AKTUELL Hautnah i Veranlagung & Umwelt: Die Auslöser sind vielfältig Nadine Hausmann hat selbst multiple Unverträglichkeiten. Ihr Wissen gibt sie heute an Kinder mit Allergien weiter Unsere Expertin: Sonja Lämmel Johanna und Scott konnten früher normal kuscheln Ökotrophologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Deutschen Asthma- und Allergikerbund (DAAB) www.daab.de „Ein Kuss von Scott kann mich töten“ E HILFE! Allergisch gegen fast alles D ie Zahlen erschrecken: Allergien sind mittlerweile die häufigste chronische Krankheit bei Erwachsenen. Schon Kinder sind immer häufiger davon betroffen. Und gerade bei den Kleinen haben sich die lebensbedrohenden allergischen Reaktionen in den letzten zehn Jahren um das Siebenfache (!) erhöht. Das Problem: Eine wirksame, etablierte Therapie gegen die Ursachen fehlt bislang. Und selbst Medikamente gegen die häufigsten Symptome wie Niesen, Augentränen oder Jucken müssen Patienten oft selbst zahlen. Immer mehr Menschen leiden zudem an multiplen Allergien, wie auch Expertin Sonja Lämmel (siehe Infokasten) bestätigt. Wie lebt es sich damit, wenn beim Einkaufen alle genau Zutaten gecheckt werden müssen? Im Restaurant die Auswahl immer geringer, das Essen zum Glückspiel wird? Oder noch schlimmer …? Zwei Frauen erzählen: 24 Nadine Hausmann (36): „Ich muss auf jede Zutat achten“ M it zehn Jahren leidet Nadine zum ersten Mal an einer Allergie – unter anderem gegen Birkenpollen. Die Ärzte schlagen damals eine Hyposensibilisierung vor. Dabei werden die allergenen Stoffe quasi zur Abhärtung gezielt gespritzt. Der Erfolg ist mäßig, ganz verschwindet der Heuschnupfen nicht. Stattdessen gesellt sich aber einige Jahre später noch eine Kreuzallergie mit Kern- und Steinobst dazu. 2008 wird Nadine schwanger. „Man sagt, dass in dieser Zeit die Allergien verschwinden. Bei mir wurden sie aber schlimmer! Auch beim zweiten Mal.“ 2010 kommen ihre Zwillinge zu früh auf die Welt und liegen noch viele Wochen in der Klinik. Stress pur für die junge Mutter. Daher wundert sich Nadine auch nicht, dass sie ständig Kopfweh hat. Dazu kommen Rückenschmerzen, Übelkeit, Nackenverspannungen. „Okay“, denkt sie damals, „mein Körper ist eben angestrengt.“ Doch als sie plötzlich auch Magentabletten nicht mehr verträgt – mit extremen Bauchkrämpfen reagiert – ist für sie klar, „Seitdem ich meine Ernährung umgestellt habe, geht es mir gut“ dass sie mehr auf ihre Ernährung achten muss. Schließlich ist sie Ökotrophologin, mit Lebensmitteln kennt sie sich aus. „Zum Frühstück habe ich nur ein Milchbrötchen gegessen. Etwas Verträgliches – wie ich dachte“, erzählt die 36-Jährige. Doch kurz darauf Gut 40 Prozent der Deutschen leiden unter teils heftigen Überreaktionen des Immunsystems. Einigen hilft nur radikaler Verzicht schwillt ihre Zunge an, wieder Kopfschmerzen. „Da hat es Klick gemacht“, sagt Nadine. Sie lässt sich untersuchen. Das erschreckende Ergebnis: Sie hat Allergien gegen Weizen, Gluten, Eiweiß, Laktose, Bananen, Kern- und Steinobst, Glutamat und Histamine. Also gefühlt – alles. Trotzdem: Sie stellt ihre Ernährung rigeros um, lässt alles weg, was ihr schadet. Ein tiefer Einschnitt. Aber es geht ihr sehr viel besser. Nadine ernährt sich heute gluten- und laktosefrei, meist sogar vegan. Auch muss sie beim Einkaufen immer wieder nachfragen, was genau die Lebensmittel enthalten – und wird oft mit Ahnungslosigkeit konfrontiert. Das macht sie wütend. Um anderen zu helfen, hat sie sich nach ihrer Elternzeit als Ernährungsberaterin selbstständig gemacht. Heute berät sie Kinder mit LebensmittelAllergien und deren Eltern.„Der Bedarf ist riesengroß“, weiß sie. Infos: www.allergo-kids.de. s ist für Laien kaum vorstellbar, das es so etwas gibt – aber die Amerikanerin Johanna reagiert tatsächlich allergisch auf ihren Mann Scott. Ein einziger Kuss könnte ihren Tod bedeuten. Eine Berühung ebenfalls. Das war nicht immer so. Johanna und Scott leben im USBundesstaat Minnesota. 2011 lernen sich die beiden kennen, es ist die große Liebe. Zwei Jahre später geben sie sich das Ja-Wort. Schon damals leidet Johanna an einer seltenen Erkrankung des Immunsystems: dem so genannten Mastzellaktivierungssyndrom. Das bedeutet: Die Zellen, die bei anderen Menschen den Körper warnen, wenn gefährliche Erreger eindringen, spielen bei ihr komplett verrückt. Sie schlagen ständig Alarm. Schon nach der Diagnose reagiert sie körperlich auf ihre Eltern und andere Menschen, doch dass diese Krankheit solche Ausmaße annehmen, ihren Ehemann betreffen würde, hätte niemand vermutet. Anfangs sind die Symptome noch harmlos. Immer wenn Scott ganz nah an seine Ehefrau heranrückt, muss sie husten. Im vergangenen Jahr allerdings verschlech- tert sich Johannas Zustand dramatisch. Wenn sich ihr Mann heute nur in der Nähe aufhält, droht Johanna ein schwerer allergischer Schock. Das würde bedeuten: ein Zuschwellen des Kehlkopfes oder auch ein Kreislaufzusammenbruch bis hin zum Mulitorganversagen. Wenn nicht sekundenschnell gehandelt wird, führt beides zum Tod. „Dass es auch bei Scott passierte, war entsetzlich“, sagt sie. Dass sie mittlerweile gerade noch 14 Lebensmittel verträgt, ist im Vergleich „Niemand kann sagen, ob es ihr jemals wieder besser gehen wird“ dazu fast zu ertragen. Alle Therapien waren bislang erfolglos. Selbst eine Chemotherapie zeigte keine Wirkung. Und niemand weiß, ob es ihr je wieder besser gehen wird. Johanna lebt mittlerweile in einem Raum mit versiegelten Fenstern und Luftfiltern – drei Stockwerke über Scott. Die beiden telefonieren und schicken sich E-Mails. Mehr geht nicht. Aber es gibt ihr die Kraft durchzuhalten. Gibt es immer mehr Menschen mit multiplen Allergien? „Die Zahlen zur Entwicklung von Allergien sind sehr uneinheitlich. Was aber alle Quellen belegen, ist die Zunahme von Kreuzreaktionen auf Lebensmittel aufgrund einer Pollenallergie. Dann entstehen schnell multiple Allergien, die einen Verzicht auf viele Lebensmitteln nach sich ziehen.“ Kann man sagen, worin die genaue Ursache liegt? „Ein Teil Veranlagung, ein Teil Umwelteinflüsse und bisschen zu viele Allergieauslöser. Genau können Experten nicht begründen, warum sie zunehmen. Eine weitere Theorie geht davon aus, dass Schadstoffe die Entstehung begünstigen, so werden Pollen etwa durch Umwelteinflüsse wie Ozon oder Dieselruß immer aggressiver. Hinzu kommt auch, dass wir heute eine weitaus vielfältigere Allergenbelastung haben als noch vor 50 Jahren.“ Muss man für immer mit einer Intoleranz leben? „Allergien, die im frühen Kindesalter auftreten haben gute Chancen, sich im Laufe des weiteren Lebens wieder zu verlieren. Wie die Allergiegeschichte sich allerdings entwickelt, kann nicht vorhergesagt werden. Es gibt aber Auslöser bei denen es eher unwahrscheinlich ist, dass sich die Unverträglichkeit wieder verliert. Dies sind die Nuss-, Erdnuss- und Fischallergie.“ Könnte es irgendwann ein Allheilmittel geben? „Geforscht wird derzeit in sehr viele Richtungen, aber bislang ohne Allheilmittel. Leider wissen die Experten immer noch zu wenig darüber, warum das Immunsystem auf einmal von Toleranz auf Allergie umschaltet.“ Hier finden Hilfreiches und Wissenswertes www.kochtrotz.de Steffi Grauer-Stojanovic, die selbst zahlreiche Allergien hat, hat viele gute Kochtipps parat. www.gfnatuerlich.de Petra Kluth gibt Rezepte für eine glutenfreie Ernährung weiter. Sie ist selbst eine Betroffene. www.nahrungsmittelintoleranz.de Allergien und Intoleranzen im Überblick, dazu die aktuellsten Studien und Foren für Betroffene. Fotos: facebook.com/Scott-Watkins (2), Privat (2) Johanna Watkins (29): Der Körper streikt, und nichts ist mehr, wie es mal war TIPPS UND INFOS
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