Gott und die Welt Autor/-in: Matthias Morgenroth Sende

Abteilung:
Sendereihe:
Sendedatum:
Kirche und Religion
Gott und die Welt
19.02.2017
Redaktion:
Autor/-in:
Sendezeit:
Anne Winter
Matthias Morgenroth
9.04-9.30 Uhr/kulturradio
Aus der ARD-Reihe „Reformation 500“ von 2016
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GOTT UND DIE WELT
Geteilter Himmel, geteiltes Land
Das Ende der Einheit
Sprecherin:
Hemma Michel
Sprecher:
Axel Wostry
Produktion:
Bayerischer Rundfunk
2
MUSIK
1 Schorlemmer „Auf den Einzelnen kommts schon an. Sage nicht, auf dich kommt‘s
gar nicht an. Und schau, wo es auf dich ankommt und schau was du da tun kannst.“
MUSIK
2 Bendikowski „Für mich war die Frage, was hat uns die Reformation eigentlich
gebracht - Für die Deutschen ist es ein furchtbares Erbe.“
Musik
3 Schilling „Für mich ist das Entscheidende, die Weltanschauliche Differenzierung
Europas. Das ist eine Entwicklung, die sich aus der Reformation heraus ergeben hat,
hinter der wir nicht wieder zurückkönnen.“
MUSIK
Titelsprecherin:
Geteilter Himmel, geteiltes Land
Das Ende der Einheit
Eine Sendung von Matthias Morgenroth
Sprecher:
Martin Luther: nichts Genaues weiß man nicht - haben sie ihn mundtot gemacht,
entführt, ermordet? – Doch er schreibt, wie ein Wütender, Getriebener, arbeitet in
irrer Geschwindigkeit, er muss am Leben sein – irgendwo versteckt.
Sprecherin:
1521 ist das Schicksalsjahr der Reformation. Seit der Augustiner-Mönch und
Universitätslehrer in Wittenberg 1517 seine berüchtigten 95 Thesen ans Tor der
Schlosskirche geschlagen hat, ans schwarze Brett der Universität, hat er den vielen
eine Stimme gegeben, die nach Reformen schreien – eine andere Kirche muss her!
Schluss damit, mit Höllenangst und Schrecken den Menschen Geld abzupressen!
Sprecher:
Nach Luthers Thesen über den Ablassstreit – kann man sich bei Gott von seinen
Sünden mit Geld freikaufen, das man der Kirche zahlt? - folgen drei Jahre der
öffentlichen Diskussion, in denen sich Luther frei schreibt, zu den wichtigen
reformatorischen Leitlinien findet. 1520 dann die großen Schriften, so schnell
entstehen sie, dass die Drucker in Wittenberg nicht nachkommen: Am Anfang hatte
er als theologischer Lehrer einen innerkirchlichen Disput geführt und gehofft, dass
Theologen, Bischöfe und letztlich der Papst sich seinen Erkenntnissen öffnen
würden, dass man in der Bibel etwas ganz anderes liest als verkündet wird. Jetzt
schreibt er für alle, fürs Volk, für Fürst und Untertan.
3
Sprecherin:
Was er schreibt, ist: Nur das, was in der Bibel steht zählt. Die Kirche Jesu Christi ist
in Gefangenschaft geraten, und wer sie gefangen hält, das ist der Papst als
Repräsentant eines ausgeklügelten Machtsystems von Dogmen und Ritualen.
Sprecher:
Im Herbst 1520 dann die endgültige Verurteilung aus Rom, die Bannbulle des
Papstes. Leo der Zehnte erklärt Luther zum Ketzer. Doch längst ist Luther ein
Medienstar. Eine Hoffnung vieler. Luther verbrennt das römische Schreiben
öffentlich in Wittenberg. Rom hat ihn und die politische Konstellation im Deutschen
Reich unterschätzt.
Sprecherin:
1521im Frühjahr der Reichstag in Worms. Luther setzt jetzt darauf, den deutschen
Kaiser zu überzeugen, den 21jährigen Karl den Fünften, den mächtigsten Herrscher
der Christenheit, ein Habsburger, dessen Reich von Spanien bis nach Österreich
reicht. Karl ist in den Niederlanden romtreu erzogen worden, hat für Luther nur
Verachtung übrig, will aber den deutschen Adel nicht gegen sich aufbringen und
achtet daher auf die klare Einhaltung des Rechtsverfahrens – Luther wird vor dem
Reichstag angehört. Doch da er sich einmal mehr weigert zu widerrufen, kommt
zum päpstlichen Bann kommt jetzt die Reichsacht, der Kaiser erklärt den Ketzer für
vogelfrei, jeder darf den Augustiner-Mönch töten. Auf dem Heimweg vom Reichstag
in Worms lässt ihn sein eigener Kurfürst, Friedrich der Weise von Sachsen, zum
Schein entführen, wohin, weiß niemand, und Fahndungsfotos gab es ja noch nicht.
Sprecher:
Das Schicksalsjahr der Reformation. Luther, vogelfrei, inkognito als Junker Jörg auf
der Wartburg, schreibt und schreibt, der Totgesagte, unaufhaltsam schreibt er neue
Wahrheiten den Leuten in die Köpfe, und während anderswo die Mönche und
Nonnen schon aus den Klöstern austreten, Heiligenbilder und Reliquien
herausgerissen werden, der Gottesdienst auf Deutsch, verständlich für jedermann,
eingeführt wird, gibt er den Leuten die Sprache, die ihnen lange verwehrt war: das
Wort, das das Wort Gottes genannt wird, die Bibel auf Deutsch.
MUSIK
4 Schorlemmer
„Wenn wir etwas von ihm hervorheben sollen, dann dies, dass er die deutsche
Sprache in seinem unglaublichen Reichtum wörtlich zur Sprache gebracht hat.“
Sprecher 2:
Martin Luther, einer der den Menschen Worte gegeben hat. Sprache. Der sie religiös
sprachfähig gemacht hat, sagt der Theologe Friedrich Schorlemmer, und das wirkt
bis heute.
4
5 Schorlemmer
„Er hat mit seiner Bibelübersetzung Menschen geholfen, ihr Leben zu verstehen
und in eine ermutigte Kommunikation mit Gott zu treten. Der ganz Erhabene wird
auch der ganz Menschliche. Etwa in der Lutherübersetzung vom Vaterunser: Vater
unser, dein Reich komme, wie im Himmel wie auf Erden – oh! ganz Einfach. Unser
täglich Brot. Das wieder zu heben und das mit einem großen Sprachschatz, das
kann glücklich machen.“
Sprecher:
Friedrich Schorlemmer ist in gewisser Weise einer von Martin Luthers Nachfolgern.
Er war jahrelang als Dozent und Prediger in Wittenberg tätig, schon zu DDR Zeiten,
schon als es 1983 galt, Luthers 500. Geburtstag zu feiern.
6 Schorlemmer: „Wir haben auch aus dem Luther herausgeharkt, was zeitgemäß
war, das brauchen wir nicht mehr, für anderes mussten wir uns auch noch schämen
– zum Beispiel sagt er: Man muss der Obrigkeit die Wahrheit sagen – aber sagt er:
nicht mit Gewalt!“
Sprecher:
Damals, in Wittenberg, im geteilten Deutschland, in der Ost-West-geteilten Welt, hat
Martin Luther den Unterdrückten aufs Neue Worte geschenkt, hat auch sie befähigt,
Gebete zu finden und „ich“ zu sagen …
7 Schorlemmer: „Auf den Einzelnen kommts schon an. Sage nicht, auf dich kommts
gar nicht an. Und schau, wo es auf dich ankommt und schau was du da tun kannst.
Und folge deinem Gewissen, schaue in die Heilige Schrift, schau in die Wirklichkeit,
schau in dein Herz und dann bilde dir deine Meinung.
MUSIKIMPULS
Sprecherin:
Die religiösen und die politischen Folgen des Schicksalsjahrs 1521 sind radikal:
Wenn jeder zählt, wenn jeder „ich“ sagen darf, bricht die mittelalterliche Ständegesellschaft auseinander. Die Bauern erheben sich gegen die Fürsten und Klöster,
plündern und brandschatzen, und wollen die Gerechtigkeit endlich diesseits des
Himmels, die Gerechtigkeit und den Segen, von denen die Bibel spricht – sie werden
blutig niedergeschlagen. Die Bürger in den Städten organisieren ihr Zusammenleben und die kirchlichen Ordnungen neu. Ein Gutteil der deutschen Fürsten
verbündet sich gegen den romtreuen Kaiser - Aufbruch in eine neue Zeit, die
Neuzeit.
Atmo – MUSIK
5
8 „Günter Schuchardt, ich bin der Burghauptmann auf der Wartburg, das ist ein
Synonym für Direktor, wir sagen nicht ganz ohne Stolz, wir sind die meistbesuchte
Luthergedenkstätte weltweit mit 350 tausend Besuchern im Jahr- “
Sprecherin:
Auf der Wartburg, hoch über Eisenach, mit Blick in den Thüringer Wald. Hier hat
sich nicht nur die europäische Religionsgeschichte entschieden, sondern hier
verdichtet sich auch die deutsche Geschichte insgesamt, sagt der Burghauptmann,
Nachfolger jenes Burghauptmanns Hans von Berlepsch, der 1521 bis 22 Martin
Luther unter dem Decknamen Junker Jörg beherbergt hat. Auch die Wartburg ist
geteilt, sagt Günter Schuchardt, sie ist zum einen Pilgerstätte für Katholiken, auf
der einen Seite wird die Heilige Elisabeth von Thüringen verehrt – und auf der
Vorburg sind die Restaurierungsarbeiten in der Lutherstube pünktlich zum großen
Jubiläum abgeschlossen.
9 Schuchardt „Es hat immer eine Lutherverehrung gegeben hier, wir haben hier
verschiedene Gebäudeteile, die Luthers Namen tragen, einen Luthergang, eine
Lutherlaube.“
Sprecher:
Auf der Wartburg ist im Jubiläumsjahr der Reformation die nationale Sonderausstellung „Luther und die Deutschen“ zu sehen. An zentraler Stelle steht auch ein
Nachbau der Gutenberg-Presse. Denn die Reformation war ein Medienereignis.
Ohne Buchdruck keine Reformation. Jutta Krauß ist Leiterin der wissenschaftlichen
Abteilung auf der Wartburg.
11 Jutta Krauß „Es gibt unheimliche viele Flugschriften in dieser Zeit, von denen
man ungefähr die Hälfte identifizieren kann. Viele Mönche, die wollten auch anonym
bleiben, denn es ging ja gegen die Kirchliche Institution, auch namenlose, die sich zu
Wort meldeten, auch Frauen, jeder wollte das Seine beitragen und Luther hatte ja
gesagt, jeder ist selber Priester, ist getauft, kann sich zu seinem Glauben äußern,
eine Glaubenssache ist frei und darüber kann ich öffentlich reden und schreiben.
Um 1500 schätzt man so 12 Mio Einwohner in Deutschland, wo 1 Prozent lesen
konnte, in der Stadt bei den Männern etwa 30 Prozent, es konnte nicht jeder lesen,
aber es war Usus vorzulesen.“
Sprecher:
Deutschland ist zur Zeit der Reformation auch der erste Internationale Kampfplatz
für Wortgefechte. Nicht nur die Gelehrten, alle haben mitgestritten. Und Familie,
nicht das Kloster, ist nach der Idee der Reformatoren ab jetzt der Ort, an dem
Glaube diskutiert und weitergegeben werden soll - das verändert das, was
Frömmigkeit und Bildung genannt wird, radikal.
6
MUSIKIMPULS
Sprecherin:
Als Martin Luther 1546 im Alter von 62 Jahren stirbt, ist klar: es gibt kein Zurück
mehr zu der einen Kirche. Nicht nur der Himmel, das ganze Land ist gespalten.
Versuche des Kaisers, die neuen Glaubenssätze zu verbieten sind umsonst. Die
reformatorisch gesinnten Reichsstände im Deutschen Reich protestieren schon
1529 offiziell dagegen – und das gibt den Neugläubigen den Namen Protestanten.
Als der Kaiser 1530 die von Philipp Melanchthon auf dem Reichstag von Augsburg
verlesene Zusammenfassung der neuen christlichen Theologie, die Confessio
Augustana, weiterhin ablehnt, bilden protestantische Fürsten und Städte im Reich
einen eigenen Bund - das Mächtegleichgewicht im Reich ist aus den Fugen.
Sprecher:
Als Luther 1546 stirbt, holen der Kaiser und die römisch Gesinnten zu einem
Gegenschlag aus – und scheinen zunächst militärisch Fakten zu schaffen.
Sprecherin:
Ein verheerender Kriegszug, mit Söldnerheeren und blutigen Schlachten. Am Ende
gewinnt der mittlerweile alt gewordene Kaiser Karl der Fünfte zwar den Krieg –
nicht aber mehr die Einheit. Er nimmt zwar Wittenberg ein und begegnet sozusagen
zum zweiten Mal seinem Widersacher Luther – an dessen Grab. Aber er kann den
neuen Glauben mit militärischen Mitteln nicht bannen. Im Gegenteil. Trotz der
Niederlage blieb die Mehrheit der Deutschen der Reformation treu. Im
zersplitterten Deutschen Reich aus lauter Kleinstaaten gab es zu viele
Einzelinteressen der Reichsstände, die ebenfalls gelernt hatten, „ich“ zu sagen.
Sprecher:
1555 ist das Schicksalsjahr des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation,
nachdem keine Partei die Macht für sich erobern konnte, beschließen die
Reichsstände, also alle, die was zu sagen haben, in Augsburg: Die religiöse
Wahrheitsfrage bleibt künftig politisch ausgeklammert. Der jeweilige Landesherr,
jede freie Reichsstadt bestimmt die Konfession der Untertanen oder Bürger. Cuius
regio, eius religio. Wessen Gebiet, dessen Konfession.
Sprecherin:
Eine Formel, die allerdings noch so viel Deutungsspielraum mitbrachte, dass sie gut
hundert Jahre später, am Ende des 30jährigen Kriegs im Westfälischen Frieden
noch einmal deutlich präzisiert werden musste. Erst dann, 1648 bekam der
Einzelne das Recht auf freie Religionsausübung zumindest im Privaten, vorher
hatte man diejenigen, die auf ihrem anderen Glauben beharrten, schlichtweg
vertrieben.
7
Sprecher:
Denn dem Kampf mit Worten folgten Mord und Totschlag. Der Streit um den
wahren Glauben durchzog ganz Europa mit Angst und Schrecken. Mit der Angst, die
noch heute in den Worten nachklingt: Bartholomäusnacht in Paris, die Liga und die
Union, Tilly und Wallenstein, Gustav Adolf, der 30jährige Krieg und dazu der
schwarze Tod, die Pest.
13 Schilling „Für mich ist das Entscheidende, die Weltanschauliche Differenzierung
Europas. Die katholische Kirche kann just das ganz schwer akzeptieren.
Sprecherin:
Heinz Schilling, Berliner Historiker und Lutherbiograf, sagt: die zentrale politische
und religiöse Folge der Reformation ist die Pluralität. Eine Pluralität, die freilich erst
nach und nach erlernt werden musste, war doch das Mittelalter noch der Meinung,
es gäbe den einen Himmel, der alles zu umfassen vermag. Das ist seit Luther
Geschichte.
14 Schilling: „Es gilt nicht nur für Luther, hier stehe ich, ich kann nicht anders, das
wird von einer ungeheuer fähigen PR Agentur in Wittenberg sofort herausgestellt,
und darüber hat man 500 Jahre vergessen, dass da auch ein zweiter großer Mann
sitzt, für den das gilt, das war der Kaiser, Karl der V., ein junger Mann, der Kaiser
hat sich abends hingesetzt und ein eigenes Bekenntnis formuliert. Das müssen wir
heute realisieren, die Gleichrangigkeit von Akteuren in dieser Zeit.“
Atmo Orgel
Sprecher:
München. Michaelskirche. Eine Jesuitenkirche. Die Jesuitenkirche Deutschlands.
Sprecherin:
Die Reformation hat auch die katholische Kirche reformiert. Auf andere Weise, als
Luther es wollte. Doch als Luther stirbt, ist auch die Papstkirche nicht mehr die
Kirche der ausschweifenden weltlichen Renaissancepäpste von einst. Auch eine
neue romtreue Kultur entsteht, die jetzt in Abgrenzung „katholisch“ genannt
wurde.
Sprecher:
Und die Kulturhauptstadt der Papsttreuen diesseits der Alpen liegt ebenfalls in
Deutschland, in Bayern. Die Wittelsbacher wollen München zum „Rom nördlich der
Alpen“ ausbauen, das bayerische Herrscherhaus holt - wie die Habsburger oder die
französischen Könige auch - den jungen, aufstrebenden Jesuitenorden zu Hilfe, den
Orden, der sich direkt dem Papst zugeordnet hat.
15-1 Batlogg Das vierte Gelübde, das besondere Gehorsam dem Papst gegenüber
in Bezug auf Sendungen, der hat den Orden natürlich international interessant
gemacht.
8
Sprecher:
Pater Andreas Batlogg ist Nachfolger der ersten Jesuiten, die die Wittelsbacher
Mitte des 16. Jahrhunderts erst nach Ingolstadt und dann nach München holten,
hier errichteten sie das Jesuitenkolleg St. Michael.
15 Batlogg Die ganze Anlage, die Kirche und das Colleg, war damals neben dem
Escorial das größte Bauwerk Europas. Damit drückt ein Herzog was aus.
Sprecher:
Auch die Jesuiten setzen zunächst auf Bildung und religiöse Ernsthaftigkeit - nur
dass die Bildung weniger auf das freie Erarbeiten des Glaubens hinausläuft, sondern
eher auf das Darlegen der römischen Dogmatik, die als Reaktion auf die
Reformation auf dem Konzil von Trient ganz neu zusammengefasst wird. Während
die Reformatoren auf das Wachsen der neuen Kultur von unten setzen, zielen die
Jesuiten darauf ab, über die Erziehung vor allem des europäischen Adels der
katholische Position an den entscheidenden Schaltstellen Einfluss zu verschaffen,
von oben nach unten.
MUSIK
Sprecherin:
Ein Nebeneinander der Kulturen beginnt in den Jahrhunderten nach der
Reformation - Kulturen, die vielleicht gerade aus diesem Zwang zur Konkurrenz
heraus ganz eigene schöpferische Leistungen bringen.
Sprecher:
Aber auch eine Unkultur etablierte sich, eine blutige Kultur der Nichtakzeptanz, die
mindestens bis zur Aufklärung Europa umklammert, politisch, sozial und religiös.
17 Bendikowski „Für die Deutschen ist es ein furchtbares Erbe, das ist keine
Schuldzuschreibung, weder an Rom noch an Martin Luther, aber es hat unglaubliches Elend über die Deutschen gebracht, Alltag vergällt, Kriege, man durfte nicht
heiraten, wen man wollte, bis ins 19. Jahrhundert Kulturkampf, bis in die 1950er
Jahre getrennte Schulhöfe für Kinder. Wenn die Deutschen ein Patient wäre, wäre
das ein schweres Erbe, das den Deutschen nicht gut getan hat.“
Sprecherin:
Der Historiker Tillmann Bendikowski aus Hamburg fragt bei seiner Sicht auf die
Reformation nicht so sehr nach Geistesgeschichte, theologischen Erkenntnissen
oder nach der Entwicklungsgeschichte des modernen Individuums. Er fragt ganz
einfach: Was hat die Reformation den Leuten in ihrem Alltag gebracht.
18 Bendikowski Ein französischer Kollege hat mal gesagt, dieses Deutschland war
dann voller kleiner Westberlins, lauter kleine religiöse Gruppen die im großen Meer
der Andersgläubigen schwammen, ganz viele neue Grenzen und rechtliche
Probleme tauchten auf, das fängt an, bei der Nutzung der Kirche. In einem Dorf, in
einer Stadt. Wem gehört die Kirche? Wer wird wo beerdigt, meistens gibt es nur
9
einen Friedhof, da gibt es Konflikte, da gibt es Prügeleien, die Menschen gehen
aufeinander los, das bringt sehr viel Unfriede ins Land.“
Sprecherin:
Tillmann Bendikowski sagt: Die Reformation hat uns bis heute maßgeblich
beeinflusst – und zwar deshalb, weil sie eben nicht umfassend erfolgreich war,
sondern in der Mitte steckengeblieben ist. Weil die Vielheit, die Heinz Schilling als
das Erbe der Reformation preist, zunächst den Preis von Jahrhunderten voller
Streit, Krieg und Intoleranz hatte.
19 Bendikowski „Die Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Protestanten ist
auf Erden nicht zu lösen. Das fällt den Deutschen relativ spät auf, man kann eine
andere Religion nicht mit Gewalt vom Erdboden vertilgen, das hat der 30jährige
Krieg ja sehr eindrucksvoll gezeigt.
MUSIK
Sprecher:
Seit 500 Jahren ist der Himmel des Christentums geteilt – eigentlich schon länger,
wenn man auf die orthodoxen Kirchen schaut. Bis heute bestimmen Spuren
konfessionellen Denkens die Kultur hierzulande, unsere Denkmuster, unsere
Reaktionen, oft im Verborgenen.
Sprecherin:
Errungenschaften wie persönliche Freiheit, die Entdeckung des Gewissens, die
Religionsfreiheit bis hin zu den Menschenrechten werden auf die Reformation
zurückgeführt, die Geschichte des westlichen Kapitalismus ist aufs Engste mit dem
enormen Treibstoff verbunden, den die reformierte Kirche den Menschen in den
Alltag diesseits des Himmels goss.
Sprecher:
Das Zeitalter der Reformation bestimmte auf Jahrhunderte die Aufgaben der
Politik und die Aufgaben der Kirchen. Es war der Motor einer ungeheuren
Auseinandersetzung mit dem, was die Welt im Innersten zusammenhält.
20 -1 SCHILLING ENDE Alles, was sich von Europa aus entwickelt hat,
Menschenrechte, Toleranz, Hinwendung zu Minderheiten, das hat sich ergeben,
dass mit Luther dieser einheitliche Kern des Christentums aufgebrochen ist. Luther
hat die Sprengung der Einheit auf sich genommen, um die Freiheit des
Christentums, die dann zu einer Freiheit weit über das Christentum hinaus sich
entwickelt hat, zu sichern.
MUSIK
10
20 -2 Bendikowski Ende Der deutsche Glaubenskrieg wurde nicht durch die
Aufklärung beigelegtDer Glaubenskrieg löst sich erst Mitte des 20. Jahrhunderts
auf, als die beiden Partein blutend am Boden lagen. … Es gab ja kein Einsehen. … Es
gibt doch heute nur die Möglichkeiten einer interkonfessionellen Arbeit, weil die
beiden Streiter so erschöpft sind, weil ihnen die Leute weggelaufen sind, deswegen
kommt es zu einem relativen konfessionellen Frieden, aber es ist bestimmt nicht
das Ergebnis von Einsicht.
20-1 Schorlemmer „Die 95 Thesen beginnen mit dem Satz, aus Liebe zur Wahrheit
und bestreben diese zu ergründen - das ist doch toll, nicht die Wahrheit zu haben,
sondern den Glauben ins Gespräch zu bringen. Wenn wir Luther eins verdanken,
dass der Glaube so im Gespräch bleibt, dass er uns hilft, unsere Alltage zu
bestehen.“
MUSIK
Titelsprecherin:
Geteilter Himmel, geteiltes Land
Das Ende der Einheit
Sie hörten eine Sendung von Matthias Morgenroth
Es sprachen: Hemma Michel und Axel Wostry
Eine Produktion des Bayerischen Rundfunks
Das Manuskript der Sendung können Sie telefonisch bei unserer Service-Redaktion
bestellen, aus Berlin oder Potsdam unter 97993-2171. Oder per email:
[email protected]. Und zum Nachhören oder Lesen finden Sie die Sendung auch im
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