1 Freitag, 24.02.2017 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Lotte Thaler Furios gespielt To Aeneas Clementi – Mishory – Tartini Gilead Mishory Neos 21601 Neue Referenzaufnahme Schulhoff Complete String Quartets Alma Quartett Gutman records 161 Grandiose Geburtstagshymne für John Adams Concerti III Poulenc – McPhee – Adams GrauSchumacher Piano Duo Trio Mediaeval • Deutsches Symphonie-Orchester Berlin • Brad Lubman, conductor Neos 21703 Fließende Übergänge Miroirs Ravel Piano Works | Alexander Krichel Sony Classical 889853 77642 9 Kammermusikalisch reduziert Mahler 5. Sinfonie (arr. Simon) Holst-Sinfonietta Klaus Simon bastille musique 40323240126 Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ … zu dieser Sendung begrüßt Sie heute Lotte Thaler. Mein Programm enthält drei neue Aufnahmen mit Klaviermusik, dazu die gerade preisgekrönte Gesamtaufnahme der Streichquartett-Werke von Erwin Schulhoff und eine Aufnahme der fünften Sinfonie von Gustav Mahler in einer Bearbeitung für Kammerorchester. Giuseppe Tartini: Sonate g-Moll (Ausschnitt) 3‘10 Was war das – eine unbekannte Sonate von Domenico Scarlatti? Geigenkundige Hörer werden vielleicht erkannt haben, dass dieses Presto aus der Sonate g-Moll für Violine und Klavier von Giuseppe Tartini stammt. Sie hat den Beinamen „Didone abbandonata“ – die verlassene Dido. Der Pianist, der diesen Satz gerade so furios einspielte, ist Gilead Mishory, Professor an der Musikhochschule in Freiburg. Auf seiner neuesten CD bei dem Label Neos tritt er in dreifacher Funktion auf: als Pianist, Bearbeiter – eben dieser Tartini-Sonate für Klavier – und als Komponist. Außerdem noch als literarisch ausgerichteter Musiker. Seine CD trägt den Titel „An Aeneas“ und kombiniert die Sonate von Tartini mit der Sonate in g-Moll op. 50 Nr. 3 von Muzio Clementi, die denselben Beinamen, „Didone abbandonta“, hat. Dazwischen geschaltet ist Mishorys eigener fünfteiliger Klavierzyklus „An Aeneas“. Die Geschichte von Dido und Aeneas – so berichtet Mishory im Booklet – habe ihm sein Vater 2 schon als Kind erzählt. Als Erwachsener stellte er dann fest, dass sich Dichter, Komponisten und Maler vor allem auf die verlassene Dido stürzten, die ihren Palast in Karthago anzündete und sich darin umbrachte, nachdem Aeneas dem göttlichen Auftrag gehorchend aufbrach, um das Römische Reich zu gründen. Diesem Manne sollte Gerechtigkeit widerfahren, beschloss Gilead Mishory. Was nicht heißt, dass Dido in seinem Klavierzyklus gar nicht mehr vorkommt – er zeichnet sie vielmehr in gläsernem Delirium: Gilead Mishory: An Aeneas (Ausschnitt) 0‘30 Das fünfte Stück seines Aeneas-Zyklus nennt der Debussy-Verehrer kess „La mer“, aber bei ihm findet sich nichts von Debussys sonniger, Gischt spritzenden Wasseroberfläche und dem Gesang der Sirenen. Das Meer bei Mishory zieht in die tiefsten Tiefen – der Gefahr, des Unheimlichen und des Ungewissen. Keine triumphale Reise von Karthago nach Rom: Gilead Mishory: An Aeneas (Ausschnitt) 6‘10 „La mer“ aus dem Klavierzyklus „An Aeneas“ von und mit Gilead Mishory auf seiner neuesten CD bei dem Label Neos. Quasi aus dem Stand den Vierteljahrespreis der deutschen Schallplattenkritik zu erlangen, ist eine tolle Leistung. Geschafft hat dies gerade das Alma Quartett aus Holland, ein erst 2014 gegründetes Streichquartett mit Musikern aus dem Concertgebouw Orchester. Aufgenommen hat es für das Label Gutman Records das Gesamtwerk für Streichquartett von Erwin Schulhoff. Und dies mit so viel stilistischer und spieltechnischer Bravour, dass man von einer neuen Referenzaufnahme sprechen muss. Außerdem lenkt es die Aufmerksamkeit auf zwei Werke Schulhoffs, die neben den beiden Streichquartetten von 1924 und 25 und den „Fünf Stücken für Streichquartett“ viel weniger bekannt sind. Da ist zum einen das Streichquartett in G-Dur, das Schulhoff 1919, nach seiner Rückkehr aus der österreichischen Armee, in der er am Ersten Weltkrieg teilnahm, komponierte. Es spiegelt eine erhebliche Verunsicherung und gewissermaßen eine Orientierungslosigkeit wider, den Versuch, sich an der Tradition wieder aufzurichten. Das andere Werk ist das „Divertimento“ des erst 20-jährigen Komponisten von 1914. In diesem Divertimento op. 14 ist der Personalstil von Schulhoff schon deutlich ausgeprägt, und das Werk hat mit den späteren Streichquartetten aus den 20er Jahren mehr zu tun als mit dem Quartett von 1919. Wüsste man seine Entstehungszeit nicht, man könnte es in seiner antiromantischen Haltung gut zur neuen Sachlichkeit in den 20er Jahren zählen. Hier sind vier Sätze aus dem Divertimento von Erwin Schulhoff mit dem Alma Quartett: Erwin Schulhoff: Divertimento (Ausschnitt) 17‘50 Das Alma Quartett aus Amsterdam spielte vier Sätze aus dem „Divertimento“ op. 14 von Erwin Schulhoff. Das Klavierduo Andreas Grau und Götz Schumacher kennen und lieben wir, weil es vor nichts zurückschreckt, was sich zeitgenössische Komponisten so alles ausdenken. Mit Werken von Bernd Alois Zimmermann, Karlheinz Stockhausen, Olivier Messiaen, Philippe Manoury, Georges Crumb, Peter Eötvös, Hans Zender und vielen anderen steht dieses Klavierduo wie kein zweites für die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts ein. Auf seiner neuesten CD hat es jetzt einen Klassiker des 20. Jahrhunderts eingespielt, das Konzert für zwei Klaviere und Orchester von Francis Poulenc. Und dazu zwei Werke amerikanischer Komponisten, die mit der europäischen Avantgarde gar nichts am Hut haben: Colin McPhee und John Adams. Zur Einstimmung erst einmal der überbordende Finalsatz aus dem Poulenc-Konzert: 3 Francis Poulenc: Konzert für zwei Klaviere und Orchester (Ausschnitt) 5‘50 So muss das sein, das Finale aus dem Doppelkonzert von Francis Poulenc mit dem Klavierduo Andreas Grau und Götz Schumacher sowie dem Deutschen SymphonieOrchester unter der Leitung von Brad Lubman. Das Hauptwerk dieser CD ist die äußerst raffinierte „Grand Pianola Music“ für zwei Klaviere, drei Frauenstimmen, Bläserensemble und Schlagzeug von John Adams aus dem Jahr 1982. Zu dessen 70. Geburtstag in diesem Jahr kommt diese CD gerade recht. Manch einer wird sich vielleicht wundern, dass sich das avantgardistisch ausgerichtete Klavierduo der amerikanischen minimal music zuwendet. Aber erstens ist John Adams kein Minimal-Komponist im engeren Sinne – dazu hat er viel zu viel Klangfantasie und Humor –, und zweitens ist diese „Pianola Music“ auch eine Liebeserklärung an das fünfte Klavierkonzert von Beethoven und seine Tonart Es-Dur. Adams berichtet selbst: Er habe geträumt, es hätten sich ihm beim Fahren auf dem Interstate Highway Number five von hinten zwei schwarze Stretch-Limousinen genähert, die sich beim Überholen in die längsten Steinways der Welt verwandelt und dann bei 90 Meilen pro Stunde Salven von B-Dur und Es-Dur-Arpeggien abgefeuert hätten. John Adams: „Grand Pianola Music“ (Ausschnitt) 8‘15 Eine grandiose Geburtstagshymne für den Komponisten John Adams, der in diesem Jahr 70 Jahre alt geworden ist. Dargebracht vom Klavierduo Andreas Grau und Götz Schumacher, dem Trio Mediaeval und den Bläsern des Deutschen Symphonieorchesters Berlin unter der Leitung von Brad Lubman. Diese „Grand Pianola Music“, deren zweiten Teil wir eben hörten, ist bei dem Label Neos erschienen. Der Pianist Alexander Krichel ist der derzeitige Himmelstürmer beim Label Sony. Schlag auf Schlag bringt er dort eine CD nach der anderen heraus und überrascht dabei jedes Mal aufs Neue mit seinem Repertoire. Zuletzt war eine CD mit Rachmaninow erschienen, jetzt stellt er sich mit den drei Zyklen „Le Tombeau de Couperin“, „Miroirs“ und „Gaspard de la Nuit“ als Ravel-Interpret vor. Scheu vor Konkurrenz hat Krichel nicht. Und wie schon beim zweiten Klavierkonzert von Rachmaninow, das er schwärmerisch und nicht haudegenmäßig anging, entwickelt er auch bei Ravel eine eigene Auffassung: Maurice Ravel: „Le Tombeau de Couperin“ (Ausschnitt) 3‘30 Das war das Prélude aus dem Zyklus „Le Tombeau de Couperin“ von Ravel mit dem Pianisten Alexander Krichel. Was dabei gleich auffällt, ist das gemessene Tempo, in dem sich die melodische Linie ohne jede Nervosität entfaltet. Nichts unterbricht den in sich ruhenden Fluss dieser Musik. Was ich damit meine, zeigt ein unmittelbarer Vergleich mit einem Stück aus den „Miroirs“ – Alborada del Gracioso. Hier der Anfang mit dem Pianisten Jean-Efflam Bavouzet: Maurice Ravel: „Miroirs“ (Ausschnitt) 1‘40 Bei Krichel klingt dieselbe Stelle so: Maurice Ravel: „Miroirs“ (Ausschnitt) 1‘50 Bavouzet gleicht mehr einem Skulpteur, der die einzelnen rhythmischen Einheiten dieses Satzbeginnes fast herausmeißelt, Krichel dagegen ist der Maler, dem die fließenden Übergänge in den Farbverläufen wichtiger sind als die überdeutlichen Konturen. Die 4 Virtuosität wird hier also nicht in den Vordergrund gerückt, sondern zugunsten einer Ravel sehr gemäßen Diskretion eher zurückgestellt. Als letzten Beweis dieser Sicht auf Ravel noch das gespenstische und teuflisch schwere Stück aus dem „Gaspard“, Le Gibet“ – der Galgen. Die Totenglocke läutet kontinuierlich in der linken Hand, am Galgen baumelt das Gerippe eines Gehängten. Maurice Ravel: „Gaspard de la Nuit“ (Ausschnitt) 6‘30 „Le Gibet“ – der Galgen – eine gespenstische Szene aus dem Zyklus „Gaspard de la Nuit“ mit dem Pianisten Alexander Krichel auf seiner neuen CD bei Sony. Zum Abschluss der heutigen Sendung mit neuen CDs möchte ich Ihnen noch eine Aufnahme aus unserem unmittelbaren Sendegebiet vorstellen. In Freiburg ist die Holst-Sinfonietta beheimatet, die sich nach dem englischen Komponisten Gustav Holst nennt. Ihr Gründer und Leiter ist Klaus Simon aus Überlingen, und die Musiker der Sinfonietta kommen alle aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz. 18 Musiker umfasst das Kammerorchester, das 1996 gegründet wurde: solistische Streicher und Bläser, Klavier, Schlagzeug, Harfe und Akkordeon. Klaus Simon ist nicht nur Dirigent des Ensembles, sondern vor allem auch Bearbeiter großer Werke der Jahrhundertwende für kleinere Besetzungen. Er sieht sich damit in unmittelbarer Nachfolge von Arnold Schönberg, der in seinem „Verein für musikalische Privataufführungen“ ebenfalls viele Werke für kleinere Besetzungen arrangierte. Diese Praxis ist heute aktueller denn je, denn die Zukunft der großen Sinfonieorchester ist in Zeiten des allgemeinen Sparwahns ungewiss. Um also die groß besetzten Sinfonien von Gustav Mahler lebendig im Repertoire zu halten, hat Klaus Simon schon einmal prophylaktisch vier seiner Sinfonien bearbeitet, die erste, vierte, neunte und jetzt die fünfte. Zusammen mit der HolstSinfonietta ist sie jetzt bei dem neuen, enorm mutigen Label „bastille musique“ erschienen. Man kann dem Label und den Musikern nur zu dieser Aufnahme gratulieren, denn man würde nicht glauben, dass ein über 100 Mann starkes Orchester, auf etwa 20 Musiker reduziert, eine Mahler-Sinfonie ohne Verluste darstellen kann. Und mehr noch: In der kammermusikalischen Reduktion wird die Faktur oft deutlicher als im großen Orchesterapparat, zumal in Sätzen, in denen Mahler selbst kammermusikalisch arbeitet. Und wenn doch einmal ein paar Füllstimmen fehlen sollten, greift eben das Akkordeon ein – Schönberg verwendete dafür ein Harmonium. Hier ist der Finalsatz aus der fünften Sinfonie von Gustav Mahler mit der Holst-Sinfonietta unter Klaus Simon: Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 5 (Ausschnitt) 16‘15 Das Finale der fünften Sinfonie von Gustav Mahler in der Transkription für Kammerorchester von Klaus Simon, der hier die Holst-Sinfonietta leitete. Die CD ist bei dem Label „bastille musique“ erschienen. Damit ist die Sendung „Treffpunkt Klassik“ mit neuen CDs zu Ende. Gleich geht es weiter mit dem Kulturservice, dann folgen die Nachrichten. Am Mikrophon war Lotte Thaler.
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