SWR2 Musikstunde

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SWR2 MANUSKRIPT
SWR2 Musikstunde
Prag, Musikstadt mit Moldau (4)
Mit Jörg Lengersdorf
Sendung: 16. Februar 2017
Redaktion: Dr. Ulla Zierau
Produktion: SWR 2013 / 2017
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Prag, Musikstadt mit Moldau mit Jörg Lengersdorf
Sommerzeit in Prag. Die Stadt ist voller Geräusche, bei Nacht fast ebenso laut wie
Es bröckelt. Wo handtuchgroß Fassadenputz abgeblättert ist, sieht man jetzt den
nackten Backstein, Fensterscheiben sind schmierig und mit braunem Papier
zugeklebt, es staubt. Die einstmals so prächtige Fassade des 1871 errichteten Franz
Josef Bahnhofs, der später um seine prächtigen Jugendstilelemente erweitert wurde,
heißt einen im 21. Jhd nicht gerade willkommen. Komm rein und finde wieder raus,
scheint der Bahnhof zu rufen. Seit Jahren wird der Prager Hauptbahnhof
generalüberholt. Bevor er im alten Glanz wiederaufersteht wird gebohrt, gehämmert,
geflext, aufgerissen, zugeschüttet.
Auf der Westseite versperrt, wo früher ein Park war, eine riesige Schnellstrasse den
direkten Weg zum Wenzelsplatz.
Die Reste des Parks auf der anderen Seite werden von Prager Bürgern in
Anspielung auf Robin Hoods Wald der Gesetzlosen „Sherwood Forest“ genannt:
wegen der Kriminalität und der Drogenszene.
Hier beginnt der Prager Bezirk Weinberge, Vinorahdy, der im Zuge des beginnenden
Wirtschaftsaufschwungs Ende des 19. Jhds zur Zuflucht vieler Familien wurde, die
vom Dorf kommend Arbeit in der Stadt suchten. Hier hatte unweit des Bahnhofs in
den 1890er Jahren der Vater von Jaromir Weinberger ein kleines Möbelgeschäft
eröffnet. Der kleine Jaromir wuchs auf mit Gassenhauern und Volksmusik. Das
Populäre sollte Jaromir Weinberger weltberühmt machen, wenn auch nur ganz
kurz….
Musik 1, 2.30
Jaromir Weinberger
Polka aus „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“
Göteborgs Symfoniker Neeme Järvi
Deutsche Grammophon LC 00173, DDD 0289 453 5862 8 GH
M0008706 010
Die Göteborger Symphoniker mit der Polka aus der Oper „Schwanda, der
Dudelsackpfeifer“ von Jaromir Weinberger, der in Prag im Bezirk Vihnorady
aufwuchs, sozusagen hinter dem Bahnhof.
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In Weinbergers Jugendjahren am Konservatorium in Prag musste er jeden Tag durch
das damals in neuer Pracht erstrahlende Bahnhofsgebäude zur anderen Seite der
Stadt. Die pompös verspielte Schalterhalle im Jugendstil vom Architekten Josef
Fanta war damals gerade fertig gestellt. Ein wunderschönes Kaffee bewirtete hier die
Reisenden. Der riesige Erfolg der Oper „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ bescherte
Weinberger selber später viele Fahrten von diesem Bahnhof ins Ausland. Aber
immer wieder, auch nach Jahren in der Ferne, zog es den Juden Weinberger zurück
nach Prag. Immer wieder versuchte er hier, dauerhaften Erfolg zu haben, sesshaft zu
werden. Bis ihn die Nazis 1939 endgültig aus Europa vertrieben und jede Erinnerung
an ihn aus den Annalen tilgten. Depressiv, vergessen, chancenlos, an alte Erfolge
anzuknüpfen, nahm Weinberger sich schließlich, Jahre nach Kriegsende, in den USA
das Leben.
Im Prager Hauptbahnhof schaue ich an diesem Julimorgen auf die Anzeigetafel. Der
Schnellzug Antonin Dvorak fährt heute um 10. 39 Uhr von Gleis 4 Richtung Westen.
Auch Antonin Dvorak war oft von hier aufgebrochen, Weltruhm zu erlangen. Einmal
Richtung Amerika, 1892.
Die letzten Konzerte in der Heimat hatte Pianist Dvorak mit einem Cellisten gespielt,
eine Art Abschiedstournee. Und vom wehmütigsten Stück dieser Abschiedsabende
fertigte Dvorak 1893, heimwehkrank in den USA, eine Version an für Cello und
Orchester: „Die Ruhe“ aus dem „Böhmerwald“ op. 68
Musik 2, 5.22
Antonin Dvorak
„Klid“ – Waldesruh, op.68,5
Frans Helmerson, Cello
Göteborg Symphony Orchestra, Neeme Järvi
BIS CD 245, LC 03240
Frans Helmerson, Cello, begleitet vom Göteborger Symphonieorchester unter
Neeme Järvi, mit Antonin Dvoraks „Waldesruh“ aus op. 68, jenem Stück, das auf
Dvoraks tschechischer „Abschiedstournee“ 1892 häufig als Zugabe gespielt wurde,
bevor er nach Amerika fuhr.
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Der Prager Bahnhof ist inzwischen, 2013, von innen längst ein Bahnhof wie viele
andere: eine Art riesige Einkaufspassage, hypermodern und klimatisiert, die ein und
ausfahrenden Züge scheinen mehr oder weniger Nebensache, ein willkommener
Anlass, vor oder nach der Reise noch mal zur ausgiebigen Shoppingtour ohne
Ladenschlusszeiten zu gehen.
Eine Entwicklung, die Meister Dvorak im Musikhimmel sicher missfällt, denn
bekanntermaßen verstand Dvorak beim Thema Eisenbahn keinen Spaß.
Dvorak pflegte täglich in den Bahnhof zu gehen, sich mit Lokomotivführern, die er
allesamt namentlich kannte, direkt am Gleis über technische Details zu unterhalten,
er wusste den gesamten Fahrplan auswendig, inklusive der Seriennummern der
Loks und registrierte mit Argusaugen Verspätungen.
Als Dvorak eines Tages nicht konnte, bat er seinen Schwiegersohn in Spe, Josef
Suk, für ihn zum Bahnhof zu gehen, und die Nummer der Lok nach Pribram zu
notieren.
Suk, verliebt, in Gedanken vielleicht bei Dvoraks Töchterchen Otilie, notierte die
Nummer falsch, warum auch immer. Dvorak bemerkte den Fehler, und meinte
daraufhin: ein Mann, der schon an einer solchen Aufgabe scheitere, könne
unmöglich seine Tochter heiraten…
Musik 3, 3.02
Josef Suk
Burleska op. 17,4
Josef Suk (Enkel) – Violine und Jan Panenka, Klavier
Supraphon 3777-2, LC 00358
Der Enkel Josef Suk spielte eine Burleska seines Großvaters Josef Suk, begleitet
von Jan Panenka am Klavier.
Obwohl Josef Suk, der Kompositionsschüler von Antonin Dvorak, die Seriennummer
der Lok am Prager Bahnhof nicht richtig notiert hatte, durfte er schließlich Dvoraks
Tochter Otilie heiraten.
1898 fand die Hochzeit statt, in derselben Prager Kirche St. Stefan, in der auch
Dvorak selber geheiratet hatte. Das Eheglück von Otilie und Josef Suk währte
allerdings nur tragisch kurz, Otilie starb im siebten Ehejahr, kurz nach dem Tod ihres
Vaters.
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Es geht schon auf die Mittagszeit zu, als ich vor der Kirche stehe, in der die Dvorak
Familie ihre Ehen begründete. Die Kirchenuhr ist stehen geblieben, die Zeiger haben
sich seit 8 Uhr 15 nicht bewegt. Ewiger morgen oder langer Abend? Wer weiß, wann
die Zeiger ihren Ruheplatz gefunden haben.
Immerhin schaut sich eine Reisegruppe die Kirche an, unzählige Touristentouren
wandeln in Prag auf den Spuren Dvoraks.
In der Nachbarschaft der Kirche hat sich eine ehemalige Wohnung der Dvoraks
befunden, die leerstehenden Geschäftsräume im Untergeschoss sind mit Plakaten
von Rockbands und Boxkämpfen zugepflastert, ein paar Jugendliche rauchen vor
einer Trinkhalle Marihuana.
Zu besichtigen gibt es hier eigentlich nichts. Ich gehe weiter.
Der Autoverkehr verebbt irgendwann, an einer ansonsten schmucklosen
Mauerfassade freue ich mich schon wieder über die historischen Straßenlaternen,
die zum bürgerlichen Prager Stadtbild dazugehören. Und dann finde ich sie doch:
idyllische Kulisse.
Jenseits eines kleinen Vorgartens, den man schon Park nennen darf, betritt man das
Dvorak Museum in einer wunderschönen kleinen Rokokovilla. Es läuft Musik.
Musik 4, 5.39
Antonin Dvorak
Goin´Home nach dem Largo aus der 9. Sinfonie
Bryn Terfel
London Symphony Orchestra/Barry Wordsworth
Deutsche Grammophon „Bryn Terfel sings Favourites“ , LC 00137
Im Dvorak Museum in der Prager „Villa Amerika“ findet man allerhand, einen
Tomahawk, ein indianisches Kriegsbeil, eine Feldflasche für Wanderungen, Skizzen,
Konzertprogramme,
lauter Erinnerungen an Dvoraks Jahre in Amerika.
Und man findet in einer Vitrine auch die Noten jenes Stücks, das gerade von Bryn
Terfel gesungen wurde: Goin Home, ein schmachtendes Heimwehlied zur
unsterblichen Melodie des Largo aus Dvoraks 9. Symphonie.
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Ein amerikanischer Schüler Dvoraks, William Arms Fisher, hatte den Text verfasst
und sozusagen zur Symphonie „hinzugedichtet“.
Kaum ein Besucher hat sich an diesem Julitag 2013 ins Museum verirrt, die
Ausstellung ist klein, zu klein vielleicht für die historische Gigantomanie, mit dem
Prag an anderen Ecken aufwartet.
Man sieht Dvoraks Bratsche, Flügel und Schreibtisch, seinen Ehrendoktorhut der
Unversität Cambridge, vergilbte Fotos, Visitenkarten mit amerikanischer Anschrift,
und man wirft einen aufschlussreichen Blick in Dvoraks erste Jahre in Prag: Ein
Lohnzettel weist Dvorak als Aushilfsbratscher an einem Prager Theater aus. Von
allen Musikern auf dem Zettel verdient er mit Abstand am wenigsten.
Neben dem Lohnzettel liegt Dvoraks alte Geldbörse. Sie ist leer.
Ironischerweise läuft eine CD mit Dvoraks größten Hits.
Nach dem Verlassen des Museums wäre ich froh, wenn mir diese Musik auf der
Straße noch ein wenig im Ohr bliebe. Ich gehe den Weg zur Staatsoper, dem
ehemals Neuen Deutschen Theater. Gerade jetzt schießt mir ein berühmtes Stück
von Julius Fucik in den Kopf.
Musik 5, 2.45min
Julius Fucik
„Einzug der Gladiatoren“
Tschechische Philharmonie, Leitung: Vaclav Neumann
Supraphon 3163- 2011, LC 0035
M0061682 004
Die tschechische Philharmonie Prag unter Vaclav Neumann.
Ein unvermeidliches Stück, wenn es um unverwüstliche Komponisten der Prager
Musikgeschichte geht. Julius Fucik, ein Prager Schüler Antonin Dvoraks, hat das
Werk verfasst. Ein Mann mit einem sicheren Händchen für kommerzielle Erfolge.
Platzkonzerte mit Marschmusik von Fucik sollen im Prag der Jahrhundertwende bis
zu 10000 Menschen mobilisiert haben.
Ursprünglich nannte Fucik sein Werk ein bisschen technokratisch „Großer
chromatischer Marsch“, aber dann fiel ihm ein historischer Roman in die Hände, ein
ziemlicher Schinken, „Quo Vadis“ von Henryk Sienkiewicz. Tief beeindruckt von den
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Schilderungen der Gladiatoren nannte Fucik sein Stück schließlich: „Einzug der
Gladiatoren“.
Fagott, Violine und Schlagzeug hatte Fucik in Prag studiert, er war also vielseitig
begabt und zu allem zu gebrauchen, und so wundert es nicht, daß er nach seinen
Lehrjahren 1895 zunächst eine Stelle erhielt als zweiter Fagottist am Neuen
Deutschen Theater in Prag.
Sieben Jahre vorher erst war der Bau fertig geworden, 1888.
Die Bezeichnung als deutsches Theater verweist schon auf das oft problematische
Verhältnis zwischen erstarkendem tschechischem Nationalbewusstsein auf der
einen und habsburgisch deutscher Hoheitsgeste auf der anderen Seite.
Der deutschsprachige Adel wollte dem tschechisch dominierten Nationaltheater in
der Altstadt etwas deutsches entgegensetzen.
Hier am neuen deutschen Theater gab es Schiller und Grillparzer, aber vor allem
Wagner. Auch ein Stück Arnold Schönbergs hatte hier Premiere…
Musik 6, 3.21min„
Schönberg, Arnold
Erwartung, op 2,1 (für 1 Singstimme und Klavier)
Fischer-Dieskau, Dietrich und Reimann, Aribert
Labelcode: 00173, Labelname: Deutsche Grammophon
Bestellnummer: 431744-2
3201664 003
Dietrich Fischer Dieskau und Aribert Reimann mit „Erwartung“ op 2,1 von Arnold
Schönberg auf einen Text von Richard Dehmel.
Eines von zwei Stücken aus Arnold Schönbergs Werk, die man mit dem Titel
„Erwartung“ verbindet.
Das längere, ein 28minütiges Monodram auf Texte von Marie Pappenheim, hatte am
6. Juni 1924 im neuen deutschen Theater in Prag seine Weltpremiere, unter
Alexander von Zemlinsky. Hier vor dem Gebäude, das inzwischen die Staatsoper
beherbergt, werfe ich einmal mehr einen Blick in meinen Reiseführer „Spaziergänge
durch das musikalische Prag. Ich lese von der großen Vergangenheit des Hauses,
von Jahren voller künstlerischer Überraschungen und Höhepunkten.
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Irritiert blicke ich dazwischen auf das Programm der nächsten Tage:
Wieder: The Best of Mozart, Don Giovanni, Figaro, Greatest Hits, dazwischen eine
Gala mit der schönsten Ballettmusik…
Echte Prager Programme. Es ist Sommer.
Neue Musik gab es hier vor allem im alten Jahrtausend.
Nach 1911 hatte Alexander von Zemlinsky, Schwager und Freund Arnold
Schönbergs,16 Jahre lang die Leitung des Prager Neuen Deutschen Theaters. Er
sorgte vor allem für die Förderung der neuen Musik. Das ist fast hundert Jahre her.
Im ersten Weltkrieg wurden viele Musiker des Theaters zum Kriegsdienst gezogen,
spätestens ab da bemühte sich Zemlinsky um andere Anstellungen, zumal das
Theater nach den Kriegsjahren mehr und mehr auf Operette und leichte Kost setzen
wollte.
Prag wollte Hits, Zemlinsky wollte weg, 1926 nahm er den Hut.
Musik 7, 4.07min
Zemlinsky, Alexander
Humoreske
Heinzmann, Hans-Udo {Flöte} / Lammers, Malte {Oboe}
Künkele, Bernd {Horn} / Hermann, Walter {Klarinette} / Groth, Björn {Fagott}
Labelcode: 01958 THOROFON CTH 2376
M0015325 010
Alexander von Zemlinskys „Humoreske“, ein Ensemble um den Flötisten Hans Udo
Heinzmann.
Beim weiteren Spaziergang vom ehemaligen Neuen Deutschen Theater, der
heutigen Staatsoper, stadteinwärts, versuche ich mir vorzustellen, welchen Weg wohl
Alexander von Zemlisky allnächtlich nach den Vorstellungen zu seiner Wohnung
genommen haben könnte.
Wie lange hat er für den knappen Kilometer gebraucht?
War der Wenzelsplatz auf halbem Weg auch damals schon so überlaufen? Nahm er
die Kutsche?
Immerhin gab es 1914 bereits ein dutzend Straßenbahnlinien in Prag, wegen
Kohlemangels während des Krieges wurden die meisten Linien allerdings in den
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folgenden Jahren eingestellt. Oft ging Zemlinsky zu Fuß, wahrscheinlich. Er wohnte
zwischen 1911 und 1927 ganz in der Nähe der Haltestelle am ehemaligen
Heuwaagsplatz, heute Platz der Republik. In der Prager Havlickova, in Zemlinskys
Haus, erblickte nebenbei bemerkt auch Franz Werfel das Licht der Welt, an beide
berühmten Bewohner erinnern zwei Gedenktafeln an der monumentalen Fassade.
Das Untergeschoss beherbergt heutzutage ein riesiges Sportgeschäft.
Prag Touristen wie ich scheinen vor allem Sportschuhe und Andenken zu brauchen,
daran erinnere ich mich einmal mehr am Nachmittag, als ich vor dem Elternhaus des
Komponisten Josef Myslivecek stehe.
Ein winziges Haus diesmal, gepfercht in die Ecke zweier aufeinandertreffender
Gassen. Auch hier eine Gedenktafel, ein Souvenirladen im Erdgeschoss…
Musik 8, 2.07min
Josef Myslivecek
Presto aus Symphonie in C Dur
London Mozart Players/Matthias Bamert
Chandos 10203, LC 07038
M0044010 003
Die London Mozart Players unter Matthias Bamert mit einem C Dur Presto von Josef
Myslivecek.
Myslivecek war nicht nur ausgebildeter Müllermeister, er war eine kurze Zeit lang der
erfolgreichste Opernkomponist Europas.
Sein Vater war ein wohlhabender Mühlenbesitzer gewesen, der sich ein ganzes
Haus direkt in der Prager Altstadt leisten konnte, ein kleines Haus, aber zentral.
Heute ist dieses Gebäude für den Myslivecek Fan kaum zu erreichen, was weniger
an der kurzen Strecke liegt, die man vom Altstädter Ring bis hierher zurücklegt, als
an der unglaublichen Überfülltheit der Gassen mit den Läden und Cafes.
Als in einer winzigen Nebenstrasse hier mitten im Herzen der Prager Altstadt ein
Transporter, der kaum zwischen den Häuserzeilen durchpasst, ein Restaurant
beliefert, kommt der Tausendköpfige Fußgängerverkehr für einen Moment völlig zum
Erliegen, auch vor der ansonsten meistens unbeachteten Myslivecek Gedenktafel,
die plötzlich doch einige Leser findet.
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Myslivecek, der Mozart Freund und Förderer, hat traurige Berühmtheit erlangt, als
der junge Mozart dem 40jährigen Böhmen einen Krankenbesuch abstattete.
Mysliveceks Gesicht muss damals völlig entstellt gewesen sein, was Mozart in einem
Brief erinnerte. Wohl wegen syphillitischer Symptome entfernte man Myslivecek
kurze Zeit später die gesamte Nasenpartie… Der ehemalige Star starb mit nur 44
Jahren verbittert und verarmt, das Publikum wollte ihn nicht mehr. Und auch heute
drängt sich der Großteil des Publikums ja nur unfreiwillig vor seinem Elternhaus. Es
ist schlichtweg zu voll vor dem Souvenirladen. Es kostet mich einige Mühe, die zwei
Häuserblocks bis zum Karolinum zurückzulegen. An der Prager Universität hatte der
Müllersohn Myslivecek Philosophie zu studieren versucht– er brach nach wenigen
Semestern ab.
Musik 9, 1.55min
Jan Antonin Losy
Courante aus Partita B Dur
Rudolf Merinsky, Laute
CD Lutenists of the Czech Baroque
Oliverius EAN 8 594009 872093
Im Jahr 1384 hatte Karl der Vierte die Prager Universität gegründet, auf dass seine
Untertanen die Weisheit nicht im Ausland suchen müssten. Zunächst schliefen die
Studenten bei ihren Professoren, später entstanden Schlafsäle, Hörsäle,
Bibliotheken. Zur Unterbringung der Studenten wurde ursprünglich auch das
Karolinum gebaut, später war die Aula Ort legendärer intellektueller
Auseinandersetzungen, Der Reformer Jan Hus wetterte hier gegen den Papst , von
hier zogen die böhmischen Stände zum Prager Fenstersturz auf die Burg, was zum
30jährigen Krieg führte. Auch der Komponist der soeben gehörten Musik war ein
Philosophiestudent der ältesten Universität Mitteleuropas.
Jan Anton Losy, steinreicher Sohn aus altem katholischen Grafengeschlecht. Nach
dem dreißigjährigen Krieg hatte die Familie gleich mehrere konfiszierte Häuser
geflohener Protestanten in Prag gekauft. Oft soll Graf Losy in seinem Palast an der
Hybernska im Bett die Laute geschlagen haben, während seiner Ausfahrten pflegte
er häufig abrupt die Kutsche anzuhalten, um an seinem tragbaren Schreibtisch ein
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elegantes Motiv aufzuschreiben, welches ihm gerade durch den Kopf ging, jedenfalls
erzählte man sich das.
Eine CD mit Werken von Losy habe ich unweit des Karolinums in einem gutsortierten
Laden am Rande des Altstädter Rings gefunden, diesem wohl neben Karlsbrücke
und Prager Burg meistfotografierte Ort Prags. Der Platz, dessen Sehenswürdigkeiten
und Schönheiten man gar nicht alle aufzählen kann, wird dominiert von den scharf
gezackten Turmspitzen der gotischen Teynkirche. Man betritt die Kirche durch einen
düsteren Bogengang in der Teynschule, die heute vor allem als nette Fassade für
Straßenrestaurants dient. Hier im dunklen Bogengang ist nicht nur der CD Laden mit
der jungen Verkäuferin, die eine Menge über die Prager Musikgeschichte weiß. Hier
führte auch der Weg entlang, den Christoph Willibald Gluck morgens zur Arbeit
nahm.
Musik 10, 2.42
Christoph Willibald Gluck
Ballettmusik aus Orfeo und Euridice
English Baroque Soloists
Decca – The Compact Opera Collection LC 00171
M0349206 016
English Baroque Soloists mit der Ballettmusik aus Christoph Willibald Glucks
“Orpheus und Eurydike”.
Christoph Willibald Gluck erzählte einem interessierten Chronisten wohl bei einem
Picknick davon, als Jugendlicher daheim aus dem Väterlichen Försterhaus
ausgebüxt zu sein um sein Glück in der weiten Welt zu versuchen. Tatsächlich
schrieb er sich 1731 an der Karlsuniversität ein, für Mathematik und Logik. Angeblich
soll er sein Geld dafür an der Teynkirche verdient haben, als Organist und Sänger.
Während der Ferien soll er dann über die Dörfer des Umlandes gezogen sein, um die
Bauern mit Spiel und Gesang zu erfreuen.
Er lebte von Luft und Liebe, und den paar Eiern, die die Bauern ihm überließen, und
die er anderswo gegen Brot eintauschte…
Mein Reiseführerbüchlein „Spaziergänge durch das musikalische Prag“ erzählt die
Geschichte, welche der Chronist nach dem Picknick dann aufgeschrieben hat, mit
einigem Augenzwinkern, sie ist wohl nur eingeschränkt glaubwürdig.
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Ich mache mich für heute auf den Weg zum Hotel. Wieder muss ich über die
Karlsbrücke aufs Kleinseitner Ufer.
Ein Knabenchor auf Ferienfahrt singt wirklich und wahrhaftig Volkslieder, direkt am
Moldauufer, scheinbar freiwillig…Der Chorleiter, beflügelt von so viel Enthusiasmus
seiner Eleven, beginnt begeistert zu dirigieren…
Musik 11, 1.56
Moravisches Volkslied „O Lasko, Lasko“
Tschechischer Knabenchor
CD Supraphon SU 3764-2 231,LC 00358
Anmerkung des Autors:
Die Idee zu dieser Sendung entstand, als ich in einem Düsseldorfer Antiquariat an einem Nachmittag
dieses Jahres sowohl die 800 Seiten starke Autobiografie des Prager Komponisten Josef Bohuslav
Foerster entdeckte, als auch ein kleines Bändchen mit dem Titel „Spaziergänge durch das
musikalische Prag“.
Das hervorragende Buch des Musikwissenschaftlers Wolfgang Dömling ist neu meines Wissens nicht
mehr erhältlich, aber nach kurzer Internetrecherche findet sich meist der ein oder andere Händler, der
das Buch noch verfügbar hat.
Vieles in Prag hat sich seit Erscheinen des Buches geändert, manches ist kaum wiederzuerkennen,
aber als Ausgangspunkt für eine Spurensuche wurde das Buch auf den Spaziergängen unentbehrlich.