Ingenieurberufe I 022017

SZ SPEZIAL – INGENIEURBERUFE 63
DEFGH Nr. 41, Samstag/Sonntag, 18./19. Februar 2017
Gleichung mit vielen Unbekannten
von christine demmer
I
ngenieure sind gesucht wie kaum zuvor. Für die Unternehmen und ihre Verbände ist das gleichzeitig gut und
schlecht. Es ist gut, weil die hohe Nachfrage nach Akademikern mit technischer Ausrichtung von gefüllten Orderbüchern
zeugt. Es ist schlecht, weil fehlende Ingenieure nicht für die eigenen Kunden arbeiten
und folglich keinen Umsatz generieren.
Der Auftrag geht dann woandershin. In diesem Dilemma gibt es für Arbeitgeber nur einen Ausweg: den Umfang der Stammbelegschaft so knapp wie möglich zu halten und
Bedarfsspitzen mit ausgeliehenen Fachkräften abzudecken. Ingenieurdienstleister glätten die Branchenkonjunktur. Aktuell trifft sie allerdings dasselbe Schicksal
wie ihre Kunden. Auch sie könnten mehr Ingenieure einstellen, als der Arbeitsmarkt
hergibt. Aber wäre das eine gute Idee? Auch
an der verlängerten Werkbank mehren
sich die Fragezeichen am Horizont.
Ingenieure könnten optimistisch in die Zukunft blicken – wären da nicht der Brexit,
die Krise in der EU und der neue US-Präsident
Qualifikationen für Ingenieure
in der vernetzten Produktion
Falls „America first“ zum
Gesetz erhoben wird:
Was bedeutet das für Europa?
Gerhard Rübling, Geschäftsführer beim
Maschinenbauer Trumpf in Ditzingen,
räumt als einer von wenigen ein, dass man
aufgrund der politischen Veränderungen
für dieses Jahr verhalten plant. Softwareentwickler und IT-Spezialisten seien aber
stets willkommen.
Ingenieure, die sich auf Industrie 4.0
vorbereitet haben, sind im Vorteil. Für sie
ist es am Arbeitsmarkt in den vergangenen
Jahren kontinuierlich aufwärtsgegangen.
Die meisten können sich den Arbeitgeber
aussuchen, und die Gehälter entwickeln
sich ordentlich. Nach Angaben des Vereins
Deutscher Ingenieure (VDI) legten die Gesamtjahreseinkommen von 2015 auf 2016
im Schnitt um 2,34 Prozent zu. Junge Ingenieure verdienten 2016 durchschnittlich
46 563 Euro brutto im Jahr. Im laufenden
Jahr erwarten Personalentscheider ein
Plus von drei Prozent in Deutschland. Das
hat das Beratungsunternehmen Willis
Towers Watson erfragt. Das Plus gilt für alle Branchen, was normalerweise bedeutet,
dass Ingenieure darüberliegen.
Die Spannweite der Brutto-Einstiegsgehälter ist allerdings beträchtlich. Sie reicht
von 40 200 Euro für Ingenieurinnen und
Ingenieure in Ingenieur- und Planungsbüros bis hin zu 50 275 Euro für Fahrzeugingenieure. Man könnte denken, das spiegelte
die unterschiedlichen Branchenkonjunkturen. So ist es aber nicht. Obwohl die Bau-
industrie so rund läuft wie zuletzt vor
20 Jahren und die Unternehmen händeringend nach Bauingenieuren, Architekten,
Vermessungs- und Gebäudetechnikern
Ausschau halten, liegen die Einstiegsjahresgehälter nach VDI-Angaben mit 41 500 Euro eher am unteren Ende. Das erklärt sich
mit dem relativ großen Arbeitskräfteangebot in diesem Segment. Ingenieure im Fahrzeugbau hingegen, zumal solche mit der
landauf, landab gewünschten IT-Kompe-
tenz, sind knapp. Hier müssen die Firmen
mit höheren Gehaltsangeboten winken.
Rechnerisch könne man nicht von einem Ingenieurmangel sprechen, sagt Jörg
Friedrich, Abteilungsleiter Bildung beim
VDMA in Frankfurt: „Ende 2016 waren die
Zahlen der offenen Stellen und der arbeitslos gemeldeten Ingenieure in etwa ausgeglichen.“ Sieben der acht Ingenieurberufskategorien hätten einen Zuwachs in der
Nachfrage nach Arbeitskräften aufgewie-
Arbeitsmarkt der Maschinen- und Fahrzeugtechnik
Jahresdurchschnittsbestand
9800
Arbeitslose
6500
Gemeldete Stellen
4800
4000
4000
4100
4600
3800
3200
2006*
2007
2008
3300
3200
4000
4300
2600
2500
2014
2015
2800
2800
2005*
4300
2200
2200
2009
2010
2011
2012
2013
SZ-Grafik; Quelle: Bundesagentur für Arbeit
Ingenieurberufe
Verantwortlich: Peter Fahrenholz
Redaktion: Ingrid Brunner
Anzeigen: Jürgen Maukner
Made in Germany – gefragt wie nie, auch dank deutscher Ingenieurskunst. Ob der Exportboom anhält, hängt von politischen Faktoren ab.
*ohne zkT
Weil die Zinsen niedrig sind, boomt die
Bauwirtschaft. Weil der Euro-Kurs niedrig
ist, schickt das Ausland eine Bestellung
nach der nächsten. Weil Maschinen und
Computer zusammenwachsen, Stichwort
Industrie 4.0, hat die Elektrotechnik ordentlich zu tun. Wenn das so in den nächsten zwölf Monaten bliebe, hätten Ingenieure und ihre Arbeitgeber Grund zum Jubeln.
Aber bleibt das so? „Fragen Sie Donald
Trump“, schlägt Holger Paul vor. Er spricht
für den Verband Deutscher Maschinenund Anlagenbau (VDMA) und ist gerade in
Brüssel. Dort beratschlagt er zusammen
mit Kollegen aus anderen Ländern, was
aus Europas Exportindustrie wird, wenn
„America first“ tatsächlich zum Gesetz
erhoben wird. Oder was auf den Brexit
folgt. Oder in welche Weltregionen die
deutsche Industrie ersatzweise liefern
könnte, falls die amerikanischen Kunden
tatsächlich ihr Orderverhalten ändern und
inländischen Lieferanten den Vorzug
geben.
Es kommt nicht oft vor, dass die Arbeitsmarktchancen von Ingenieuren im Licht
der großen Weltpolitik zwischen rosarot
und hellgrau changieren. Aktuell ist aber
genau das der Fall. Wohin man schaut: Die
Unsicherheit ist groß. Kaum jemand will
sich festlegen. Bevor die Karten auf den
Tisch gelegt werden, taxiert jeder sein eigenes Blatt.
So planen die Unternehmen kurzfristig
und setzen auf neue Fachkräfte in Zukunftstechnologien. Autobauer Audi will
gezielt junge Entwickler für alternative Antriebe und die digitale Vernetzung ansprechen. ABB, heute noch auf Elektrotechniker und Maschinenbauer angewiesen,
strebt künftig nach mehr IT- und Beratungskompetenz. Das gilt für alle Fachrichtungen. Bayer, Chemiekonzern mit hochfliegenden Plänen, hat für dieses Jahr
100 Jungingenieure eingeplant, vorzugsweise Verfahrenstechniker sowie Experten für die rechnergesteuerte Pharmaentwicklung (Computational Life Sciences).
Mensch, Rechner
und Maschine
FOTO: JENS BÜTTNER / DPA
sen, präzisiert der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) in seinem vierteljährlich erscheinenden „Ingenieurmonitor“. Lediglich das
Stellenangebot der Kunststoffherstellung
und der chemischen Industrie habe sich
im dritten Quartal 2016 leicht rückläufig
entwickelt. VDI-Direktor Ralph Appel geht
deshalb davon aus, dass 2017 ebenfalls ein
gutes Jahr für Ingenieurinnen und Ingenieure werden würde: „Die Nachfrage der Unternehmen bleibt unverändert hoch. Die robuste Konjunktur und der Bauboom sorgen derzeit für Vollbeschäftigung für unseren Berufsstand in Deutschland.“
Es wäre schön, wenn es so bliebe. Dennoch sollten auch Ingenieure genau beobachten, was sich an und um ihren Arbeitsplatz herum verändert. Sorgsam zu beachten sind die heute noch nicht einzuschätzenden Weltmarktrisiken, deren Eintritt
über kurz oder lang sicher geglaubte Bastionen infrage stellen kann. Aufmerksamkeit verlangt auch der von der Digitalisierung ausgelöste Strukturwandel in den Ingenieurbranchen. In hohem Tempo verändert er das von den Arbeitgebern nachgefragte Kompetenz-Portfolio: In und
neben den Ingenieurwissenschaften beansprucht die Informationstechnologie heute viel mehr Platz für sich. Wo die Ausbildung Lücken gelassen hat und der Job es
fordert, müssen auch Ingenieure weiterlernen.
Warum Teile produzieren und so lange lagern, bis sie gebraucht werden? Die Antwort führt direkt zu Industrie 4.0. Denn
künftig wird nur noch das Teil gebaut, dessen endgültiger Einsatzort feststeht. Versehen mit einem Code, der funkgesteuert
identifiziert wird, sendet das Bauteil Daten
und empfängt Informationen von Rechnern oder anderen Bauteilen. So die Grundidee der digitalen Vernetzung von Computern und Maschinen. Für ältere Ingenieure
war das zu deren Studienzeiten Zukunftsmusik. Die heutige Generation ist schon
besser vorbereitet, doch nach Ansicht der
Industrie reicht das nicht aus. In diese Lücke stoßen etliche Hochschulen mit Weiterbildungen.
So setzt die Hector School of Engineering & Management, das ist die Business
School des Karlsruher Institute for Technology (KIT), mit ihrem Masterprogramm
Service Management & Engineering ganz
auf Informationstechnologie und Big Data. Der Ansatz ist interdisziplinär und verknüpft aktuelles Technologie- mit Managementwissen. Der Unterricht findet berufsbegleitend und in englischer Sprache statt.
Bei der Dualen Hochschule Baden-Württemberg heißt der auf Industrie 4.0 vorbereitende Studiengang „Integrated Engineering“. Er verbindet ein ingenieurwissenschaftliches Fachstudium mit Erfahrungen aus der Praxis der Studierenden. Im
Studium wechseln Präsenzphasen mit beruflicher Tätigkeit und Selbststudium ab.
Voraussetzungen für die Zulassung sind
ein Bachelorabschluss in Maschinenbau,
Elektrotechnik, Mechatronik, Informatik
oder in einem ähnlichen Fach und danach
wenigstens zwei Jahre Praxiserfahrung.
Hier allerdings wie auch im berufsbegleitenden Masterstudiengang „Mechatronische Systeme“ an der Hochschule Tuttlingen fehlen über die Grundlagen hinausgehende betriebswirtschaftliche Lehrinhalte.
Zwar ist die Integration von Maschinenbau, Elektrotechnik und Information an
sich schon ein sehr anspruchsvolles Unterfangen. Wer trotzdem nicht auf Managementwissen verzichten möchte, sollte sich
ein Masterprogramm aussuchen, das sich
an Wirtschaftsingenieure wendet. Es empfiehlt sich, die angebotenen Pflicht- und
Wahlfächer sowie die Studieninhalte genau
zu prüfen. Manch ein Bildungsanbieter
geht mit dem Hinguckerbegriff Industrie
4.0 außerordentlich großzügig um. Aber
mit zwei, drei Programmierkursen wird
aus einem Maschinenbauer noch kein Experte für die digitalisierte Fabrik. Weil
nicht jede Hochschule gleich einen ganz
neuen Studiengang entwickeln, akkreditieren und bewerben lassen kann oder will,
behilft man sich vielerorts mit Zusatzangeboten in der Lehre und bietet die Themen
von Industrie 4.0 fächerübergreifend an.
Ihre bisherigen Studiengänge erweitert
hat die Hochschule Albstadt-Sigmaringen
seit diesem Wintersemester mit einem
Masterstudium „Automation Industrie
4.0“ im Programm. Die (Vollzeit-)Studierenden in Maschinenbau, Systems Engineering, Textil- und Bekleidungsmanagement und Wirtschaftsingenieurwesen können aus einer Palette von zusätzlichen
Lehrangeboten wie Robotik oder Netzwerkmanagement wählen.
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