Mehr Beachtung für „Raritäten“

MEDIZINREPORT
SELTENE ERKRANKUNGEN (1)
Mehr Beachtung für „Raritäten“
Der Innovationsfonds fördert ein neues Kompetenznetzwerk für Seltene Erkrankungen.
Damit ist eine multiprofessionelle, sektorenübergreifende Betreuung der Patienten
in Spezialzentren an neun Universitätskliniken möglich.
lasknochenkrankheit, Progerie, lysosomale Speicherkrankheiten (siehe nächsten Beitrag) oder die durch Stephen Hawking bekannt gewordene Amyotrophe Lateralsklerose gehören zu den
circa 8 000 derzeit bekannten sogenannten Seltenen Erkrankungen
(SE). Etwa 80 % davon sind genetisch bedingt, es gehören aber auch
Infektions- und Autoimmunerkrankungen dazu. Bei vielen ist die Ursache noch unbekannt, selten sind
sie heilbar. Gemeinsam ist allen SE,
dass sie meist chronisch verlaufen,
mit Invalidität, eingeschränkter Lebenserwartung einhergehen und
häufig bereits im Kindesalter zu
Symptomen führen.
Die Seltenheit der einzelnen Erkrankungen erschwert aus strukturellen, medizinischen und ökonomischen Gründen sowohl die medizinische Versorgung der Betroffenen als auch die Forschung zur Verbesserung von Diagnose und Therapie. Aufgrund der geringen Patientenzahl wird eine Seltene Erkrankung (SE) oft nicht erkannt und daher falsch oder gar nicht behandelt.
Mögliche Folgen von Fehldiagnosen sind falsche Medikamentengabe, unnötige chirurgische Eingriffe
oder andere Komplikationen.
Durch die modellhafte Einrichtung regionaler Netzwerke von
Zentren für Seltene Erkrankungen
an 9 Standorten der Universitätsmedizin (Berlin, Bonn, Dresden, Essen, Hamburg, Heidelberg, Lübeck,
München, Tübingen) soll diese Situation verbessert werden. Das
„Nationale Aktionsbündnis für
Menschen mit Seltenen Erkrankungen“ (NAMSE) – ein Verbund
von Universitätskliniken, Patientenorganisationen und gesetzlichen
Krankenkassen – erhält für die Umsetzung des Modellprojekts gemäß
des von 2009 bis 2013 erarbeiteten
Foto: Charité
G
Aktionsplans (NAMSE PLAN)
kurzfristig 13,4 Millionen Euro aus
dem Innovationsfond der Bundesregierung (www.namse.de). Ziel ist
es, die Versorgung von Patienten
mit unklaren Diagnosen und exemplarisch ausgewählten Seltenen Erkrankungen durch eine multiprofessionelle, sektorenübergreifende Betreuung zu verbessern.
In der Europäischen Union wird
eine Krankheit als selten eingestuft,
wenn höchstens einer von 2 000
Menschen darunter leidet. Circa
4–5 Millionen Menschen sind in
Deutschland davon betroffen. Präzise epidemiologische Daten fehlen
krankungen mit angeschlossenen
Typ-B-Fachzentren) übergeordnete
Koordinierungsaufgaben übernehmen. Sie unterhalten krankheitsübergreifende Strukturen wie Lotsen, interdisziplinäre Fallkonferenzen, innovative Spezialdiagnostik
und Patienten-Register. In den TypB-Fachzentren arbeiten interdisziplinäre Teams mit spezifischer Expertise in bestimmten Krankheiten
bzw. Krankheitsgruppen.
„Durch standardisierte Prozesse
können wir in den beteiligten Zentren die Diagnostik deutlich beschleunigen und zudem bundesweit
eine kontinuierliche und wohnort-
„Oftvonerhalten
die Betroffenen erst nach einer jahrelangen Odyssee
Arzt zu Arzt die richtige Diagnose, wodurch wertvolle Zeit
für die Therapie verloren geht.
“
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 114 | Heft 8 | 24. Februar 2017
Annette Grüters-Kieslich, Direktorin der Klinik für Pädiatrie, Charité Universitätsmedizin Berlin
jedoch, hierfür wären entsprechende Krankheitsregister vonnöten.
„Oft erhalten die Betroffenen erst
nach einer jahrelangen Odyssee von
Arzt zu Arzt die richtige Diagnose,
wodurch wertvolle Zeit für die Therapie verloren geht“, erläutert die
Sprecherin des Verbundes, Prof. Dr.
med. Annette Grüters-Kieslich.
Weil es zudem an Schnittstellen
zwischen Universitätsmedizin und
Primärversorgern mangele, sei eine
angemessene wohnortnahe Versorgung der Patienten selbst nach Diagnosestellung nicht immer gesichert. „So gelangen wichtige Informationen oft nur unzureichend und
verspätet zum Haus- oder Facharzt“, so die Direktorin der Klinik
für Pädiatrie Charité Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow
Klinikum.
Der NAMSE PLAN sieht vor,
dass sogenannte Typ-A-Zentren
(Referenzzentren für Seltene Er-
nahe Versorgung bis in das Erwachsenenalter sicherstellen“, betont
Grüters-Kieslich. Zielgruppe sind
insbesondere Patienten mit sehr
Seltenen Erkrankungen, wie sie im
Neugeborenenscreening detektiert
werden, aber auch solche mit seltenen neurologischen Bewegungsstörungen des Erwachsenenalters.
Die aufwendige und teure mehrstufige genetische Diagnostik, die
bislang bei Patienten mit unklaren Krankheitsbildern eingesetzt
wird, soll durch innovative Methoden erst dann ersetzt werden,
wenn dies standortübergreifend alle Experten für sinnvoll erachten.
Die Ergebnisse stehen dann zur
Klärung ähnlicher Fälle dem gesamten Verbund unmittelbar zur
Verfügung. Zudem werde auch die
Kommunikation mit den niedergelassenen Haus- und Fachärzten
▄
verbessert.
Dr. med. Vera Zylka-Menhorn
A 369