Wie Vernachlässigung im Kindesalter die psychische Gesundheit

Psychologie aktuell: Wie Vernachlässigung im Kindesalter die psychische Gesundheit beeinträchtigt
24-02-17
Wie Vernachlässigung im Kindesalter die psychische Gesundheit beeinträchtigt
Stark vernachlässigte Kinder, die in jungen Jahren viele Entbehrungen ertragen müssen,
leiden auch im frühen Erwachsenenalter noch unter den psychologischen Konsequenzen. Das
ist das Ergebnis einer Studie, die eine Gruppe von adoptierten Kindern begleitet, welche in den
1990er-Jahren aus rumänischen Heimen in britische Familien kamen.
Ein Team um Prof. Dr. Edmund Sonuga-Barke vom King s College in London berichtet in der
Zeitschrift The Lancet über die groß angelegte Studie, die psychische Gesundheit und kognitive
Fähigkeiten der Heranwachsenden beobachtete. Beteiligt waren auch die University of Southampton,
die Ruhr-Universität Bochum und das Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt.
Kaum persönliche Fürsorge
Die English and Romanian Adoptees Study begann 1990, kurz nach dem Sturz des
kommunistischen Regimes in Rumänien. In Heimen lebten die Kinder unter extrem schlechten
hygienischen Bedingungen, hatten wenig zu essen, kaum persönliche Fürsorge und bekamen selten
soziale oder kognitive Anreize.
Die Studie beinhaltet Daten von 165 Kindern, die britische Familien aus rumänischen Heimen
adoptierten, nachdem die Kinder dort bis zu 43 Monate verbracht hatten. In Großbritannien lebten sie
anschließend in stabilen, sozioökonomisch gut aufgestellten Familien, die sich liebevoll kümmerten
und die Kinder unterstützten. Diese Gruppe verglichen die Forscher mit 52 Kindern, die innerhalb von
Großbritannien adoptiert worden waren.
Mit Fragebögen, IQ-Tests und Interviews mit Kindern und Eltern analysierten die Wissenschaftler
soziale, emotionale und kognitive Auffälligkeiten im Alter von 6, 11, und 15 Jahren. Im Alter von 22 bis
25 Jahren nahmen die Studienleiter noch einmal Kontakt zu den Teilnehmern auf; rund Dreiviertel von
ihnen erklärten sich zu weiteren Tests bereit.
Dauer der Heimerfahrung entscheidend
Wie lange die Kinder im Heim gelebt hatten, war ein entscheidender Faktor für ihre künftige
psychische Gesundheit. Rumänische Adoptivkinder, die weniger als sechs Monate im Heim verbracht
hatten, waren psychisch ähnlich gesund wie die britische Vergleichsgruppe. Anders war es mit
rumänischen Adoptivkindern, die mehr als sechs Monate in einer Einrichtung gelebt hatten. Soziale,
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emotionale und kognitive Probleme begleiteten sie ihr Leben lang.
Zum Beispiel zeigten sie autistische Züge, der soziale Umgang mit anderen fiel ihnen schwer, sie
waren unaufmerksam oder überaktiv. Außerdem erreichten sie ein schlechteres Bildungsniveau und
waren häufiger arbeitslos. Diejenigen, die mehr als sechs Monate im Heim gelebt hatten, hatten als
Kinder durchschnittlich einen IQ von weniger als 80, der sich jedoch im frühen Erwachsenenalter
normalisierte. Das interpretierten die Forscher als verzögerte Entwicklung.
Trotz der oben beschriebenen Befunde ergab sich auch: Eines von fünf längerfristig im Heim
untergebrachten Kindern hatte keinerlei psychische Probleme. An dieser Stelle wollen die Forscher in
Zukunft anknüpfen. Wir wissen immer noch sehr wenig darüber, warum einige der Kinder trotz
extremer Vernachlässigung keine Spätfolgen zeigen , sagt Prof. Dr. Robert Kumsta von der
Bochumer Arbeitsgruppe Genetische Psychologie. Wir planen derzeit Untersuchungen, um
genetische und epigenetische Faktoren zu identifizieren, die möglicherweise schützend wirken.
Relevant für viele Kinder
Die Autoren verweisen darauf, dass die Ergebnisse für eine große Zahl von Kindern relevant sein
könnten, die heute überall auf der Welt vernachlässigt heranwachsen wegen Krieg, Terrorismus
oder Fluchterfahrung.
In ihrer Analyse konnten die Forscher nicht feststellen, ob es ein Zeitfenster in der Entwicklung gibt, in
dem Kinder besonders sensibel auf Vernachlässigung reagieren. Denn die Teilnehmer kamen mit
unterschiedlichem Alter ins Heim und lebten dort für eine unterschiedlich lange Zeit. Auch andere
Risikofaktoren konnten die Forscher nicht kontrollieren, zum Beispiel, ob die Mütter während der
Schwangerschaft geraucht hatten. Allerdings sei es unwahrscheinlich, dass die Risikofaktoren bei den
rumänischen Adoptierten, die kurz oder lang im Heim gelebt hatten, unterschiedlich gewesen seien,
sagen die Autoren und dennoch hätten sich Unterschiede in der psychischen Gesundheit ergeben.
Förderung
Die Studie wurde gefördert vom UK Economic and Social Research Council, dem UK Medical
Research Council, dem UK Department of Health, der Jacobs Foundation sowie der Nuffield
Foundation.
Originalveröffentlichung
Edmund J. S. Sonuga-Barke, Mark Kennedy, Robert Kumsta, Nicky Knights, Dennis Golm, Michael Rutter, Barbara Maughan, Wolff Schlotz,
Jana Kreppner: Child-to-adult neurodevelopmental and mental health trajectories after early life deprivation: the young adult follow-up of the
longitudinal English and Romanian Adoptees study, in: The Lancet, 2017, DOI: 10.1016/S0140-6736(17)30045-4
https://idw-online.de/de/news668433
Deegener, Günther: Risiko- und Schutzfaktoren des Kinder- und Jugendhilfesystems bei Prävention
und Intervention im Kinderschutz
Pabst, 512 Seiten, ISBN 978-3-89967-987-8
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Psychologie aktuell: Wie Vernachlässigung im Kindesalter die psychische Gesundheit beeinträchtigt
Deegener, Günther; Körner, Wilhelm: Risikoerfassung bei Kindesmisshandlung und Vernachlässigung
Theorie, Praxis, Materialien
Pabst, 348 Seiten, ISBN 978-3-89967-318-0
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