede dritte Ein-Eltern-Familie erhält Hartz IV. 35% der alleinerziehenden Eltern im SGB-II-Bezug sind erwerbstätig, sind also sogenannte Aufstocker. Sie können trotz Erwerbstätigkeit nicht den Lebensunterhalt für ihre Familie bestreiten. 54 Von den 1,92 Mio. Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren, die von Hartz IV leben, lebt etwa die Hälfte in Alleinerziehenden-Haushalten. Kinderarmut ist damit zur Hälfte auf die Armut von Alleinerziehenden zurückzuführen.55 6.3 Frauen Bis heute gilt: Frauen besitzen im Schnitt nur 72% des Vermögens von Männern. Die Gründe hierfür sind sowohl im geringeren Einkommen – teils bei gleicher Arbeit – als auch durch die nicht erwerbstätige Zeit während der Kindererziehung zu finden56. Zudem werden gerade die sogenannten „Minijobs“ und andere „atypische Jobs“ überwiegend von Frauen ausgeübt. Diese weisen weitaus schlechtere Konditionen als reguläre Arbeitsverträge auf. Im Regelfall sind es Frauen, die z. B. Familienmitglieder pflegen oder aus ähnlichen Gründen in Teilzeitbeschäftigung gehen. 2014 war mit 47% fast jede zweite erwerbstätige Frau in Teilzeit beschäftigt (Männer 9%), ein erheblicher Teil dabei nicht freiwillig. 57 Zusätzlich arbeiten gerade in schlechter bezahlten Branchen deutlich mehr Frauen als Männer. Zwei Drittel aller Niedriglohnempfänger sind Frauen. 58 Davon abgesehen erreichen Frauen seltener Führungspositionen und eine damit 7% weniger einhergehende höhere Vergütung. Etwa vier von fünf Chefsesseln werden von Männern besetzt.59 Das immense Gender Pay Gap von 21% ist also immer noch ein großes Lohn bei gleicher Arbeit Problem. Seit vielen Jahren bleibt das Niveau fast konstant. Mit diesem hohen Wert steht Deutschland im internationalen Vergleich schlecht da. Der EU-Durchschnitt liegt bei 16% - Deutschland belegt den viertletzten Platz.60 Das Prinzip FairPay funktioniert bei uns also leider noch nicht. Verdient ein Mann einen Euro, verdient eine Frau 79 Cent. In keinem einzigen Wirtschaftszweig verdienen Frauen mehr als Männer. Selbst bei gleicher Qualifikation und Tätigkeit liegt der Verdienstunterschied immer noch bei etwa 7%.61 53 54 55 56 57 58 59 60 61 Wüllenweber, Walter (2016): Ist das gerecht? In: Stern. 08.12.2016, S. 28. Bertelsmann Stiftung (2016): Alleinerziehende unter Druck. Bertelsmann Stiftung (2016): Alleinerziehende unter Druck. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (Hrsg.): DIW Wochenbericht Nr. 9/2014 vom 26.02.2014 Statistisches Bundesamt, Arbeitsmarkt auf einen Blick – Deutschland und Europa, 2016 ARD: Beckmann - Die geteilte Gesellschaft. Sendung vom 31.05.16. Statista. Stand Juni 2016. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/182510/umfrage/frauenanteil-in-fuehrungspositionen-nachunternehmensgroesse/ Statistisches Bundesamt, Arbeitsmarkt auf einen Blick – Deutschland und Europa, 2016 Statistisches Bundesamt, Daten von 2015. 16 6.4 Arm trotz Arbeit Insgesamt gibt es in Deutschland gut 43,5 Mio. Erwerbstätige, das ist der höchste Stand seit der deutschen Wiedervereinigung. Die Erwerbslosenquote war 2016 so niedrig wie noch nie seit 1991. 62 Zwar klingt die Statistik nach einem großen Erfolg, sie bildet aber entscheidende Probleme nicht ab. Ja, in den letzten Jahren sind immer mehr Menschen in Arbeit gekommen. Zugleich ist aber auch der Anteil der Menschen gestiegen, die sich in „atypischer“ oder gar „prekärer“ Beschäftigung befinden. Einen Job zu haben, bedeutet nicht automatisch, fair bezahlt zu werden und sichere Einkommensverhältnisse zu genießen. So ist der Organisationsgrad in einigen Branchen sehr gering und es existiert kein Tarifvertrag. Die Tarifbindung liegt in Deutschland nur bei etwa 60% (West) bzw. 47% (Ost). 63 Wann ist Beschäftigung also „atypisch?“ Die wesentlichen Merkmale des „Normalarbeitsverhältnisses“ sind vor allem ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis in Vollzeit und ohne Befristung, ein existenzsicherndes Einkommen, der Schutz durch die Systeme der Sozialversicherung und die direkte Tätigkeit in dem Unternehmen, mit dem das Arbeitsverhältnis besteht. Strittig ist, unter welchen Bedingungen eine atypische Beschäftigung zu einer prekären Beschäftigung wird.64 Typischer Weise werden die Leih- und Zeitarbeit, befristete Beschäftigung und Minijobs eher als prekär bezeichnet als die freiwillige sozialversicherungspflichtige Teilzeitarbeit. Gleichzeitig können ebenso reguläre (Vollzeit-) Arbeitsverhältnisse prekär sein, z. B. im Niedriglohnsektor. „Prekär“ beschäftigt zu sein, bedeutet schlichtweg: zu wenig Lohn, mangelnde Absicherung durch die Sozialversicherung, Zukunft ungewiss. Die Zunahme prekärer Beschäftigung hat in den letzten Jahren die Ungleichheit verstärkt. Eine beachtliche Zahl an Menschen ist in Deutschland von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht, obwohl sie arbeiten. Arm trotz Arbeit – auf diese Gruppen trifft das größtenteils zu: Aufstocker, Niedriglohnempfänger, Leiharbeitnehmer, Dauer-Praktikanten und unfreiwillig in Teilzeit Angestellte. Zusammen machen sie einen bedeutend großen Anteil der Beschäftigten aus. Auch manche SoloSelbstständige haben am Ende des Monats nicht genug Geld zum Leben, wobei sie damit nicht den Regelfall der Selbstständigen abbilden. Ebenso bilden Menschen mit befristeten Arbeitsverträgen eine große Risikogruppe. Fast jeder zehnte Beschäftigte war 2014 von Armut bedroht (9,7%).65 Die Quote hat sich in den vergangenen zehn Jahren fast verdoppelt. Nur ein Jeder zehnte Beschäftigte ist arm. Problem für Teilzeitangestellte? Keineswegs. 7,1 % der Vollzeitbeschäftigten droht Armut.66 Wer einen Arbeitsplatz hat, ist heute nicht mehr unbedingt vor Armut geschützt, das ist ein Skandal. Immer mehr Menschen nehmen neben ihrem Hauptberuf einen Zweitjob an, weil sie von ersterem nicht leben können. 2014 hatten 8,3% aller Erwerbstätigen in Deutschland mindestens einen zusätzlichen Job. Das sind 2,9 Mio. Beschäftigte, also etwa jeder Zwölfte. 67 62 63 64 65 66 67 Statistisches Bundesamt (2017). Pressekonferenz „Bruttoinlandsprodukt 2016 für Deutschland“ am 12. Januar 2017 in Berlin. Statement von Präsident Dieter Sarreither. Spannagel, Dorothee (2016). Hans-Böckler-Stiftung. Im Interview mit Zeit Online. Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen (2016). Zahlen der EU-Statistikbehörde Eurostat. Erhebung EU-SILC - LEBEN IN EUROPA (European Union Statistics on Income and Living Conditions). Zahlen der EU-Statistikbehörde Eurostat. Erhebung EU-SILC - LEBEN IN EUROPA (European Union Statistics on Income and Living Conditions). Außerdem: Zeit Online: Immer mehr Arbeitnehmer von Armut bedroht. 22. November 2016. Bundesagentur für Arbeit (2016): Beschäftigungsstatistik Mehrfachbeschäftigung. 17 Beschäftigte mit Niedriglohn Der Niedriglohnsektor umfasst mehrere Branchen, von der Gebäudepflege und Reinigung über das Taxigewerbe, den Gebäudeschutz bis hin zum Frisörhandwerk. Auch nach Einführung des Mindestlohns gibt es viel niedrig entlohnte Arbeit. Zwar ist es richtig, dass der Mindestlohn den untersten 10% der Bevölkerung ein spürbares Plus gebracht hat. Den seit der Wiedervereinigung messbaren Einkommensrückgang konnte diese Entwicklung jedoch nicht vollständig kompensieren. 68 Zudem gilt zu beachten, dass es in manchen Branchen eine vorübergehende Ausnahme vom Mindestlohn gibt und einige Arbeitgeber ihn gar umgehen. Schließlich erkennen wir, dass der Mindestlohn zwar ein wichtiger Schritt, aber nicht ausreichend war. Wenn insgesamt 40% der Jeder vierte bis fünfte Beschäftigte Bevölkerung im Vergleich zu 1999 Einkommensverluste haben69, dann ist es nicht genug, auf den Erfolg für die untersten 10% zu verweisen. erhält einen Jeder vierte bis fünfte Beschäftigte erhält heute einen Niedriglohn. Niedriglohn. bezeichnet das ein Stundenentgelt, das geringer ist als zwei Drittel Gemäß der Definition internationaler Organisationen (ILO, OECD) des mittleren Lohns. Der genaue Betrag tritt aber ohnehin in den Hintergrund. Unstrittig ist, dass mit einem Stundenlohn von 10 Euro, 11 Euro oder 12 Euro auch bei einer Vollzeitstelle nur mit Entbehrungen eine Familie zu finanzieren ist. Unter allen Beschäftigten arbeiteten im April 2014 den Angaben zufolge 21,4% zu Niedriglöhnen – sie verdienten weniger als 10 Euro brutto pro Stunde.70 Die Idee der Agenda 2010, dass Arbeitnehmer nach Einstieg in den Arbeitsmarkt schnell aus schlecht entlohnten Arbeitsverhältnissen aufsteigen, hat sich leider nicht bewahrheitet. Die Angestellten erhalten dauerhaft sehr geringe finanzielle Verdienste, meist entsprechen sie dem 2015 eingeführten Mindestlohn oder liegen knapp darüber. Dass dieses Lohnniveau nicht zum Leben reicht und wir daher eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns benötigen, ist augenscheinlich. Die Bundesregierung hat 2016 selbst berechnet und eingestanden, dass der Mindestlohn nicht überall in Deutschland das Existenzminimum sichert.71 Aufstocker Eine weitere Gruppe machen die „Aufstocker“ aus, also diejenigen, die trotz einer Beschäftigung staatliche Hilfe beziehen müssen. Rund 1,27 Mio. Erwerbstätige in Deutschland stockten 2014 ihr Einkommen mit Hartz-IV-Leistungen auf. Es handelt sich um sozialversicherungspflichtig Beschäftigte (in Voll- oder Teilzeit), Minijobber und Selbstständige. Die Mehrzahl machen Teilzeitangestellte und Minijobber aus. 2/3 aller Aufstocker haben eine Wochenarbeitszeit von weniger als 22 Stunden. 72 Auch der Anfang 2015 schrittweise eingeführte Mindestlohn trug nicht wirklich zur Reduzierung der 68 69 70 71 72 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (2017): DIW Wochenbericht Nr. 04/2017. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (2017): DIW Wochenbericht Nr. 04/2017. Angaben Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Drucksache18/10582. Spiegel Online: Bundesregierung berechnet: Mindestlohn reicht nicht zum Leben. 2016. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: IAB-Kurzbericht 19/2015. 18 Aufstocker-Zahlen bei.73 Nach einem kleinen Rückgang gab es im September 2015 noch ca. 1,13 Mio. Aufstocker.74 Die Zahlen sind damit weiterhin hoch. Leiharbeitnehmer Weiterhin ist auch Leiharbeitnehmer die betroffen, Gruppe der denn sie bekommen meist für die gleiche Arbeit weniger Geld als ihre Kollegen. Rund eine Mio. Leiharbeitnehmer gibt es in Deutschland. Bei zwei von drei liegt das Einkommen unter der Niedriglohnschwelle.75 Wieviel weniger als die Stammbelegschaft verdienen Leiharbeit- nehmer also? Abseits der systematischen Unterschiede zwischen den beiden Gruppen lässt sich auch innerhalb Anforderungsniveaus der gleichen ungleichgewichtige Entlohnung beobachten. Bei Helfern beträgt die Eigene Darstellung; Datenquelle: Bundesagentur für Arbeit 2016 Lohndifferenz 29%, bei Fachkräften 27% und bei Spezialisten 20%.76 Das 2016 verabschiedete Gesetz zur Verringerung des Missbrauchs von Leiharbeit ändert an dieser Lohndifferenz nur wenig. Es fordert gleiche Bezahlung erst nach 9 Monaten, doch nur jedes vierte Leiharbeitsverhältnis besteht überhaupt neun Monate oder länger. Solo-Selbstständige Auch wer selbstständig arbeitet, ist nicht unbedingt vor Armut geschützt. 2014 arbeiteten 4,2 Mio. Menschen in Deutschland als Selbstständige, davon etwa 1,85 Mio. mit Beschäftigten und ca. 2,35 Mio. ohne Beschäftigte. Ihre Einkommen variieren sehr stark, deutlich stärker als bei Angestellten. So ist der Stundenverdienst des oberen Viertels der Einkommensskala acht bis neun Mal so groß wie der Stundenverdienst des unteren Viertels. Bei den Arbeitnehmern beträgt das Verhältnis knapp 4:1.77 Zwar ist richtig, dass Selbstständige im Schnitt mehr pro Stunde verdienen als abhängig Beschäftigte 78, aufgrund der hohen Streuung ist es jedoch nicht ratsam, allein auf das Eine halbe Million Durchschnittseinkommen zu schauen. Insbesondere die sogenannten Solo-Selbstständigen, also die Unternehmer ohne Selbstständige verdient unter Angestellte, zählen zur Risikogruppe. Zwar nehmen ihre Zahl insgesamt und auch die Zahl derer mit geringem Einkommen ab. Auch gibt es einige wenige mit sehr hohen Einkommen. Dennoch hat Mindestlohn. 73 74 75 76 77 78 Deutscher Bundestag: Drucksache 18/6740.; Astheimer, Sven: Warum der Mindestlohn den Aufstockern kaum hilft. Erschienen am 01.08.2016 auf faz.net. Deutscher Bundestag. Drucksache 18/8336. Deutscher Bundestag. Drucksache 18/9557. Bundesagentur für Arbeit (2016): Der Arbeitsmarkt in Deutschland – Zeitarbeit – Aktuelle Entwicklungen. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2016): Forschungsbericht 465. Solo-Selbständige in Deutschland – Strukturen und Erwerbsverläufe. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (2015): DIW Wochenbericht Nr. 7/2015. 19 immer noch jeder vierte Solo-Selbstständige ein Einkommen unter Mindestlohn.79 Das betrifft also etwa 500.000 – 600.000 Personen. Armut von heute wirkt auf morgen Alle in diesem Abschnitt beschriebenen Gruppen, ob mit oder ohne staatlichen Zuschuss, sind in zweifacher Auswirkung betroffen. Es ist nicht nur problematisch, dass sie heute nicht genug Geld zum Leben haben. Es ist genauso ein Problem, dass sie aufgrund ihres jetzigen Einkommens nur eine minimale Rente bekommen werden, die sie im Alter nicht versorgen kann. Welchen Lohn braucht es, um im Alter nicht auf Grundsicherung angewiesen zu sein? Sogar bei einem Lohn von 11,50 Euro/Std und 45 Arbeitsjahren mit einer 38,5 Std-Woche bekommt ein Rentner das gleiche wie die durchschnittliche Grundsicherung im Alter, das Hartz-IV für Rentner.80 6.5 Ältere Ebenfalls bedrohlich zugenommen hat in den letzten Jahren die Altersarmut, insbesondere unter Rentnerinnen und Rentnern. Erstmalig lag ihre Armutsquote 2014 mit 15,6% über dem Bundesdurchschnitt und somit waren sie leicht überproportional von Armut betroffen. Die beispiellose Dynamik Altersarmut nimmt dieses Anstiegs muss uns alarmieren. Die Armutsquote der Rentner liegt heute um 46% höher als 2005, als es noch 10,7% waren. Sie ist damit fast zehnmal rasant zu. so stark gewachsen wie die Gesamtquote. Die wichtigsten Faktoren für eine Absicherung im Alter sind Wohneigentum und die Rente/Pension. 63% des Bruttoeinkommens der ab 65-Jährigen stammen aus der gesetzlichen Rentenversicherung. 81 2015 wurden in Deutschland rund 25,52 Mio. Renten ausgezahlt, davon ca. 18 Mio. Altersrenten, ca. 1,8 Mio. Erwerbsminderungsrenten und ca. 5,4 Mio. Witwen- bzw. Witwerrenten.82 Gleichwohl stammen somit 37% der Bruttoeinkommen von Älteren aus anderen Quellen, z. B. aus anderen Alterssicherungssystemen. Altersrente Wenn von „der Rente“ gesprochen wird, ist häufig die normale Altersrente gemeint, die ab dem Erreichen einer bestimmten Altersgrenze gezahlt wird. Einerseits gibt es viele Menschen, die eine gute Rente bekommen, andererseits steigt die Zahl derer, die davon kaum mehr leben können. Das Rentenniveau bezeichnet das Verhältnis von Brutto-Gehalt und Brutto-Rente. So bekommt beispielsweise eine Arbeitnehmerin, die 2048 in Rente geht und im Berufsleben durchschnittlich 3.600 Euro brutto verdient, eine Rente von 1.670 Euro brutto (entspricht einem Rentenniveau von 46%). Davon werden jedoch noch Steuern und Sozialabgaben abgezogen. 83 79 80 81 82 83 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (2015): DIW Wochenbericht Nr. 36/2015. Heißler, Julian. Tagesschau.de: Es sinkt für Sie: das Niveau. 2016. Statista 2016. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/277940/umfrage/einkommensquellen-der-aelteren-bevoelkerung-indeutschland/ Statista 2016. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/207199/umfrage/gliederung-des-rentenbestands-der-rentenversicherungin-deutschland/ ZDF heute journal vom 25.11.2016 20 Es gibt jedoch immer mehr Erwerbsbiographien, die trotz Arbeit dazu führen, im Alter keine ausreichende Rente zu erhalten und in die Armut zu rutschen. Dazu gehören zum Beispiel ausgerechnet die Menschen, die sich als Pflegekraft oder Erzieher um Ältere, Kranke und Kinder kümmern. Der Wandel des Arbeitsmarktes führt zu einer Problematik im Alter. Die Bundesregierung berechnet selbst: Nur wer 45 Jahre lang ohne Unterbrechung arbeitet, bei einer Wandel des wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden, und einen Lohn von mindestens 11,68 Euro brutto erhält, wird im Alter eine Nettorente Arbeitsmarktes bedeutet oberhalb der Grundsicherung bekommen.84 Genau das ist für viele Menschen eine Wunschvorstellung. Es ist mittlerweile weniger Rente. nicht mehr selbstverständlich, 45 Jahre ohne Unterbrechung Vollzeit mit einem angemessenen Gehalt zu arbeiten. Das Berufseintrittsalter verschiebt sich immer weiter nach hinten. Viele Menschen arbeiten häufig in Teilzeit oder in Mini-Jobs und erwerben keine ausreichenden Rentenansprüche. Menschen im Niedriglohnbereich zahlen zu wenig ein. Gerade die unteren Gehaltsgruppen sind finanziell nicht in der Lage, zusätzlich privat vorzusorgen. Atypische Beschäftigung bleibt weit verbreitet: Fast vier von zehn Arbeitnehmer haben kein Normalarbeitsverhältnis. Sie arbeiten in Teilzeit, Leiharbeit oder Minijobs 85. Neu dazugekommen ist die sogenannte „Generation Praktikum“. Hochqualifizierte Universitätsabgänger absolvieren ein Praktikum nach dem anderen - oft unbezahlt und ohne Aussicht auf Übernahme, um wenigstens berufliche Erfahrungen zu sammeln. Dadurch kann kaum etwas in die Rentenkasse eingezahlt werden. Grundsicherung im Alter Diese Dynamik findet sich auch in der Entwicklung der Zahlen derer, die auf Grundsicherung im Alter angewiesen sind. Die Zahl der Bezieher von Altersgrundsicherung hat sich zwischen 2003 und 2014 mit einem Zuwachs von 99% praktisch verdoppelt. Mit der Absenkung des Rentenniveaus, welche bis 2030 schrittweise bis auf 43% vollzogen wird, ist davon auszugehen, dass sich dieser Trend drastisch fortsetzt. Für keine andere Bevölkerungsgruppe ist eine derart rasantere Armutsentwicklung anzunehmen86. Erwerbsminderungsrente Bei Weitem nicht jeder Arbeitsnehmer kann überhaupt bis zum Renteneintrittsalter arbeiten. Wer in Deutschland vor dem Erreichen dieser Marke aus gesundheitlichen Gründen arbeitsunfähig wird, kann unter bestimmten Bedingungen eine Erwerbsminderungsrente beziehen. Allerdings müssen seit 2001 Abschläge für den früheren Renteneintritt in Kauf genommen werden. Diese sind mit bis zu 10,8% sehr hoch. Da das durchschnittliche Zugangsalter bei Erwerbsminderungsrentnern aktuell bei etwa 50 Jahren liegt, tritt in der Regel tatsächlich diese hohe Einkommensminderung von 10,8% ein. 87 Das Armutsrisiko von Personen, die Erwerbsminderungsrenten beziehen, hat deutlich zugenommen. So müssen zweierlei Entwicklungen genannt werden: Erstens haben sich die Bezüge von 84 85 86 87 Bundesregierung, April 2016. Antwort auf die schriftliche Frage von Klaus Ernst. Hans-Böckler-Stiftung: Boeckler Impuls 06/2015. Der Paritätische Gesamtverband: Zeit zu handeln. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2016. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (2013): DIW Wochenbericht Nr. 24.2013. 21 Erwerbsminderungsrenten verringert, was auf weniger Entgeltpunkte zurückzuführen ist, die mit dem zunehmend jüngeren Alterseinstieg, vor allem aber mit eher prekären Arbeitsverläufen einhergehen. Zweitens wirkt sich die Phase der Erwerbsminderung negativ auf die Altersrenten aus. Wenn die Erwerbsminderungsrente mit Erreichen der Regelaltersgrenze als Altersrente weitergeführt wird, sind die Einkommenseinbußen gegenüber denjenigen, die bis zur Altersgrenze gearbeitet haben, immer größer.88 Altersvorsorge Dass die Altersvorsorge zunehmend zum Problem wird, wissen die meisten. Nur knapp 44% der Deutschen – und somit weniger als die Hälfte – halten ihre Anstrengungen zur Altersvorsorge für ausreichend.89 Dennoch ist es mit der Lösungsformel „Privat vorsorgen!“ nicht getan. 2016 gaben 47% derjenigen Deutschen, die keine private Altersvorsorge betreiben, an, dies deshalb nicht zu tun, weil sie es sich nicht leisten können.90 Gerade diese unteren Einkommensgruppen wären jedoch diejenigen, die eine zusätzliche Vorsorge brauchen würden, denn ihre Rentenerwartung ist mickrig. Diejenigen, die es dringend bräuchten, können sich zusätzliche Vorsorge nicht leisten. 7. ChancenUNgleichheit Der Befund ist also deutlich: In Deutschland gibt es ein massives Problem der Ungleichheit. Doch warum ist das verwerflich? Es ist ethisch und moralisch nicht vertretbar, dass die Lebensbedingungen der Menschen so stark auseinandergehen – selbst mit dem Leistungsgedanken ist diese Differenz nicht zu begründen. Politik hat die Aufgabe, eine Gesellschaft zusammen zu halten, einen solidarischen Rahmen für alle zu bieten, Verantwortung zu übernehmen und die Fürsorgepflicht des Staates mit Inhalten zu füllen. Eine demokratische Gesellschaft braucht Lösungen, sodass Menschen eine faire Teilhabe haben, die ihnen eine Chance in der Gesellschaft gibt. Dazu gehört der Anspruch der Chancengleichheit – eine sozialpolitische Maxime, die für alle Bürgerinnen und Bürger unabhängig von ihrer sozialen Herkunft das Recht auf gleiche Lebens- und Sozialchancen in Ausbildung und Beruf fordert. De Facto stellen wir fest, dass das Aufstiegsversprechen heute nicht mehr gilt. Lange Zeit akzeptierten wir die bestehende Ungleichheit, weil wir uns des Bildungsversprechens sicher waren: Wenn unsere Kinder eine gute Bildung genießen, haben sie die Chance, aufzusteigen. Das ist heute nicht mehr der Fall. Stattdessen droht die Entwicklung hin zu einer Abstiegsgesellschaft 91. Das soziale Milieu entscheidet über den Weg eines Kindes Wie sehr die Herkunft ein Kind ausbremsen oder beflügeln kann, sehen wir an Wohnvierteln, die nicht weit voneinander entfernt liegen und sich doch maßgeblich unterscheiden. Auf der einen Seite Familien, 88 89 90 91 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (2013): DIW Wochenbericht Nr. 24.2013. Statista 2016. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/170959/umfrage/ausreichende-altersvorsorge---einschaetzung/ Statista 2016. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/426291/umfrage/gruende-der-deutschen-fuer-fehlende-altersvorsorge/ Oliver Nachtwey veröffentlichte 2016 seine Publikation „Die Abstiegsgesellschaft: Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne“. 22 die ihren Kindern eine umfangreiche Unterstützung geben können – auf der anderen Seite Familien, in denen Kinder viele Hürden nehmen müssen. Mit der zunehmenden sozialen Segregation, also der voranschreitenden räumlichen Trennung von Arm und Reich, werden Förderung in den Milieublasen immer stabiler und undurchlässiger. Dass Kinder aus armen und reichen Haushalten schon in den ersten Jahren unterschiedlich viel Förderung erhalten, haben Studien des DIW gezeigt. Neben der direkten Umgebung im Elternhaus bestehen auch ersten 6 Jahren ist entscheidend außerhalb der Familie zahlreiche Möglichkeiten der informellen Förderung, beispielsweise im Bereich Sport, Musik oder andere Betreuung. Tatsächlich aber stellen wir fest, dass der Anteil der Kinder, die solche Angebote wahrnehmen, mit steigendem Haushaltseinkommen beachtlich wächst. Kinder aus armen Haushalten, aus Familien mit geringem Qualifizierungsniveau, Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder von Alleinerziehenden nehmen außerhäusliche Betreuungsangebote deutlich seltener wahr. Dabei wäre es gerade für sie wichtig. Hier werden bereits die Weichen für die Entwicklung des Kindes gestellt.92 „Ein Mittelstandskind kommt mit 2.000 – 3.000 Vorlesestunden in die Grundschule. Ich habe es hier vornehmlich mit Kindern zu tun, die noch nie einen Stift in der Hand hatten. Die Unterschiede machen sich auch in der Ausstattung der Schulen bemerkbar.“93 Eine Grundschuldirektorin in Essen So beschreibt eine Essener Schuldirektorin ihre Herausforderung. Das Problem ist: Unser Bildungssystem kann die unterschiedlichen Voraussetzungen der Kinder nicht ausgleichen. Auch wenn sich Lehrer und Schulpädagogen bemühen, die Kinder nach Bedarf zu unterstützen, gelingt eine Kompensation nicht. Der Weg der Kinder ist damit vorgezeichnet: Ob ein Kind jemals das Gymnasium besuchen wird, lässt sich mit 70%-iger Wahrscheinlichkeit anhand der Postleitzahl seiner Herkunft sagen.94 Nur wenige schaffen den Aufstieg Die soziale Lage wird in Deutschland immer häufiger vererbt. Bei einigen Indikatoren steht Deutschland in Sachen Chancengleichheit sogar schlechter als die USA da. Die soziale Mobilität hinsichtlich der Einkommensgruppen ist so einer. Studien des DIW zeigen, dass die Hälfte des Einkommens der Kinder hierzulande durch den Bildungsgrad und das Einkommen der Eltern bestimmt wird. 95 Die Hälfte bedeutet konkret: Auch wer sich massiv anstrengt, hat womöglich Situation der Eltern sagt Entwicklung keinen Erfolg, seine Lage zu verbessern. Es liegt eine extrem starke Pfadabhängigkeit von den Eltern vor. Hat ein Vater mit hohem Einkommen vier Söhne, schaffen es drei von ihnen, selbst ein hohes Einkommen zu erzielen. Hat hingegen ein Vater mit sehr geringem der Kinder voraus Einkommen vier Kinder, verbleiben drei von ihnen in der einkommensarmen Gruppe.96 92 93 94 95 96 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (Hrsg.): DIW Wochenbericht Nr. 45/2010. Film „A40 – Eine Autobahn trennt arm und reich“, WDR, Ausstrahlung 14.12.2016. Film von Marko Rösseler. Film „A40 – Eine Autobahn trennt arm und reich“, WDR, Ausstrahlung 14.12.2016. Film von Marko Rösseler. Fratzscher, Marcel. Im Interview mit Deutschlandradio Kultur, Beitrag vom 03.09.2016. Fratzscher, Marcel (2016). Verteilungskampf - Warum Deutschland immer ungleicher wird. 23 Noch geringer sind die Aufstiegschancen bei den Vermögen. In den meisten Fällen können Menschen mit hohen Vermögen genau diese noch mehren – Menschen ohne Vermögen sind oft nicht in der Lage, welches aufzubauen.97 Nicht nur zeigen die Zahlen, dass die soziale Mobilität in Deutschland im internationalen Vergleich relativ gering ist. Sie ist zudem auch noch gesunken. Heute gilt mehr als vor zwanzig Jahren: Wer einmal arm ist, bleibt es wahrscheinlich. Wer reich ist, bleibt es ebenfalls. Um gegenzusteuern, bedarf es vor allem Unterstützung in den ersten sechs Lebensjahren. Es fängt bei den Kita-Plätzen an und geht beim Schulsystem weiter.98 Bildungsgerechtigkeit fehlt Faire Bildungschancen sind die Grundlage für die Entfaltung der eigenen Fähigkeiten im Beruf. Die Leistungsstärke der Schulsysteme Deutschlands schätzen die Deutschen jedoch als nicht ausreichend ein. Die Diskriminierung der Kinder ist offensichtlich: 76% der Deutschen finden, dass Jugendliche aus 76% der Deutschen empfinden fehlende Chancengleichheit verschiedenen sozialen Schichten nicht die gleichen beruflichen Chancen haben. „Noch immer haben Jugendliche aus der Oberschicht ungefähr dreimal so hohe Chancen, ein Gymnasium anstelle einer Realschule zu besuchen, wie Jugendliche aus Arbeiterfamilien - und zwar auch dann, wenn man nur Schülerinnen und Schüler mit gleicher Begabung und gleichen Fachleistungen vergleicht.“99 Bildungschancen sind nicht gleich verteilt Eigene Darstellung; Datenquelle: Bundesministerium für Bildung und Forschung: Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2012. 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks 2013 Gleiche Bildungschancen sind jedoch eine Voraussetzung für fairen Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt. Gibt es sie nicht, haben es benachteiligte Kinder später auch schwerer, einen auskömmlichen Job zu finden. Sie haben damit nicht die Chance, ihre eigenen Fähigkeiten und Talente zu entwickeln. Sie haben viel weniger Wahlmöglichkeiten. 97 98 99 Fratzscher, Marcel (2016). Verteilungskampf - Warum Deutschland immer ungleicher wird. Fratzscher, Marcel. Im Interview mit Deutschlandradio Kultur, Beitrag vom 03.09.2016. Bundesministerium für Bildung und Forschung (2010). Zitiert nach: FAZ (2015). 24 Der Chancenspiegel untersucht mithilfe von Daten aus der amtlichen Statistik und aus Schulleistungsuntersuchungen regelmäßig die Schulsysteme der Bundesländer. Dabei stellten die Forscher auch 2014 eine „ausgeprägte Abhängigkeit zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft“ fest. Sie kritisieren zurecht, dass es den Schulen nicht gelingt, die herkunftsbedingten Benachteiligungen der Schüler 2 Jahre Vorsprung auszugleichen100: Kinder und Jugendliche aus Familien höherer für Kinder aus Sozialschichten erreichen in der neunten Klasse bundesweit und über alle Schulformen hinweg einen durchschnittlichen Vorsprung von etwa zwei Schuljahren in der Mathematikkompetenz vor besseren Milieus Kindern aus Familien niedrigerer Sozialschichten. Dass der soziale Aufstieg in Deutschland schwierig ist, erkennt man auch, wenn man die Bildungsmobilität untersucht, also die Schulwahl bzw. Abschlüsse der Kinder in Verhältnis zu denen der Eltern setzt. Tatsächlich ist eine starke Abhängigkeit erkennbar. 61% der Kinder, deren Eltern die Fachhochschul- oder Hochschulreife haben, besuchen ebenfalls das Gymnasium. Im Vergleich dazu gehen lediglich 14% der Kinder, deren Eltern maximal einen Haupt-/Volksschulabschluss haben, auf ein Gymnasium. Ist dieser Weg nach der Grundschule erst einmal eingeschlagen, ist es schwierig, sich innerhalb der Schultypen noch einmal zu verbessern. Mit der Wahl der Oberschule wird somit für viele Kinder schon der Weg vorgezeichnet. Eigene Darstellung; Datengrundlage: Ergebnisse des Mikrozensus 2015 - Bevölkerung in Familien/Lebensformen am Hauptwohnsitz. Entnommen aus: Statistisches Bundesamt: Pressemitteilung Nr. 312 vom 08.09.2016. Nach OECD-Angaben verfügten 2014 in Deutschland lediglich 24% der erwachsenen Nichtstudierenden/Nichtschüler über ein formal höheres Bildungsniveau als ihre Eltern, was im Vergleich mit anderen OECD-Ländern der zweitniedrigste Wert ist (Durchschnitt: 38%). 101 Dieser niedrigere Wert lässt sich jedoch auch mit dem bestehenden, vergleichsweise hohen Bildungsniveau in Deutschland erklären. In Bezug auf hochqualifizierte Arbeitnehmer hinkt Deutschland international 100 101 Bertelsmann Stiftung, Institut für Schulentwicklungsforschung der Technischen Universität Dortmund, Institut für Erziehungswissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Hrsg.): Chancenspiegel 2014. OECD (2014): Bildung auf einen Blick. 25 allerdings hinterher. Der Anteil der Bevölkerung mit Tertiärabschluss102 in Deutschland (28%) ist kleiner als im OECD-Durchschnitt (33%). Deutschland ist eines von lediglich drei OECD-Ländern, in denen der Unterschied beim Anteil der Bevölkerung mit Tertiärabschluss zwischen den jüngeren Erwachsenen (25-34) und den älteren Erwachsenen (55-64) weniger als drei Prozentpunkte beträgt. 18% der Erwachsenen haben hierzulande einen formal niedrigeren Bildungsstand als ihre Eltern; damit weist Deutschland im Ländervergleich den zweithöchsten Anteil an Abwärtsmobilität auf (Durchschnitt: 12%).103 Aufstiegsbarrieren Verschiedene Hindernisse für den Aufstieg haben Forscher untersucht. Die Umweltbedingungen können ein wesentliches sein. Es meint die konkrete Umgebung, in die Kinder hinein geboren werden: der Kiez, die Nachbarschaft, das Elternhaus. Kinder, die in finanzschwache und bildungsferne Haushalte geboren werden, weisen im Schnitt eine deutlich schlechtere Gesundheit auf. Sie sind dadurch nicht so lernfähig wie andere Kinder und haben höheren Förderungsbedarf. In Armut leben häufig Kinder, die mit mehreren Geschwistern bei einem alleinerziehenden, Das Umfeld nicht erwerbstätigen Elternteil mit geringem Bildungsniveau leben.104 Wenn man Menschen gleiche Entwicklungschancen geben möchte, ist es also kann Barriere wichtig, bereits sehr früh diese Haushalte bzw. diese Kinder zu unterstützen sein. oder dafür zu sorgen, dass Menschen nicht in eine solche Situation kommen. Wissenschaftlich ist belegt, dass vor allem frühkindliche Bildungsangebote eine hohe Rendite versprechen. Oder anders gesagt: Gerade während der ersten sechs Jahre brauchen Kinder gute Betreuung. Jeder investierte Euro ist hier Gold wert, weil Kinder davon noch Jahre später profitieren und sich beim Lernen neuer Fähigkeiten leichter tun. In den ersten sechs Jahren werden schon entscheidende Weichen gestellt. Leider investiert Deutschland jedoch sehr wenig für die Betreuung von Kindern unter sechs Jahren.105 Wir geben fast die Hälfte weniger für Frühkindliche Betreuung und Förderung als erster Schritt frühkindliche Bildung und Betreuung aus als der OECD- Durchschnitt.106 Dabei ist die frühkindliche Förderung in einem guten Umfeld einer der wichtigsten Hebel zur Herstellung von Chancengleichheit. Wer hier spart, spart an der falschen Stelle. Gerade einmal 36,1 % Kindertageseinrichtungen der 1-Jährigen oder in sind hierzulande öffentlich in geförderter Kindertagespflege, bei den 2-Jährigen sind es 60,6 %.107 Obwohl es seit August 2013 für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr einen bundesweiten Rechtsanspruch auf einen öffentlich geförderten Betreuungsplatz gibt, fehlen bundesweit 228.000 Kita-Plätze. Für jedes zehnte Kind unter drei Jahren gibt es keinen Platz im Kindergarten oder bei einer Tagesmutter. 108 102 103 104 105 106 107 108 Als hoch qualifiziert gelten gemäß EU-Definition Personen, die einen Tertiärabschluss der ISCED-Stufen 5 oder 6 erreicht haben. Hierzu zählen in Deutschland Abschlüsse an (Fach-) Hochschulen, Verwaltungsfachhochschulen, Berufs- und Fachakademien, Fachschulen und Schulen des Gesundheitswesens. OECD (2014): Bildung auf einen Blick. Fratzscher, Marcel (2016). Verteilungskampf - Warum Deutschland immer ungleicher wird. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: DIW Wochenbericht Nr. 26/2013. Fratzscher, Marcel (2016): Deutschlands hohe Ungleichheit verursacht wirtschaftlichen Schaden. In: Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik. Statistisches Bundesamt (2016). Pressemitteilung Nr. 345 vom 28.09.2016. Heute.de (2016): Bundesweit fehlen 228.000 Kita-Plätze. Datenquelle: Institut der deutschen Wirtschaft Köln. 26 Natürlich sind jedoch nicht nur formale Bildungsangebote entscheidend. Auch die Familie selbst ist für frühe Bildungsprozesse sehr bedeutend. Weil qualitativ gute frühkindliche Förderung so wichtig ist für den Lebensweg eines Kindes, ist das Betreuungsgeld kontraproduktiv. Zusammen mit den Kosten, die Familien für Kinderbetreuung zu tragen haben, ist der Zuschuss ein Anreiz, Kinder eben nicht in außerhäuslicher Förderung zu betreuen. Etwa 222.000 Kinder sind von dieser Maßnahme nach aktuellen Zahlen betroffen. 109 8. Zementierung von Ungleichheit Deutschland hat im internationalen Vergleich ein hohes Pro-Kopf-Einkommen und eine hohe Sparquote. Man sollte also annehmen, es seien gute Voraussetzungen, um Vermögen aufzubauen. Wo kommt also die Ungleichheit her? Erbschaften Ursachen für Vermögensungleichheit Eigene Darstellung Datengrundlage: Sebastian Leitner: Vermögensungleichh eit und die Bedeutung von Erbschaften und Schenkungen. WISO direkt. Juni 2015. Tatsächlich tragen Erbschaften und Schenkungen einen erheblichen Teil bei: sie liefern in Deutschland den größten Beitrag (38%) zur Konzentration von Reichtum. So wird der Wohlstand an die Kinder weitergegeben. Ein Drittel dessen, was in den kommenden zehn Jahren vererbt wird, geht an die oberen 2% der Bevölkerung. Zwei Drittel gehen an die restlichen 98%. In den nächsten zehn Jahren wird in Deutschland ein Rekord-Erbschaftsvolumen erwartet: ganze 3,1 Bio. Euro zwischen 2015-2024.110 Nach Angaben des DIW werden in Deutschland jedes Jahr schätzungsweise 300 Mrd. Euro vererbt oder verschenkt.111 Tatsächlich kamen 2014 ganze 5,4 Mrd. Steuern beim Fiskus an. Das entspricht einem Steuersatz von faktisch 2-3%.112 Formal gibt es in Deutschland natürlich höhere Steuersätze für Erbschaften und Schenkungen; de facto führen unzählige Ausnahmeregeln dazu, dass folgendes gilt: 109 110 111 112 Statistisches Bundesamt (2016): Statistik zum Betreuungsgeld – Leistungsbezüge. 3. Vierteljahr 2016. Deutsches Institut für Altersvorsorge (DIA) (2015): Erben in Deutschland 2015-24: Volumen, Verteilung und Verwendung. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (Hrsg.): DIW Wochenbericht Nr. 3/2016. Interview mit Peer Steinbrück; "Der Teufel scheißt auf den größten Haufen", DIE ZEIT Nr. 42/2016. 27 Je höher die Erbschaft, desto geringer die Besteuerung. Bei einem Erbe von 100.000 – 200.000 Euro gibt es effektiv eine Besteuerung von 17,3%. Bei einem Erbe von über 20 Mio. Euro effektive 7,8%. Die wirklich großen Summen machen nicht etwa die kleinen Privatvermögen aus, sondern die Unternehmensvermögen, die an die nächste Generation weitergegeben werden. Laut DIW wurden allein zwischen 2009 (als die Erbschaftsteuer zuletzt reformiert wurde) und 2014 Unternehmensvermögen in Höhe von 171 Mrd. Euro steuerfrei übertragen - davon 149 Mrd. als Schenkungen. Seit 2009 profitieren Firmenerben von großzügigen Verschonungsregeln innerhalb der Erbschaftssteuer113. Als „Wiedereinführung des Adelsprivilegs in Deutschlands, also die Übertragung von Reichtum und Macht durch dynastische Erbfolge“114 Harald Schumann bezeichnet Harald Schumann die Reform der Erbschaftssteuer 2009. Seitdem sind dem deutschen Fiskus 56 Mrd. Euro an Steuereinnahmen entgangen. Das ist etwa das Doppelte dessen, was alle deutschen Universitäten und Hochschulen im Jahr kosten. 115 Das Bundesverfassungsgericht hatte eine Nachbesserung verlangt, weil die Verschonung unverhältnismäßig war. Die daraufhin 2016 beschlossenen Änderungen waren aber lediglich eine Schönheitskorrektur. Die Wirtschaftsvertreter schafften es sogar noch, die angesetzten, ohnehin laschen Regeln aufzuweichen – ein Lehrstück des Lobbyismus, allen voran durch die Stiftung Familienunternehmen und den Verband „Die Familienunternehmer – ASU“. Immer noch sollen Superreiche bei Unternehmenserbschaften nicht angemessen zur Kasse gebeten werden. Dies ist fatal, denn die Einnahmen könnten in Infrastruktur, Bildung oder auch in die Schuldentilgung gesteckt werden. Betrachtet man die Abgabenquote bei höheren Gehältern (33,7%) im Effektiv nur 2-3% Vergleich zur Erbschaftssteuer (etwa 2-3%116) wird klar, dass eine striktere Regelung zur Besteuerung von Erben nötig wird, um der Erbschaftssteuer Frage nach Verteilungsgerechtigkeit gerecht zu werden117. Der in der Koalition gefundene Kompromiss wird die Ungleichheit eher manifestieren und belastet damit alle anderen Bevölkerungsgruppen jenseits der Superreichen. Ökonomen wie der Wirtschaftsweise Peter Bofinger plädieren für eine höhere Belastung von Erben. Bei der Erbschaftsteuer solle ein Satz von 15% auf wirklich alles gelten, mit Ausnahme des Häuschens von der Oma.118 113 114 115 116 117 118 Schulte, Ulrich (2015): Diskussion über Erbschaftsteuer - Pleite als Phantom. Taz.de. Schumann, Harald (2016): Die Herrschaft der Superreichen. Blätter 12/2016, Seite 67-78. Schumann, Harald (2016): Die Herrschaft der Superreichen. Blätter 12/2016, Seite 67-78. Interview mit Peer Steinbrück; "Der Teufel scheißt auf den größten Haufen", DIE ZEIT Nr. 42/2016. Wehler, Hans-Ulrich (2013): Wachsende Ungleichheit. Wo bleibt der Protest? Anmerkungen zum Entwurf des Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung. In: Die Zeit, 07.02.2013 Bofinger, Peter (2016) in Süddeutsche Zeitung. Wirtschaftsweiser: "Wachsende Ungleichheit bedroht die Welt, wie wir sie kennen". 28 Unterschiedliche Besteuerung von Kapital und Arbeit Nicht nur bei Erbschaften stellen wir fest, dass Superreiche bevorzugt werden. Sehr wohlhabende Personen verdienen ihre Einkünfte meist aus Kapital, das heißt, über Vermögen, welches sie bereits besitzen. Weniger verdienen sie ihr Geld durch Löhne. Kapitaleinkünfte werden jedoch mit einem festen Steuersatz von 25% versteuert. Dieser liegt somit niedriger als der (variable) Einkommensteuersatz in den oberen Gehaltsklassen. Sie entziehen sich somit der Regel „wer viel verdient, zahlt auch mehr Steuern“. Effektiv bezahlen nur die wenigsten der Superreichen überhaupt den Spitzensteuersatz. Anhand eines Beispiels verdeutlichte Wüllenweber im Stern zuletzt die Absurdität 119: Während die Leiharbeiter und Ingenieure bei BMW mit einem Lohn für ihre Leistung entlohnt werden, der dann Einkommensteuern (14%–42%, bzw. 45% Spitzensteuersatz) Wer von Zinsen oder und Renditen lebt, zahlt Sozialabgaben unterliegt, sieht die Situation für Eigentümer ganz anders aus. Die beiden Quandt-Erben, denen BWM fast zur Hälfte gehört, kassieren ein Jahreseinkommen von weniger Steuern als ein 815 Mio. Euro ohne Leistung und zahlen darauf lediglich die Arbeitnehmer. niedrige Kapitalertragssteuer von 25%. Steuergeschenke für Reiche und Unternehmen Die verschiedenen steuerpolitischen Maßnahmen der letzten Jahre haben ebenfalls zur steigenden Ungleichheit beigetragen. Da ist zunächst der Spitzensteuersatz. Eigene Darstellung. Daten: Bundesministerium der Finanzen. Von 1975 bis 1989 lag er einmal bei 56%. Heute liegt der Spitzensteuersatz bei 42% bei einem Jahreseinkommen über 53.666 Euro. Alle Personen mit einem Jahreseinkommen von 53.666 – 254.447 Euro zahlen einheitlich 42%, auch wenn zwischen den Beträgen ganze Welten liegen. Bei einer viertel Mio. Euro gibt es noch einmal einen Sprung: Die sogenannte „Reichensteuer“, eine Erhöhung im Einkommensteuertarif, belastet Verdiener über 254.447 Euro mit 45%. Im Rückblick wird die massive Senkung des Tarifs deutlich. Auch sie hat zur Verstärkung der Ungleichheit geführt. Die Absenkung der 119 Wüllenweber, Walter (2016): Ist das gerecht? In: Stern. 08.12.2016, S. 28. 29 Steuersätze im oberen Einkommensbereich war ein großer Fehler. Ökonomen wie der Wirtschaftsweise Peter Bofinger halten es für angemessen, den Spitzensteuersatz wieder auf 56% zu erhöhen. Er solle dafür erst bei einem höheren Einkommen als bisher einsetzen. 120 Zudem wurde die Körperschaftssteuer abgesenkt, Unternehmen müssen somit weniger Steuern auf ihren Gewinn abführen. Heute beträgt die Körperschaftssteuer nur noch lächerliche 15%. Schließlich wurde die Vermögenssteuer abgeschafft, ein ebenso fataler Fehler. Die Börsenumsatzsteuer (analog einer Finanztransaktionssteuer) wurde abgeschafft. Die Mehrwertsteuer, welche alle Konsumenten betrifft, wurde stattdessen um drei Prozentpunkte erhöht. Die Kombination dieser steuerlichen Maßnahmen führte zu einer Vergrößerung der Ungerechtigkeit in Bezug auf Besitz und Vermögen. Während in Schweden viele Wohlhabende stolz darauf sind, möglichst hohe Steuern zu zahlen - zeigt es doch, wie hoch ihr Status ist - , sind Nicht mehr Steuern in Deutschland zu einem Schreckgespenst geworden. Dabei geht es doch nicht darum, Menschen, die viel leisten, bestrafend mehr abzuverlangen, sondern nur darum, die Steuern, sondern auseinanderklaffende Ungleichheit einzuschränken. Nicht mehr Steuern in Summe, sondern gerechter verteilte Steuern könnten sogar gerade untere und mittlere gerechtere Steuern Einkommensschichten entlasten. Dies wäre auch wirtschaftlich sinnvoll, weil diese Gruppen ihr Geld fast vollständig wieder ausgeben und damit die Inlandsnachfrage steigern, während die Vermögendsten ihr Geld fast nur anlegen und zur weiteren Gewinnakkumulierung einsetzen. Eine überarbeitete Steuerregelung sollte auch die Kommunalfinanzen berücksichtigen, die teilweise desaströs aussehen und derzeit den regionalen Unterschied in Deutschland weiter vergrößern. Indirekte Steuern Direkte Steuern, also Einkommen- und Unternehmenssteuern wirken in Deutschland progressiv, d.h. die Belastung nimmt mit steigendem Einkommen zu. Das ist auch richtig so. Insgesamt tragen diejenigen mit hohem Einkommen auch deutlich mehr zum gesamten Steueraufkommen bei als diejenigen mit geringem Einkommen. Das ist ein wichtiger Grundsatz für eine solidarische Gemeinschaft. Gleichwohl muss man berücksichtigen, dass nicht alle Steuerarten dem Prinzip „Wer viel hat, zahlt auch mehr“ unterliegen. Indirekte Steuern treffen ärmere Eine Untersuchung des DIW hat die Verteilungswirkung des deutschen Steuersystems im Jahr 2015 analysiert. Demnach belasten die indirekten Steuern die ärmeren Haushalte im Besonderen. Indirekte Steuern machen knapp die Hälfte des Haushalte besonders stark. Steueraufkommens aus. Die indirekten Steuern sind Steuern auf den Verbrauch, also die Mehrwertsteuer und die anderen Verbrauchsteuern wie Strom-, Energie- oder Tabaksteuer. Sie werden in vollem Umfang auf die Endverbraucher überwälzt. Hier entfallen auf die einkommensärmsten 10% der Bevölkerung gut 5% des Steueraufkommens, obwohl sie nur knapp 3% des Einkommens erhalten. In Relation zahlen sie also mehr, als sie verdienen. Auf die obersten 10% mit den höchsten 120 Bofinger, Peter (2016) in Süddeutsche Zeitung. Wirtschaftsweiser: "Wachsende Ungleichheit bedroht die Welt, wie wir sie kennen". 30 Einkommen entfallen hingegen 20% der indirekten Steuern, sie bekommen aber ein Drittel des gesamten Einkommens. In Relation verdienen sie also mehr, als sie zahlen. Die indirekten Steuern belasten Haushalte mit niedrigen Einkommen in Relation zum Einkommen also erheblich stärker als Haushalte mit hohen Einkommen. Das liegt daran, dass die Haushalte mit den niedrigen Einkommen ihr ganzes Einkommen ausgeben und teilweise sogar Kredite aufnehmen, um ihren Konsum zu finanzieren.121 Durch diesen Ausgleich in der Belastung bei direkten und indirekten Steuern kommen die Forscher zu folgendem Fazit: Die Steuerbelastung ist insgesamt doch erstaunlich gleichmäßig und nur wenig progressiv. Wenn man direkte und indirekte Steuern summiert, ergibt sich insgesamt folgendes Bild: Darstellung: Hand Böckler Stiftung. 2017. Böckler Impuls 01/2017. Es ist erkennbar, dass die Steuerbelastung im unteren Bereich sogar regressiv ist. In den letzten Jahrzehnten gab es einen Trend hin zu den indirekten Steuern. Das hat die Belastungen für Arm und Reich angepasst. Die staatliche Umverteilung durch das Steuersystem ist dadurch zurückgegangen. Durch die verschiedenen steuerpolitischen Maßnahmen zwischen 1998 – 2015 wurde unterm Strich erreicht: eine Mehrbelastung des ärmsten Zehntels von 5,4% des Bruttoeinkommens, eine Entlastung des reichsten Zehntels von 2,3%. Das reichste Hundertstel ist sogar um 4,8% entlastet worden. 122 In der Konsequenz hat dies zur zunehmenden Ungleichheit auf Ebene des Haushaltsnettoeinkommens beigetragen. Das Leistungsfähigkeitsprinzip wurde also zurückgefahren.123 Einkommensentwicklung Aber auch abseits des Steuersystems gibt es Faktoren, die zu einer Manifestierung der Ungleichheit beitragen. In den letzten Jahren ist der Niedriglohnsektor massiv gewachsen, die Löhne sind weiter auseinander gegangen. So lässt sich feststellen, dass die ärmsten 40% der Bevölkerung heute sogar 121 122 123 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: DIW Wochenbericht Nr. 51/2016 und 52/2016. Hans Böckler Stiftung (2017): Studie Nr. 347. Wer trägt die Steuerlast? Verteilungswirkungen des deutschen Steuer- und Transfersystems. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: DIW Wochenbericht Nr. 51/2016 und 52/2016. 31 weniger Einkommen haben als noch im Jahr 2000, während die reichsten Einkommensgruppen ihre Einkünfte erheblich steigern konnten.124 In der längerfristigen Betrachtung wird uns die Fehlentwicklung noch bewusster. So ist das Einkommen der reichsten 10% seit der Wiedervereinigung um knapp 27% gestiegen. Die zehn Prozent der Haushalte mit den geringsten Einkommen hingegen mussten einen Einkommensverlust von 8% hinnehmen.125 Entwicklung der Einkommen 2000 – 2012* *Reallöhne, also Kaufkraft der Löhne Eigene Darstellung; Datengrundlage: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: DIW Wochenbericht 25/2015 Erfreulicher Weise konnten die Einkommen 2016 ordentlich zulegen, verkündet das Statistische Bundesamt. So stiegen die Arbeitnehmereinkommen erstmals sogar ein klein wenig mehr als Unternehmens- und Vermögenseinkommen.126 Bedauerlicherweise wissen wir jedoch nicht, welche Lohngruppen Zuwächse verzeichnen konnten. Diejenigen, die ohnehin ein anständiges Gehalt haben, oder diejenigen, die von ihrem Gehalt nicht leben können? So können wir also auch nicht erkennen, ob gerade untere und mittlere Einkommensschichten überhaupt etwas von dieser Entwicklung haben. Die technologische Entwicklung hat außerdem zu einer Polarisierung der Löhne beigetragen und es ist anzunehmen, dass sich dieser Trend weiter beschleunigen wird. Jobs der heutigen Mittelschicht geraten dadurch unter Druck. Schon in den vergangenen 15 Jahren waren die Verlierer des technologischen Fortschritts hauptsächlich in der Mittelschicht zu finden. Auf sie wirkte sich die Entwicklung am meisten aus, wohingegen niedrige und hohe Einkommen nicht so sehr betroffen waren. 127 Die digitale Revolution polarisiere den Arbeitsmarkt, sagen MIT-Forscher: Die Nachfrage nach Routineaufgaben sinke, während die nicht routinierten Aufgaben am oberen wie am unteren Ende der Einkommensverteilung gefragter denn je sind.128 Hochqualifizierte Arbeitnehmer profitieren, da ihre Fähigkeiten technologisch bedingt noch wertvoller werden. 124 125 126 127 128 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: DIW Wochenbericht 25/2015 und 04/2017. Verfügbares Realeinkommen, Inflation wird berücksichtigt. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: DIW Wochenbericht 04/2017. Statistisches Bundesamt (2017). Pressekonferenz „Bruttoinlandsprodukt 2016 für Deutschland“ am 12. Januar 2017 in Berlin. Statement von Präsident Dieter Sarreither. Fratzscher, Marcel (2016). Verteilungskampf - Warum Deutschland immer ungleicher wird. Buckup, Sebastian (2014): Gleichheit durch Fortschritt. In: Zeit online. 32 Unfaires Rentensystem Dass sogar unser Rentensystem Ungleichheit sogar zementiert, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler und Präsident des DIW Marcel Fratzscher: „In keinem anderen Industrieland außer Mexiko haben die unteren 20% ein so niedriges Rentenniveau wie hierzulande. Das liegt am deutschen Äquivalenzprinzip: Wie viel jemand rausbekommt, hängt davon ab, wie viel er eingezahlt hat. In anderen Ländern ist das System degressiv gestaltet: Die weniger Begüterten bekommen also eine deutlich höhere Rente, als es ihrem Gehalt und ihren Beiträgen entsprechen würde. […] Wir brauchen eine stärker zielgerichtete Rente. Soziale Marktwirtschaft heißt, eine soziale Absicherung denen zugewähren, die sie benötigen. Bisher ist das Rentensystem in Deutschland eine massive Umverteilung von unten nach oben - besonders, wenn man die Lebenserwartung berücksichtigt. Wenn Sie ein Rentenniveau von 48% bekommen, egal ob sie ein ganz hohes oder ganz niedriges Einkommen haben, zementiert das schon mal bestehende Ungleichheiten. Wenn man dann aber noch hinzu rechnet, dass jemand, der nur über 60% des mittleren Einkommens verfügt, eine zehn Jahre kürzere Lebenserwartung hat, wird die Rente zu einer echten Umverteilung. Denn der Reiche bezieht auch deutlich länger Rente als der Arme - und erhält deswegen in jeder Hinsicht mehr Geld. [Frage: Wer soll das bezahlen?] Dafür müssten dann die Renten von Gutverdienern etwas geringer ausfallen. Oder man muss die Bemessungsgrundlage verbreitern und zum Beispiel Beamte und Selbständige in die Rentenversicherung mit einbeziehen.“129 Marcel Fratzscher Interessenvertretung Ein weiterer Faktor trägt zu einer Verschärfung der Ungleichheit bei: die unfaire Verteilung der Chancen, mit seinen Interessen Gehör zu finden. Eine im Auftrag der Bundesregierung erstellte Studie 130 von Politikwissenschaftlern belegte 2016, dass es eindeutige Verzerrungen zugunsten der Wohlhabenden gibt. Meinungen der Reichen werden in politischen Entscheidungen deutlich stärker berücksichtigt als Meinungen der Ärmeren. Befürworten 80% der obersten Einkommensgruppe eine politische Maßnahme, gibt es eine Wahrscheinlichkeit von 72%, dass sie auch umgesetzt wird. In der untersten Einkommensgruppe hingegen liegt die Wahrscheinlichkeit der Umsetzung bei gerade einmal 46%. Ebenso verhält es sich auch bei Ablehnung von Politikänderungen: Wenn lediglich 30% der obersten Einkommensgruppe eine Maßnahme befürwortet, hat sie auch nur eine 34%-ige Chance auf Umsetzung. Für die unterste Einkommensgruppe gilt hingegen fast der umgekehrte Zusammenhang: Wenn lediglich 20% einer Maßnahme zustimmen, hat sie dennoch eine 65%-ige Chance auf Realisierung. So kommen die Forscher zu dem Schluss: „Insgesamt können wir nun feststellen, dass die Politik des Bundestages weitaus häufiger auf die Ansichten und Anliegen der obersten Einkommensschicht reagiert, die Meinungen der unteren und mittleren Einkommensschichten dagegen kaum beachtet oder sogar missachtet 129 130 Fratzscher, Marcel (2016) im Interview mit Spiegel Online. Elsässer, Lea; Hense, Svenja; Schäfer, Armin (2016): Forschungsprojekt Systematisch verzerrte Entscheidungen? Die Responsivität der deutschen Politik von 1998 bis 2015. 33 werden. Dies wird vor allem dann deutlich, wenn wir uns Fälle anschauen, in denen die oberste Einkommensgruppe andere politische Entscheidungen befürwortet als die anderen Einkommensgruppen. Wenn ökonomische Ungleichheit sich in ungleichen politischen Einfluss übersetzt, dann stellt sich die Frage, ob sich eine Politik durchsetzt, die wiederum ökonomische Ungleichheit weiter verschärft.“131 Lea Elsässer, Svenja Hense, Armin Schäfer Vor allem in den Bereichen der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ist das relevant. Hier werden Politikveränderungen diskutiert, die sowohl durch regulative als auch durch (re-)distributive Maßnahmen Einfluss auf die Einkommensverteilung und damit auch auf die Ungleichheit nehmen (z. B. Mindestlohn, Vermögenssteuer, Mehrwertsteuer, Sozialsysteme, Rentenversicherung, etc.). Die Forscher wiesen für diesen Bereich ein ähnliches Muster nach und gehen davon aus, dass soziale und politische Ungleichheit sich gegenseitig noch verstärken.132 Zu Recht weisen die Forscher zudem daraufhin hin, dass Politik in einer repräsentativen Demokratie idealtypisch anders funktionieren sollte. Der Grundsatz politischer Gleichheit verlange, dass die Interessen aller Bürgerinnen und Bürger in gleichem Maße berücksichtigt werden. 133 9. Ungleichheit: Ein internationaler Vergleich „Zu große soziale Ungleichheit entzieht der Demokratie auf Dauer die Legitimation“, bringt es Robert Misik134 auf den Punkt. Eine These, die wohl für sämtliche demokratische Systeme der Welt aufgestellt werden kann, denn eines der größten globalen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Probleme ist die wachsende Vermögens- und Einkommensungleichheit. Das haben inzwischen auch alle Wirtschaftsinstitutionen erkannt, von der OECD bis hin zum IWF. Deutschland internationalen Vergleich schwach Deutschland ist im europäischen Vergleich mit Österreich das Land mit der höchsten Vermögensungleichheit. Vermögen konzentriert sich bei uns in besonders wenigen Händen und der Abstand zwischen Arm und Reich ist immens. Da der Staat als Eigentümer von Besitz eine kleinere Rolle spielt, sind es entsprechend Einzelpersonen und Konzerne, die über Kapital verfügen. 135 131 132 133 134 135 Elsässer, Lea; Hense, Svenja; Schäfer, Armin (2016): Forschungsprojekt Systematisch verzerrte Entscheidungen? Die Responsivität der deutschen Politik von 1998 bis 2015. Elsässer, Lea; Hense, Svenja; Schäfer, Armin (2016): Forschungsprojekt Systematisch verzerrte Entscheidungen? Die Responsivität der deutschen Politik von 1998 bis 2015. Elsässer, Lea; Hense, Svenja; Schäfer, Armin (2016): Forschungsprojekt Systematisch verzerrte Entscheidungen? Die Responsivität der deutschen Politik von 1998 bis 2015. Misik, Robert: Geschichten aus dem Teufelskreis. In: Der Freitag, 08.01.2015. Piketty, Thomas: Das Kapital im 21. Jahrhundert. 2014. 34 Ungleichheit von Vermögen in der Eurozone und den USA Je höher der Gini-Koeffizient, desto größer die Vermögensungleichheit. Ein Koeffizient von 1 bedeutet, dass eine Person alles besitzt. Ein Koeffizient von 0 bedeutet, dass jeder gleich viel besitzt. Quelle: Marcel Fratzscher: Deutschlands hohe Ungleichheit verursacht wirtschaftlichen Schaden. In: Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik. 96. Jahrgang, 2016, Heft 13. Datengrundlage: 2010. Auch hinsichtlich der sozialen Mobilität und Chancengleichheit stellen wir fest, dass Deutschland eine sehr geringe Durchlässigkeit hat, d.h. der Aufstieg ist extrem schwierig. Zu viele Hürden und Schwächen finden wir im deutschen Bildungssystem, der öffentlichen Infrastruktur und im deutschen Arbeitsmarkt.136 Am stärksten ausgeprägt ist der Stillstand der sozialen Verhältnisse bei den oberen und bei den unteren 10%, also beim ärmsten und reichsten Zehntel der Bevölkerung. In kaum einem anderen Land beeinflusst die soziale Herkunft das eigene Einkommen so stark wie in Deutschland. 137 Die Bilanz hinsichtlich der Chancengleichheit sieht nicht besser aus. Kinder aus bestimmten Umfeldern haben bei uns so wenige Möglichkeiten wie in kaum einem anderen industrialisierten Land. Der Grund ist klar: Wir investieren zu wenig, um Chancengleichheit herzustellen. Ein Beispiel: Deutschland gibt fast die Hälfte weniger für frühkindliche Bildung und Betreuung aus als der OECD-Durchschnitt. Öffentliche Ausgaben für die Betreuung von Kindern unter 6 Jahren in % des BIP Quelle: Fratzscher, Marcel: Deutschlands hohe Ungleichheit verursacht wirtschaftlichen Schaden. In: Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik. 96. Jahrgang, 2016, Heft 13 136 137 Fratzscher, Marcel. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: auf einer Konferenz zu Ungleichheit am 18.11.2015. Fratzscher, Marcel. Deutschlands hohe Ungleichheit verursacht wirtschaftlichen Schaden. In: Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik. 96. Jahrgang, 2016, Heft 13 35 Bezogen auf die Ungleichverteilung der verfügbaren Einkommen (nach staatlicher Umverteilung) können wir erkennen, dass Deutschland moderat etwa im Mittelfeld und sogar unter OECD-Durchschnitt liegt. Betrachtet man im Kontrast dazu die Markteinkommen, also die am Markt erzielten Löhne vor staatlicher Umverteilung, kann für Deutschland eine extrem starke Ungleichheit identifiziert werden, sogar stärker als in den USA. Die Lohnspreizung hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten ganz massiv entwickelt. Etwas beruhigend ist dennoch, dass uns die Zahlen erkennen lassen, dass es in Deutschland im internationalen Vergleich einen hohen Umverteilungsgrad gibt.138 Dennoch: Es wird sichtbar, dass die Schere zwischen Arm und Reich in kaum einem westlichen Industrieland in letzter Zeit so rapide auseinandergegangen ist. Die OECD warnt in einer Prognose, dass Deutschland 2060 schon zur Gruppe der Länder mit der größten Einkommensungleichheit gehören könnte, würden bestehende Trends weiterlaufen, ohne gegenzusteuern. 139 Sie schätzt, dass uns durch den Anstieg der Ungleichheit in Deutschland seit den 1990er Jahren etwa 6% Wirtschaftswachstum verloren gegangen sind.140 Globale Ungleichheit verschärft sich Dass die Ungleichheit weltweit rasant zunimmt, ist eine alarmierende Erkenntnis. 70% der Weltbevölkerung lebt in Ländern, in denen die Lücke zwischen Arm und Reich in den vergangenen 30 Jahren gewachsen ist.141 Nicht nur die zunehmende Ungleichheit in den einzelnen Ländern selbst ist ein globales Problem, sondern auch die extreme Ungleichheit zwischen den unterschiedlichen Regionen der Welt. In vielen Ländern kann die Mehrheit der Bevölkerung nicht einmal ihre Grundbedürfnisse nach Nahrung, sauberem Wasser und medizinischer Versorgung decken. Gerade dort zerstören Bürgerkriege und Klimaerwärmung die Lebensgrundlagen. Diese internationale Ungleichheit ist auch eine Ursache für die großen, weltweiten Flüchtlingsbewegungen. Oxfam hat zu der Thematik beunruhigende Zahlen und Fakten zusammengestellt142, die das Problem deutlich machen. Das 8 Superreiche reichste Prozent der Weltbevölkerung verfügt über mehr Vermögen besitzen so viel wie als die restlichen 99% zusammen. Die acht reichsten Personen besitzen 2016 genauso viel wie die 3,5 Mrd. Menschen der 3,5 Mrd. Menschen. ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung. Sechs Jahre zuvor waren es noch 388 Personen – in nur sechs Jahren hat sich das Ungleichgewicht derart verschärft. Zwar gibt es Kritik an der genauen Berechnungsmethode dieser Studie, jedoch ist klar: ganz egal, ob nun 8, 25, 250 oder 388 Milliardäre gemeinsam auf diese Summe kommen, unbestreitbar ist, dass eine Vermögenskonzentration in der Größenordnung zwingend Handeln erfordert. Auch Alain Badiou hat sich mit der Frage beschäftigt, wie sich Ressourcen global verteilen. Sein Urteil ist vernichtend: er kommt zu dem Schluss, dass eine Oligarchie von 10% der Menschen über 86% der 138 139 140 141 142 Marcel Fratzscher, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: auf einer Konferenz zu Ungleichheit am 18.11.2015. OECD: Shifting Gear: Policy challenges for the next 50 years. 2014. Marcel Fratzscher: Deutschlands hohe Ungleichheit verursacht wirtschaftlichen Schaden. In: Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik. 96. Jahrgang, 2016, Heft 13 OXFAM: Besser gleich! Schließt die Lücke zwischen Arm und Reich. 2016. OXFAM: An Economy for the 99 Percent. 2017. 36 Ressourcen verfügt. Sie steht einer „Masse von Mittellosen“ gegenüber, der Hälfte der Weltbevölkerung, die auf absolut gar keine Ressourcen zugreifen kann. Die verbleibenden 40% der Weltbevölkerung, die globale Mittelschicht, hauptsächlich aus den hochentwickelten Ländern, teilen sich den Rest von 14% Ressourcen. Diese Ungleichverteilung sei ein Grund für die Anfälligkeit für Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und die Verachtung der Mittellosen. 143 2013 entgingen den Staatshaushalten nach Oxfam-Schätzungen 156 Mrd. US-Dollar durch Steuervermeidung reicher Einzelpersonen144. Ca. 90% der großen Unternehmen haben mindestens eine Niederlassung in einer Steueroase. Das alles hat auch Konsequenzen für die Entwicklungsländer. Sie verlieren durch die Steuervermeidung von multinationalen Konzernen jährlich mindestens 100 Mrd. US-Dollar an Steuereinnahmen. Die unzureichende Besteuerung von großen Vermögen und Kapitalgewinnen sowie die Verschiebung von Gewinnen in Steueroasen sind deshalb sicher die Hauptursachen für diese Ungleichheit. 143 144 Badiou, Alain (2016): Wider den globalen Kapitalismus. OXFAM: OXFAM Aktionsplan - 10 Schritte gegen soziale Ungleichheit. Oktober 2014. 37 Teil II – Maßnahmen: Investieren, Umverteilen, Chancen Stärken 1. Umsteuern Die Analyse zeigt Fakten, an denen kein Politiker vorbeikommen dürfte, sei er nun sozial, liberal oder konservativ. Jedem müsste deutlich sein, dass es längst nicht mehr „nur“ eine moralische Verpflichtung, sondern eine wirtschaftspolitische Notwendigkeit ist, die Ungleichheit zumindest einzudämmen. Um die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, muss man sich drei Bereiche anschauen: Einkommen, Vermögen und soziale Mobilität/Durchlässigkeit. Reformideen müssen an allen drei Enden ansetzen, denn bei allen drei Bereichen herrscht in Deutschland ein unsoziales Ungleichgewicht. Dabei ist es nicht so schwer, die soziale Ungleichheit zu verringern, ohne den Vermögenden zu viel abzuverlangen. Es ist möglich, den Wohlstand insgesamt zu erhöhen und es wird sogar notwendig sein, umzuverteilen, damit wir den Status quo nicht noch mehr aufs Spiel setzen. Beachten muss man dabei auch, dass Wachstum nicht nur einer immer kleineren Minderheit zu Gute kommt. Außerdem darf er nicht dazu führen, dass unsere Ressourcen und Lebensgrundlagen weiter ausbeutet werden, wie dies in der Gegenwart immer noch der Fall ist. Es ist in Deutschland sehr viel Geld vorhanden und es wird auch nicht wenig davon vom Staat eingenommen, aber es wird nicht effizient verteilt und teilweise falsch ausgegeben. Den mittleren und unteren Einkommen wird an einigen Stellen zu viel abverlangt, die Vermögenden haben dagegen immer mehr Möglichkeiten, sich der Verantwortung zu entziehen. Die typischen Forderungen nach einer Vermögens- und Reichtumssteuer sind zwar berechtigt, aber sie sind einseitig und greifen viel zu kurz. Wenn man sich den Grad der Ungleichheit anschaut, brauchen wir vielfältigere, kreativere und weitergehende Lösungen. Insgesamt müsste die Politik auf den Prüfstand gestellt werden. Auch die hier vorgebrachten Vorschläge sind ein Einstieg und haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Der französische Ökonom Piketty konzentriert die Forderungen auf ein Idealbild internationaler Steuerpolitik: weltweit abgestimmte Steuersätze für Einkommen und Erbschaften/Schenkungen (zudem deutlich progressiver als bisher), automatischer Austausch von Finanzdaten und größtmögliche Transparenz. Neben den nationalen, aber abgestimmten Einkommenssteuern mit Spitzensteuersätzen von etwa 82% in Industrieländern, soll es eine globale Vermögenssteuer geben. Diese „Global Tax on Capital“ würde kleine Vermögen verschonen und in der höchsten Vermögensklasse Steuersätze von 510% ansetzen.145 Um Ungleichheit zu bekämpfen, bedarf es also nicht nur nationaler Anstrengungen. Um die eigene Verantwortung abzuschieben, wird aber häufig einseitig auf Europa oder die globalisierte Welt verwiesen. Das ist schlichtweg Unsinn, ansonsten würde die Ungleichheit in den verschiedenen Ländern146 ja in etwa gleich hoch sein, zumindest dann, wenn sie insgesamt einen ähnlichen 145 146 Prinz, Ulrich (2015): Das Steuerkonzept von Thomas Piketty – ein großer Irrtum! In: Handelsblatt blog Steuerboard. messbar durch die Gini-Koeffizienten 38 Lebensstandard aufwiesen. Aber Deutschland ist einerseits sehr reich und andererseits ist die Ungleichheit besonders hier sehr hoch. Deshalb können und müssen wir vor allem vor der eigenen Haustür anfangen. Darauf habe ich mich und werde ich mich auch weiterhin konzentrieren. Dennoch gibt es natürlich Maßnahmen, die international angegangen werden müssen. Es gibt ein sehr wichtiges Thema, welches ich nicht unterschlagen will: Die Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen. Es ist ein Ansatz, der unser ganzes Sozialsystem verändern würde und dessen Befürworter viele wichtige Argumente liefern. Es gibt verschiedene Ansätze und die Kosten würden je nach Modell sehr unterschiedlich ausfallen. Viele Gegenargumente sind vorgeschoben, aber manche müssten durch praktische Überprüfung erst bewiesen oder widerlegt werden. Dazu bedarf es Modellprojekten, wie sie beispielsweise in Finnland bereits gestartet wurden. Dabei sollte man offen und undogmatisch diskutieren, so sollte auch der Vorschlag von Richard Atkinson einfließen, der ein Grundkommen an Bedingungen knüpft. In diesem Dossier soll allerdings neben der Analyse vor allem aufgezeigt werden, welche Vorschläge im bestehenden System möglich sind und wie ohne zusätzliche Belastungen die Ungleichheit deutlich vermindert werden kann. 2. Geld haben wir Hier einige Beispiele, die zeigen, wieviel Geld wir besitzen und wie schnell wir Mrd. von Euro zusätzlich einsetzen könnten, ohne Steuern zu erhöhen oder umzuverteilen. Leistungsbilanz und Wirtschaftswachstum Deutschland hat den größten Leistungsbilanzüberschuss in der Welt. Der Exportüberschuss lag 2016 bei 8,9%. Deutschland schreibt Rekordgewinne.147 Der Staatssektor – dazu gehören Bund, Länder, Gemeinden und Sozialversicherungen – beendete das Jahr 2016 mit einem Finanzierungsüberschuss in Höhe von 23,7 Mrd. Euro (Bund allein: 7,7 Mrd. Euro). Dies ist kein Sonderfall, es ist das dritte Jahr in Folge mit Überschuss.148 2015 gab es einen Überschuss von 20,9 Mrd. Euro (Bund allein: 10 Mrd. Euro), 2014 gab es einen Überschuss von 8,6 Mrd. Euro (Bund allein: 8,6 Mrd. Euro).149 Im europäischen Vergleich stehen wir aktuell sehr gut da: in der Eurozone schlossen außer Deutschland laut Prognose lediglich Estland und Luxemburg das Jahr 2016 mit einem Finanzierungsüberschuss ab.150 Die Wirtschaftsleistung wächst seit Jahren solide. Das BIP stieg 2016 um 1,9%. Auch in den beiden vorangegangenen Jahren war es in einer ähnlichen Größenordnung gewachsen. Deutschlands Wirtschaft wuchs 2016 stärker als der europäische Durchschnitt. 151 Seit 2014 hat der Bund also wieder 147 148 149 150 151 Handelsblatt (2016): Deutschland wird 2016 wieder Exportweltmeister. Statistisches Bundesamt (2017). Pressemitteilung Nr. 063 vom 23.02.2017. Statistisches Bundesamt (2017). Pressemitteilung Nr. 063 vom 23.02.2017. Statistisches Bundesamt (2017). Pressekonferenz „Bruttoinlandsprodukt 2016 für Deutschland“ am 12. Januar 2017 in Berlin. Statement von Präsident Dieter Sarreither. Statistisches Bundesamt (2017). Pressekonferenz „Bruttoinlandsprodukt 2016 für Deutschland“ am 12. Januar 2017 in Berlin. Statement von Präsident Dieter Sarreither. 39 ein positives Finanzierungssaldo und eine gute Ausgangslage. Leider werden die Überschüsse nicht genutzt, um damit überfällige Investitionen zu tätigen. Im dritten Jahr in Folge mit einem Haushaltsüberschuss müssen wir endlich aufwachen. Selbst wenn wir zunächst nur den Überschuss investieren, wären das fast 24 Mrd. Euro. Weil die Zinsen für Kredite auf einem historischen Tiefpunkt angelangt sind, macht auch das Dogma der schwarzen Null erst recht keinen Sinn mehr. Es beschneidet die Entscheidungsspielräume und muss daher weg! Dafür braucht es eine Grundgesetzänderung. Zumindest müsste man die Schuldenbremse ergänzen. Dazu macht der Sachverständigenrat der Bundesregierung einen Vorschlag: Die öffentliche Investitionen in Infrastruktur von der Schuldenbremse ausnehmen. Selbst der Internationale Währungsfond fordert Deutschland auf, mehr Schulden zu machen. 152 Vor allem Investitionen in die Infrastruktur und Wohnraum hält der IWF für notwendig, Engpässe in der Verwaltung müssten behoben werden, Kommunen unterstützt werden. Außerdem spricht er von Strukturreformen, die Gering- und Durchschnittsverdiener entlasten. 330 Milliarden Haushalt Insgesamt hat der Bundesfinanzminister 2017 knapp 330 Mrd. Euro zur Verfügung153, um alle Ausgaben zu tätigen. 2014 waren es noch unter 300 Mrd. Das ist möglich, weil die Einnahmen gesteigert wurden. Es stimmt, dass der Bereich Arbeit und Soziales der größte Ausgabenposten ist, aber auch hier sollte man genau hinschauen, wie das Geld eingesetzt wird. Unverständlich sind andere Prioritätensetzungen. So kann man sehen, dass der zweithöchste Haushaltstitel mit 37 Mrd. und deutlich steigender Tendenz der Verteidigungsetat ist. Der Bereich bekommt so viel Geld wie vier andere wichtige Ressorts zusammen, darunter auch der Wissenschafts- und Bildungsbereich! Wir geben massiv Geld für Waffen und Ausrüstung aus, aber uns fehlt das Geld für Bildung, für Bauen, für Umwelt. Das wesentliche Problem ist also nicht, dass kein Geld da ist, sondern wie es ausgegeben wird. eigene Darstellung, Datengrundlage: Bundesfinanzministerium, Stand 03.02.2017 152 153 Greive, Martin (2016): Der IWF will, dass Deutschland Schulden macht. In: Welt. Sollwert des Haushaltsjahres: 329,1 Milliarden Euro. Angaben: Bundesfinanzministerium. 40 Schädliche Subventionen Nicht nur die Aufteilung der Politikbereiche im Budget müssen wir überdenken. Jedes Jahr haben wir Mrd. Euro Belastungen des Staates durch gesundheits- und umweltschädliche Subventionen – im Jahr 2012 allein über 57 Mrd. Euro aus der Kasse des Bundes. Diese Subventionen belasten uns doppelt: durch Mehrausgaben/Mindereinnahmen des Staates und ebenso durch die konkreten Schäden an Umwelt und Gesundheit, die wir später mit erhöhten Kosten einzudämmen versuchen. Das umfasst das Klima, Wasser, Boden, Luft, Flächen und die biologische Vielfalt.154 Klimaziele werden damit konterkariert. Dabei muss erwähnt werden, dass diese Belastungen dann nachweislich vor allem die ärmeren Bevölkerungsteile am stärksten betrifft. Den Nutzen dieser Subventionen haben dagegen in der Regel einige wenige Privilegierte. Wo subventioniert der Staat Zerstörung? Vor allem in den Bereichen Energiewirtschaft (z. B. Stromund Energiesteuer-Ermäßigungen für das Produzierende Gewerbe, kostenfreie Zuteilung der CO2Emissionsberechtigungen) und Verkehr (z. B. Energiesteuerbefreiung des Kerosins für Flugverkehr und Mehrwertsteuerbefreiung für internationale Flugtickets).155 Subventionen, die schädliche Produkte und Techniken verbilligen oder umweltschädliche Aktivitäten belohnen, sind an sich ein haarsträubendes Konstrukt. Sie führen dazu, dass die Verursacher einen Teil der Kosten nicht selbst tragen und sie stattdessen dem Staat und der Gesellschaft aufbürden. Sie wirken also dem Gemeinwohl entgegen. Ohnehin entziehen sich einige Verursacher der Verantwortung, in dem Umweltkosten einfach vernachlässigt werden. Würden diese massiven Kosten für Umweltzerstörung umgelegt, so wäre Kohlestrom im Vergleich zu Strom aus Wind und Sonne z. B. nicht mehr konkurrenzfähig.156 Die zusätzlichen Subventionen verschärfen diesen Missstand. Einige dieser Maßnahmen hatten und manche haben vielleicht noch ihre Berechtigung, jedoch lässt sich hier auch wieder der massive Einfluss der Lobby erkennen. Mit dem zügigen Abbau dieser fragwürdigen Maßnahmen könnten wir bis zu 50 Mrd. Euro jährlich mehr Geld einnehmen und dieses sinnvoll investieren. Selbst mit einem stufenweisen Abbau würden schnell mindestens 15-20 Mrd. jährlich mehr für Investitionen zur Verfügung stehen – das ist in etwa die Höhe des gesamten Bildungs- und Forschungshaushaltes. Gesetzliche Krankenkasse für alle Ein Vorschlag, über den man ernsthaft nachdenken sollte: Die gesetzliche Krankenkasse funktioniert über das Solidarprinzip. Dabei klinken sich aber viele Berufsgruppen aus, z. B. Abgeordnete, Selbstständige und Beamte. Dies muss ein Ende haben – Sonderregelungen sind hier fehl am Platz. Es ist nicht nur eine Frage der Solidarität und Gleichberechtigung. Mit einer Bürgerversicherung würde der Staat zudem Geld sparen, die sogenannte „Beihilfe für Beamte“ zum Beispiel. 85% der Beamten sind privat krankenversichert. Über die Beihilfe trägt der Staat – und damit wir alle – in der Regel die 154 155 156 Umweltbundesamt (2017): Umweltschädliche Subventionen. http://www.umweltbundesamt.de/themen/wirtschaft-konsum/wirtschaftumwelt/umweltschaedliche-subventionen#textpart-1 Umweltbundesamt (2017): Umweltschädliche Subventionen. http://www.umweltbundesamt.de/themen/wirtschaft-konsum/wirtschaftumwelt/umweltschaedliche-subventionen#textpart-1 Deutsche Welle (2015): Gigantische Subventionen für fossile Energien. 41 Hälfte ihrer Krankheitskosten, bei Pensionären übernimmt der Staat sogar 70%. Die noch aktiven Beamten müssen deshalb für sich und ihre Familienangehörigen weniger in die private Krankenversicherung einzahlen.157 Der schrittweise Ausstieg aus dem Beihilfesystem für Beamte könnte allen zugute kommen: er würde Bund und Länder bis 2030 um insgesamt 60 Mrd. Euro entlasten. Und das sogar, obwohl die staatlichen Arbeitgeber für die Beamten dann ja die Hälfte des Krankenversicherungsbeitrags bezahlen müssten. Das unabhängige und auf Gesundheitsfragen spezialisierte Iges-Institut in Berlin geht davon aus, dass der Bund bereits im ersten Jahr 1,6 Mrd. Euro sparen würde, die Länder 1,7 Mrd.158 Dieses eingesparte Geld kann an anderer Stelle investiert werden, wo es dringend benötigt wird. Auch die Bürgerinnen und Bürger hätten was von diesem Systemwechsel. Die gesetzlichen Krankenkassen hätten unterm Strich ein Plus von 3 Mrd. Euro jährlich, wenn allein Beamte einzahlen würden, und könnten damit den Beitrag um mindestens drei Zehntel verringern.159 Nimmt man hinzu, dass zudem Abgeordnete, Selbstständige und andere Privatversicherte ebenfalls einzahlten, so wäre der Gewinn für die gesetzlichen Krankenkassen ganz erheblich. Sie könnten Beiträge noch deutlicher senken, was am Ende uns allen nützt, auch den Beamten. Ein solcher Systemwechsel funktioniert sicherlich nicht von heute auf morgen, sondern mit Übergangsphasen. Menschen, die jetzt bereits privat versichert sind, sollten nicht zum Wechsel gezwungen werden. Ihre Erwartungen und Planungen gilt es zu respektieren. Das System sollte schrittweise mit denen verändert werden, die neu in den Arbeitsmarkt treten und sich erstmals selbst versichern müssen. 3. Forderungen 3.1 International Wie schon beschrieben, werde ich in diesem Dossier vor allem auf Maßnahmen eingehen, die man national bewältigen kann. Aber zumindest einige wichtige Maßnahmen und Vorschläge, für die sich die deutsche Regierung auf internationaler Ebene massiv einsetzen müsste, möchte ich nicht unterschlagen. Wir können es nicht akzeptieren, dass große Konzerne ihre Milliarden in Steueroasen bringen und sich damit der Finanzierung des Gemeinwesens entziehen. Einige Länder locken Unternehmen mit Steuerdeals, auf Kosten aller anderen Länder. Allein der SteuerdumpingWettbewerb der EU-Länder untereinander und die damit einhergehende Steuerflucht der Unternehmen kostet die EU jedes Jahr zwischen 50 und 70 Mrd. Euro.160 Ganz zu schweigen von Steuerparadiesen außerhalb der EU. Auch müssen die groben Auswüchse des Finanzsystems beschnitten werden. Hierfür bräuchte es sicherlich Anstrengungen, es ist aber ein mögliches Projekt, wenn man es denn wirklich will. 157 158 159 160 Öchsner, Thomas (2017): Wie der Staat 60 Milliarden Euro sparen könnte. In: Süddeutsche Zeitung online. Öchsner, Thomas (2017): Wie der Staat 60 Milliarden Euro sparen könnte. In: Süddeutsche Zeitung online. Öchsner, Thomas (2017): Wie der Staat 60 Milliarden Euro sparen könnte. In: Süddeutsche Zeitung online. Europäisches Parlament (2016): Körperschaftssteuer: EU-Kommission präsentierte Vorschläge für gerechte Besteuerung der Unternehmen. 42 Steuerflucht bekämpfen 1. Verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Steuerbehörden der Staaten. International gilt es, Transparenz herzustellen und gegenseitig Amtshilfe in Steuerangelegenheiten zu leisten. Der Datenaustausch sollte automatisch erfolgen. Möglich ist diese Entwicklung durch das Hinarbeiten auf völkerrechtliche Verträge, in denen sich die Staaten verpflichten, wichtige Auskünfte in Besteuerungs- oder Steuerstrafverfahren zu erteilen und zu kooperieren. Die „Convention on mutual administrative assistance in tax matters” haben bis heute 108 Staaten unterzeichnet.161 2. Zugang zu frischem Geld begrenzen. Es bedarf eines Beschlusses der Parlamente, den Banken ein Konto bei der EZB oder der Federal Reserve zu verwehren, wenn sie Geschäfte mit Steuerfluchtplätzen betreiben. Sie könnten dann nicht mehr in Euro oder Dollar handeln.162 3. International einheitliche Bemessungsgrundlage für Konzerngewinne. Bereits 2011 hat die EU-Kommission einen Richtlinienvorschlag über eine gemeinsame KörperschaftsteuerBemessungsgrundlage präsentiert. Nach umfassender Kritik folgten im Oktober 2016 zwei neue Richtlinienvorschläge. Unternehmen ab einem Gesamtumsatz von mindestens 750 Mio. Euro sollen bei der Gewinnermittlung demnach nicht mehr die individuellen nationalen Vorschriften von 28 EU-Mitgliedstaaten Gewinnermittlungsvorschrift. einhalten, Durch eine sondern eine gemeinsame einheitliche harmonisierte Bemessungsgrundlage würden Gewinnverschiebungen unwirksam werden. 4. International einheitliche Körperschaftssteuersätze festlegen. In einem zweiten Schritt muss in der Folge eine Einigung über einheitliche Steuersätze erzielt werden, um Steuerflucht unmöglich zu machen. Dies ist wahrlich eine Herausforderung, wenn man bedenkt, dass die Höhe der Körperschaftssteuer in Europa zwischen 10-12,5% (Bulgarien, Irland, Zypern) und 33-35% (Frankreich, Belgien, Malta) liegt. Einen Kompromiss zu finden, ist nicht einfach. Ein Minimalkompromiss könnten Untergrenzen für die Unternehmensbesteuerung sein. Schließlich müsste der Zugang zum Binnenmarkt davon abhängig gemacht werden, sodass sich Drittländer nicht durch Dumpingsteuern Wettbewerbsvorteile verschaffen, argumentiert Peter Bofinger.163 5. Maßnahmen des BEPS-Projektes umsetzen. Im BEPS-Projekt164 wurden unter Beteiligung von 62 Staaten 2015 zahlreiche Maßnahmen erarbeitet, um die (noch legale) aggressive Steuerflucht international tätiger Unternehmen zu verhindern. Es gilt, diese Maßnahmen schnell und gemeinsam umzusetzen. Ohne jetzt ausführlich auf jede einzelne Maßnahme einzugehen, möchte ich ein Beispiel nennen: Künstliche, grenzüberschreitende Gewinnverlagerungen verhindern. Gewinne müssen in dem Land besteuert werden, in dem die maßgebliche Geschäftstätigkeit stattfindet. Ein grundlegendes Konzept großer Konzerne ist es, ihre Gewinne über das Konstrukt der Rechteüberlassungen ins Ausland zu bringen. Immaterielle Wirtschaftsgüter wie Patente, Lizenzen, Konzessionen oder Markenrechte eignen sich dazu bestens. Die Rechte werden 161 162 163 164 Stand 03.01.2017. OECD: jurisdictions participating in the convention on mutual administrative assistance in tax matters. http://www.oecd.org/tax/exchange-of-tax-information/Status_of_convention.pdf Schumann, Harald (2016): Die Herrschaft der Superreichen. Blätter 12/2016, Seite 67-78. Bofinger, Peter (2016): Entschädigt die Verlierer der Globalisierung! In: Zeit online. Base Erosion and Profit Shifting, auf Deutsch etwa Gewinnkürzung und Gewinnverlagerung. Mehr dazu auf der Seite des Bundesfinanzministeriums: https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/FAQ/2014-06-05-faq-beps.html 43 konzernintern von einer Tochtergesellschaft in Land A an eine andere in Land B „verkauft“, wo die Steuerbelastung deutlich geringer ist. IKEA nutzt dieses Prinzip ausgiebig. Die Namensrechte gehörten einer Firma in den Niederlanden. So zahlten die deutschen Niederlassungen Lizenzgebühren in Höhe von 3% ihres Umsatzes steuerfrei an die Tochter in den Niederlanden, wo diese Gewinne lediglich mit 5% versteuert wurden.165 Finanzmärkte regulieren 1. Finanztransaktionssteuer/“Tobin-Tax“. Sie ist gedacht als sehr niedrige Steuer auf sämtliche internationale Geldtransfers, um kurzfristige Spekulation einzudämmen. Die am internationalen Finanzmarkt problematischen Transaktionen sind natürlich nicht die seltenen Überweisungen von Privatpersonen. Den Großteil des Problems machen die „round-trips“ aus, die innerhalb von Sekunden weiter überwiesen werden. Das Geld pendelt ständig hin und her, z. B. zwischen zwei Ländern. Die Hochfrequenztransaktionen führen zu rapiden Preis-/Kursbewegungen. Die Steuer würde ultrakurze Spekulationen belasten und Wechselkursstabilität erzeugen. 2. Rückzug aus der Staatshaftung. Banken müssen scheitern können! Systeme der Institutsund Einlagensicherung für kleine und mittelgroße Banken sollten zwar beibehalten werden, darüber hinaus haften jedoch zunächst einmal die Eigentümer, danach auch die Gläubiger einer Bank. Im Falle eines unverantwortlichen Geschäftstreibens muss eine Bank im Zweifel auch abgewickelt werden können. Das animiert das Bankenmanagement zu verantwortungsvollem und risikoärmerem Handeln. 3. Gründung einer internationalen Ratingagentur in Form einer gemeinnützigen Stiftung. Aktuell können 3 amerikanische Ratingagenturen ganze Volkswirtschaften vernichten. Das ist nicht hinnehmbar. Dazu muss die Staatengemeinschaft ein Gegengewicht bilden. Andere Optionen sind mehr unabhängige Kontrolle von Staatenratings durch die OECD oder den IWF, eine Reform der Geschäftsmodelle von Ratingagenturen und die Förderung bankeigener Ratingverfahren. 4. Weltweit höhere Eigenkapital- und Liquiditätsanforderungen für Banken festlegen. Um das Zocken mit fremdem Geld einzudämmen, braucht es auch für Banken eine Eigenkapitalquote von 30%, alle Vermögen werden gleich gewichtet. Vorstellbar ist auch, dass man eine Zeit lang Gewinnausschüttungen verbietet, um dieses Ziel zu erreichen. 30% ist nicht absurd viel – es ist genauso viel, wie Banken in etwa von ihren Kunden verlangen. 166 5. Schattenbanken international regulieren. Es gibt nach wie vor weite Bereiche des Finanzsektors, die keiner oder nur einer geringen Aufsicht unterliegen. Als Schattenbanken gelten beispielsweise Geldmarktfonds, Hedgefonds, börsengehandelte Indexfonds und spezielle Zweckgesellschaften. Sie sind für das Finanzsystem hochgefährlich, werden aber nicht ausreichend kontrolliert. Inzwischen warnt der IWF, denn Schattenbanken bewegen immer größere Volumina an den Märkten. Seit der Finanzkrise haben sie einen großen Aufstieg erlebt.167 Für sie müssen endlich die gleichen Regeln wie für Banken gelten, denn sie verdienen ihr Geld auf ähnliche Art und Weise. 165 166 167 Manager Magazin (2017): Schäuble will Ikeas Steuerschlupfloch schließen. Von Petersdorff, Winand (2013): Die gute Bank hat viel Kapital. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Zschäpitz, Holger (2016): Die gefährliche Macht der Schattenbanken. In: Welt online. 44 3.2 Pakt für Chancengleichheit Der damaligen sozialliberalen Koalition ist es in den 70er Jahren gelungen, mehr Chancengleichheit zu schaffen, das Aufstiegsversprechen prägte unsere Gesellschaft. Davon ist wenig geblieben. Im Gegenteil, aus der Aufstiegsgesellschaft wird immer mehr eine Abstiegsgesellschaft. Immer mehr hängt die Entwicklung eines jungen Menschen vom Geldbeutel der Eltern und dem Wohnumfeld ab. Das ist höchst ungerecht, aber nicht nur das. Wirtschaftswissenschaftler warnen eindringlich davor, dass fehlende Chancengleichheit immer mehr auch der gesamten Wirtschaft schadet. Je mehr Menschen die Möglichkeit haben, ihre Talente zu entwickeln und einzubringen, desto mehr profitiert die gesamte Wirtschaft von besser qualifizierten und motivierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Letztlich profitieren wir alle von einem höheren wirtschaftlichen Potenzial.168 Für eine höhere soziale Mobilität, für mehr Fairness brauchen wir einen Pakt für Chancengleichheit, denn dieser Punkt sollte Gesellschaft, Wirtschaft und allen politischen Parteien am Herzen liegen. Wir wissen, dass Bildung der wichtigste Hebel für Chancengleichheit ist – gerade hier sind Investitionen nicht nur gerechtfertigt, hier sind sie zwingend notwendig und sie zahlen sich aus! Ein gutes Lernumfeld ist eine Grundvoraussetzung für Chancengleichheit, deshalb muss das Geld vor allem dorthin fließen, wo die Kinder die schlechtesten Voraussetzungen haben. Hier einige wichtige Forderungen, die über die übliche berechtigte Parole „mehr Geld für Bildung“ hinausgehen. 1. Das Kooperationsverbot aufheben. Es verhindert bislang eine dauerhafte Zusammenarbeit von Bund und Ländern beispielsweise im Schulbereich. Dadurch ist ein riesiger Investitionsstau entstanden, der endlich aufgelöst werden muss. 2. Massiver Ausbau der Kinderbetreuung, Zugang zu frühkindlicher Förderung, ein kostenloses Schulessen für alle Kinder. Dafür gibt es dann keine Herdprämien oder ähnliche Zahlungen mehr, die nur dazu führen, die Kinder von Kindergärten fernzuhalten. 3. Bessere Bezahlung von Frauen und Männern, die Kinder vor der Schule betreuen. 4. Aufstockung der Schul- und Familiensozialarbeiter. Dies könnte durch eine Mischfinanzierung von Bund und Ländern geschehen. Die meisten Mittel müssten in jene Regionen fließen, die die meisten Problemstadtteile haben. 5. Teilhabe garantieren. Erhöhung von Sport-/Freizeitangeboten und Jugendeinrichtungen, die finanzielle Unterstützung bei Austauschprogrammen und Bildungsreisen, eine verstärkte Berufsberatung sowie Extremismus-/Gewaltprävention. 6. Einführung einer wirklichen Erbschafts- und Schenkungssteuer. Ich habe die Erbschaftssteuer bewusst hier beim Pakt für Chancengleichheit eingefügt, denn wie kein anderes Vermögen führen riesige Erbschaften, deren Besteuerung ein Witz darstellt, zu einer Vernichtung der Chancengleichheit. Während einige Wenige nie in ihrem Leben etwas leisten müssen und dennoch lebenslang hohen Wohlstand genießen können, werden viele andere Jahrzehnte lang hart arbeiten und sich bemühen und dennoch kaum von ihren Einkünften leben können. Besonders ungerecht ist hierbei: je höher die Erbschaften sind, desto weniger muss prozentual abgegeben werden. Schätzungen gehen davon aus, dass in den nächsten zehn Jahren drei bis vier Bio. Euro an Vermögen weitergegeben werden! Es geht nicht um das 168 Marcel Fratzscher: Deutschlands hohe Ungleichheit verursacht wirtschaftlichen Schaden. In: Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik. 96. Jahrgang, 2016, Heft 13 45 vererbte Häuschen und auch nicht um den kleinen oder mittelständischen Betrieb, sondern nur um einen bescheidenen Beitrag, der dennoch Milliarden Euro in die Kassen spülen könnte. Bei einem wirklichen Pakt könnte genau dieses Geld den Kindern und der Bildung zu Gute kommen. 7. Eine Enquete-Kommission Kinder einrichten. Denn hier entscheidet sich, welche Chancen die nächsten Generationen haben. Im Mittelpunkt könnte eine Debatte um eine Art Grundeinkommen von Kindern stehen. So plädiert der britische Ökonom Richard Atkinson für eine deutliche Erhöhung des Kindergeldes, allerdings sollte dieses dann versteuert werden, was bedeutet, dass netto ärmere Eltern mehr von dem Geld hätten. Zudem würde ich dafür eintreten, dass Alleinerziehende per se einen höheren Kindergeldsatz bekommen sollten. Wie beschrieben besteht für Alleinerziehende ein besonders großes Armutsrisiko. Eine Möglichkeit wäre es, das Kindergeld von Paaren um 50%, das von Alleinerziehenden um 75% zu erhöhen. Eine Alternative wäre die Garantie, dass die Kinderbetreuung vor allem von Alleinerziehenden kostenlos in Anspruch genommen werden kann. 3.3 Neues Zukunftsinvestitionspaket (ZIP) In immer mehr Regionen können wir nicht mal mehr den Status quo der Infrastruktur halten. Brücken und Straßen verfallen und Schulen sind marode. Die KfW Bankengruppe kam auf Grundlage von Gemeinde-Befragungen im Jahr 2015 auf einen aufgestauten kommunalen Investitionsrückstand in Höhe von 136 Mrd. Euro, davon ein Viertel im Bereich der Bildung.169 Die Investitionsquote170 der Bundesrepublik sinkt seit vier Jahrzehnten stetig.171 Anhand dieser Kennziffer lässt sich beurteilen, wie stark ein Land in seine künftige wirtschaftliche Entwicklung investiert. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sowie außereuropäischen Industrieländern wie den USA oder Japan fällt die Investitionsquote in Deutschland geringer aus. 172 Die eigens von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission, die sogenannte Fratzscher-Kommission, bescheinigt Deutschland eine „signifikante Investitionsschwäche“: „Dem Staat kommt die Aufgabe zu, durch öffentliche Investitionen den Erhalt und die Entwicklung der technischen und der sozialen Infrastruktur zu sichern [und] gesellschaftliche Bedarfe zu decken. […] Eine zentrale Schwäche in Deutschland ist die fehlende Erhaltung der öffentlichen Infrastruktur in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten. Da insbesondere Städte und Gemeinden mit geringer Wirtschaftskraft ihre Investitionsbudgets in den vergangenen Jahren erheblich reduziert haben, zeichnet sich gerade auf kommunaler Ebene ein zunehmender Investitionsbedarf, etwa in den Bereichen Verkehr, Bildung und soziale Infrastruktur, ab. Einer der zentralen Gründe hierfür liegt in der unzureichenden Finanzausstattung vieler Kommunen.“173 Expertenkommission der Bundesregierung 169 170 171 172 173 Expertenkommission im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel, zur Stärkung von Investitionen in Deutschland (2016): Stellungnahme vom 12.12.2016. Ausgaben der öffentlichen Hand für Investitionen im Verhältnis zum BIP. Jäger, Philipp; Schmidt, Torsten (2015). Expertenkommission im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel: Bericht "Stärkung von Investitionen in Deutschland" (2015). Expertenkommission im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel: Bericht "Stärkung von Investitionen in Deutschland" (2015). S. 5. 46 Gerade jetzt, wo die wirtschaftliche Lage sich zwar etwas abkühlt, aber noch positiv ist, wäre ein guter Zeitpunkt für ein umfassendes und nachhaltiges Investitionspaket. Die positiven Effekte würden dann zum Tragen kommen, wenn die Wirtschaft weiter abflaut. 1. Investitionsrückstau abbauen. Umsetzung des Vorschlags des Expertengremiums der Bundesregierung, zumindest die gegenwärtigen Überschüsse primär für öffentliche Investitionen zu verwenden. Besonders im Focus sollte dabei der Investitionsrückstau bei Schulen, Straßen, Kindergärten, Universitäten und Krankenhäusern liegen. 2. Ein langfristig angelegtes Zukunftsinvestitionsprogramm. Dieses sollte schwerpunktmäßig in Bildung, Forschung und Klimaschutz investieren und würde dadurch nachhaltiges Wachstum generieren sowie zukunftsfähige Arbeitsplätze schaffen. Das derzeitige Investitionspaket für soziale Integration, Schulen, Kitas, gute Nachbarschaften und Quartiersmanager ist ein guter Anfang und wirkt sich auch positiv in Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf aus. Es sollte fortgeführt und mit weiteren Schwerpunkten ausgebaut werden. Es gibt noch große Investitionsbedarfe in den Bereichen Verkehrsinfrastruktur, Verwaltung oder sozialer Wohnungsbau. Durch den Einsatz von staatlichen Mitteln würden die Kommunen entlastet und die privaten Investitionen in den Städten würden sich erhöhen, denn mehr als die Hälfte des Nachholbedarfs entfallen auf Instandhaltung, Sanierung, Aus-, Rück- und Umbau von Gebäuden. 3. Selbstverpflichtung zu Vermögenserhalt. Um die öffentliche Daseinsvorsorge zu stärken, empfiehlt die Kommission der Bundesregierung zudem eine Selbstbindung der öffentlichen Hand: sie spricht von einer Verpflichtung des Staates zu öffentlichen Investitionen in jener Höhe, dass zumindest die Abschreibungen auf das Vermögen kompensiert werden. 174,175 Man hat fahrlässig und undifferenziert eine Schuldenbremse ins Grundgesetz geschrieben. Diese müssen wir nun ergänzen mit einer Verpflichtung, den Schutz und die Instandhaltung der öffentlichen Infrastruktur zu gewährleisten. Dabei sollten die Investitionen den Wertverlust stets überschreiten. Unerwartete Überschüsse müssten in eine Investitionsrücklage überführt werden, um für schlechtere Zeiten zurückzulegen. 4. Bessere Erfassung von Vermögensbeständen. Dafür braucht es mehr Anstrengungen, die öffentlichen Vermögenswerte sind momentan nicht ausreichend gelistet. Um frühzeitig auf Missstände reagieren zu können, ist eine vollständige Erfassung des Zustands notwendig. Die Kommission fordert mehr Transparenz über die erhobenen Daten, um Rechenschaft gegenüber Bürgern und Bürgerinnen zu ermöglichen. Die Transparenz über den Wert öffentlicher Vermögen müsste mit der doppelten Buchführung in Kommunen sichergestellt werden. 3.4 Faire Steuern Es geht in erster Linie nicht darum, die Gesamtsteuern zu erhöhen, wichtig ist eher, wie wir die Lasten verteilen. Unser Steuersystem muss gerechter werden, es muss eindeutig umverteilt werden. In den 174 175 Expertenkommission im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel: Bericht "Stärkung von Investitionen in Deutschland" (2015). S.13. Expertenkommission im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel, zur Stärkung von Investitionen in Deutschland (2016): Stellungnahme vom 12.12.2016. 47 letzten 20 Jahren sind gerade diejenigen entlastet worden, die sowieso schon ein großes Vermögen haben. Zusätzliche Belastungen – beispielsweise bei der Mehrwertsteuer – treffen diejenigen, die nicht so viel besitzen, im Verhältnis stärker. Dies ist nicht nur unfair, es schädigt unsere Wirtschaft, denn wirklich Vermögende werden ihren zusätzlichen Gewinn nicht investieren, sondern eher damit spekulieren oder ihn auf die hohe Kante legen. Die Mittelschicht oder ärmere Bevölkerungsgruppen werden zusätzliches Geld eher sofort zum Konsum nutzen, d.h. Waren und Dienstleistungen nachfragen. Erschwerend kommt hinzu, dass Steuerflucht immer noch nicht konsequent genug verfolgt und bestraft wird, sodass eine Reihe von Wohlhabenden Steuerlöcher nutzt und einen Teil der Steuer komplett dem Gemeinwesen entziehen kann. Ein besonderer Skandal ist, dass internationale Großkonzerne teilweise lächerlich wenig Steuern bezahlen, während kleine und mittelständische Unternehmen ihren Verpflichtungen vollständig nachkommen müssen. Steuern sind eine der Hauptstellschrauben, die ein Staat besitzt, um mehr Gerechtigkeit herzustellen und Ungleichheit zu begrenzen. Wohlwissend, dass Steuern gerade in Deutschland unbeliebt sind, sollte sich jeder bewusst machen, dass er auf der anderen Seite auch von der bereitgestellten Bildung, der Infrastruktur, der Daseinsvorsorge sowie den stabilen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen profitiert. Dennoch muss auch gewährleistet werden, dass die Belastungen begrenzt und fair verteilt werden. Hier einige Vorschläge, die nicht unbedingt kumuliert angewendet werden müssen, die aber zeigen, dass sich die Möglichkeiten nicht auf die ewigen zwei Vorschläge Reichensteuer und Vermögenssteuer reduzieren lassen. 1. Einkommensteuer deutlich progressiver gestalten. Am unteren Ende müssen Freibeträge steigen und Steuersätze sinken – am oberen Ende müssen die Tarifzonen höher ansetzen und Steuersätze steigen. Richtig wäre, den höchsten Grenzsteuersatz bei weit höheren Einkommen einsetzen zu lassen (z. B. 80.000 Euro jährlich statt wie bisher 53.666 Euro jährlich) und in dieser Gruppe auch wieder mit über 50% zu besteuern. Ein Steuersatz von 55% für die sogenannte „Reichensteuer“ ab einem Einkommen von 255.000 Euro ist sinnvoll. Im Gegenzug könnten untere und mittlere Einkommensschichten entlastet werden. Dies geht, indem beispielsweise Steuerfreibeträge erhöht (z. B. Werbekostenpauschale für Arbeitnehmer) oder Steuersätze am unteren Ende der Einkommensskala gesenkt werden. Ein Grundfreibetrag von 8.652 Euro pro Jahr besteht aktuell. Ich halte es für angemessen, den Grundfreibetrag auf 15.000 Euro jährlich zu erhöhen und den Steuersatz in der niedrigsten Lohngruppe auf 10% zu senken. Insgesamt könnte man damit eine Spanne der Steuersätze zwischen 10% und 55% realisieren. 2. Legale Steuerflucht abschaffen. Die Steuerpflicht muss an die deutsche Staatsbürgerschaft geknüpft werden. Um zu vermeiden, dass vermögende Privatpersonen sich durch eine Verlagerung des Wohnsitzes in Niedrigsteuerländer wie die Schweiz oder Monaco der deutschen Steuerpflicht entziehen, wäre dieses Gesetz eine sinnvolle Regelung. Um Doppelbesteuerung und Bürokratieaufwand zu vermeiden, können wir uns am USamerikanischen Modell orientieren. Bei Einführung großzügiger Freibeträge und Anrechenbarkeit von im Ausland gezahlten Steuern wird der größte Teil der im Ausland lebenden Staatsbürger von der Regelung nicht berührt. Lediglich jene sehr wohlhabenden 48 Personen, die offenbar ihren Wohnsitz aus rein steuerlichen Gründen verlegt haben, könnten zielgenau adressiert werden. Sie würden mit ihrem Welteinkommen steuerpflichtig, unabhängig von ihrem Wohnsitz. Sie müssten die Differenz der Steuern dann in Deutschland zahlen. Schließlich haben auch sie vom deutschen Gemeinwesen profitiert, mindestens bis zu dem Zeitpunkt, als sie Deutschland verlassen haben. Vielfach erfolgt der Umzug nur auf dem Papier. 3. Unternehmensbesteuerung anpassen. Großkonzerne wie Amazon müssen endlich angemessen ihre Gewinne besteuern. Man sollte endlich Bevorzugungen und Schlupflöcher schließen, die einseitig besonders Wohlhabende nutzen können. Erstes Beispiel: Kauft eine kleine Familie heute ein Haus, wird Grunderwerbssteuer fällig. Wohlhabende erwerben ihre Immobilien über eigens Grunderwerbssteuern an. dafür 176 gegründete Firmen. Beim Firmenkauf fallen keine Ein zweites Beispiel: Wir wissen, dass gerade die großen Konzerne ihre Gewinne nicht ordentlich versteuern, Konzerne wie Google, Apple, Amazon, Fiat Financial und Starbucks. Sie profitieren vom Gemeinwesen, welches von uns allen bezahlt wird: von staatlichen Investitionen in Forschung, von gut ausgebildeten Arbeitskräften und von guter Infrastruktur in den Ländern ihrer Niederlassungen. An den Kosten beteiligen sie sich jedoch nicht wirklich. Eine faire Besteuerung muss jedoch dem Prinzip „Besteuerung am Ort der Gewinnentstehung“ folgen. Ein dritter Punkt ist die Körperschaftssteuer, also die Besteuerung von Gewinnen bei Unternehmen. Seit der Absenkung des deutschen Körperschaftsteuersatzes 2008 auf 15% ist Deutschland im internationalen Vergleich zu großzügig gegenüber den Konzernen. Nur Länder wie die Schweiz, Bulgarien, Irland und Zypern haben niedrigere nominale Körperschaftsteuersätze. Zum Vergleich: Frankreich 33,3%, Belgien 33%, Malta 35%, USA 35%, Japan 23,9%.177 Eine Erhöhung des Steuersatzes in Deutschland ist angemessen und eine europäische Harmonisierung dringend notwendig. 4. Abgeltungssteuer abschaffen. Weiterhin brauchen wir ein Ende der unterschiedlichen Besteuerung von Kapital und Arbeit. Beides sollte progressiv mit dem gleichen Referenzrahmen besteuert werden. Einkommen aus harter Arbeit darf nicht stärker besteuert werden als Einkommen aus Aktienbesitz. Den aktuellen Höchststeuersatz von 45% bezahlen die meisten Reichen tatsächlich gar nicht, da sie ihr Geld nicht etwa mit Arbeit verdienen, sondern mit Kapitalerträgen, die lediglich mit 25% besteuert werden. Eine sinnvolle Maßnahme ist daher die Abschaffung der Sonderregelung für Kapitaleinkünfte, also die Abschaffung der sog. Abgeltungssteuer. 5. Mehrwertsteuer senken. Die Mehrwertsteuer belastet vor allem Menschen im Mittelstand und solche mit kleineren Einkommen, da die Steuer bei ihnen einen größeren Teil ihrer Gesamtausgaben ausmacht. Daher wäre es sinnvoll, die Mehrwertsteuer zu senken. Der Volkswirtschaftler Prof. Carl Christian von Weizsäcker schlägt vor, die Steuer fünf Prozentpunkte oder mehr zu senken, auch um die Leistungsbilanz auszugleichen. Denn Waren und Dienstleistungen in Deutschland würden so günstiger, Verbraucher und Unternehmen würden mehr konsumieren, auch Güter, die aus dem Ausland eingeführt werden. Dadurch würde der Import gestärkt, ohne den Export zu schwächen. 178 176 177 178 Wüllenweber, Walter (2016): Ist das gerecht? In: Stern. 08.12.2016, S. 28f. Bundesministerium der Finanzen (2016): Die wichtigsten Steuern im internationalen Vergleich 2015. Jung, Alexander (2017): Wie Deutschland seine Importe rasch steigern kann. In: Spiegel online. 49 6. Steuergelder sinnvoll nutzen. Wir sollten Maßnahmen finanzieren, die besonders einkommensschwachen Personen und Haushalten zugutekommen, z. B. die Erhöhung des Kindergeldes und massive Investitionen in bezahlbaren Wohnraum, die dringend notwendig sind. Aber auch kleine und mittelständische Unternehmen sollten mehr von Erleichterungen profitieren. Teilweise würde es schon helfen, die bürokratischen Hemmnisse und Auflagen zu erleichtern. 7. Steuerhinterziehung wirksamer bekämpfen. Schätzungen zufolge verliert Deutschland jährlich rund 100 Mrd. Euro an Steuereinnahmen durch Steuerhinterziehung. 179 Fälle wie Hoeneß oder Schwarzer können wir jeden Tag in der Zeitung nachlesen. Wir müssen endlich deutlich machen, dass Steuerbetrug kein Kavaliersdelikt ist. Dazu benötigen wir deutlich härtere Strafen und mehr Kontrollen. Allein der Ankauf von Steuer-CDs und die folgenden Wellen von Selbstanzeigen verdeutlichen, wie groß die Verluste sind. Seit 2010 hat Nordrhein-Westfalen damit rund 1,2 Mrd. Euro eingenommen, bundesweit waren es sogar rund 6 Mrd. Euro.180 3.5 Starke Kommunen Die Kommunen halten die Versorgung vor Ort im Gange und leisten damit extrem wichtige Beiträge. Hier leben die Menschen und hier ist die Ebene, die am Ende der politischen Kette steht und die Probleme nicht mehr abwälzen kann. Viele Jahre lang haben die Kommunen immer mehr Verantwortung übertragen bekommen, im Gegenzug wurden aber nicht alle Leistungen vom Bund ausreichend gegenfinanziert. Die Situation hat sich durch den Druck von Seiten der Kommunen und der SPD in den letzten Jahren etwas verbessert. Allerdings hat auch dieses Dossier aufgezeigt, dass die Regionen und Kommunen unterschiedlich von der Ungleichheit betroffen sind. Die unabhängige Expertenkommission zur „Stärkung von Investitionen in Deutschland“, der 21 Vertreter aus Wirtschaft, Gesellschaft und Wissenschaft angehören, hob im Dezember 2016 in ihrer Stellungnahme 181 noch einmal die Notwendigkeit hervor, die Kapazitäten der Kommunen zu stärken. 1. Schwächere Kommunen besonders unterstützen. Die Kommission weist darauf hin, dass sich der Investitionsumfang in den Kommunen stark unterscheidet. Dabei spielen auch wirtschaftliche Strukturunterschiede und die verschieden hohe Belastung durch Sozialausgaben eine erhebliche Rolle. So haben die Kommunen letztlich unterschiedlich viel Geld für Investitionen zur Verfügung. Die Expertenkommission rät daher dazu, finanzschwache Kommunen noch stärker zu unterstützen.182 Die unterschiedliche Ausgangslage in den Kommunen ist zu großen Teilen durch die Umstände bestimmt, z. B. durch den Strukturwandel. 2. Solidaritätszuschlag von einer Ost-/West-Förderung in eine Förderung von benachteiligten Regionen unabhängig ihrer Geografie ummünzen. Regionen, die besondere Unterstützung benötigen, sollten diese auch erfahren. Wir müssen ein gesamtdeutsches Fördersystem schaffen, dass nicht nach Himmelsrichtungen funktioniert. Es 179 180 181 182 Hans Böckler Stiftung. Magazin Mitbestimmung. 10/2012. Spiegel online (2016): Zahl der Selbstanzeigen von Steuerhinterziehern bricht ein. Expertenkommission im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel, zur Stärkung von Investitionen in Deutschland (2016): Stellungnahme vom 12.12.2016. Expertenkommission im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel, zur Stärkung von Investitionen in Deutschland (2016): Stellungnahme vom 12.12.2016. 50 sollten andere Indikatoren gelten: Pro-Kopf-Verschuldung, Pro-Kopf-Investition, Kaufkraft, Langzeitarbeitslosigkeit, Arbeitslosenquote oder die Zahl der Schulabbrecher. Das würde vor allem strukturschwachen Kommunen und Regionen zielgerichtet finanziell helfen, wie z. B. dem Ruhrgebiet. Die Vorschläge zur Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen beinhalten zwar Verbesserungen für Länder und Kommunen. Die grundlegenden Probleme der ungerechten Förderung nach Himmelsrichtungen bleiben aber. 3. Mehr langfristige Unterstützung und eine neue Personalpolitik. Projekte und Förderprogramme sind recht zahlreich aufgelegt, allerdings können die Mittel nicht immer abgerufen werden. Die wachsende Ungleichheit zwischen starken und schwachen Gemeinden wird auch über das Personal weiter verschärft.183 Die Kommission nennt deshalb als Problem die Personalausstattung, lange Planungsverfahren und komplexe Abstimmungsprozesse mit verschiedenen Akteuren. Es wird immer schwieriger, gute Arbeitskräfte und Nachwuchs zu finden.184 Die Bezahlung, insbesondere bei höher qualifizierten Tätigkeiten, ist mit der freien Wirtschaft nicht konkurrenzfähig.185 Wer glaubt ernsthaft, bei Projekten und Förderprogrammen mit befristeten 1-Jahres- oder 2-Jahres-Verträgen ausreichend und gute Arbeitskräfte locken zu können? Wenn jedoch die Stellen nicht schnell besetzt werden, können die Förderaufträge gar nicht abgerufen werden. Es muss mehr langfristige und verstetigte Förderung geben. Telearbeit, Lebensarbeitszeitkonten und familienfreundliche Arbeitszeiten könnten den öffentlichen Dienst zudem attraktiver gestalten. 186 Dazu benötigen die kommunalen Verwaltungen mehr Unterstützung und Beratung, denn die Aufgaben werden immer komplexer. Der Vorschlag des Expertengremiums ist daher die Einrichtung einer zentralen Beratungsagentur für Kommunen, die bei Planung, Beschaffung und Umsetzung von Projekten unter die Arme greift.187 4. Sozialer Wohnungsbau. Bezahlbares Wohnen muss einer der Schwerpunkte der Politik in den nächsten Jahren sein. Wohnen darf kein Luxus sein. Der Druck im Wohnungsmarkt steigt immer weiter, gerade für Personen mit niedrigen Einkommen. Die Mittel für die soziale Wohnraumförderung wurden auf Druck der SPD zwar verdreifacht, allerdings wurden sie zuvor auch stark heruntergefahren. Die Mittel reichen noch nicht aus und die kommunalen Wohnungsunternehmen müssen als Korrektiv weiter gestärkt werden. Es sollte auch eine Subventionierung zum Bau von Sozialwohnungen geben. Zudem sollten Wohnen und Integration als Gemeinschaftsaufgabe des Bundes im Grundgesetz verankert werden, um gemeinsam mit den Städten und den Ländern bezahlbares Wohnen und gute Quartiersentwicklung zu sichern. 5. Daseinsvorsorge und Rekommunalisierung. Viele Jahre gab es das „Jahrzehnt der Entstaatlichung“ (Prof. Bofinger). Mit „Privat vor Staat“ wurde privatwirtschaftlichen Zielen politisch Rechnung getragen. Mittlerweile gibt es ein Umdenken. Es kommt immer mehr zu Rekommunalisierungen. Die Kommunen gewinnen dadurch u. a. finanziell und politisch größere Handlungsspielräume. Die Daseinsvorsorge gehört in die öffentliche Hand. Das gilt z. B. für 183 184 185 186 187 Bertelsmann Stiftung (2016): Vielen Kommunen in NRW drohen gravierende Personal-Engpässe. Zeit Online (2014): Dem öffentlichen Dienst fehlt der Nachwuchs. Magoley, Nina (2016): Kommunen suchen händeringend Personal. In: WDR. Behörden Spiegel: Staat ist unattraktiver Arbeitgeber. Expertenkommission im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel, zur Stärkung von Investitionen in Deutschland (2016): Stellungnahme vom 12.12.2016. 51 Wasser und Abwasser, Bus und Bahn, Straßen, Schulen, Müllabfuhr, Rettungsdienste, Schwimmbäder, Kitas oder Bibliotheken. Die Daseinsvorsorge muss auch in Zukunft öffentlich bleiben oder wieder werden, damit diese grundlegenden Leistungen uns allen gleichermaßen und in guter Qualität zur Verfügung stehen – u. a. mit kalkulierbaren und bezahlbaren Preisen. Beschäftigte können dort fair und tariflich entlohnt werden. Örtliche (Zulieferer-)Betriebe werden eingebunden und erhalten mehr Aufträge. 6. Langfristige Entlastung der Flüchtlingskosten. Durch den deutlichen Anstieg der Flüchtlingszahlen sind bei den Kommunen nicht nur Kosten für die Aufnahme, Unterkunft und Erstversorgung entstanden. Hier hat der Bund die Unterstützungsmittel zwar aufgestockt, aber gerade die Kosten für die langfristigen Maßnahmen können damit nicht gedeckt werden und müssen zusätzlich geleistet werden. 7. Weitere Unterstützungen. Es gibt weitere Bereiche, bei denen die Kommunen unterstützt werden sollten. Im Forderungskatalog wurden an anderer Stelle dazu die Schulsozialarbeit und der soziale Arbeitsmarkt aufgeführt und näher beschrieben. 3.6 Arbeit und Leistung müssen sich lohnen Die Ungleichheit ist auch bei den Löhnen gestiegen. Während hohe Einkommen auch höhere Zuwächse verzeichnen konnten, stagnierten die Reallöhne in der Mittelschicht und mussten untere Lohngruppen sogar Einbußen hinnehmen. Auch wird für gleiche Arbeit nicht der gleiche Lohn bezahlt, was vor allem immer noch Frauen benachteiligt. Insgesamt gab es in Deutschland einen stetigen Anstieg der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, aber auch der konnte die wachsende Ungleichheit nicht stoppen, weil er mit einem rapiden Anstieg der prekären Beschäftigung einhergeht. Es gibt immer mehr Menschen, die in Vollzeit arbeiten und dennoch davon nicht leben können. Vor allem werden sie im Alter nicht mit ihrer Rente auskommen. Dazu wäre ein Lohn von deutlich über 12 Euro erforderlich. Zudem ist Arbeitslosigkeit regional sehr unterschiedlich ausgeprägt. Einige Regionen leiden unter einem Fachkräftemangel, andere Regionen kämpfen mit Langzeit- und Jugendarbeitslosigkeit. Ja, Politik ist kein Tarifpartner, hat aber durchaus Möglichkeiten, Arbeit und Löhne zu stärken. 1. Löhne anheben. Die Einführung des Mindestlohns war ein erster wichtiger Schritt in Richtung eines fairen Arbeitsmarktes, allerdings sollte er viel zügiger und deutlicher angehoben werden, als es jetzt vorgesehen ist. Zudem müssen die Möglichkeiten, den Mindestlohn zu umgehen, unterbunden werden. Für alle Ausnahmefälle vom Mindestlohn (Praktikanten, Azubis, Langzeitarbeitslose) könnte es eine geringere Lohnuntergrenze geben, beispielsweise 70% des normalen Mindestlohns. Jedoch darf es keinen Freibrief zum Lohndumping geben, wie es jetzt der Fall ist. Eine spürbare Lohnsteigerung im öffentlichen Dienst könnte zudem Signale in die Wirtschaft senden und weitere Lohnerhöhungen nach sich ziehen. 2. Gleiches Geld für gleiche Arbeit. Frauen müssen endlich den gleichen Lohn wie Männer garantiert bekommen. Um unfreiwillige Teilzeit zu vermeiden und Lohnunterschiede anzugleichen, ist ein Ausbau des Betreuungsangebots notwendig. Equal Pay heißt auch, gleiche Bezahlung für Leiharbeitnehmer, und zwar nicht erst nach 9 Monaten. 3. Lohnunterschiede begrenzen. Ein Gesetz für die Einführung einer maximalen Lohnspanne in Unternehmen ist überfällig. Es ist akzeptabel und teilweise wohl auch angemessen, dass es 52 Unterscheide bei den Löhnen gibt. Man kann darüber streiten, wie groß diese Unterschiede ausfallen dürfen, allerdings haben sie in Deutschland ein völlig unangemessenes, sittenwidriges Ausmaß angenommen. Es ist keine Seltenheit, dass ein deutscher Vorstandsvorsitzender das 150-Fache oder 170-Fache188 seiner Angestellten verdient. Lange Zeit lag die Einkommensspanne bei höchstens dem Zwanzigfachem. Nimmt man den öffentlichen Dienst als Referenz, so wird deutlich, dass ein Verhältnis von 1:10 bereits großzügig ist. 189 4. Sozialen Arbeitsmarkt einführen. Besonders Langzeitarbeitslose leiden unter Versorgungsdefiziten, mangelnder Anerkennung, einem Rückgang sozialer Kontakte, der Destrukturierung des Alltags sowie verstärkten gesundheitlichen Problemen.190 Es sollte grundsätzlich darüber nachgedacht werden, dass die Sanktionen gegen Arbeitslose eingedämmt werden und die Bezüge moderat kontinuierlich steigen. Da die Gruppe der Langzeitarbeitslosen sehr heterogen ist, braucht es auch unterschiedliche Unterstützungsangebote. Hierbei muss nicht zwingend die Jobsuche das vorrangige Ziel der Förderung sein, auch kann es sinnvoll sein, die soziale Teilhabe der Betroffenen zu verbessern. Dieses Ziel verfolgt das Konzept des „sozialen Arbeitsmarktes“. Der Staat ermöglicht Langzeitarbeitslosen mit Zuschüssen unter bestimmten Voraussetzungen eine sozialpädagogisch begleitete, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Statt Regelbedarf und Unterkunft zu finanzieren, wird ein Zuschuss für eine bedarfsdeckende Beschäftigung gegeben und eine sozialpädagogische Fachkraft eingesetzt. Damit kommen die Betroffenen in eine aktive Rolle, statt passiv Mittel aus dem SGB II-System zu empfangen. Man nennt das Prinzip daher auch „Passiv-Aktiv-Tausch“. Ich spreche mich für einen starken Ausbau des sozialen Arbeitsmarktes aus. Der Bund muss hierfür die Grundfinanzierung sicherstellen, indem er Gelder, die derzeit zur Finanzierung der Arbeitslosigkeit verwendet werden, in den öffentlich geförderten Beschäftigungssektor umleitet. 5. Regionale Arbeitsmarktpolitik. Die Arbeitsmarktpolitik des Bundes muss sich zudem an den regionalen Besonderheiten der Arbeitsmärkte vor Ort orientieren. Langzeitarbeitslosigkeit muss speziell und regional bekämpft werden. Zudem brauchen wir eine regionale Wirtschaftsförderung, die die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen in der jeweiligen Region verbessern sollte. 6. Aufwertung wichtiger Berufsgruppen und Gewerkschaften. Für den Zusammenhalt wichtige Berufe wie beispielsweise Erzieher*innen, Pfleger*innen, Polizist*innen oder Sozialarbeiter*innen werden bisher deutlich zu niedrig entlohnt. Eine Aufwertung ist dringend notwendig. Gewerkschaften haben definitiv dazu beigetragen, die Ungleichheit zu senken, deshalb bleiben sie unverzichtbar. 7. Beteiligung am Produktionsfortschritt. Einen umfangreicheren und diskussionswürdigen Vorschlag hat Heiner Flassbeck hervorgebracht. Er fordert, Masseneinkommen am Produktivitätsfortschritt der Gesellschaft zu beteiligen. Dies soll über eine Indexierungsregel passieren. Löhne, Gehälter und Renten sollen demnach an den Fortschritt gekoppelt werden. Sie 188 189 190 sollen jedes Jahr genauso stark steigen, wie es dem durchschnittlichen Deutscher Gewerkschaftsbund: Verteilungsbericht 2016. Flassbeck, Heiner (2016): Ungleichheit und Kapitalismus – 3. In: Makroskop. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (2015): IAB-Stellungnahme 04/2015. 53 Produktivitätsanstieg der vergangenen fünf oder zehn Jahre entspricht plus dem Inflationsziel. Damit wäre gewährleistet, dass tatsächlich alle Bevölkerungsteile vom gesellschaftlichen Fortschritt profitieren.191 3.7 Zukunftssicheres Sozialsystem Unser Sozialsystem hat im internationalen Vergleich für viele Menschen gute Dienste geleistet. Aber auch hier gilt, dass wir oft nur kurzfristig denken, um die nächsten Jahre zu überstehen. In diesem Bereich muss die Politik große Anstrengungen unternehmen, um Pflege, Gesundheit und Rente grundlegend zu reformieren und zukunftsfest zu machen. Zur Krankenversicherungen wurde in Punkt II.2 schon ein Vorschlag gemacht. Hier werden erstmal nur einige Ansätze benannt. Im Mittelpunkt steht die Rente. Es ist eine der größten Ungerechtigkeiten, dass immer mehr Menschen über 40 Jahre in einem Vollzeitjob arbeiten und dann eine Rente bekommen, die nicht zum Leben reicht. Bei einem „weiter so“ wird 2030 das Rentenniveau nur noch 43% betragen (bei vollen 45 Beitragsjahren). Es ist abzusehen, dass Altersarmut ein immer größeres Problem wird. Die private Säule der Altersvorsorge hat nicht funktioniert und Riester war alles andere als ein Erfolgsmodell, weil insbesondere die einkommensschwachen Haushalte es sich nicht leisten können, zusätzlich vorzusorgen. Da tickt also eine Zeitbombe, welche die Altersarmut deutlich verschärft und die arbeitende Bevölkerung überfordern wird. Und die einzige Antwort, die dennoch immer wieder gegeben wird, ist „dann müssen wir halt 67 oder 70 Jahre arbeiten“. Dies verlagert die Probleme höchstens und wird die Ungleichheit eher noch verstärken. Für eine vernünftige Vorsorge ist entscheidend, wer alles in die Rentenkasse einbezahlt und wie hoch die Löhne sind, von denen die Rentenbezüge abgehen. Mit unseren jährlichen Produktivitätszuwächsen sollten wir eigentlich kein Finanzierungsproblem der Rente haben. Die Arbeitsproduktivität – das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro gearbeiteter Stunde – legte von 1980 bis 2007 bereinigt um konjunkturelle Schwankungen sehr stabil mit jährlichen Raten von 2% zu. Mit dem Abschmelzen der Arbeitslosigkeit sank die Arbeitsproduktivität ab 2008/2009 zunächst, stieg in der Folge aber wieder. Auch wenn gegenwärtig das Produktivitätswachstum abflacht, werden Arbeit und Kapital weiterhin jedes Jahr produktiver eingesetzt. 192 Das bedeutet, dass ein Arbeitnehmer für die gleiche Leistung immer weniger Zeit braucht. Folglich könnte die Arbeitszeit kontinuierlich reduziert werden. Doch das wird sie nicht, es steigen sogar wieder die Überstunden. Dies bedeutet dann also eine kontinuierliche Gewinnsteigerung, die uns dann zumindest in die Lage versetzen sollte, die Renten stabil zu halten. Rente 1. Umwandlung in Erwerbstätigenversicherung. Dies bedeutet, dass alle in einen Topf einzahlen, auch Selbstständige, Beamte, Abgeordnete, Ärzte und Juristen. Damit würde die Rente für alle gesichert werden. Wenn immer weniger Renten zum Leben reichen, muss sowieso die Gemeinschaft, also die Steuerzahler, den Ausgleich bezahlen. 191 192 Flassbeck, Heiner (2016): Ungleichheit und Kapitalismus – 3. In: Makroskop. OECD Wirtschaftsberichte Deutschland. April 2016.; KfW Research: Volkswirtschaft Kompakt. Schwaches Produktivitätswachstum in Deutschland – ein Problem? Nr. 102, 25. Februar 2016. 54 2. Rentenansprüche sichern. Es gibt die Forderung nach einer Mindestrente. Diesbezüglich wird darüber diskutiert werden müssen, wie sie finanziert wird. Wichtig ist, dass das Rentenniveau nicht weiter absinken darf. Es muss möglichst nah an 50% liegen, damit die Altersarmut nicht explodiert. Aber allein das wird auch nicht ausreichen, wenn die Löhne nicht steigen und die prekäre Beschäftigung immer weiter ausgeweitet wird. Zudem bedarf es einer verbesserten Aufwertung von Zeiten mit geringen Löhnen und von Teilzeitbeschäftigung sowie die Berücksichtigung von Zeiten längerer Arbeitslosigkeit. Auch der Wegfall der Rentenabschläge bei Erwerbsminderungsrente ist eine geeignete Maßnahme. 3. Volle Beitragspflicht von betrieblichen Rente zur gesetzlichen Krankenversicherung (Doppelverbeitragung) abschaffen. Wenn Arbeitnehmer in der Rentenzeit statt des üblichen halben Krankenversicherungsbeitrags auch den Anteil des Arbeitgebers mit übernehmen müssen, verstärkt das die Ungleichheit. Die doppelte Beitragspflicht hält vor allem Geringverdiener davon ab, Geld in einen Betriebsrentenvertrag einzuzahlen. Sie muss daher aufgehoben werden, der Arbeitgeber muss zumindest einen Teil der eingesparten Sozialleistungen an den Arbeitnehmer weitergeben. Krankenversicherung 4. Einführung der Bürgerversicherung. Wir brauchen eine einheitliche Krankenversicherung, in die jeder Bürger einzahlt. Auf dem Weg dahin sind folgende Schritte zu gehen: Wir müssen zunächst dafür sorgen, dass das Wahlrecht einer Krankenversicherung unabhängig vom beruflichen Status und vom Einkommen für alle Bürger in gleicher Weise gewährleistet wird. Verschiedene Maßnahmen würden für mehr Gerechtigkeit sorgen: zuerst die Wiedereinführung der paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung, d.h. Arbeitgeber und Arbeitnehmer würden sich die Kosten für die gesetzliche Krankenversicherung wieder zur Hälfte teilen (ohne Zusatzbeitrag). Zudem müssten aus Kapitaleinkünften und Mieteinnahmen Beiträge für den Krankenversicherungsschutz fällig werden. Eine gute Idee wäre auch, wenn für die Behandlung von Privat- oder Kassenpatienten künftig das gleiche Geld fließen könnte, dann gäbe es auch keine Bevorzugung von Privatpatienten. Umverteilen 5. Geringere Sozialversicherungsbeiträge für Niedriglohnempfänger und Arbeitnehmer in Teilzeit. Über die Sozialversicherung kann man auch heute schon umverteilen. Einige Wirtschaftswissenschaftler schlagen vor, Menschen mit geringem Einkommen durch geringere Beiträge zur Sozialversicherung zu entlasten. Mit der Herabsetzung um ein paar Prozentpunkte hätten Niedriglohnempfänger und Arbeitnehmer in Teilzeit somit mehr Netto vom Brutto. Wichtig ist, dass ihre Rentenansprüche bzw. Versorgungsleistungen im Krankheitsfall dadurch nicht verringern. 6. Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenzen oder zumindest eine Verdopplung der Beträge. Die Beitragsbemessungsgrenze ist der Betrag, bis zu welchem das Arbeitsentgelt oder die Rente eines gesetzlich Versicherten für Beiträge der gesetzlichen Sozialversicherung herangezogen wird. Der Teil des Einkommens, der die Grenze übersteigt, bleibt für die Beitragsberechnung außer Betracht. In der Kranken- und Pflegeversicherung liegt diese Grenze 55 bei 4.350 Euro/Monat, in der Rentenversicherung bei 6.350 Euro (West) bzw. 5.700 Euro (Ost)/Monat. Ein Spitzenmanager zahlt also absolut die gleichen Beiträge wie ein gut verdienender Angestellter. Das ist nicht nicht fair. Warum sollten gerade diejenigen, die die höchsten Einkommen haben, verhältnismäßig weniger einzahlen? Ein Kompromiss wäre die Verdopplung der Beitragsbemessungsgrenzen, das Ziel sollte jedoch die gänzliche Abschaffung sein. 3.8 Vermögensaufbau und Selbständige fördern Neben Umschichtungen, Förderungen und Stärkungen der Kommunen, die einer Mehrheit zugutekommen würde, sind sicher noch drei Ansätze wichtig, welche die Vermögensbildung für die breite Mittelschicht und die Selbständigkeit stärken. Gerade die hohe Zahl der Soloselbständigen wird nur unzureichend wahrgenommen, obwohl viele unter ihnen täglich um ihr Überleben kämpfen. In Deutschland ist die Wohneigentumsquote sehr gering und sogar noch zurückgegangen. Weniger als die Hälfte der Menschen besitzen selbstgenutztes Wohneigentum. Damit sind wir Deutschen Schlusslicht in Europa.193 Dies ist ein Grund, warum die Armut bei uns so schnell durchschlägt und die Hälfte der Bevölkerung so gut wie kein Vermögen besitzt. Dabei ist die positive Wirkung von Wohneigentum bewiesen, so schützt es beispielsweise vor Altersarmut und korreliert mit besseren Lernerfolgen und Bildungsabschlüssen der Kinder. In Deutschland wurde die Eigenheimzulage Ende 2005 abgeschafft, sehr viele andere Länder fördern Wohneigentum intensiv. Die Niederlande geben 2,3% des BIP für die Unterstützung der Wohneigentumsbildung aus, Deutschland gerade einmal 0,017%.194 1. Erneute Förderung des privaten Immobilienbesitzes zur Eigennutzung. Denkbar ist auch ein Genossenschaftsmodell für Immobilienbeteiligungen. Das Pestel Institut berechnet, dass insbesondere Einkommensgruppen zwischen 1.300 – 2.600 Euro netto mit staatlichen Maßnahmen erreicht werden sollten, da diese von den Banken keinen Kredit bekommen. 195 Gerade in einer Situation der angespannten Wohnungslage in den Städten ist die Förderung von Wohneigentum für Gering- und Mittelverdiener neben dem sozialen Wohnungsbau ein wichtiges Element. 2. Förderung der Mitarbeiterkapitalbeteiligung. Hierbei werden Mitarbeiter vertraglich, in der Regel dauerhaft, am Kapital des arbeitgebenden Unternehmens beteiligt. Die Beteiligungsformen sind vielseitig. Finanzexperten unterstreichen häufig, dass die Deutschen nicht genug Finanzwissen zur Optimierung ihrer Finanzlage hätten. So würden die meisten ihr Geld bei effektiv negativen Zinsen auf dem Konto liegen lassen, anstatt es mit höherer Rendite zu investieren. Finanzielle Allgemeinbildung halten sie daher für sinnvoll. 3. Selbständige besser schützen. Wie in Punkt I.6.4 beschrieben, mangelt es an Mechanismen zur Garantie eines existenzsichernden Einkommens bei selbstständiger Erwerbstätigkeit. Kollektive Instrumente zur Regelung des Einkommens, wie etwa Tarifverträge bei abhängig 193 194 195 Dagegen liegt der Wohnungsbesitz in vielen anderen Ländern wie Griechenland, Portugal, Spanien bei etwa 75%. Statista: Wohneigentumsquoten in ausgewählten europäischen Ländern im Jahr 2015. http://de.statista.com/statistik/daten/studie/155734/umfrage/wohneigentumsquoten-in-europa/ ZDF heute: Wohneigentum lohnt sich auch für Geringverdiener. 21.11.2016 ZDF heute: Wohneigentum lohnt sich auch für Geringverdiener. 21.11.2016 56 Beschäftigten, fehlen bei Selbstständigen. Der Mindestlohn gilt für sie nicht. Gerade SoloSelbstständigkeit ist besonders oft mit einer prekären Lage verknüpft. Notwendig ist daher ein gleichberechtigter Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen für Selbstständige, da sie teilweise auch schutzbedürftig sind. Insbesondere ist lediglich ein Viertel der SoloSelbstständigen in ein obligatorisches System der Altersvorsorge einbezogen. Eine Integration erfordert Reformen: Z. B. sollten wir in der gesetzlichen Krankenversicherung die Beitragsbemessung für Selbständige analog zu derjenigen für abhängig Beschäftigte einkommensabhängig ausgestalten. Damit würden die bisher fälligen sehr hohen Mindestbeiträge entsprechend sinken. Selbständige sollen zudem in Zukunft grundsätzlich in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert sein können oder auch Mitglied der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung sein, falls es eine Erweiterung um präventivqualifizierende Leistungen („Arbeitsversicherung“) geben würde. Zusätzlich wäre auch mehr Flexibilität wünschenswert, da die Einnahmen im Jahresverlauf häufig extrem schwanken und sich Beiträge z. B. an USt.-Erklärungen je Quartal bemessen lassen könnten. 57 Teil III – Fazit: Sozialwende Abstiegsgesellschaft Die soziale Marktwirtschaft gibt es nicht mehr. Aus der Aufstiegs- wird immer mehr eine Abstiegsgesellschaft. Nur 36 Milliardäre vereinigen auf sich ein Vermögen, welches sich ansonsten 41 Mio. Menschen in Deutschland teilen müssen.196 Egal wie liberal oder konservativ man sein mag, für wie wichtig man Vermögensunterschiede als Anreiz hält, diese abstrus hohe Ungleichheit kann niemand rechtfertigen. Es geht nicht um Neid oder Gleichmacherei. Im Gegenteil: Jeder müsste begreifen, dass es längst nicht mehr „nur“ eine Frage der Moral oder der unterschiedlichen politischen Bewertung ist. Es geht um die Gefährdung des sozialen Friedens und unseres Wohlergehens. Reichtum und Armut haben sich so stark manifestiert, sind so undurchlässig geworden, dass vor allem die Herkunft über Wohlstand entscheidet und sich Leistung allein eben nicht mehr lohnt! Es ist fast absurd, dass gerade die größten Befürworter der Marktwirtschaft eigentlich dafür sorgen müssten, die Ungleichheit abzubauen – wenn sie ihr System retten wollen. Woher kommt die groteske Ungleichheit? Wie konnten wir das zulassen? Gerecht ging es noch nie zu, aber jahrzehntelang und nach vielen sozialen Kämpfen gab es eine Zeit, in der auch ärmere Bevölkerungsschichten ihren Anteil am Wachstum hatten – oder zumindest hoffen durften, dass ihre Kinder vom Bildungsversprechen profitieren würden. Als die Ostblockstaaten erodierten, die Finanzmärkte zusammenbrachen, da entfiel der Druck, die Markwirtschaft sozialverträglicher zu gestalten. Die ökonomischen Grundlagen von Keynes und Co wurden eingemottet und die Politik von Thatcher und Reagan, die nur einer Elite nutzen, eroberten die westliche Welt. Der Neoliberalismus infizierte nicht nur die konservativen und liberalen, sondern auch mehrheitlich die sozialdemokratischen Parteien. Es gab keine gute, sondern nur noch modere Wirtschaftspolitik: eine Politik des ruinösen Wettbewerbs um die niedrigsten Unternehmenssteuern und ein Steuerabbau für die Reichsten, der teilweise mit dem Anstieg von Verbrauchssteuern erkauft wurde. Lohnsenkungen, Ausweitung prekärer Beschäftigung und Einschränkung der Arbeitsnehmerrechte. Sozialabbau einhergehend mit Deregulierung, Privatisierungen und einer Freihandelspolitik, die die Märkte der armen Länder für die wachsende Überproduktion der reichen Länder geöffnet hat. Lascher Umgang und kaum Kontrollen bei Steuerflüchtlingen und Steueroasen. Sich anheizende Spekulationsgeschäfte wurden weder ausreichend eingeschränkt noch bekämpft. Nach einem kurzzeitigen Aufschwung, von dem aber immer weniger Menschen profitierten, überkam die westliche Welt eine Dauerschwäche der Wirtschaft mit in der Regel abgeflachten Wachstumsraten und einer Krisenanfälligkeit, weil Spekulation und Erwartungen längst Investition und Innovation abgelöst hatten. 2007 mündete der Turbokapitalismus mit dem Platzen der Immobilienblase in eine ausgewachsene Finanzkrise, über die schon sehr lange nicht mehr gesprochen oder geschrieben wird, 196 Oxfam (2017): Ein Wirtschaftssystem für alle. 58 deren Auswirkungen aber noch gegenwärtig sind und welche die Ungleichheit noch einmal vergrößert haben. Absurde Marktwirtschaft Die Marktwirtschaft wurde dagegen ad absurdum geführt. Statt es „den Markt regeln zu lassen“ – wie dies der liberale Ökonomiecharakter ja meist vorgibt – wurden mit Billionen Euro und Dollar Steuergeldern die Banken gerettet. Wir mussten lernen, dass Versagen bei den „Großen“ nicht bestraft wird wie bei jedem Selbstständigen oder kleinerem Unternehmen, sondern zur Not der Staat einspringt. Gewinne werden privatisiert und Risiken vergesellschaftet – das ist das endgültige Aus für eine Marktwirtschaft, die den Menschen, der breiten Masse dienen sollte. Im Ergebnis verschuldeten sich viele Staaten zusätzlich und nur durch große Investitionsprogramme konnte die Krise halbwegs überwunden werden. In der Folge gerieten viele Länder wegen der zusätzlichen Schulden noch stärker unter Druck, massiv sparen zu müssen. Auch hier obsiegte die Absurdität, dass die neoliberale Politik, welche die Krise erst ermöglichte, nicht verändert, sondern auch noch zum Gewinner der Krise wurde. Alle Beteiligten mussten massive Einbußen hinnehmen, aber viele finanzstarke Player erholten sich schnell wieder, während die Staaten und die Öffentliche Hand die Verlierer blieben. Schnell konzentrierte sich die Diskussion aber auf die „faulen“ Südeuropäer und darauf, die massiven Schulden mit den alten neoliberalen Mitteln abzubauen. Verschlankung der Bürokratie, Privatisierung öffentlicher Aufgaben, Verkaufen von öffentlichem Eigentum, Kürzung der Sozialausgaben und so weiter. Alles Maßnahmen, welche die Ungleichheit vertiefen. Verstärkt dadurch, weil den anfänglichen Investitionsprogrammen, die während der Krise ihre Wirkung entfalteten, die Luft ausging. Heute fallen selbst in Deutschland notwendige Investitionen der Heiligen Kuh der schwarzen Null zum Opfer. In Europa dominiert trotz niedrigster Zinsen der Sparzwang, der vor allem die ärmeren Bevölkerungsteile trifft. Austeritätspolitik statt Abbau der Jugendarbeitslosigkeit, Investitionen in Infrastruktur oder andere soziale Maßnahmen. Ungleichheit als Wachstumsrisiko Die Politik hat vor lauter „Sorge“ um das Finanzsystem die Brennpunkte im sozialen Gefüge aus den Augen verloren. Sie hat Kapitalinteressen höher gestellt als das Wohl von Menschen. Wir, die Politik und die Gesellschaft, haben zugeschaut, vor allem wenn es nicht um unser Land ging. Dass Südeuropa ein wichtiger Abnehmer unserer Importe ist und dass die Verarmung ganzer Regionen auch unserer Wirtschaft schadet, sollte jeder nicht erst im Nachhinein begreifen. Kein Wunder, dass viele internationale Ökonomen – wie der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und selbst der konservative IWF – Deutschland regelmäßig zur Umkehr auffordern und dafür verantwortlich machen, dass Europa sich ruiniert. Ausgerechnet auf dem elitären Treffen in Davos kommen im Januar 2017 die reichsten Wirtschaftsführer zu dem Urteil, dass die „Ungleichheit zum Wachstumsrisiko“ wird. Stiglitz kommentiert dies damit, dass „die Zukunft der Marktwirtschaft in seiner jetzigen Form auf dem Spiel steht“, wenn die Ungleichheit nicht entschieden bekämpft würde.197 197 Stiglitz, Joseph E. (2017): Ungleichheit als Wachstumsrisiko. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 59 Das ist – zugegeben in Kurzform – die Beschreibung der Entwicklung und die Antwort darauf, wie es dazu kommen konnte und wo wir stehen. Dennoch müsste man gerade in Deutschland genügend finanzielle Ressourcen haben, um die Ungleichheit zu bekämpfen. Das Volkseinkommen, die Summe der Erwerbs- und Vermögenseinkommen, ist sogar zwischen 2012 und 2015 um 10% gestiegen und die Steuereinnahmen steigen weiter an.198 Ich habe beschrieben, wie obszön reich wir sind und wieviel Geld eigentlich da wäre. Umso absurder, dass nicht eine Mehrheit davon profitiert. Die Statistiken zeigen nur die Gesamtzahlen und nicht die Tatsache, dass der Profit nur sehr wenige Menschen bereichert. Die wirkliche Situation habe ich im Dossier deutlich gemacht: vom Wachstum profitiert nur der kleinste Teil der Bevölkerung die Spreizung der Einkommen hat zugenommen die Mittelschicht schmilzt die Aufstiegsmöglichkeiten und die Chancengleichheit reduzieren sich zunehmend das Armutsrisiko hat zugenommen einige Regionen und bestimmte Gruppen sind besonders stark betroffen Ungleichheit stärkt Nationalismus Die Vergrößerung der Ungleichheit der Vermögen und der Einkommen ist zu einer gesellschaftlichen Gefahr geworden. Bereits 2010 hat Wilhelm Heitmeyer in einer Studie 199 festgestellt, dass Werte wie Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness in der Mitte der Gesellschaft immer weniger Anklang finden. Gerade bei Menschen aus der unteren Soziallage sei die Bereitschaft stark gesunken, sich überhaupt noch aktiv an demokratischen Prozessen zu beteiligen. Nur wenige Jahre später bekommen wir heftig zu spüren, wer die eigentlichen Krisengewinner und Profiteure der Ungleichheit sind: Rechtsextreme, Nationalisten und Opportunisten, die mit einfachen Parolen gegen Minderheiten und das Establishment hetzen. Sie nutzen die Stimmung und das Bauchgefühl von immer mehr Menschen, die sich von den etablierten Parteien nicht mehr vertreten, vielleicht sogar verraten fühlen. Dies gelingt vor allem deshalb so gut, weil auch linke Parteien selten wirklich umfassende Alternativen angeboten haben, geschweige denn wirksame Veränderungen durchsetzen konnten. Damit steht mittlerweile neben dem sozialen Staat nun immer mehr auch unsere Demokratie auf dem Spiel. „In der Abstiegsgesellschaft entzündet sich der Konflikt in der Spannung zwischen Kapitalismus und Demokratie, zwischen Freiheit und Gleichheit. Es zeichnet sich ein neues Aufbegehren ab, ein demokratischer Klassenkonflikt, der in seinem Kern vom Kampf um politische und soziale Bürgerrechte getrieben wird. Neue Bürgerproteste sind ein Nebenprodukt der politischen Entfremdung in der Postdemokratie. Allerdings, und hier besteht eine große Gefahr, breiten sich auch Apathie, soziale Abgrenzung und antidemokratische Affekte aus.“200 Oliver Nachtwey 198 199 200 Puschner, Sebastian (2016): Das Boot hat Schlagseite. In: Der Freitag Nr. 51/52. Wilhelm Heitmeyer: Deutsche Zustände - Folge 8. 2010. Nachtwey, Oliver (2016): Die Abstiegsgesellschaft: Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. 60 Sozialwende Man könnte jetzt in epischer Breite die Schuldfrage besprechen, aber ich glaube, es ist wichtiger, jetzt die Forderungen zu diskutieren und klarzumachen, dass es hier nicht um Pflaster oder Reparaturen geht. Es geht darum, einen wirklichen Umbruch herbeizuführen: Die Sozialwende. Egal, wo man ansetzt, wenn man erfolgreich sein will, muss man den Kampf gegen besonders einflussreiche Lobbyisten aufnehmen. Dies ist auch der eigentliche Grund, warum gerade in Deutschland eine so hohe Ungleichheit herrscht. Einige wenige Lobbyisten bestimmen zu sehr, wofür der Staat Geld ausgibt und wo Besteuerungen heruntergefahren und wo Subventionen ausgeweitet werden. Meist läuft es dann parteipolitisch: „wenn euer Klientel, eure Lobby hier mehr bekommt, wollen wir da aber im Gegenzug was bekommen.“ So verlieren immer mehr diejenigen, die keine starke Lobby haben. Endlich müsste eine Politik vorherrschen, welche die Bedürftigen nicht zurücklässt, aber gleichzeitig die Leistungsträger und die Mittelschicht stärkt. Jeder verdient zudem Chancengleichheit und Aufstiegschancen, unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder auch davon, wie vermögend die Eltern sind. Dazu müssen Privilegien angetastet werden und wirklich Vermögende ihren Beitrag leisten. Dazu müssen nicht nur Mittelständler, sondern vor allem Amazon und Co angemessene Steuern zahlen. Dies bedeutet, sich mit den Mächtigen anzulegen, aber genau dafür sollten Politiker da sein. Und es ist eine Politik für 90% der Menschen. Wir müssen die Verringerung von sozialer Ungleichheit zur Hauptaufgabe des nächsten Jahrzehnts machen. Insbesondere die Kommunen müssen mehr Hilfe erhalten, um Maßnahmen vor Ort zu finanzieren. Geld ist genug da. Es gibt viele Möglichkeiten – ohne höhere Gesamtsteuern, aber durch Subventionsabbau, Steuerumverteilung und andere Elemente – Maßnahmen zu finanzieren, die uns wirtschaftlich voranbringen, die Chancengleichheit erhöhen und die Ungleichheit vermindern. Viele mögliche Maßnahmen habe ich konkret in diesem Dossier beschrieben. Aber wie immer geht es nicht allein um Fakten und auch nicht um einleuchtende Forderungen, sondern darum, endlich zu handeln. Nur Mut! 61 Quellenangaben und weiterführende Literatur ARD (2016): Beckmann - Die geteilte Gesellschaft. Sendung vom 31.05.2016. Astheimer, Sven (2016): Warum der Mindestlohn den Aufstockern kaum hilft. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung online. Erschienen am 01.08.2016: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wi rtschaftspolitik/arbeitsmarkt-warumder-mindestlohn-den-aufstockernkaum-hilft-14366034.html Atkinson, Anthony (2016): Ungleichheit. Was wir dagegen tun können. Klett-Cotta. Badiou, Alain (2016): Wider den globalen Kapitalismus. Ullstein. Behörden Spiegel: Staat ist unattraktiver Arbeitgeber. http://www.behoerdenspiegel.de/icc/Internet/nav/1f7/1f7500 9d-e07d-f011-4e64494f59a5fb42&uCon=29f203d6-e97fe841-a48180877b988f2e&uTem=aaaaaaaaaaaa-aaaa-bbbb-000000000003 Berger, Jens (2014): Wem gehört Deutschland? Die wahren Machthaber und das Märchen vom Volksvermögen. Frankfurt: WestendVerlag. Bertelsmann Stiftung (2016): Alleinerziehende unter Druck. 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