Jede Partei kämpft um den «Mittelstand

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NACHRICHTEN
Südostschweiz | Donnerstag, 16. Februar 2017
Der Mittelstand: «Schaffa, schaffa,
Hüüsli baua» – und in der Folge
fehlt der Ertrag aus eigenem Vermögen.
Bild Ennio Leanza/Keystone
Jede Partei kämpft
um den «Mittelstand»
Dem Mittelstand wird nachgesagt, er habe die Unternehmenssteuerreform gebodigt.
Doch gibt es ihn überhaupt? Und wenn ja: Wie geht es ihm finanziell – und gefühlt?
von Dennis Bühler
N
iemandem wird mehr
Schlagkraft zugebilligt als
ihm, keiner ist in der
Schweizer Politik umwor­
bener als er: der Mittel­
stand. Glaubt man Politbeobachtern,
war er im Februar 2014 ausschlag­
gebend für das knappe Ja zur Massen­
einwanderungsinitiative und am ver­
gangenen Sonntag für das klare Nein
zur Unternehmenssteuerreform III. Ist
er unzufrieden, weil er sich benach­
teiligt fühlt und seine Ängste für zu
wenig ernst genommen, muss sich das
Establishment warm anziehen. Der
Mittelstand – zu dem sich nahezu jede
Schweizerin und jeder Schweizer zählt
– ist zur wichtigsten Grösse jeder poli­
tischen Auseinandersetzung geworden.
Bei Abstimmungskämpfen werben
alle Seiten um seine Gunst: Sozialdemo­
kraten und Gewerkschafter tauften ihre
Kampagne gegen die USR III «Aufruf
zum Schutz des Mittelstandes» und
argumentierten, «ein paar Konzerne
und ihre Grossaktionäre» wollten auf
dem Rücken des Mittelstandes Profite
in Milliardenhöhe machen. Der Gewer­
beverband konterte, die Linke fahre mit
ihrem Nein zur Reform «einen Frontal­
angriff auf KMU und Mittelstand».
Angst: Die Ärmsten holen auf
Ökonomen und Statistiker setzen den
Mittelstand üblicherweise mit den
mittleren Einkommensgruppen gleich.
Zu ihm zählen Personen, deren Haus­
halte über ein Bruttoeinkommen zwi­
schen 70 und 150 Prozent des Durch­
schnitts verfügen, wobei dieser die
Haushalte genau in der Mitte teilt (eine
Hälfte verdient weniger, die andere
mehr). Laut einer Analyse des Bundes­
amts für Statistik vom Oktober fallen
Alleinlebende mit einem monatlichen
Bruttoeinkommen zwischen 3947 und
8457 Franken in die Kategorie oder
Paare mit zwei Kindern unter 14 Jah­
ren, die über ein Budget zwischen 8288
und 17 760 Franken verfügen.
Objektiv betrachtet geht es dem
Schweizer Mittelstand prächtig. Eine
spezielle Strategie zu seinen Gunsten
sei entsprechend unnötig, entschied der
Bundesrat vor einem knappen Jahr.
Ein Bericht hatte aufgezeigt, dass die
mittleren Einkommensgruppen in den
letzten 15 Jahren ihre verfügbaren Ein­
kommen im Durchschnitt um 14 bis
17 Prozent hatten steigern können.
Trotzdem gilt der Mittelstand als un­
zufrieden. Nicht zuletzt, weil das ein­
kommensschwächste Fünftel in den
letzten zwei Jahrzehnten das prozen­
tual grösste Einkommenswachstum ver­
buchen konnte (mittlere Grafik rechts)
– womit es dem Mittelstand zunehmend
schwerer fällt, sich nach unten abzu­
grenzen. Aufholen konnten die Ärmsten
auch dank staatlicher Unterstützung:
Während beim Mittelstand fast 80 Pro­
zent der Einkommen aus Erwerbstätig­
keit und 20 Prozent aus Renten und
Sozialleistungen stammen, ist das Ver­
hältnis bei den Einkommensschwächs­
ten umgekehrt: 26 Prozent Erwerbsein­
kommen, 66 Prozent Renten und Sozial­
leistungen (obere Grafik rechts).
Tradition: Stolz auf den Mittelstand
Hinzu kommt, dass dem Mittelstand
trotz Einkommenszuwachs seit Anfang
Jahrtausend am Monatsende oft wenig
übrig bleibt. «Mieten und Krankenkas­
senprämien fressen Lohnerhöhungen
weg», schlug der Gewerkschaftsbund
im Sommer Alarm und untermauerte
den Befund mit eindrücklichen Zahlen:
Gerade mal 60 Franken mehr als im Jahr
2000 hätten zur Mittelschicht gehörige
Alleinstehende heutzutage pro Monat
zur Verfügung (Grafik unten rechts).
Die Rezepte für eine Politik zuguns­
ten des Mittelstands sind teilweise dia­
metral unterschiedlich: Doch jede Partei
nimmt für sich in Anspruch, ihn besser
«Der Mittelstand
ist längst zum
beliebigen politischen
Kampfbegriff
geworden.»
Andrea Caroni
FDP-Vizepräsident und
Appenzeller Ständerat
zu vertreten als die Konkurrenz. «Den
Begriff nutzen alle Parteien von links
bis rechts, wobei sie ihn gerne für eigene
politische Zwecke missbrauchen», sagt
Parteienforscher Andreas Ladner. Seit
den Boomjahren nach dem Zweiten
Weltkrieg sei man in der Schweiz stolz
darauf, eine Mittelstandsgesellschaft zu
sein. «Damals verschwanden Konflikt­
linien wie jene zwischen den Konfes­
sionen oder Arbeit und Kapital, die die
Politik zuvor dominiert hatten. Die Par­
teien orientierten sich nicht mehr an
einer bestimmten Klientel, sondern
versuchten möglichst breite Schichten
anzusprechen – der Mittelstand war
hierfür ein ideales Konstrukt.»
Ähnlich denkt heute CVP­Präsident
Gerhard Pfister, wenn er den Mittel­
stand ins Zentrum der Neuausrichtung
seiner Partei stellen möchte. «Zum Mit­
telstand gehören jene, die zu viel ver­
dienen, um voll von staatlichen Leis­
tungen zu profitieren, aber zu wenig,
um grosse Reichtümer anzueignen»,
sagt er. «Diese Menschen passen perfekt
zur CVP, die auf Selbstverantwortung
und sozialen Ausgleich setzt.»
Dies sieht SVP­Präsident Albert Rösti
anders: «Ohne den Mittelstand, der das
Rückgrat unseres Landes bildet, würde
es die SVP nicht geben. Seine Verteidi­
gung steht im Zentrum unseres Einsat­
zes gegen den überbordenden Staat.»
Fast 80 Prozent der Einkommen des Mittelstands
stammen aus Erwerbstätigkeit
Hauptkomponenten des Haushaltseinkommens in den Jahren
2009 bis 2011, in Prozent des Gesamteinkommens
100 Prozent
80
60
40
20
0
Vermögen
Erwerbstätigkeit
Einkommensschwächstes Fünftel
Renten und Sozialleistungen
Mittelstand
Einkommensstärkstes Fünftel
Quellen: BFS, UBS
Tiefste Einkommen verzeichneten
höchste Reallohnsteigerung
Veränderung verfügbares Realeinkommen für verschiedene
Einkommensschichten in der Schweiz von 1998 bis 2013, in Prozent
40 Prozent
35
30
25
20
15
10
5
0
Unterste
10 %
Durchschnitt
Oberste
10 %
Quellen: Avenir Suisse, UBS
SP: Klassenkampf statt Mittelstand?
Andere Politiker hingegen lehnen den
Begriff mangels Aussagekraft oder
wegen seiner Historie ab: «Der Mittel­
stand ist längst zum beliebigen politi­
schen Kampfbegriff geworden», sagt
FDP­Ständerat Andrea Caroni. Und SP­
Nationalrat Cédric Wermuth erinnert
daran, dass er einst von Bürgerlichen
in die Debatte eingeführt worden sei,
um einen Keil zwischen die Lohnab­
hängigen zu treiben. «Im Abstimmungs­
kampf zur USR III gelang es uns, den
Begriff Mittelstand mit klassenkämpfe­
rischem Jargon zu vermengen», freut
sich Wermuth. Trotzdem könne das
kein langfristiges Konzept für die Partei
sein, weil die SP für die ganze arbeits­
leistende Bevölkerung da sein müsse.
«Wir dürften ruhig auch mal wieder von
Schichten und Klassen sprechen.»
Klar ist: Spätestens bei der Neuaufla­
ge der Unternehmenssteuerreform wird
man erneut um den Mittelstand buhlen.
Mieten und Krankenkassenprämien
fressen Lohnerhöhungen weg
Veränderung der verfügbaren Einkommen von 2000 bis 2014
nach Abzug der Mietkosten und Krankenkassenprämien
pro Monat nach Einkommensklassen, in Franken
1740.–
Alleinstehende
Verheiratete mit 2 Kindern
– 40.– 40.–
Unterste 10 %
60.–
2750.–
320.–
Mittlere Löhne
Quelle: Berechnungen SGB, Grafik: Südostschweiz
940.–
490.–
Oberste 10 %
Oberstes 1 %