Club der Visionäre

GESELLSCHAFT
SONNTAG, 19. FEBRUAR 2017 / NR. 23 033
DER TAGESSPIEGEL
S3
Orwells „1984“ verkauft sich
wie lange nicht mehr – dank
Trumps „alternativer Fakten“.
Warum klassische Dystopien
wieder aktuell sind
Von Moritz Honert
und Sabrina Markutzyk
Club der Visionäre
„1984“
George Orwell (1949)
„Schöne neue Welt“
Aldous Huxley (1932)
„Der Report der Magd“
Margaret Atwood (1985)
„Wir“
Jewgenij Samjatin (1924)
„Die Tribute von Panem“
Suzanne Collins (2008)
„Fahrenheit 451“
Ray Bradbury (1953)
„Das Orakel vom Berge“
Philip K. Dick (1962)
WORUM GEHT ES?
Winston Smith, ein Beamter
im Ministerium für Wahrheit,
versucht sich der totalen
Überwachung durch die Partei des „Großen Bruders“ zu
entziehen. Er wird zum Oppositionellen und landet in einem Umerziehungslager.
Ein Wissenschaftler bringt im
Jahre 632 nach Ford (2540
A.D.) aus einem Reservat einen „Wilden“ mit in die dank
Gentechnik, Sex und Drogen
von Krankheit und Langeweile bereinigte Welt. Der
Konflikt ist programmiert.
Desfred ist eine Magd in der
Republik Gilead. Ihre Aufgabe: gebären. Sonst nichts.
So ist das, seit christliche
Fundamentalisten die USA
übernommen haben.
Nach dem 200-jährigen Krieg
leben nummerierte Menschen in gläsernen Städten
und einem auf Funktionalität
optimierten System. Raketeningenieur D-503 verliebt sich
und wird zum Spielball der
Widerstandsbewegung.
Die Vereinigten Staaten wurden aufgeteilt in ein Dutzend
Bezirke, deren Kinder regelmäßig in tödlichen Wettkämpfen gegeneinander antreten.
Katniss ist eine der Kandidatinnen und zettelt einen
Aufstand an.
Guy Montag ist Feuerwehrmann in einem Staat, in dem
Lesen verboten ist. Seine
Aufgabe: Bücher verbrennen.
Doch dann wird er von Clarisse („17 und nicht ganz bei
Trost“) zum Lesen verführt
und selbst zum Gejagten.
Die Japaner und die Nazis
haben den Zweiten Weltkrieg
gewonnen und Amerika besetzt. In San Francisco kreuzen sich die Wege eines
Spions, eines Beamten, eines Juden, eines Ladenbesitzers und einer Judolehrerin.
WORUM GEHT ES EIGENTLICH?
Orwells Schreckensvision
kann als Kritik an und
Reaktion auf Nazi-Deutschland und das geschichtsfälschende Regime Stalins gelesen werden.
Huxley übt Kritik an einer
hedonistischen Konsumgesellschaft, die Shakespeare
gegen Pornofilme eingetauscht hat. Ein von Leid und
Schmerz befreites Leben,
sagt er, ist keins.
Das Buch beschreibt, wie
sich die Unterdrückung aus
Sicht einer entwürdigten Frau
anfühlt – und wie fragil Demokratien sind. Atwood: „Man
denkt, man lebt in einer liberalen Gesellschaft – bang –
ist man Hitler-Deutschland.“
Das Tagebuch von D-503
zeigt, dass es krank macht,
wenn man menschliches
Handeln nur nach wirtschaftlicher Effizienz ausrichtet.
Menschliche Bedürfnisse
lassen sich eben nicht in
Formeln ausdrücken.
Collins thematisiert im Gewand eines Jugendromans
das seit der Römerzeit
wohlbekannte Herrschaftsprinzip „Brot und Spiele“.
Bradbury zeigt eine Welt,
in der das massenmediale
Dauerbombardement die
Menschen zu Zombies gemacht hat. Ohne Literatur
und Reflexion kann es keine
Freiheit geben.
Den erdrückenden Einfluss
eines totalitären Systems
auf das Leben, den Alltag,
die Wünsche von ganz
gewöhnlichen Menschen –
und um Quantenphysik.
EIN ZITAT ZUM NACHDENKEN
„Doch wenn Gedanken die
Sprache korrumpieren, dann
kann auch die Sprache
die Gedanken korrumpieren.“
„Wenn man anders ist als
die übrigen Menschen,
muss man einsam bleiben.“
„Mein Ich ist etwas, das ich
entwerfen muss, so, wie
man eine Rede entwirft.“
„Wir alle haben schon als
Schulkinder das größte aller
uns erhaltenen Denkmäler
der alten Literatur gelesen,
den Eisenbahnfahrplan.“
„Ich frage mich, wie es wohl
sein muss, in einer Welt zu
leben, in der Essen per
Knopfdruck kommt?“
„Sind Sie glücklich?“
„,Das Böse‘, dachte Herr
Tagomi. ,Sollen wir es befördern, um unser Leben zu
retten? Ist das das Paradox
unseres irdischen Seins?‘“
DAS BUCH IST
AKTUELL, WEIL ...
... Orwells „Neusprech“ und
„Doppeldenk“ erklären, warum der amerikanische Präsident offensichtliche Unwahrheiten verbreitet. „Wer die
Vergangenheit kontrolliert,
kontrolliert die Zukunft.“
... die künstlich erschaffene
Klassengesellschaft zeigt,
was passiert, wenn man aus
Überheblichkeit nicht mit
AfD-Wählern diskutieren will.
… es eine religiös-konservative Agenda wie die der
Tea-Party-Bewegung radikal
zu Ende denkt. „Es gibt in
dieser Vision nichts, was
es nicht schon gibt“, sagt
Atwood.
... es Fragen nach der Privatsphäre stellt, die angesichts
des NSA-Skandals und der
Diskussion über Chips in
Krankenkassenkarten noch
immer diskutiert werden.
... man Kindern gerade in
Zeiten von „postfaktischen
Diskussionen“ und
„alternativen Fakten“
beibringen sollte, gegen
Lügen und Ungerechtigkeit
aufzustehen.
... Bradburys Visionen nicht
weit weg sind von unserer
Welt, in der keiner fünf Minuten ohne Smartphone auskommt. Auch bemerkenswert: Das Terrorregime ist
Wille des Volks.
... wir darin meisterhaft vorgeführt bekommen, wie sich
Menschen mit
Unterdrückung arrangieren
und so als Stütze des
Systems fungieren.
„Was kann ich schon tun?“
DAS SAGEN
DIE KRITIKER
„Ein Buch, das man 2017
gelesen haben muss“,
urteilte die New York Times.
Huxley empfand sein Buch
als „fehlerhaftes Werk“ voller „literarischer Unzulänglichkeiten“. Der Klassikerverlag „Modern Library“ wählte
es trotzdem auf Platz fünf
der besten Romane aller Zeiten. Spielberg arbeitet gerade an einer TV-Verfilmung.
Die Autorin wurde gefeiert
für die „Verhandlung von
Gender, in einem Staat, in
dem die Errungenschaften
des Feminismus komplett
zerstört wurden“ und gleichzeitig kritisiert für „antifeministische Elemente“.
Die Moskauer Literatur-Enzyklopädie verdammte Samjatin als Konterrevolutionär.
Sein Buch sei eine niederträchtige Schmähschrift auf
die sozialistische Zukunft.
Es war die letzte öffentliche
Erwähnung des Autors in der
Sowjetunion.
Eine stylische, postmoderne
Version der TV-Serie „Lost“
kollidiert mit „Herr der Fliegen“, urteilte „The Wall
Street Journal“.
„Von allen Höllen des Konformismus, die in der ScienceFiction vorkommen, ist keine
mit so viel Können beschrieben wie in diesem Roman.“
(Kingsley Amis)
„Philip K. Dick ist für die
zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, was Franz Kafka
für die erste war.“ (Art Spiegelman)
GIBT ES HOFFNUNG?
Nein. Am Ende ist Winstons
Widerstand vergebens. Er
wird gebrochen, verrät seine
Liebe und unterwirft sich
dem „Großen Bruder“.
Nein. Dem „Wilden“ bleibt
schlussendlich nur der Suizid
als Ausweg.
Immer! Die Geschichte ist
auch eine über Rebellion
und die Unbezwingbarkeit
des Geistes.
Ja. Denn „es gibt keine letzte
Revolution. Die Anzahl der
Revolutionen ist unendlich“,
schreibt Samjatin.
Ja. Die Trilogie endet mit
einem Happy End. Katniss
stürzt das System.
Ja, denn Menschen können
Fehler erkennen, „bevor sie
sich selbst zerstören und versuchen, sie nicht zu wiederholen“, glaubt Bradbury.
Verhaltene. „Es gibt keine
Antwort, kein Verstehen.
Selbst im Orakel nicht. Und
doch müssen wir irgendwie
von Tag zu Tag weiterleben.“
DAS BUCH
COVER DER ORIGINALAUSGABE
Fotos: Wikipedia (7), Istock (1)
Die GENIESSER
Der FRAGEBOGEN
… genießen es, wenn das Essen schneller kommt als erwartet.
Zuletzt gefreut über
Unverzichtbar
Mal nackt sehen
Schmeckt
Ein Buch zum Verschenken
Ein Traum
Vorbilder
Lieblingskleidungsstück
Tolle TV-Serie
Großartiges Kunstwerk
Mache ich gern im Haushalt
Will ich öfter hören
Wenn Sport, dann
Für einen Tag wäre ich gern
Lieblingstiere
Dahin reise ich
Mag ich
Den Einzug in unser neues Haus
Mein Rasierer
Den Wahnsinn
Gemüse – außer Lauch
„Mars“ von Fritz Zorn
Einen Wohnwagen oder wenigstens großen Kombi besitzen
Klaus Theweleit oder
Hasil Adkins
Meine Jeansjacke
„The Americans“
„Tod der Fürstin Tarakanowa“
von Konstantin Flawizki
Das Bad putzen
Leben und leben lassen
Rennrad
Sans soucis
Katze oder Kakadu, ich kann
mich nicht entscheiden
Luxemburg
Sommer, Bücher, Räder
Zuletzt geärgert über
Ein Fehlkauf
Tijan Sila
SCHRIFTSTELLER
Nie nackt sehen
Schmeckt mir nicht
Mein schlimmstes Geschenk
Foto: Sven Paustian
Illustration: Marie und Feline Grub / www.diegeniesser.com
Was ich liebe, was ich hasse
Sila wurde 1981 in Sarajevo geboren, wuchs in
Deutschland auf und wohnt in Kaiserslautern.
Seinen Debütroman „Tierchen unlimited“
stellt er am 21. Febuar im Heimathafen vor.
Befragt von Ulf Lippitz
Ein Albtraum
Unort in Kaiserslautern
Kann ohne diesen Trend leben
Überschätzte TV-Serie
Mache ich ungern im Haushalt
Kann ich nicht mehr hören
Kein Sport für mich
Könnte ich nie machen
Blöde Tiere
Dahin nie wieder
Mag ich nicht
Schlecht montierte Sockelleisten
Unser erstes Auto, weil es
aktiv versuchte, meine Frau
und mich zu töten
Die Wahrheit
Fleisch – und Lauch
Beim Abschied von meinem
letzten Arbeitgeber gab es ein
gemeines Schmähgeschenk
Armut
Mainz
Bootcut-Jeans
Alles, was sich für ’nen harten
Vibe abstrampelt, nervt mich
Gefrierfach abtauen
„Mahlzeit!“
Joggen fühlt sich schlecht an
Metzger
Lebensmittelmotten
Prag – langweilig
Winter, Nörgler, Mörder