R. Ahrens ua (Hrsg.): Die „Deutschland AG“ - H-Soz-Kult

R. Ahrens u.a. (Hrsg.): Die „Deutschland AG“
2017-1-117
Ahrens, Ralf; Gehlen, Boris; Reckendrees, Alfred (Hrsg.): Die „Deutschland AG“. Historische
Annäherungen an den bundesdeutschen Kapitalismus. Essen: Klartext Verlag 2013. ISBN: 978-38375-0986-1; 377 S.
Aber wie erforscht man eigentlich einen solchen epochenprägenden polit-ökonomischen
Paradigmenwechsel konkret? Auf diese Frage bieten die Herausgeber Ralf Ahrens, Boris Gehlen und Alfred Reckendrees eine überzeugende Antwort, indem sie mit der Historisierung der „Deutschland AG“ einen analytischen und empirischen Fokus anbieten, der
es erlaubt, etablierte „makrohistorische Strukturbeschreibungen“ mit unternehmenshistorischer Expertise zu verbinden.
Der Metapher „Deutschland AG“ mutet zunächst wenig wissenschaftlich an. Und in der
Tat wurde der Begriff ab Ende der 1990erJahre meist pejorativ popularisiert: Unter
„Deutschland AG“ wurde eine reformfeindliche korporatistische Struktur der deutschen
Wirtschaft und insbesondere die enge Verflechtung der „Altherrenriege“2 in den Aufsichtsräten deutscher Unternehmen verstanden. Gleichzeitig verweist der Begriff aber
auch auf einen wichtigen und bisher vernachlässigten historischen Forschungsgegenstand. Denn „Deutschland AG“ bezeichnet
ein zentrales Strukturelement der deutschen
Wirtschaft und der politischen Ökonomie der
Bundesrepublik, nämlich eine „historisch gewachsene Verflechtungsstruktur“, die charakterisiert ist durch: „die wechselseitigen großen Kapitalbeteiligungen – nicht selten Sperrminoritäten – von Banken, Versicherungen,
Industrie und Handel, die Personalverflechtungen in den Aufsichtsräten und die Finanzierung der Großunternehmen durch langfristige Bankkredite“ (S. 7). Aus wirtschaftshistorischer Sicht bezeichnet „Deutschland
AG“ also eine spezifische Form der Unternehmenskontrolle, ein Netzwerk aus Personen und Kapitalbeteiligungen, das im Vergleich zum angloamerikanischen Modell entschleunigend und risikomindernd wirkte. In
diesem Sinne war diese Verflechtungsstruk-
Rezensiert von: Bernhard Dietz, Neueste
Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität
Mainz / Georgetown University, Washington
D.C.
Der Perspektivwechsel der Zeitgeschichte zu
einer Vorgeschichte der Gegenwart wurde
nicht allein von der globalen Finanzkrise von
2007/2008 ausgelöst, von dieser aber erheblich verstärkt. Seither wird intensiv nach den
tieferen Ursachen und Auswirkungen jenes
„Strukturbruchs“ geforscht, der die unsere
Gegenwart prägenden Veränderungen einleitete. Eine schnell wachsende Zahl von Veröffentlichungen zu den 1970er- und 1980erJahren als Umbruchphase widmet sich dabei ganz explizit sozio-ökonomischen Problemen, um die Zeit „nach dem Boom“ zu erforschen.1 Ob man schon von einem neuen Primat der Ökonomie sprechen kann, sei
dahingestellt, jedenfalls genießen wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen – in der Geschichtswissenschaft, aber auch in der breiteren Öffentlichkeit – eine so große Aufmerksamkeit wie schon lange nicht mehr. Umso interessanter sind in diesem Zusammenhang die einschlägigen Forschungen der Wirtschaftsgeschichte im engeren Sinne wie der
hier zu besprechende Sammelband, der auf
eine gemeinsame Tagung des Arbeitskreises
für Kritische Unternehmens- und Industriegeschichte (AKKU) und des Zentrums für
Zeithistorische Forschung Potsdam im November 2011 in Potsdam zurückgeht.
Nach dem gängigen zeitgeschichtlichen
Narrativ löste sich die keynesianisch geprägte Nachkriegsordnung in den 1970er-Jahren
auf, die Zeit des Booms war ebenso zu Ende
wie die Zeit der liberal-wohlfahrtsstaatlichen
Konsensideologie. Die neuen Ordnungsvorstellungen und das neue sozio-ökonomische
Regime, das sich in den 1980er-Jahren etablierte und in den 1990er-Jahren zum vollen
Durchbruch gelang, werden gemeinhin mit
den Begriffen „Neoliberalismus“ oder „digitaler Finanzmarktkapitalismus“ beschrieben.
1 Anselm
Doering-Manteuffel / Lutz Raphael / Thomas
Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016; Morten Reitmayer / Thomas Schlemmer
(Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in
Westeuropa nach dem Boom, München 2014; Anselm
Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom.
Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 2. überarb. Aufl. Göttingen 2010 (1. Aufl. 2008).
2 Arne Stuhr, Die Deutschland AG, in: Manager Magazin, 16.11.2001.
© H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved.
tur ein zentrales Element jener koordinierten Wirtschaftsordnung, die besonders für die
Zeit von 1960 bis 1990 prägend war und als
„rheinischer Kapitalismus“ bekannt geworden ist.3
Allerdings war die „Deutschland AG“ – das
machen die Herausgeber mehrfach deutlich –
„kein Produkt eines Masterplans“ (S. 38), sondern „das Ergebnis institutioneller Pfadabhängigkeiten und historisch kontingenter, ja
bisweilen zufälliger Entscheidungen in und
von Unternehmen, die weit überwiegend einer betriebswirtschaftlichen Eigenlogik und
nicht einer gesamtwirtschaftlichen Verantwortungslogik entsprungen waren“ (S. 23).
Man muss die „Deutschland AG“ also historisch verstehen und dieses Programm wird in
dem Band in drei Schritten angegangen: in
der ersten Sektion „Strukturen, Modell und
historische Wurzeln“ widmen sich die Beiträge von Jürgen Beyer, Alfred Reckendrees, Karoline Krenn und Roman Köster den spezifischen Strukturelementen der „Deutschland
AG“ und ihrer historischen Genese seit dem
19. Jahrhundert. In der zweiten Sektion „Unternehmenskontrolle in der Bundesrepublik“
analysieren die Beiträge von Gerold Ambrosius, Boris Gehlen, Ralf Ahrens, Friederike Sattler und Christian Marz die Hochphase der
„Deutschland AG“. Nach Aufstieg und Blüte
folgt Niedergang und so ergründen die vier
Beiträge der dritten Sektion von Peter Kramper, Heiko Braun, Saskia Freye und Jörg Lesczenski: „Alternative Arrangements und Auflösung der Deutschland AG“.
Die Beiträge sind allesamt lesenswert und
auch wenn der Band keine Synthese anbietet,
ergeben die Einzelteile ein Gesamtbild, gerade weil sich die Beiträge zur Makroebene der
ökonomischen Leitvorstellungen mit solchen
zur Mikroebene von Beispiel-Unternehmen
gut ergänzen. Dass aber auch die unternehmenshistorischen Fallbeispiele nicht nur für
Wirtschaftshistoriker relevant, sondern auch
für Allgemeinhistoriker von großer Bedeutung sind, lässt sich exemplarisch am instruktiven Beitrag von Friederike Sattler zu Alfred Herrhausen demonstrieren. Herrhausen
– seit 1970 im Vorstand der Deutschen Bank
und ab 1985 Vorstandssprecher – avancierte durch seine vielen Aufsichtsratmandate in
der Industrie zur „herausragenden Symbolfi-
gur“ (S. 222) der „Deutschland AG“ und insbesondere für die von der Öffentlichkeit immer kritischer gesehene „Macht der Banken“.
Die Pointe von Sattlers Aufsatz liegt nun darin, dass Herrhausen die Verflechtung zwischen Großbanken und Industrie aufrechterhalten wollte und gegen lautstarke Kritik
verteidigte, gerade weil er in ihr eine Chance sah, die Internationalisierung und den damit verbundenen härteren Konkurrenzkampf
besser meistern zu können. Die Banken könnten auch ohne Industriebeteiligungen leben
und sich stärker dem internationalen, kapitalmaktorientierten Investmentbanking widmen, aber auf den „Luxus“ des kompetenten Sachverstand durch Bankiers in den Aufsichtsräten der Industrie solle man besser
nicht verzichten, so Herrhausen. Nun soll sicher nicht der Eindruck erweckt werden, die
deutsche Öffentlichkeit und Politik habe die
Deutsche Bank vom (industriellen) Hof gejagt
und zum internationalen Investmentbanking
geradezu gezwungen, aber das Beispiel zeigt
eindrücklich, dass die hier beschriebenen historischen Wandlungsprozesse viel komplexer
waren, als es Formeln vom „Siegeszug des
Neoliberalismus“ suggerieren. Die „Deutschland AG“ ist nicht geplant entstanden, die genauen Umstände ihres Untergangs gilt es erst
noch zu erforschen, aber schon jetzt zeigt sich,
dass sie mehr und andere Gegner hatte, als
sich so mancher Nostalgiker heute vorstellen
möchte.
Es sollte deutlich geworden sein, dass es
sich hier alles in allem um einen sehr gelungenen Sammelband handelt, der für jeden Zeithistoriker von Bedeutung ist, der sich
mit sozio-ökonomischem Wandel in Deutschland beschäftigt. Die Herausgeber haben ein
grundlegendes Buch vorgelegt, das weitere
Forschungen anregen wird, und auch die (gerade bei Sammelbänden selten einfache) Frage des Titelbilds haben sie äußerst anschaulich gelöst.
HistLit 2017-1-117 / Bernhard Dietz über Ahrens, Ralf; Gehlen, Boris; Reckendrees, Alfred
(Hrsg.): Die „Deutschland AG“. Historische Annäherungen an den bundesdeutschen Kapitalis3 Hans
Günter Hockerts / Günther Schulz (Hrsg.), Der
„Rheinische Kapitalismus“ in der Ära Adenauer, Paderborn 2016.
© H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved.
R. Ahrens u.a. (Hrsg.): Die „Deutschland AG“
mus. Essen 2013, in: H-Soz-Kult 16.02.2017.
© H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved.
2017-1-117