Kein Vor und kein Zurück

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ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Tandem
Kein Vor und kein Zurück
Eine junge Syrerin erzählt vom Lagerleben in Griechenland
Von Marianthi Milona
Sendung: 21.02.17, 10.05 Uhr, Länge: 24 Min.
Redaktion: Nadja Odeh
Regie: Maria Ohmer
Produktion: SWR 2017
Bitte beachten Sie:
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KEIN VOR UND KEIN ZURÜCK
1. Atmo aus dem Lager bei Veria
1. O-Ton 1 Amar:
Hallo ich heiße Amar. Freut mich. Sie sind aus Deutschland?
Erzählerin:
Amar Alissa kommt aus Syrien. Sie ist 17 Jahre alt. Ich lernte sie im September 2016
kennen, als ich das Flüchtlingslager nahe der nordgriechischen Kleinstadt Veria zum
ersten Mal besuchte. Seit fünf Monaten lebte sie schon dort. Davor hatte sie mit ihren
Angehörigen viele Wochen in Idomeni ausgeharrt. Jenem traurig berühmten
Flüchtlingslager an der makedonischen Grenze, in dem sich vor knapp einem Jahr
bis zu 14000 Menschen gesammelt hatten, alle darauf hoffend, nach Westeuropa
weiterreisen zu dürfen. Ich habe damals als Reporterin von dort berichtet. Ende Mai
2016 wurde das Flüchtlingslager von Idomeni schließlich gewaltsam geräumt.
2. O-Ton 17 Amar:
Als wir in Idomeni waren, mein Bruder hat gesagt, wir sollen nach Veria gehen. Und
ich sagte nein, ich möchte nicht, weil die Grenze wird geöffnet. Ja aber, Gott sei
Dank, er hatte recht.
Erzählerin:
Die Familie war noch vor der Räumung dem Aufruf der griechischen Behörden
gefolgt und in ein anderes Flüchtlingslager ausgewichen. Sie hatten Glück im
Unglück. Denn das Lager von Veria gilt als das Beste im Land. Es befindet sich auf
dem Gelände einer leerstehenden Militärkaserne. Hier leben ca. 400 Flüchtlinge.
Nicht, wie sonst üblich, in Zelten sondern in richtigen Häusern. In den ehemaligen
Soldatenunterkünften gibt es Betten, Heizung, fließend Wasser und Toiletten. Eine
weitere Besonderheit: Im Lager wohnen nur Familien. Fast alle aus Syrien. Nur
einige wenige kommen aus dem Irak. Amar zeigt mir, wo sie, ihre Mutter Fathiye, ihr
Vater Moussa und ihr Bruder Amjad untergebracht sind.
3. O-Ton 57 Amar im Haus:
...Es gibt drei Familien hier. Es gibt Wohnzimmer und Schlafzimmer. Das ist für uns.
Es gibt vier Betten und die Küche. Hier kocht meine Mutter. Und wir essen hier auch.
Erzählerin:
Im Schlafzimmer stehen vier ehemalige Soldatenpritschen. In einem zweiten Raum
befindet sich eine Spüle, ein Gaskocher und ein weiteres Bett, dass als Küchenregal
genutzt wird. Auf dem Boden liegen Plastiktüten, mit den wenigen Habseligkeiten,
die Amars Familie geblieben sind. Ich frage Amar, woher die Familie das Geld für die
Einkäufe hat, da sie oft selbst kochen.
4. O-Ton 57 Amar weiter:
Mein Bruder überweist für uns.
Ich: Der Bruder in Deutschland?
Ja, in Deutschland!
2
Erzählerin:
Amar hat sieben Geschwister. Doch der Krieg hat die Familie völlig
auseinandergerissen.
5. O-Ton 6 /7 Amar:
Ich habe zwei Brüder in Istanbul. Und einer ist in Izmir. Einer ist gestorben im Krieg.
Wir sind sechs Brüder und ich und meine Schwester auch.
Erzählerin:
Amars ältester Bruder Mouayyad, 27, hatte sich mit dem 10-jährigen Abdelrahman,
dem jüngsten der Familie, schon vor knapp zwei Jahren aus Aleppo auf den Weg
nach Deutschland gemacht. Heute leben die beiden in Hamburg. Sie sind bereits als
Flüchtlinge anerkannt. Irgendwie haben sie es bis jetzt geschafft, sich jeden Monat
knapp hundert Euro vom Munde abzusparen und das Geld nach Griechenland zu
schicken. Inzwischen erhält Amars Familie auch eine kleine finanzielle Unterstützung
vom griechischen Staat.180 Euro monatlich. Das sind 45 Euro pro Person.
2. Atmo aus dem Haus
Erzählerin:
Der Tagesablauf ist monoton. Aufstehen, beten, essen, im Camp spazieren gehen,
lesen, essen, schlafen. Die Familie ist sehr gläubig. Sie beten viel, erklärt mir Amar.
6. O-Ton 11 Amar:
Fünfmal. Ungefähr fünf Uhr am Morgen. Und dann ungefähr um ein Uhr, und um fünf
Uhr am Nachmittag.
Erzählerin:
Dann überlegt sie kurz, fragt ihre Mutter:
3. Atmo: Fragt ihre Mutter auf Arabisch:
7. O-Ton 11/10 Amar weiter:
Ah, ja, Ungefähr um neun Uhr und das fünfte Gebet ist um halb elf. / Zuerst wir
stehen, wir sagen Allahu akbar. Und dann beginnen wir mit einer kurzen Sure. Sie
kennen das Wort, ja? Und dann wir machen so weiter. Die Frauen beten nicht
zusammen. Jede betet in ihrem Zimmer. Aber die Männer meistens beten draußen
zusammen.
4. Atmo: Gebet der Männer
Erzählerin:
Vater Moussa, von Beruf Schneider, hat im Flüchtlingslager die Rolle des Imams
übernommen. Wenn es keinen offiziellen Imam gibt, erfahre ich, kann im Islam jeder
Gläubige die Rolle des Vorbeters übernehmen. Amar zeigt mir auf dem Gelände
einen ehemaligen, überdachten Fahrzeugparkplatz, der jetzt mit großen Teppichen
ausgelegt ist.
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8. O-Ton 51 Amar:
Hier beten die Männer. Eigentlich fünfmal pro Tag, aber niemand steht hier früh auf,
deshalb vier mal pro Tag (lacht!)
Erzählerin:
Amar hat keine gleichaltrigen Freundinnen im Lager. Die meisten sind jünger als sie,
ein paar wenige sind älter. Um sich die Zeit zu vertreiben, studiert sie täglich den
liegengebliebenen Schulstoff. Mathe, Physik, Biologie. Entweder aus Büchern, die
sie von den Helfern zur Verfügung gestellt bekommen hat, oder sie recherchiert im
Internet. Zum Glück gibt es Wlan - kostenfrei. Das ist für sie alle im Lager eine große
Hilfe.
5. Atmo einbauen.
Erzählerin:
Amar hat seit zwei Jahren keine Schule mehr besucht. Das Deutsch, dass sie mit mir
spricht, hat sie sich größtenteils selbst beigebracht. Sie lernt die deutschen Wörter
einfach auswendig. Alphabetisch, so wie sie im Wörterbuch stehen. Sie will die tote
Zeit, wie sie es nennt, im Lager nutzen - um sich auf Deutschland vorzubereiten.
9. O-Ton 17 Amar:
Und dann habe ich eine Frau getroffen, und sie hat mir erzählt, was machst du und
da hab ich geantwortet: ich lerne Deutsch. Und nach einer Woche hat mir gesagt,
dass ich hab eine Deutschlehrerin gesehen, und ich hab ihr gesagt, dass sie
unterrichtet dich. Ja und das war toll, (lacht!)
Erzählerin:
Weil sie die einzige in der Familie ist, die schon recht gut Deutsch und inzwischen
auch ein wenig Griechisch spricht, ist es Amar, die mit den Behörden kommuniziert,
obwohl sie die Jüngste ist und dazu noch ein Mädchen. Die Familie will wissen wie
es um die Familienzusammenführung nach Deutschland steht. Der 10 jährige Bruder
in Hamburg hat einen Anspruch darauf. Der gilt für die Eltern, und da Amar noch
keine 18 ist, auch für sie. Doch es gibt Komplikationen, hat man ihr in der Botschaft
in Athen gesagt. Weil Pässe fehlen.
10. O-Ton 2 Amar:
Wir haben einen Termin gestellt in der deutschen Botschaft. Aber sie brauchen viele
Pässe und Papiere, aber wir können diese nicht bringen, weil, Sie wissen, ich bin ja
aus Aleppo, und alles Krieg in Aleppo.
Erzählerin:
Bruder Amjad und Vater Moussa besitzen Pässe, die allerdings abgelaufen sind.
Amar und ihre Mutter haben gar keine, und Reisepässe im zerbombten Aleppo zu
beantragen ist hoffnungslos. Die syrische Botschaft in Athen verlangt für die
Ausstellung eines Passes stolze 700 Euro. Geld, dass Amars Familie nicht
aufbringen kann. In der Türkei soll es angeblich weniger kosten.
4
11. O-Ton 32 Amar:
In Istanbul gibt es ein syrisches Konsulat. Dort kann man Pässe machen. Und das
kostet dort ungefähr 400 Euro. Das ist billiger, aber auch schwer für uns.
Erzählerin:
So jedenfalls ist Amars jetziger Kenntnisstand. Leben in der Warteschleife heißt das
für die Familie. Als ich mit meinem Wagen zur Rückfahrt in das 60 Kilometer
entfernte Thessaloniki aufbrechen will, bittet Amar mich darum, sie nach Veria
mitzunehmen.
12. O-Ton Amar:
Können wir bitte zum Postamt fahren. Ich will die Pässe und Unterlagen in die Türkei
schicken. Können wir? Danke.
6. Atmo: Autofahrt
Erzählerin:
(evtl. o.c.) Amars Familie hat Vertrauen zu mir und keine Problem damit, ihre Tochter
mit mir fahren zu lassen. Und schließlich ist der für sie so wertvolle Kontakt zu mir,
einer deutschen Journalistin, Amars Sprachbegabung und ihrer Kontaktfreudigkeit zu
verdanken. Ende o.c.)
Im Postamt besorgen wir einen Briefumschlag, damit der große DIN 4 Ordner mit
sämtlichen Unterlagen, die das syrische Konsulat zur Ausstellung der Pässe
verlangt, hineinpasst. Amar schickt den Umschlag an die Adresse ihres Bruders in
Istanbul. Der wird sich um alles Weitere kümmern.
7. Atmo: Dort schreibt du.....
Erzählerin:
Fein säuberlich schreibt Amar zunächst ihren Namen, dann den Namen des Camps
mit großen Buchstaben auf.
8. Atmo Stempeln
13. O-Ton:
Postbeamtin
Erzählerin:
9,20 Euro kostet es, wenn sie es per Einschreiben schicken, erklärt die Beamtin. Für
Amar ist das viel Geld.
9. Atmo Postamt
Erzählerin:
Die junge Syrerin hatte sich die Weiterreise nach Deutschland rascher, das
Asylprocedere leichter vorgestellt. Der Krieg hat ihr Leben und das ihrer Familie
komplett auf den Kopf gestellt. Irgendwann werden sie alle in Deutschland wieder
5
zusammenkommen und in Frieden leben, hofft sie. Wie früher in Aleppo. Aber wann
das wohl sein wird?
Was Amar im Lager am meisten quält, ist, dass sie keine Schule besuchen kann. Die
Helfer haben eine Grundschule für die Jüngeren eingerichtet. Für eine
Gymnasialklasse gibt es zu wenig Schüler. Dabei träumt Amar von nichts so sehr wie
davon, endlich das Abitur zu machen und anschließend studieren zu können.
14. O-Ton 8 Amar:
Früher wollte ich eine Ärztin werden, doch als ich größer bin, habe ich gedacht, ich
kann ja nicht das Blut sehen. Jetzt möchte ich Psychologie, weil ich hab viel mit den
Kindern erlebt. Ich mag den Leuten helfen. Jetzt unterrichte ich Deutsch, für die
Kinder und die Frauen auch, und ich unterrichte Arabisch und ich gib auch
Englischunterricht.
10. Atmo Amar 49 geben Ende Schritte kurz freistellen
11. Atmo aus dem Camp: Männer rufen sich was zu
Erzählerin:
Bei meinem nächsten Besuch führt mich Amar über das ganze Gelände. Überall
Kinder. Sie spielen oder hüpfen die kleinen Stufen zu den Gebäuden rauf und runter.
Aber jetzt beobachten sie mit freundlicher Neugier die fremde Besucherin
11. Atmo Kind begrüßt freistellen
Hallo! - guten Tag! - Wie geht’s? - Ich heiße Hewa! Wie heißen sie? Marianthi!Mädchen: Wie alt sind sie? Ich bin elf Jahre. Danke.
Erzählerin:
Das Deutsch, dass die Kleinen sprechen, haben sie von Amar gelernt. Amar zeigt mir
die Essensausgabestelle. Das Lager befindet sich an einem Hang, inmitten einer
Waldlichtung. Durch die Pinien schimmert ein Stausee. Den können die Flüchtlinge
zum Fischen nutzen. Aber es gibt auch Fertiggerichte, die geliefert werden.
12. Atmo Essensverteilungsstelle und Text legen
15. O-Ton 50 von der Atmo Essensausgabe:
Amar
Das Essen wird glaube ich ausgegeben.
Erzählerin:
Zweimal täglich kommt ein Transporter ins Camp. Jeweils um 12 und um 18 Uhr.
Das Essen schmeckt aber selten, sagt Amar. Meist sind es Nudel- und
Bohnengerichte, frisch zubereitetes Gemüse oder Obst sind selten. Das Ministerium
für Migrationspolitik hat den Auftrag an die Firma mit dem günstigsten Angebot
vergeben.
6
13. Atmo Essensausgabe
Erzählerin:
Die Vorgaben, die die Auftragsfirma für das Essen erhalten hat, lauten: genügend
Kalorien und viele Kohlehydrate. Ob die Nahrung auch vitaminreich ist, spielt
offenkundig keine Rolle. Das griechische Militär übernimmt die Verteilung der
Essensrationen. Nach den Lieferungen sorgen Hunderte von verschmierten
Kunststoffpackungen für noch mehr Müll.
13. Atmo Essensausgabe
weiter Amar:
Wasser und Brot und das Essen. Heute sind Bohnen.
Erzählerin:
Vor dem Gebäude, in dem sich die Lager-Apotheke befindet, treffen wir einen
syrischen Arzt, der sich als Helfer betätigt. Er spricht sogar Deutsch. Amar fragt mich,
ob sie ihn mit meinem Aufnahmegerät interviewen darf.
16. O-Ton 16 Amar:
Amar Sie sind aus Homs?
Arzt: Ich bin aus Hama.
Amar: Ich hab gehört sie sind aus ….. ja 30km ist das entfernt. Und welcher Typ in
Medizin studieren sie?
Erzählerin:
Der Arzt erklärt, er sei Gynäkologe, Chirurg und Notfallmediziner.
Weiter mit Arzt aus O-Ton 16 Amar:
Und ich arbeitete in diesem Krieg seit zwei Jahren in Syrien. In einem großen
Krankenhaus in Hama.
Erzählerin:
Das Interview macht Amar sichtlich Spaß. Überhaupt ist sie heute guter Stimmung.
Zwei Tage später sieht das anders aus.
17. O-Ton Amar 37:
Heute ich hab begonnen Griechisch zu lernen, um zur Schule zu gehen. Aber heute
hab ich gedacht, wenn ich zur Schule gehe, ich hab gedacht, ich hätte
Schwierigkeiten
mit den Freunden und wie soll ich mit den griechischen Freunden sprechen? Das
wird schwer und was soll ich machen? - Ich bin jetzt wie eine Fremde hier in
Griechenland. Von anderer Religion, von anderer Kultur, ich hab Angst. (ich frage:
Du hast Angst, dass du keine Freunde kennenlernst?) - Amar: Vielleicht.
Erzählerin:
Bald beginnt das neue Schuljahr. Amar hofft, dass sie dann endlich am offiziellen
Unterricht in einer griechischen Schule teilnehmen kann. Zusammen mit den anderen
7
Flüchtlingskindern im Camp in Griechisch unterrichtet zu werden, ist langweilig, sagt
sie. Und sei ihr auch nicht anspruchsvoll genug. Als ihre Deutschlehrerin davon
erfährt, bietet sie Amar an, mit ihr privat Griechisch zu üben.
18. O-Ton 45 Amar:
Und jetzt machen wir das zusammen. Ich geh zu ihr.
14. Atmo: Autofahrt nach Veria
Erzählerin:
Eine Woche später fahre ich mit Amar nach Veria. Zur ihrer privaten
Griechischstunde. Normalerweise nimmt sie den Linienbus, der an einer Haltestelle
100 Meter vom Camp entfernt hält. Für das Ticket hin und zurück zahlt Amar 2,40
Euro. Eine gute halbe Stunde ist sie zu ihrer Lehrerein unterwegs.
15. Atmo: Ankunft bei der Lehrerin
Lehrerin: Ah, da seid ihr endlich. (lacht!) Hallo!
Erzählerin:
Lehrerin Vicky Gondria wohnt im Zentrum vom Veria in einem Mehrfamilienhaus. Sie
ist in Deutschland aufgewachsen und hat dort Germanistik studiert. Heute lebt sie mit
ihrem Mann und ihrem 16jährigen Sohn in Veria, dem Heimatort ihrer Eltern. Und
unterrichtet deutsch als Privatlehrerin. Als wir bei ihr eintreffen, duftet es nach schon
im Flur nach frisch zubereitetem Mittagessen.
19. O-Ton 1 Lehrerin Vicky:
Wollen wir gleich essen? Ich hab so einen Hunger. Mir ist der Magen schon unter
den Fußsohlen? Geht ihr schon mal raus auf den Balkon?
Erzählerin:
Amar kennt sich aus. Sie hilft beim Tischdecken und fühlt sich augenscheinlich wohl
im Haus von Lehrerin Vicky.
20. O-Ton 3 Lehrerin:
Fisch hast du bei mir noch nicht gegessen!?
Amar: Nein.
Lehrerin: Ja, glaub ich nicht.
16. Atmo im O-Ton 3: Teller werden aufgestellt
Erzählerin:
Amar ist aufmerksam. Alles, was im Haus der Lehrerin passiert ist wichtig. Sie
beobachtet, entdeckt, staunt. Was und wie isst man in Europa? Wie sind die Regeln
bei Tisch? Wie werden Messer und Gabeln benutzt? In Aleppo aß Amars Familie auf
dem Boden sitzend, mit Fladenbrot oder mit Löffeln. Im Lager auch.
21. O-Ton 4 Lehrerin:
8
Komm, heute machen wir es mal vornehm. Wir nehmen den Salat auf den Teller.
Ganz vornehm. Weil wir heute extra Besuch haben, ja? Also in Griechenland essen
wir meistens aus einem. In Deutschland nehmen wir den Salat meistens auf den
Teller. Es sei denn man ist in der Familie. Guten Appetit!
Amar: Kali Orexi! (guten Appetit auf Griechisch)
22. O-Ton 6 Lehrerin:
Sie wird bestimmt in einem Monat perfekt Griechisch sprechen können. (Amar lacht!)
Ja!
Erzählerin:
Lehrerin Vicky ist von Amars Sprachbegabung sehr angetan. Und sie sei sehr fleißig.
Egal worum es geht, immer sei Amar mit Herz und Kopf bei der Sache.
23. O-Ton 6 Lehrerin:
Sie stürzt sich in alles mit so einem großen Pathos hinein, das ist unglaublich! Und
das ist nicht nur damit zu erklären, dass junge Menschen viel aufnehmen können, ja?
Da ist was anderes noch!
Erzählerin:
Amar ist über den Privatunterricht dankbar. Auf eine Teilnahme am regulären
Unterricht, gemeinsam mit griechischen Kindern, hoffte sie bisher vergebens.
Griechische Eltern hatten zu Beginn des Schuljahres Beschwerde eingelegt.
24. O-Ton 10 Lehrerin:
Auf jeden Fall muss eine kleine Basis geschaffen werden. Damit man ein bisschen
was versteht. Du kennst ja das Gefühl, ja? Wenn man nun gar nichts versteht!
Erzählerin:
Lehrerin Vicky weiß selbst noch zu gut, wie wichtig für sie die Teilnahme am
regulären Schulunterricht in Deutschland war. Sie will Amar helfen, so gut es geht.
Vorbehalte gegen Flüchtlinge gibt es auch in Griechenland, auf der anderen Seite
aber auch große Solidarität, obwohl viele griechische Familien seit Jahren schon den
Gürtel sehr eng schnallen müssen.
26. O-Ton 16 Lehrerin:
Gerade was unser Camp anbetrifft, da ist enorm die Stadt involviert. Also jetzt nicht,
als Stadtgemeinde, ja? Sondern viele Bürger der Stadt haben sich unheimlich
eingebracht. Es sind Leute eingespannt worden, den Taxidienst zu machen. Den
einen von hier nach da zu bringen. Gerade am Anfang waren sehr viele krank. Die
kamen ja alle aus Idomeni. Und da war es ganz wichtig die Leute schnell zum Arzt zu
bringen.
Erzählerin:
Vicky gibt nicht nur viel. Im Kontakt mit Amar, so die engagierte Helferin, bekomme
sie auch ganz viel zurück.
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27. O-Ton 18 Lehrerin:
Das Besondere an ihr ist mein Fenster zum Islam. Ich hatte nur ganz wenig Ahnung
zu Dingen, die die arabische Welt oder auch die Religion betreffen. Was man halt so
weiß! - Nicht viel! Eigentlich gar nichts, hab ich dann festgestellt. Und durch sie und
die Gespräche hab ich unheimlich viel gelernt. Und hab auch unheimlich viel
verstanden.
Erzählerin:
Vicky Gondria ist in Deutschland weltoffen erzogen worden. Dachte sie zumindest.
Bis sie Amar kennenlernte. Nun merkt sie, dass es durchaus Meinungen und
Ansichten gibt, die auch sie revidieren muss.
28. O-Ton 19 Lehrerin:
Die Geschichte mit dem Kopftuch. Das ist ein fremdes Bild für die Stadt und auch für
mich. Weil ich in meiner Umgebung nicht mit Leuten zu tun hatte, die ein Kopftuch
tragen. Und mit den Besuchen Amars hier bei uns zuhause, habe ich festgestellt,
dass nach relativ kurzer Zeit das Kopftuch gar nicht mehr da war. Ich hab nur noch
das Gesicht gesehen, die Person gesehen. Das Kopftuch war weg, nicht mehr von
Interesse.
29. O-Ton 19 Lehrerin:
Das zeigt mir, dass der Kontakt so unheimlich wichtig ist, ja? Dass man, wenn man
eine Person kennenlernt, dass man entscheiden kann, ob man diese Person nett
oder nicht nett findet, aber das nicht festmacht an dem Aussehen. Und das ist ein
großer Gewinn.
Erzählerin:
Amar ist ihr mittlerweile regelrecht ans Herz gewachsen. Sie sorgt sich, wie die
Zukunft ihres Schützlings wohl aussehen mag, sollte die junge Syrerin doch länger in
Griechenland bleiben müssen.
30. O-Ton 21 Lehrerin:
Sie ist nach vier, fünf Monaten schon auf B2 Niveau.
31. O-Ton 21 Lehrerin:
Das Tolle ist, dass sie nicht nur unheimlich viel gelernt hat und alles aufsaugt,
sondern sich persönlich auch unheimlich entfaltet hat. Die Flügel ausgebreitet.
Natürlich die Situation war auch sehr schwierig mit Idomeni, am Anfang, da war sie
noch sehr sehr schüchtern.
Erzählerin:
Amar sei viel selbstbewusster geworden, erzählt ihre Lehrerein. Anfangs traute sie
sich nur selten mit anderen zu sprechen. Auch im Flüchtlingslager. Sie verkroch sich
mit ihren Büchern und wagte sich kaum aus dem Zimmer.
32. O-Ton 22 Lehrerin:
Ich hab das früh gesehen und hab dann immer gefragt: Na, was gibt’s denn Neues
aus dem Camp. Ja, sie wüsste nicht, weil sie hätte ja immer gelernt. Dann hab ich ihr
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Hausaufgaben aufgegeben: Das nächste Mal machst du deine Grammatik und deine
Übungen, und ich möchte mindestens fünf Neuigkeiten aus dem Camp.
Erzählerin:
Amar muss lachen. Sie amüsiert sich, wenn ihre Lehrerin den Anfängen ihres
gemeinsamen Unterrichts erzählt. Und sie ist auch ein klein bisschen stolz.
33. O-Ton 22 Lehrerin:
Das hat sie auch sehr schnell gelernt ja? Dass sie in die Welt rausgegangen ist und
Leute von sich angesprochen hat, Besucher angesprochen hat. Und das ist
unglaublich, dass es in vier, fünf Monaten passiert ist. Dass ein junges Mädchen,
dass sehr in sich gekehrt war, jetzt offen ist, und das fand ich toll.
17. Atmo. Schritte in Richtung Büro, dem Unterrichtsraum kurz freistellen
Erzählerin:
Nach dem Essen beginnt der Unterricht. Es wird viel improvisiert.
18. Atmo aus Lehrstunde 1
Hast du noch einmal nach einem Buch gesucht für Griechisch?Amar: Nein, ich hab
ein Buch, wo erklärt wird, die griechische Grammatik auf Deutsch.
Erzählerin:
Amar muss mit einer Vielzahl von neuen Wörtern zurechtkommen und sich mithilfe
der wenigen Bücher, die ihr zur Verfügung stehen, die Grammatik
zusammenschustern.
18. Atmo Lehrstunde 1: Und dann hast du Wörter gelernt?Amar: Ja habe ich und
dann auch Grammatik. Ich hab letztes Mal ja gesagt, dass die Namen.....
Erzählerin:
Amar hat schnell herausgefunden, dass im Griechischen, anders als im Arabischen,
alle Hauptwörter dekliniert werden, auch Namen.
19. Atmo Lehrstunde 1: Amar: Das war leicht.Lehrerin: Ja, für dich ist alles leicht!
Amar lacht!
20. Amto Lehrstunde 1: Lehrerin: Was ich eben gesagt hab, sie treibt mich immer so
her......Aha, aha!
21. Atmo Lehrstunde 4: Lehrerin kurz stehen, abblenden
22. Atmo 56 im Camp wieder aufblenden
Erzählerin:
Als wir wieder im Camp eintreffen, schaut Amar sogleich nach ihrer Mutter.
11
aus Atmo 56 Amar: Gestern und vorgestern sind wir zum Zahnarzt gegangen, weil
meine Mutter hat Probleme mit den Zähnen. Und es gibt einen Mann, der bezahlt,
was der Arzt braucht. Also Geld. Und meine Mutter braucht ungefähr 150 Euro. Und
dieser Mann will es bezahlen.
Erzählerin:
Ich frage nach, was genau ihre Mutter hat. Amar erzählt, sie nehme täglich
Schmerzmittel. Der ganze Mund tue ihr weh. Sie hat Probleme mit den Zähnen.
Ich biete Fathiye an, sie zu einem Zahnarzt nach Thessaloniki mitzunehmen, den ich
gut kenne. Sie willigt dankbar ein.
23. Atmo Ankunft bei Thanassis in Thessaloniki
Und so finden wir uns am nächsten Tag in der Privatpraxis von Zahnarzt Thanassis
Komnis wieder. Ich hatte uns angemeldet.
34. O-Ton 1:
Thanassis
Sprecher (overvoice):
Das ist also Amar. Und die Mutter, wie heißt die Mutter? Fathye. Ok, kommt bitte her.
Amar? Ist das nicht das Mädchen, von dem du mir erzählt hast, dass es Deutsch
alleine gelernt hat?
Erzählerin:
Zahnarzt Thanassis Komnis arbeitet schon seit langem mit Flüchtlingen. Vor einigen
Jahren eröffnete er die erste Solidaritätspraxis in Thessaloniki. Die dort ehrenamtlich
arbeitenden Fachärzte kümmerten sich damals vor allem um Opfer der
Wirtschaftskrise. Inzwischen gehören aber auch immer mehr Flüchtlinge zu ihren
Patienten.
35. O-Ton 2:
Thanassis
Sprecher (overvoice):
Was hat sie genau? Wo liegt das Problem?
Erzählerin:
Amar erklärt mir auf Deutsch. Ich übersetze für Zahnarzt Thanassis ins Griechische.
36. O-Ton Amar:
Alle ihre Zähne sind kaputt, und sie möchte neue Zähne machen.
24. Atmo: Zähne prüfen
Erzählerin:
Thanassis schaut sich jeden einzelnen Zahn gründlich an. Nach einer Weile schüttelt
er nur mit dem Kopf.
12
37. O-Ton 3:
Thanassis
Sprecher (overvoice):
Nun ja, sie müssen alle raus. Alle sind in einem schlimmen Zustand. Oben wie auch
unten.
Erzählerin:
Fathyes Zähne seien vermutlich nie gut gewesen, so der Zahnarzt. Aber durch den
psychischen Stress und die Not, die Amars Mutter erfahren musste, hat sich der
Zustand der Zähne enorm verschlechtet. Thanassis Komnis kommt zu einem klaren
Ergebnis seiner Untersuchung.
38. O-Ton 5:
Thanassis
Sprecher (overvoice):
Wir müssen alle entfernen. Und dann muss sie geduldig sein, ca. 20, 30 Tage
warten. Und dann kriegt sie Zahnprothesen.
Erzählerin:
Ich frage, ob ich mit Amars Mutter zur Solidaritätspraxis gehen soll? Zahnarzt
Thanassis winkt ab. Amars Mutter hat starke Schmerzen, da ist rasche Hilfe
angesagt.
39. Weiter O-Ton 5 Thanassis
Sprecher (overvoice):
Das hat keinen Sinn. Da kriegt sie im Monat höchstens einen Termin. Das bringt uns
hier nicht weiter. Also: Ich übernehme das hier. Für meinen Teil der Arbeit nehem ich
kein Geld.
Erzählerin:
Zahnarzt Komnis berechnet normalerweise 2000 Euro für eine solche Behandlung.
40. Weiter O-Ton 5 Thanassis
Sprecher (overvoice):
Aber wenn wir uns an die Prothesen machen, müssen wir dem Zahntechniker
zumindest die Materialkosten bezahlen. Was wollten die Helfer in Veria spenden?
41. Amar aus O-Ton 5 Thanassis:
Für jeden Zahn 100 Euro.
42. Weiter O-Ton 5 Thanassis
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Sprecher (overvoice):
Also ich spreche mit meinen Techniker. Der nimmt 150, aber ich bitte ihn darum, nur
100 Euro für alle Zähne zu nehmen. Wir brauchen also samt Materialkosten 200
Euro, um die Prothesen zu machen.
Erzählerin:
Amar versteht nicht recht. Ist über das Angebot von Zahnarzt Thanassis sprachlos.
Fragt sicherheitshalber nochmal nach. Der Mann in Veria, der helfen will, kann ja nur
200 Euro geben, für zwei Zähne.
43. O-Ton Amar aus Thanassis 8:
Also mit dieser Summe für alle? Aha ja. Also die Ärztin in Veria hat gesagt, ich
nehme für zwei Zähne 150 Euro. Nur für zwei. Sie konnte nicht alle machen. Hier will
er für alles nur 200 Euro. Also gut ok.
Erzählerin:
Als letztes erkundigt sich Zahnarzt Thanassis nach dem Gesundheitszustand der
Mutter. Ob sie Herzprobleme hat? Hohen Blutdruck? Amar bestätigt ihm, bis auf die
Zähne, sei die Mutter gesund.
44. O-Ton 11 Thanassis kurz freistehend, dann runterfahren
Erzählerin:
Nach Möglichkeit sollten die Zähne in zwei Sitzungen entfernt werden, empfiehlt der
Zahnarzt. Dann müssten Amar und Mutter Fathye noch weitere 4 Reisen nach
Thessaloniki einplanen. Zum Ausmessen und zur Anpassung des Provisoriums. Ein
letzter Besuch dann, um die Zahnprothesen abzuholen.
25. Atmo aus der Zahnpraxis
Erzählerin:
Nach sechs Wochen ist es dann soweit. Amar ist ganz aufgeregt, als wir zum letzten
Mal in der Zahnpraxis eintreffen.
Erzählerin:
Thanassis freut sich Mutter und Tocher wiederzusehen.
45. O-Ton 8 Amar:
Meine Mutter wird neue Zähne machen. Ich danke Ihnen.
46. O-Ton Thanassis kurz freistellen
Sprecher (overvoice):
Fathiye, die Prothesen sind toll geworden! Lass uns mal prüfen, wie sie passen. Und
ob sie Dir überhaupt gefallen.
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Erzählerin:
Zahnarzt Thanassis hilft Mutter Fathiye die Zahnprothese einzupassen. Amar ist
aufgeregt.
47. O-Ton Thanassis
Sprecher (overvoice):
Sie sitzen perfekt. Sie sind ganz toll geworden.
Erzählerin:
Amar ist erleichtert. Jetzt hat sie ein Problem weniger, erklärt sie mir ganz im
Vertrauen. Ihr größtes Problem sei aber noch ungelöst.
48. O-Ton 6 Amar:
Jetzt brauchen wir nur noch Pässe. Wenn wir die Pässe haben, dann können wir
sofort.
Erzählerin:
Sofort nach Deutschland fahren, meint Amar. Sie spricht es nicht aus. Sie weiß, ich
verstehe auch so.
26. Atmo aus dem Camp
Erzählerin:
Als ich Amar das nächste Mal im Camp besuche, sind ein paar Wochen vergangen.
Noch immer gibt es keine Nachrichten aus Deutschland. Das Warten ist zäh! Die
junge Frau erlebt immer wieder Momente des Zweifels. Ob sie jemals nach Hamburg
kommen? Zu den Brüdern, die warten? Der Winter im Camp ist lang. Weil es für sie
nichts anderes zu tun gibt, hat sie in ihrem Zimmer angefangen Spanisch und
Italienisch zu lernen.
27. Atmo: Amar beim Üben
Erzählerin:
Wenn sie diese beiden Sprachen auch noch sprechen kann, dann könnte sie überall
in Europa leben, sagt Amar. Für den Fall, dass Deutschland sie nicht nimmt. Ihre
letzten Worte beim Abschied klingen aber immer noch hoffnungsvoll und voller
Selbstbewusstsein. Sie lächelt.
49. O-Ton:
Amar
Wenn Deutschland mich nicht aufnimmt, dann wäre es nicht nur schade für mich. Es
wäre auch schade für Deutschland.
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