1 SWR2 MANUSKRIPT SWR2 Musikstunde Prag, Musikstadt mit Moldau (4) Mit Jörg Lengersdorf Sendung: 16. Februar 2017 Redaktion: Dr. Ulla Zierau Produktion: SWR 2013 / 2017 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Musikstunde können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de 2 Prag, Musikstadt mit Moldau mit Jörg Lengersdorf Sommerzeit in Prag. Die Stadt ist voller Geräusche, bei Nacht fast ebenso laut wie Es bröckelt. Wo handtuchgroß Fassadenputz abgeblättert ist, sieht man jetzt den nackten Backstein, Fensterscheiben sind schmierig und mit braunem Papier zugeklebt, es staubt. Die einstmals so prächtige Fassade des 1871 errichteten Franz Josef Bahnhofs, der später um seine prächtigen Jugendstilelemente erweitert wurde, heißt einen im 21. Jhd nicht gerade willkommen. Komm rein und finde wieder raus, scheint der Bahnhof zu rufen. Seit Jahren wird der Prager Hauptbahnhof generalüberholt. Bevor er im alten Glanz wiederaufersteht wird gebohrt, gehämmert, geflext, aufgerissen, zugeschüttet. Auf der Westseite versperrt, wo früher ein Park war, eine riesige Schnellstrasse den direkten Weg zum Wenzelsplatz. Die Reste des Parks auf der anderen Seite werden von Prager Bürgern in Anspielung auf Robin Hoods Wald der Gesetzlosen „Sherwood Forest“ genannt: wegen der Kriminalität und der Drogenszene. Hier beginnt der Prager Bezirk Weinberge, Vinorahdy, der im Zuge des beginnenden Wirtschaftsaufschwungs Ende des 19. Jhds zur Zuflucht vieler Familien wurde, die vom Dorf kommend Arbeit in der Stadt suchten. Hier hatte unweit des Bahnhofs in den 1890er Jahren der Vater von Jaromir Weinberger ein kleines Möbelgeschäft eröffnet. Der kleine Jaromir wuchs auf mit Gassenhauern und Volksmusik. Das Populäre sollte Jaromir Weinberger weltberühmt machen, wenn auch nur ganz kurz…. Musik 1, 2.30 Jaromir Weinberger Polka aus „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ Göteborgs Symfoniker Neeme Järvi Deutsche Grammophon LC 00173, DDD 0289 453 5862 8 GH M0008706 010 Die Göteborger Symphoniker mit der Polka aus der Oper „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ von Jaromir Weinberger, der in Prag im Bezirk Vihnorady aufwuchs, sozusagen hinter dem Bahnhof. 3 In Weinbergers Jugendjahren am Konservatorium in Prag musste er jeden Tag durch das damals in neuer Pracht erstrahlende Bahnhofsgebäude zur anderen Seite der Stadt. Die pompös verspielte Schalterhalle im Jugendstil vom Architekten Josef Fanta war damals gerade fertig gestellt. Ein wunderschönes Kaffee bewirtete hier die Reisenden. Der riesige Erfolg der Oper „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ bescherte Weinberger selber später viele Fahrten von diesem Bahnhof ins Ausland. Aber immer wieder, auch nach Jahren in der Ferne, zog es den Juden Weinberger zurück nach Prag. Immer wieder versuchte er hier, dauerhaften Erfolg zu haben, sesshaft zu werden. Bis ihn die Nazis 1939 endgültig aus Europa vertrieben und jede Erinnerung an ihn aus den Annalen tilgten. Depressiv, vergessen, chancenlos, an alte Erfolge anzuknüpfen, nahm Weinberger sich schließlich, Jahre nach Kriegsende, in den USA das Leben. Im Prager Hauptbahnhof schaue ich an diesem Julimorgen auf die Anzeigetafel. Der Schnellzug Antonin Dvorak fährt heute um 10. 39 Uhr von Gleis 4 Richtung Westen. Auch Antonin Dvorak war oft von hier aufgebrochen, Weltruhm zu erlangen. Einmal Richtung Amerika, 1892. Die letzten Konzerte in der Heimat hatte Pianist Dvorak mit einem Cellisten gespielt, eine Art Abschiedstournee. Und vom wehmütigsten Stück dieser Abschiedsabende fertigte Dvorak 1893, heimwehkrank in den USA, eine Version an für Cello und Orchester: „Die Ruhe“ aus dem „Böhmerwald“ op. 68 Musik 2, 5.22 Antonin Dvorak „Klid“ – Waldesruh, op.68,5 Frans Helmerson, Cello Göteborg Symphony Orchestra, Neeme Järvi BIS CD 245, LC 03240 Frans Helmerson, Cello, begleitet vom Göteborger Symphonieorchester unter Neeme Järvi, mit Antonin Dvoraks „Waldesruh“ aus op. 68, jenem Stück, das auf Dvoraks tschechischer „Abschiedstournee“ 1892 häufig als Zugabe gespielt wurde, bevor er nach Amerika fuhr. 4 Der Prager Bahnhof ist inzwischen, 2013, von innen längst ein Bahnhof wie viele andere: eine Art riesige Einkaufspassage, hypermodern und klimatisiert, die ein und ausfahrenden Züge scheinen mehr oder weniger Nebensache, ein willkommener Anlass, vor oder nach der Reise noch mal zur ausgiebigen Shoppingtour ohne Ladenschlusszeiten zu gehen. Eine Entwicklung, die Meister Dvorak im Musikhimmel sicher missfällt, denn bekanntermaßen verstand Dvorak beim Thema Eisenbahn keinen Spaß. Dvorak pflegte täglich in den Bahnhof zu gehen, sich mit Lokomotivführern, die er allesamt namentlich kannte, direkt am Gleis über technische Details zu unterhalten, er wusste den gesamten Fahrplan auswendig, inklusive der Seriennummern der Loks und registrierte mit Argusaugen Verspätungen. Als Dvorak eines Tages nicht konnte, bat er seinen Schwiegersohn in Spe, Josef Suk, für ihn zum Bahnhof zu gehen, und die Nummer der Lok nach Pribram zu notieren. Suk, verliebt, in Gedanken vielleicht bei Dvoraks Töchterchen Otilie, notierte die Nummer falsch, warum auch immer. Dvorak bemerkte den Fehler, und meinte daraufhin: ein Mann, der schon an einer solchen Aufgabe scheitere, könne unmöglich seine Tochter heiraten… Musik 3, 3.02 Josef Suk Burleska op. 17,4 Josef Suk (Enkel) – Violine und Jan Panenka, Klavier Supraphon 3777-2, LC 00358 Der Enkel Josef Suk spielte eine Burleska seines Großvaters Josef Suk, begleitet von Jan Panenka am Klavier. Obwohl Josef Suk, der Kompositionsschüler von Antonin Dvorak, die Seriennummer der Lok am Prager Bahnhof nicht richtig notiert hatte, durfte er schließlich Dvoraks Tochter Otilie heiraten. 1898 fand die Hochzeit statt, in derselben Prager Kirche St. Stefan, in der auch Dvorak selber geheiratet hatte. Das Eheglück von Otilie und Josef Suk währte allerdings nur tragisch kurz, Otilie starb im siebten Ehejahr, kurz nach dem Tod ihres Vaters. 5 Es geht schon auf die Mittagszeit zu, als ich vor der Kirche stehe, in der die Dvorak Familie ihre Ehen begründete. Die Kirchenuhr ist stehen geblieben, die Zeiger haben sich seit 8 Uhr 15 nicht bewegt. Ewiger morgen oder langer Abend? Wer weiß, wann die Zeiger ihren Ruheplatz gefunden haben. Immerhin schaut sich eine Reisegruppe die Kirche an, unzählige Touristentouren wandeln in Prag auf den Spuren Dvoraks. In der Nachbarschaft der Kirche hat sich eine ehemalige Wohnung der Dvoraks befunden, die leerstehenden Geschäftsräume im Untergeschoss sind mit Plakaten von Rockbands und Boxkämpfen zugepflastert, ein paar Jugendliche rauchen vor einer Trinkhalle Marihuana. Zu besichtigen gibt es hier eigentlich nichts. Ich gehe weiter. Der Autoverkehr verebbt irgendwann, an einer ansonsten schmucklosen Mauerfassade freue ich mich schon wieder über die historischen Straßenlaternen, die zum bürgerlichen Prager Stadtbild dazugehören. Und dann finde ich sie doch: idyllische Kulisse. Jenseits eines kleinen Vorgartens, den man schon Park nennen darf, betritt man das Dvorak Museum in einer wunderschönen kleinen Rokokovilla. Es läuft Musik. Musik 4, 5.39 Antonin Dvorak Goin´Home nach dem Largo aus der 9. Sinfonie Bryn Terfel London Symphony Orchestra/Barry Wordsworth Deutsche Grammophon „Bryn Terfel sings Favourites“ , LC 00137 Im Dvorak Museum in der Prager „Villa Amerika“ findet man allerhand, einen Tomahawk, ein indianisches Kriegsbeil, eine Feldflasche für Wanderungen, Skizzen, Konzertprogramme, lauter Erinnerungen an Dvoraks Jahre in Amerika. Und man findet in einer Vitrine auch die Noten jenes Stücks, das gerade von Bryn Terfel gesungen wurde: Goin Home, ein schmachtendes Heimwehlied zur unsterblichen Melodie des Largo aus Dvoraks 9. Symphonie. 6 Ein amerikanischer Schüler Dvoraks, William Arms Fisher, hatte den Text verfasst und sozusagen zur Symphonie „hinzugedichtet“. Kaum ein Besucher hat sich an diesem Julitag 2013 ins Museum verirrt, die Ausstellung ist klein, zu klein vielleicht für die historische Gigantomanie, mit dem Prag an anderen Ecken aufwartet. Man sieht Dvoraks Bratsche, Flügel und Schreibtisch, seinen Ehrendoktorhut der Unversität Cambridge, vergilbte Fotos, Visitenkarten mit amerikanischer Anschrift, und man wirft einen aufschlussreichen Blick in Dvoraks erste Jahre in Prag: Ein Lohnzettel weist Dvorak als Aushilfsbratscher an einem Prager Theater aus. Von allen Musikern auf dem Zettel verdient er mit Abstand am wenigsten. Neben dem Lohnzettel liegt Dvoraks alte Geldbörse. Sie ist leer. Ironischerweise läuft eine CD mit Dvoraks größten Hits. Nach dem Verlassen des Museums wäre ich froh, wenn mir diese Musik auf der Straße noch ein wenig im Ohr bliebe. Ich gehe den Weg zur Staatsoper, dem ehemals Neuen Deutschen Theater. Gerade jetzt schießt mir ein berühmtes Stück von Julius Fucik in den Kopf. Musik 5, 2.45min Julius Fucik „Einzug der Gladiatoren“ Tschechische Philharmonie, Leitung: Vaclav Neumann Supraphon 3163- 2011, LC 0035 M0061682 004 Die tschechische Philharmonie Prag unter Vaclav Neumann. Ein unvermeidliches Stück, wenn es um unverwüstliche Komponisten der Prager Musikgeschichte geht. Julius Fucik, ein Prager Schüler Antonin Dvoraks, hat das Werk verfasst. Ein Mann mit einem sicheren Händchen für kommerzielle Erfolge. Platzkonzerte mit Marschmusik von Fucik sollen im Prag der Jahrhundertwende bis zu 10000 Menschen mobilisiert haben. Ursprünglich nannte Fucik sein Werk ein bisschen technokratisch „Großer chromatischer Marsch“, aber dann fiel ihm ein historischer Roman in die Hände, ein ziemlicher Schinken, „Quo Vadis“ von Henryk Sienkiewicz. Tief beeindruckt von den 7 Schilderungen der Gladiatoren nannte Fucik sein Stück schließlich: „Einzug der Gladiatoren“. Fagott, Violine und Schlagzeug hatte Fucik in Prag studiert, er war also vielseitig begabt und zu allem zu gebrauchen, und so wundert es nicht, daß er nach seinen Lehrjahren 1895 zunächst eine Stelle erhielt als zweiter Fagottist am Neuen Deutschen Theater in Prag. Sieben Jahre vorher erst war der Bau fertig geworden, 1888. Die Bezeichnung als deutsches Theater verweist schon auf das oft problematische Verhältnis zwischen erstarkendem tschechischem Nationalbewusstsein auf der einen und habsburgisch deutscher Hoheitsgeste auf der anderen Seite. Der deutschsprachige Adel wollte dem tschechisch dominierten Nationaltheater in der Altstadt etwas deutsches entgegensetzen. Hier am neuen deutschen Theater gab es Schiller und Grillparzer, aber vor allem Wagner. Auch ein Stück Arnold Schönbergs hatte hier Premiere… Musik 6, 3.21min„ Schönberg, Arnold Erwartung, op 2,1 (für 1 Singstimme und Klavier) Fischer-Dieskau, Dietrich und Reimann, Aribert Labelcode: 00173, Labelname: Deutsche Grammophon Bestellnummer: 431744-2 3201664 003 Dietrich Fischer Dieskau und Aribert Reimann mit „Erwartung“ op 2,1 von Arnold Schönberg auf einen Text von Richard Dehmel. Eines von zwei Stücken aus Arnold Schönbergs Werk, die man mit dem Titel „Erwartung“ verbindet. Das längere, ein 28minütiges Monodram auf Texte von Marie Pappenheim, hatte am 6. Juni 1924 im neuen deutschen Theater in Prag seine Weltpremiere, unter Alexander von Zemlinsky. Hier vor dem Gebäude, das inzwischen die Staatsoper beherbergt, werfe ich einmal mehr einen Blick in meinen Reiseführer „Spaziergänge durch das musikalische Prag. Ich lese von der großen Vergangenheit des Hauses, von Jahren voller künstlerischer Überraschungen und Höhepunkten. 8 Irritiert blicke ich dazwischen auf das Programm der nächsten Tage: Wieder: The Best of Mozart, Don Giovanni, Figaro, Greatest Hits, dazwischen eine Gala mit der schönsten Ballettmusik… Echte Prager Programme. Es ist Sommer. Neue Musik gab es hier vor allem im alten Jahrtausend. Nach 1911 hatte Alexander von Zemlinsky, Schwager und Freund Arnold Schönbergs,16 Jahre lang die Leitung des Prager Neuen Deutschen Theaters. Er sorgte vor allem für die Förderung der neuen Musik. Das ist fast hundert Jahre her. Im ersten Weltkrieg wurden viele Musiker des Theaters zum Kriegsdienst gezogen, spätestens ab da bemühte sich Zemlinsky um andere Anstellungen, zumal das Theater nach den Kriegsjahren mehr und mehr auf Operette und leichte Kost setzen wollte. Prag wollte Hits, Zemlinsky wollte weg, 1926 nahm er den Hut. Musik 7, 4.07min Zemlinsky, Alexander Humoreske Heinzmann, Hans-Udo {Flöte} / Lammers, Malte {Oboe} Künkele, Bernd {Horn} / Hermann, Walter {Klarinette} / Groth, Björn {Fagott} Labelcode: 01958 THOROFON CTH 2376 M0015325 010 Alexander von Zemlinskys „Humoreske“, ein Ensemble um den Flötisten Hans Udo Heinzmann. Beim weiteren Spaziergang vom ehemaligen Neuen Deutschen Theater, der heutigen Staatsoper, stadteinwärts, versuche ich mir vorzustellen, welchen Weg wohl Alexander von Zemlisky allnächtlich nach den Vorstellungen zu seiner Wohnung genommen haben könnte. Wie lange hat er für den knappen Kilometer gebraucht? War der Wenzelsplatz auf halbem Weg auch damals schon so überlaufen? Nahm er die Kutsche? Immerhin gab es 1914 bereits ein dutzend Straßenbahnlinien in Prag, wegen Kohlemangels während des Krieges wurden die meisten Linien allerdings in den 9 folgenden Jahren eingestellt. Oft ging Zemlinsky zu Fuß, wahrscheinlich. Er wohnte zwischen 1911 und 1927 ganz in der Nähe der Haltestelle am ehemaligen Heuwaagsplatz, heute Platz der Republik. In der Prager Havlickova, in Zemlinskys Haus, erblickte nebenbei bemerkt auch Franz Werfel das Licht der Welt, an beide berühmten Bewohner erinnern zwei Gedenktafeln an der monumentalen Fassade. Das Untergeschoss beherbergt heutzutage ein riesiges Sportgeschäft. Prag Touristen wie ich scheinen vor allem Sportschuhe und Andenken zu brauchen, daran erinnere ich mich einmal mehr am Nachmittag, als ich vor dem Elternhaus des Komponisten Josef Myslivecek stehe. Ein winziges Haus diesmal, gepfercht in die Ecke zweier aufeinandertreffender Gassen. Auch hier eine Gedenktafel, ein Souvenirladen im Erdgeschoss… Musik 8, 2.07min Josef Myslivecek Presto aus Symphonie in C Dur London Mozart Players/Matthias Bamert Chandos 10203, LC 07038 M0044010 003 Die London Mozart Players unter Matthias Bamert mit einem C Dur Presto von Josef Myslivecek. Myslivecek war nicht nur ausgebildeter Müllermeister, er war eine kurze Zeit lang der erfolgreichste Opernkomponist Europas. Sein Vater war ein wohlhabender Mühlenbesitzer gewesen, der sich ein ganzes Haus direkt in der Prager Altstadt leisten konnte, ein kleines Haus, aber zentral. Heute ist dieses Gebäude für den Myslivecek Fan kaum zu erreichen, was weniger an der kurzen Strecke liegt, die man vom Altstädter Ring bis hierher zurücklegt, als an der unglaublichen Überfülltheit der Gassen mit den Läden und Cafes. Als in einer winzigen Nebenstrasse hier mitten im Herzen der Prager Altstadt ein Transporter, der kaum zwischen den Häuserzeilen durchpasst, ein Restaurant beliefert, kommt der Tausendköpfige Fußgängerverkehr für einen Moment völlig zum Erliegen, auch vor der ansonsten meistens unbeachteten Myslivecek Gedenktafel, die plötzlich doch einige Leser findet. 10 Myslivecek, der Mozart Freund und Förderer, hat traurige Berühmtheit erlangt, als der junge Mozart dem 40jährigen Böhmen einen Krankenbesuch abstattete. Mysliveceks Gesicht muss damals völlig entstellt gewesen sein, was Mozart in einem Brief erinnerte. Wohl wegen syphillitischer Symptome entfernte man Myslivecek kurze Zeit später die gesamte Nasenpartie… Der ehemalige Star starb mit nur 44 Jahren verbittert und verarmt, das Publikum wollte ihn nicht mehr. Und auch heute drängt sich der Großteil des Publikums ja nur unfreiwillig vor seinem Elternhaus. Es ist schlichtweg zu voll vor dem Souvenirladen. Es kostet mich einige Mühe, die zwei Häuserblocks bis zum Karolinum zurückzulegen. An der Prager Universität hatte der Müllersohn Myslivecek Philosophie zu studieren versucht– er brach nach wenigen Semestern ab. Musik 9, 1.55min Jan Antonin Losy Courante aus Partita B Dur Rudolf Merinsky, Laute CD Lutenists of the Czech Baroque Oliverius EAN 8 594009 872093 Im Jahr 1384 hatte Karl der Vierte die Prager Universität gegründet, auf dass seine Untertanen die Weisheit nicht im Ausland suchen müssten. Zunächst schliefen die Studenten bei ihren Professoren, später entstanden Schlafsäle, Hörsäle, Bibliotheken. Zur Unterbringung der Studenten wurde ursprünglich auch das Karolinum gebaut, später war die Aula Ort legendärer intellektueller Auseinandersetzungen, Der Reformer Jan Hus wetterte hier gegen den Papst , von hier zogen die böhmischen Stände zum Prager Fenstersturz auf die Burg, was zum 30jährigen Krieg führte. Auch der Komponist der soeben gehörten Musik war ein Philosophiestudent der ältesten Universität Mitteleuropas. Jan Anton Losy, steinreicher Sohn aus altem katholischen Grafengeschlecht. Nach dem dreißigjährigen Krieg hatte die Familie gleich mehrere konfiszierte Häuser geflohener Protestanten in Prag gekauft. Oft soll Graf Losy in seinem Palast an der Hybernska im Bett die Laute geschlagen haben, während seiner Ausfahrten pflegte er häufig abrupt die Kutsche anzuhalten, um an seinem tragbaren Schreibtisch ein 11 elegantes Motiv aufzuschreiben, welches ihm gerade durch den Kopf ging, jedenfalls erzählte man sich das. Eine CD mit Werken von Losy habe ich unweit des Karolinums in einem gutsortierten Laden am Rande des Altstädter Rings gefunden, diesem wohl neben Karlsbrücke und Prager Burg meistfotografierte Ort Prags. Der Platz, dessen Sehenswürdigkeiten und Schönheiten man gar nicht alle aufzählen kann, wird dominiert von den scharf gezackten Turmspitzen der gotischen Teynkirche. Man betritt die Kirche durch einen düsteren Bogengang in der Teynschule, die heute vor allem als nette Fassade für Straßenrestaurants dient. Hier im dunklen Bogengang ist nicht nur der CD Laden mit der jungen Verkäuferin, die eine Menge über die Prager Musikgeschichte weiß. Hier führte auch der Weg entlang, den Christoph Willibald Gluck morgens zur Arbeit nahm. Musik 10, 2.42 Christoph Willibald Gluck Ballettmusik aus Orfeo und Euridice English Baroque Soloists Decca – The Compact Opera Collection LC 00171 M0349206 016 English Baroque Soloists mit der Ballettmusik aus Christoph Willibald Glucks “Orpheus und Eurydike”. Christoph Willibald Gluck erzählte einem interessierten Chronisten wohl bei einem Picknick davon, als Jugendlicher daheim aus dem Väterlichen Försterhaus ausgebüxt zu sein um sein Glück in der weiten Welt zu versuchen. Tatsächlich schrieb er sich 1731 an der Karlsuniversität ein, für Mathematik und Logik. Angeblich soll er sein Geld dafür an der Teynkirche verdient haben, als Organist und Sänger. Während der Ferien soll er dann über die Dörfer des Umlandes gezogen sein, um die Bauern mit Spiel und Gesang zu erfreuen. Er lebte von Luft und Liebe, und den paar Eiern, die die Bauern ihm überließen, und die er anderswo gegen Brot eintauschte… Mein Reiseführerbüchlein „Spaziergänge durch das musikalische Prag“ erzählt die Geschichte, welche der Chronist nach dem Picknick dann aufgeschrieben hat, mit einigem Augenzwinkern, sie ist wohl nur eingeschränkt glaubwürdig. 12 Ich mache mich für heute auf den Weg zum Hotel. Wieder muss ich über die Karlsbrücke aufs Kleinseitner Ufer. Ein Knabenchor auf Ferienfahrt singt wirklich und wahrhaftig Volkslieder, direkt am Moldauufer, scheinbar freiwillig…Der Chorleiter, beflügelt von so viel Enthusiasmus seiner Eleven, beginnt begeistert zu dirigieren… Musik 11, 1.56 Moravisches Volkslied „O Lasko, Lasko“ Tschechischer Knabenchor CD Supraphon SU 3764-2 231,LC 00358 Anmerkung des Autors: Die Idee zu dieser Sendung entstand, als ich in einem Düsseldorfer Antiquariat an einem Nachmittag dieses Jahres sowohl die 800 Seiten starke Autobiografie des Prager Komponisten Josef Bohuslav Foerster entdeckte, als auch ein kleines Bändchen mit dem Titel „Spaziergänge durch das musikalische Prag“. Das hervorragende Buch des Musikwissenschaftlers Wolfgang Dömling ist neu meines Wissens nicht mehr erhältlich, aber nach kurzer Internetrecherche findet sich meist der ein oder andere Händler, der das Buch noch verfügbar hat. Vieles in Prag hat sich seit Erscheinen des Buches geändert, manches ist kaum wiederzuerkennen, aber als Ausgangspunkt für eine Spurensuche wurde das Buch auf den Spaziergängen unentbehrlich.
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