Bausparen: Hat der Fuchs den Zins gestohlen? Ein Pro & Contra zum juristischen Sieg der Bausparkassen gegen ihre alten Kunden ▶ Seite 12 AUSGABE BERLIN | NR. 11259 | 8. WOCHE | 39. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ DONNERSTAG, 23. FEBRUAR 2017 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Ab nach Afghanistan Zwei von elf Millionen USA Trump forciert die Abschiebung von Menschen DEUTSCHLAND Merkel lässt Afghanen abschieben und verschärft Asylrecht ohne Aufenthaltsrecht. Wie gehen Familien damit um, die dadurch auseinandergerissen werden können? BERLIN taz | Die Bundesregie- rung hat die Abschiebepraxis verschärft: unter anderem wird die Abschiebehaft verlängert. Die Abschiebung müsse ein „mögliches und richtiges Mittel“ bleiben, sagte Innenminister Thomas de Maizière (CDU). Kritik an einer Auswertung der Handydaten von Flüchtlingen wies der Minister ebenfalls zurück. Es sei nur „recht und billig“, dass der Staat sich vergewissere, ob die Angaben eines Asylbewerbers über seine Herkunft zutreffen. Damit drohe der „gläserne Flüchtling“ und eine „Brutalisierung der Abschiebepraxis“, erklärte Pro Asyl. Auch die Linkspartei übte Kritik. Für den Abend war eine weitere Sammelabschiebung nach Afghanistan geplant – diesmal aus München. Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) sagte im Deutschlandfunk, es gebe auch in Afghanistan „viele Regionen und Städte, wo man sicher leben kann“. ▶ Schwerpunkt SEITE 4 ▶ Inland SEITE 7 TRAUMFUSSBALL Mit Sané in Manchester: Eines der elf besten Spiele in diesem Jahrtausend ▶ SEITE 19 ALBTRAUMFRAGE Was tun gegen potenzielle „Gefährder“? Ein Streitgespräch mit drei Sicherheitsexperten über die Lehren aus dem Fall Anis Amri ▶ SEITE 4, 5 BERLIN Handy-App für Straßenkinder ▶ SEITE 21 Fotos oben: dpa; Schwäbisch Hall VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! verboten hat ja so seine Zweifel, ob lange Rede immer großen Sinn hat. Deshalb füllt es auch nur höchstens 24 Zeilen täglich statt ganze Abende mit Diskussionen. Aber siehe da: Auch das kann sich lohnen. Sage jedenfalls keiner, die tazMitarbeiterInnen hätten auf ihrer jüngsten Versammlung nur vage Vorsätze zum besseren Umgang mit Vielfalt, Diversity und Diskriminierung gefasst. Weit gefehlt! Mit überwältigender Mehrheit wurde sofort auch die erste konkrete Maßnahme beschlossen – und zwar der eindeutige Auftrag für einen Raucherraum im Ruch-Haus! Not born in the USA – und deshalb von Abschiebung nach Mexiko bedroht: Dagegen protestieren diese beiden Eheleute aktiv. „Ich will mich nicht mehr verstecken“, sagt Judith Lopez. Zwei ihrer drei Söhne sind in den USA geboren und deshalb Staatsbürger mit Bleiberecht Foto: Dorothea Hahn WASHINGTON ap/taz | Die US-Re- gierung hat die Justizbehörden zur harten Anwendung des Einwanderungsrechts angewiesen und damit illegal eingereisten Migranten die Abschiebung angedroht. Nach Schätzungen sollen etwa 11 Millionen Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung in den USA leben. Um Abschiebungen zu erleichtern, ändert die Regierung nun die Durchführungsverordnungen und schafft die bisher übliche Pra- xis ab, Einzelschickale zu prüfen und vorrangig schwer kriminelle Personen auszuweisen. Die von Heimatschutzminister John Kelly unterzeichneten Direktiven sollen Wahlkampfversprechen von Präsident Donald Trump umsetzen, gnadenlos gegen illegale Einwanderung vorzugehen. Jeder Straftäter solle schnellstmöglich ausgewiesen werden, und schon der unerlaubte Grenzübertritt ist in den USA ein Straftatbe- stand. Wer dagegen mit einem Visum einreiste und nach dessen Ablauf in den USA blieb, beging nur einer Ordnungswidrigkeit. Aber auch diesen Personen kann nun eine schnellere Ausweisung drohen. Denn künftig können schon Kleindelikte wie Verstöße gegen Verkehrsregeln oder Ladendiebstahl zur Ausweisung führen. Das Schnellverfahren zur Ausweisung, das bisher nur auf Personen angewendet wurde, die innerhalb von zwei Wochen nach dem illegalen Grenzübertritt bis zu 100 Meilen von der Grenze entfernt erwischt wurden, gilt nun für alle Einwanderer, die nicht beweisen können, dass sie mehr als zwei Jahre in den USA sind. Für die Umsetzung kündigte Kelly die Einstellung von 5.000 zusätzlichen Grenzschützern und 10.000 Mitarbeitern bei Einwanderungs- und Zollbehörden an. ▶ Schwerpunkt SEITE 3 SPD will Gesetz zu Managergehältern BERLIN rtr/taz | Die SPD will Maß- nahmen zur Begrenzung von Managergehältern ergreifen. In einem neuen Gesetzentwurf schlägt die SPD-Fraktion vor, die steuerliche Absetzbarkeit von Vorstandsbezügen in Aktiengesellschaften auf 500.000 Euro pro Jahr zu begrenzen. Außerdem soll die Hauptversammlung ein Maximalverhältnis zwischen Vorstandsvergütung und Durchschnittsgehalt festlegen. Die Union hat Gesprächsbereitschaft signalisiert. ▶ Schwerpunkt SEITE 2 TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 16.672 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Es ist Ausdruck des fundamentalen Selbstverständnisses der Konservativen, dass sie einen Alleinvertretungsanspruch für das Normale, Mittige besitzen und nur sie Schutz vor dem Extremen, ideologisch Überschießenden gewähren. Mitte und Maß für die SPD zu reklamieren ist nur eine rhetorische Spitze. Aber eine, die trifft. Mitte und Maßlosigkeit Nach zehn Jahren Debatten und Vertagungen wollen die Sozialdemokraten also endlich die Managergehälter begrenzen – mit maßvollen Mitteln. Unternehmen, die Managern mehr als 500.000 Euro im Jahr zukommen lassen, sollen das nicht mehr von der Steuer absetzen können. Ob das zu einer wirksamen Senkung von Boni führt oder die Konzerne die Millionengehälter achselzuckend aus ihren Gewinnen zahlen, kann nur die Praxis zeigen. Aber damit setzt der Staat ein Zeichen: Mehr als eine halbe Million Euro im Jahr zu bekommen ist fragwürdig. Solche Symbole zählen. Auch die neoliberale Entfesselung der Märkte in der Thatcher-Reagan-Ära brauchte Symbole, die anzeigten, was gesellschaftlich akzeptabel war. Die Union trifft die SPD-Initiative auf dem falschen Fuß. Sie tut sich sowieso schwer mit dem Verdruss in der Mitte der Gesellschaft über die Maßlosigkeit der Topmanager. Und sie ist gespalten. Angela Merkel würde der SPD wohl gern entgegenkommen. Wenn du deinen Gegner nicht schlagen kannst, verbünde dich Die Wirtschaftsliberalen in der Union wollen nicht kampflos aufgeben mit ihm: Mit dieser Taktik hat die Kanzlerin schon mehrmals das Waffenarsenal ihrer Gegner vor dem Wahlkampf leer geräumt. Aber es ist zweifelhaft, ob das nochmals gelingt. Die Wirtschaftsliberalen in der Union sehen schon die Marktwirtschaft untergehen und wollen nicht kampflos aufgeben. Außerdem: Falls die SPD sich durchsetzt, wird das, anders als früher, im öffentlichen Bewusstsein auf ihrem eigenen Konto gutgeschrieben – und nicht auf Merkels. Für die SPD ist das mal etwas Neues: eine Win-win-Situation. Stolpern kann sie nur noch über sich selbst – wenn sie der Union bei den Kompromissverhandlungen zu weit entgegenkommt. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Schwerpunkt DON N ERSTAG, 23. FEBRUAR 2017 Oben & unten PORTRAIT Was tun, um die Kluft zwischen Normalverdienern und den Top-Vorständlern mit ihren Boni zu verringern? SPD bestürzt über Managergehälter VORSCHLAG Sozialdemokraten wollen weniger Steuervorteile für Firmen, deren Chefs zu viel verdienen. Hoffentlich bald wieder frei: der Aktivist Ildar Dadin Foto: afp Zwischen Knast und Freiheit D ie Tage von Ildar Dadin in einem Gefängnis in der westsibirischen Stadt Barnaul dürften gezählt sein. Am Mittwoch ordnete Russlands Oberster Gerichtshof die Freilassung des politischen Aktivisten an. Der 34-Jährige, so heißt es in dem Beschluss, habe ein Recht auf Rehabilitierung. Dieses könnte auch Entschädigungszahlungen einschließen. Dadin, der nach einem abgebrochen Metallurgiestudium sieben Jahre als Wachmann gearbeitet hatte, schloss sich 2011 der Protestbewegung gegen die Regierung an. Auslöser waren die Parlamentswahlen im Dezember, bei denen er als Beobachter tätig war. Hunderttausende waren in den folgenden Tagen und Wochen gegen die massiven Fälschungen auf die Straße gegangen. Beim „Marsch der Millionen“ im darauf folgenden Mai in Moskau wurden Hunderte Demonstranten festgenommen. Für deren Freilassung setzte sich Dadin in der Öffentlichkeit genauso ein, wie er gegen eine Gesetzesvorlage, homosexuellen Eltern ihre Kinder zu entziehen, und den Krieg in der Ukraine protestierte. Am 7. Dezember 2015 wurde Dadin zu drei Jahren Haft verurteilt. Grundlage dafür war erstmals der verschärfte Artikel 212.1 des Strafgesetzbuches. Dieser sieht nach mehreren nicht genehmigten gewaltfreien Aktionen innerhalb einer bestimmten Frist auch eine Haftstrafe vor. Zwei Monate später heiratete Dadin in einem Moskauer Untersuchungsgefängnis die Journalistin Anastasia Sotowa. Sotowa war es auch, die Anfang November 2016 einen Brief ihres Mannes aus der karelischen Strafkolonie IK-7 öffentlich machte. Darin berichtete Dadin von schweren Misshandlungen, denen er und andere Mitgefangene ausgesetzt gewesen seien. So sei er, nachdem er in einen Hungerstreik getreten sei, zusammengeschlagen, mit dem Kopf in eine Toilette gesteckt und mit Vergewaltigung bedroht worden. Obwohl die Leitung der Strafkolonie alle Vorwürfe zurückwies, wurde Dadin nach Sibirien verlegt. Seine Frau Anastasia sagte am Mittwoch dem Sender Doschd, sie habe Angst, dass ihr Mann nach seiner Freilassung sofort wieder festgenommen werden könnte. Unbegründet sind diese Befürchtungen nicht. BARBARA OERTEL Aktionäre sollten Abstand zwischen Vorstandseinkommen und dem Durchschnittsgehalt im Betrieb festlegen VON STEFAN REINECKE BERLIN taz | Die SPD will im Eil- tempo eine Regelung für Managergehälter beschließen. Fraktionschef Thomas Oppermann und Finanzexperte Carsten Schneider haben am Mittwoch einen Gesetzentwurf mit drei Kernpunkten vorgelegt: Erstens sollen Aktiengesellschaften künftig nur Gehälter bis 500.000 Euro als Kosten von der Steuer absetzen können. Das würde bedeuten, dass die Unternehmen entweder Managergehälter kürzen – oder alles, was über 500.000 Euro liegt, aus ihren Gewinnen zahlen. Sie könnten diesen Teil dann nicht mehr steuerlich als Ausgabe geltend machen. Auch Ruhebezüge über 76.200 Euro im Jahr sollen die Firmen nicht mehr steuerlich als Ausgaben absetzen können. Unklar bleibt zunächst, wie viel das dem Staat an Mehreinnahmen bringen würde. Es gehe nicht in erster Linie um eine Erhöhung des Steueraufkommens, sondern um die Begrenzung der exzessiven Gehälter, sagte Schneider. Oppermann erinnerte daran, dass Manager in den 80er Jahren noch das 15- bis 20-Fache des durchschnittlichen Einkommens verdient haben. Heute erhielten sie teilweise das 50- oder sogar 100-Fache dessen, was Arbeitnehmer ihrer Firmen bekommen. Zweitens sollen die Hauptversammlungen der Aktiengesellschaften verbindlich beschließen müssen, wie hoch die Managergehälter im Verhältnis zum Durchschnittseinkommen der Arbeitnehmer sein dürfen. Gesamtvergütung von DAX -Vorstandsvorsitzenden im Jahr 2015: die Top 5 (in Mio. Euro) 8,5 D. Zetsche, Daimler 7,9 K.-L. Kley, Merck M. Müller, Volkswagen 7,3 B. Scheifele, Heidelberg Cement 7,2 6,5 J. Kaeser, Siemens Abstand zwischen Vergütung von Firmenvorständen und dem durchschnittlichen Jahresgehalt der Mitarbeiter Jahresgehalt der Mitarbeiter Vergütung von Firmenvorständen Volkswagen Merck 114-Fache 86-Fache Fresenius Continental Henkel 81-Fache taz.Grafik: infotext-berlin.de Quelle: DSW/TUM Eine generelle Obergrenze für Einkommen, wie sie die Linkspartei fordert (siehe Interview), lehnt die SPD ab. Das sei „verfassungsrechtlich nicht möglich“ , 70-Fache 70-Fache weil es in die Vertragsfreiheit und Tarifautonomie eingreife. Drittens will die SPD die Möglichkeit erweitern, von Managern, die ihren Job nicht machen VW-Chef Matthias Müller: Was wird aus seinen Boni, was aus der Gesamtvergütung? Foto: Julian Stratenschulte/dpa/picture alliance oder gegen Regeln verstoßen haben, Boni zurückzufordern. Laut Oppermann will die SPD damit „keine Neiddebatte“ schüren. Es gehe vielmehr darum, mit sanftem Druck zu unterstützen, was in manchen Unternehmen wie der Deutschen Bank bereits der Fall ist – nämlich die üppigen Boni zurückzuschrauben, die in Deutschland fast die Hälfte der Managergehälter ausmachen. Dass der SPD das Problem nun so dringlich erscheint, hat offenbar auch mit den – von Gewerkschaften und SPD-Mitgliedern mit verabschiedeten – mehr als großzügigen Abfindungen und Ruhegehältern für VW-Vorstandsmitglieder zu tun. Die SPD-Fraktion versucht mit diesem Gesetzentwurf Druck auf die Union auszuüben. Wenn sich die Union weigert, wird die SPD wohl nicht darauf dringen – denn das wäre gleichbedeutend mit dem Bruch der Koalition. Die Union weiß offenbar nicht recht, wie sie sich zu dem Vorstoß verhalten soll. Kanzleramtschef Peter Altmaier hatte am Sonntag per Interview Offenheit signalisiert. Wenn man schon keine Gehaltsobergrenze ziehen könne, müsse die Regierung wenigstens verhindern, dass hohe Managergehälter „unbegrenzt von der Steuer abgesetzt werden können“. Diese Formulierung ähnelt dem, was die SPD will. Ganz anders der Vizechef der Unionsfraktion, Michael Fuchs: Der sah „das freie Unternehmertum in einem Kernbereich eingeschränkt“, sollte der SPD-Vorschlag durchkommen, den er gegenüber dem Handelsblatt als Steuererhöhung für Unternehmen bezeichnete. Die Koalition habe aber beschlossen, keine Steuern zu erhöhen. Offenbar gibt es in der Unionsfraktion Gesprächsbedarf. Meinung + Diskussion SEITE 12 „Die SPD entdeckt Sozialpolitik erst im Wahlkampf“ LINKE Vom Vorschlag der SPD halt Sahra Wagenknecht nicht viel. Dennoch wächst ihr Optimismus im Hinblick auf Rot-Rot-Grün taz: Frau Wagenknecht, auch die SPD will jetzt gegen überhöhte Managergehälter vorgehen. Ist das Problem damit gelöst? Sahra Wagenknecht: Leider nein. Denn die SPD will ja nicht die Höhe begrenzen, sondern nur die steuerliche Absetzbarkeit. Alle Erfahrung spricht dagegen, dass das große Unternehmen mit Milliardenumsätzen davon abhalten wird, ihre Vorstände in Geld zu baden. Wer das denkt, hat von den Größenordnungen der Kalkulation in einem Konzern keine Ahnung. Das ist ein mutloses und weitgehend unwirksames Gesetz. So wird das nichts mit der von Martin Schulz versprochenen sozialen Gerechtigkeit. Was wäre Ihre Alternative? Die Vergütung der Manager sollte gesetzlich in eine feste Relation zu den Löhnen im Unternehmen gesetzt werden. Dann gäbe es ein neues Anreizsystem: Manager würden nicht belohnt, wenn der Aktienkurs steigt, son- dern wenn die Löhne steigen. Die Linke fordert, dass ein Manager höchsten 20-mal so viel verdienen sollte wie die unterste Lohngruppe. In einem Unternehmen, das am unteren Ende nur Mindestlohn zahlt, ergäbe das Managergehälter von unter 400.000 Euro. Wäre eine solche Beschränkung überhaupt zulässig? Es gibt keinen Grund, warum das nicht verfassungsgemäß sein soll. Laut Grundgesetz soll Eigentum dem Wohle der Allgemeinheit dienen, nicht nur dem der Aktionäre und Manager. Und vielleicht sollte so ein Unternehmen auch aufhören, seine Arbeitnehmer mit Mindestlohn abzuspeisen? Müssten Sie dann nicht aus Gründen der Gleichbehandlung auch das Einkommen anderer Spitzenverdiener begrenzen, etwa im Sport- oder Showgeschäft? Bei Managern reden wir über Leitungsaufgaben mit direkter Verantwortung dafür, wie viel andere Menschen verdienen. Deshalb sollte es diese Kopplung dort geben. Generell fordern wir für den Teil des Einkommens, der eine Million Euro im Jahr übersteigt, einen Steuersatz von 75 Prozent – das würde für alle Spitzenverdiener gelten. Würde die Linke denn trotz der Kritik zustimmen, wenn die SPD ihr Gesetz einbringt? Natürlich ist es besser, wenn die öffentliche Hand die Selbstbedienungsmentalität der Vorstände nicht noch steuerlich subventioniert. Auch, dass Aufsichtsräte in Zukunft bei schlechter Leistung Bezüge zurückfordern können, ist sinnvoll. Deshalb würden wir das unterstützen. Aber ich fürchte, dass die SPD gar nicht den Mut aufbringt, tatsächlich mal ein Gesetz gegen die Union einzubringen. Die SPD positioniert sich auch bei anderen sozialpolitischen Themen neu, etwa bei Hartz IV oder grundlos befristeten Jobs. Sind das positive Signale für eine Koalition nach der Wahl? Ich würde mir das wünschen. Aber es ist schon auffällig, dass die SPD solche Forderungen immer erst im Wahlkampf entdeckt. Die Forderung, Befristungen, für die es keinen sachlichen Grund gibt, zu verbieten, stand auch schon im SPD-Wahlprogramm von 2013. Obwohl es im Bundestag seitdem eine Mehrheit dafür gäbe, wurde sie nicht umgesetzt. Wenn Herr Schulz glaubwürdig sein will, sollte die SPD in den verbliebenen Monaten die vorhandene Mehrheit nutzen. Sonst stärkt das den Verdacht, dass sie es auch nach der Wahl wieder nicht tun wird. Ob es zu einer Koalition kommt, hängt aber nicht nur an der SPD. Wäre denn auch die Linke zu stärkeren Zugeständnissen bereit, etwa in der Außenpolitik? In Koalitionsverhandlungen gibt es immer Kompromisse. Die Linke wird keine Kriegs politik und keine Aufrüstung mittragen. Aber ich bin da nicht pessimistisch. Die Forderung, die US-amerikanisch geführte Nato durch ein kol lektives Sicherheitssystem unter Einschluss Russlands zu ersetzen, die 1989 schon mal im SPD-Programm stand, wird von der SPD-Linken wieder diskutiert. INTERVIEW MALTE KREUTZFELDT Sahra Wagenknecht ■■47, wurde 2009 als Abgeordnete der Linken in den Deutschen Bundestag gewählt. Seit Oktober 2015 mit Dietmar Bartsch Fraktionsvorsitzende. Ihr jüngstes Buch „Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten“ erschien 2016. Foto: Trialon Berlin Reportage USA DON N ERSTAG, 23. FEBRUAR 2017 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Die rund elf Millionen Einwanderer ohne Papiere fürchten eine Abschiebung. Manche verbarrikadieren sich, andere organisieren sich AUS UNION CITY (NEW JERSEY) DOROTHEA HAHN Für den Fall, dass die Ausländerpolizei ICE an ihre Wohnungstüre im zweiten Stock des Hinterhauses klopft, um sie und ihren Mann José abzuholen, hat Judith Lopez* einen Wunsch. Sie möchte, dass ihre drei Söhne und deren Freunde zu Trommeln, Gitarren und Flöten greifen. Und dass sie spielend auf die Straße ziehen, um eine schützende Kette zu bilden. Es soll friedlich zugehen und laut. Es soll die Nachbarn informieren, von denen viele in einer ähnlichen Situation sind. Und es soll die Polizisten verunsichern, die in kugelsicheren dunkelblauen Westen und mit Pistolen und Knüppeln kommen, um Familien auseinanderzureißen. Judiths Mann, José Lopez, sitzt neben seiner Frau in der Wohnung in Union City, von wo aus man nur ein paar Blöcke weit nach Osten gehen muss, um die Skyline von Manhattan auf der anderen Seite des Hudson zu sehen. Er hört schweigend zu. Hinter ihm steht die Gitarre, die er in der Kirche und bei Kindergeburtstagen spielt. Erst vor ein paar Stunden hat er seine beiden jüngeren Söhne mit zum Einkaufen genommen, weil er Gerüchte über Razzien gehört hatte und er nicht sicher war, ob es für ihn zu riskant ist, in den Supermarkt zu gehen. „Ich habe das Geld“, sagt der Vater, „aber die beiden haben Papiere.“ „Es rückt näher“ Auch den Söhnen steht der Sinn nicht nach Musik. Victor, mit 16 der Jüngste, weiß von Teenagern, deren Eltern schon vor Jahren abgeschoben worden sind. „So etwas ist total unfair“, sagt er, „wir sind eine normale Familie. Ich mache meine Hausaufgaben, ich gehe zum Sport, ich habe Freunde.“ Sein Bruder Jesús, 19, hat am Vorabend von einem großen ICE-Einsatz in ihrer Gegend gehört. „Es rückt näher“, sagt er und hofft zugleich, dass in seiner Familie alles „okay“ bleibt. „Ich gerate in Panik, wenn ich daran denke, was aus uns wird, wenn unsere Eltern nicht mehr da sind.“ Marco, der Älteste, der bereits arbeitet, sieht eine riesige Aufgabe auf sich zukommen. „Ich würde die Verantwortung für meine beiden Brüder übernehmen“, sagt der 23-Jährige nachdenklich, „aber wenn auch ich abgeschoben werde, wären sie ganz allein.“ Bei den Lopez verlaufen gleich mehrere administrative Trennlinien quer durch die Familie. Alle drei Söhne wohnen noch bei den Eltern, alle fünf essen abends oft zusammen, und die ganze Familie geht sonntags gemeinsam in die Kirche. Aber die Zukunft dieses Miteinander ist gefährdet. Victor und Jesús, die beiden jüngeren Söhne, sind in den USA zur Welt gekommen und daher Staatsangehörige. Marco hingegen war ein Säugling, als seine Eltern ihn 1994 aus Mexiko durch die Wüste in die USA trugen, er gilt daher als „Einwanderer“ und hat eine befristete Aufenthaltsgenehmigung. Die 44-jährige Judith Lopez, die täglich ans entgegengesetzte Ende von New York fährt, um dort Wohnungen zu putzen, und ihr gleichaltriger Mann José, der seinen Unterhalt als Metallarbeiter verdient, haben gar keine Papiere. Sie sind „Illegale“ und können jederzeit abgeschoben werden. 03 9. Februar 2017: Beamte der Immigration and Customs Enforcement (ICE) bei einer Razzia in Atlanta Foto: U.S. ICE/ap/picture alliance Familie Lopez und ihr Kontaktbaum „Ich gerate in Panik, wenn ich daran denke, was aus uns wird, wenn unsere Eltern nicht mehr da sind“, sagt Marco Lopez. Jeden Tag rechnen er und seine Brüder damit, dass die Eltern nach Mexiko abgeschoben werden. Was dann zu tun ist, haben sie besprochen Alle US-Präsidenten haben Papierlose abgeschoben. Barack Obama ging mit 2,5 Millionen Abschiebungen am weitesten. Doch gleichzeitig bemühte sich der demokratische Präsident um eine umfassende Einwanderungsreform. Als diese am Widerstand der Republikaner scheiterte, verschaffte er einzelnen Gruppen mit Dekreten vorübergehende Erleichterungen. 2012 kam Marco, der älteste Sohn der Lopez, in den Genuss einer solchen Duldung, die alle zwei Jahre verlängert werden kann. Zuvor hatte er als Teenager zugeschaut, wie seine Klassenkameraden in Union City Führerschein machen durften und sich auf die Universität vorbereiteten. Als „Illegaler“ hatte er keinen Anspruch auf staatliche Stipendien und erhielt nicht einmal ein Studiendarlehen von einer Bank, weil seine Eltern als „Illegale“ keine Kreditkarte besaßen. An die Stelle der Hoffnung auf eine große Reform ist die pauschale Drohung gegen elf Millionen Menschen getreten, die unter ähnlichen Bedingungen leben wie die Lopez. Zwar gelten die befristeten Duldungen für junge Menschen, die wie Marco als Kind in die USA gekommen sind, weiterhin. Und Trump behauptet, dass er diese Regelung nicht abschaffen will. Aber Hunderttausende junge Leute zittern vor ihrem nächsten Verlängerungsantrag. Am unternommen. Unter anderem hinterlegten sie eine Vollmacht, die bestimmt, wer das Sorgerecht für ihren minderjährigen Sohn bekommt, damit er nicht in einem Heim landet. Und sie legten fest, was mit ihren Ersparnissen geschieht. Böse und freundliche Blicke Entschlossen zu kämpfen: José und Judith Lopez Foto: Dorothea Hahn „Dank Donald Trump lernen wir unsere Rechte nutzen“ JOSÉ LOPEZ, SEIT 1994 IN DEN USA Dienstag dieser Woche verschärfte die Regierung zudem die Richtlinien für Abschiebungen. Heimatschutzminister John Kelly wies die Behörden an, all jene Menschen ohne Papiere auszuweisen, die schon mal straffällig und verurteilt worden sind, die eines Verbrechens angeklagt oder auch nur beschuldigt sind oder die öffentliche Sicherheit gefährden. Dies beträfe – laut Kelly – etwa eine Million Menschen. An dem Wochenende, als sich Donald Trump im Weißen Haus in Washington einrichtete, saßen die Lopez in ihrer gelb gestrichenen Küche in Union City und stellten einen Notfallplan auf. Das zentrale Element darin ist der „Kontaktbaum“. Er enthält die Namen und Telefonnummern all jener, die umgehend verständigt werden müssen, falls die Mutter oder der Vater oder beide abgeholt werden. Die Eltern haben die Daten in ein kleines rotes Notizbuch geschrieben, die Söhne haben sie in ihre Handys eingetragen. Der Kontaktbaum ist eine von vielen Vorbereitungen auf die mögliche Katastrophe. Andere Schritte haben Judith und José Lopez schon vor Monaten Geholfen hat ihnen die Sanctuary Bewegung; ihr haben sich die Lopez schon im August auf Einladung ihres Pastors angeschlossen. Drei Monate vor den Wahlen prognostizierte kaum ein Experte in den USA, dass Donald Trump gewinnen könnte. Aber Papierlose wie Judith und José Lopez spürten, dass sich Böses zusammenbraute. Als Trump bei seinem Wahlkampfauftakt Mexikaner als „Kriminelle“, „Vergewaltiger“ und „bad hombres“ bezeichnete, tobte José innerlich vor Wut. Inzwischen spürt er beim Mittagessen Blicke, die es vor den Wahlen nicht gab. Trump-Gegner sind nun auffallend freundlich zu ihm, während die anderen manchmal Grimassen ziehen. Vor wenigen Tagen, als José in einer Schlange auf die Essensausgabe wartete, drängte sich ein großer weißer Mann von hinten ganz nah an ihn heran und rempelte ihn später an der Kasse erneut wortlos an. „Er hat versucht, mich zu provozieren“, ist José sicher, „aber ich habe geschwiegen. Einfach nichts gesagt.“ Aus Angst vor Razzien verbarrikadieren sich andere Latinos in ihren Wohnungen. Doch Judith und José haben entschieden, dass sie nicht klein beigeben wollen. Seit ihrer Wüstendurchquerung im Jahr 1994 haben sie jede Konfrontation vermieden. Sie haben Sozialversicherung gezahlt, obwohl ihnen klar war, dass sie nie eine Rente kriegen sollten. Sie haben geschluckt, dass sie weniger Stundenlohn bekommen als gleich qualifizierte US-Staatsangehörige. Und sie haben nie ihre Familie in Atlixco besucht, weil sie anschließend wieder einen Schlepper gebraucht und es vielleicht nie zurück nach Union City geschafft hätten. Über die Jahre haben sie Tausende Dollars ausgegeben, um ihre Situation mithilfe von Anwälten zu legalisieren. Im Sommer 2001 wähnten sie sich fast am Ziel. Damals hatte Josés langjähriger Arbeitgeber, ein Metallunternehmer in Union City, eine Petition eingereicht, um eine Aufenthaltsgenehmigung für seinen Dreher zu bekommen. Der Boss wies nach, dass er keinen einheimischen Fachmann mit Josés‘ Qualifikationen finden konnte. Doch am 11. September zerstörte das einstürzende World Trade Center die Hoffnung. Nach den Attentaten kam die Vergabe von Aufenthaltsgenehmigungen an Einwanderer zum Stillstand. Die Gruppe macht stark Dann kam Trump auf die politische Bühne und mit ihm das politische Erwachen von Judith und José Lopez. Bei den Sitzungen der Sanctuary Bewegung, die er „Trainings“ nennt, haben sie ältere Migranten, langjährige Aktivisten und Methoden des gewaltfreien Widerstands kennengelernt, die schon schwarze Bürgerrechtler in den 60er Jahren angewandt haben. Mit schlotternden Knien sind die Lopez zu ihren ersten Demonstrationen in den USA gegangen. „Wenn sie eine Menge Papierlose auf einen Streich kriegen wollen, ist dies der geeignete Moment“, denkt Judith Lopez, als sie Mitte Februar in der Menge vor einer Zweigstelle des Ministeriums für die Hei matsicherheit in New York steht und für ein Bleiberecht demonstriert. Zu dem Zeitpunkt weiß sie längst, dass die Gruppe sie stark macht. „Eigentlich ist es absurd“, sagt José Lopez. „Dank Donald Trump lernen wir unsere Rechte kennen und nutzen.“ Die Sanctuary Bewegung, der neben Kirchen zunehmend Synagogen und Moscheen beitreten, bietet ihre Tempel als Schutzräume für Papierlose an. In Denver lebt bereits eine Mexikanerin, der die Abschiebung drohte, in einer Kirche. Doch Judith Lopez erwägt diese Option keinen Moment lang. Schon in Atlixco war sie die radikalere von beiden. Als ihr Ehemann plante, allein „in den Norden“ zu gehen, um ein paar Jahre zu arbeiten und später mit dem Geld für die Eröffnung einer Metallwerkstatt nach Hause zurückzukommen, sagte sie ihm kategorisch: „Entweder wir gehen zusammen oder ich trenne mich von dir.“ 23 Jahre später, als José noch unsicher ist, wie er sich im Falle einer drohenden Abschiebung verhalten würde, hat sie bereits beschlossen, notfalls in ein Abschiebe gefängnis zu gehen. „Ich will mich nicht mehr verstecken“, sagt sie, „nicht einmal in einer Kirche.“ * Name geändert
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