SWR2 Musikstunde

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SWR2 MANUSKRIPT
SWR2 Musikstunde
Prag, Musikstadt mit Moldau (5)
Mit Jörg Lengersdorf
Sendung: 17. Februar 2017
Redaktion: Dr. Ulla Zierau
Produktion: SWR 2013 / 2017
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Prag, Musikstadt mit Moldau mit Jörg Lengersdorf
Noch einmal habe ich mich an diesem Morgen, meinem letzten Morgen in Prag, zum
Altstädter Ring begeben. Staromejestske namjesti – ein Zungenbrecher. Gottseidank
muss kein Tourist nach dem Weg fragen, ich auch nicht – man geht dahin, wo die
anderen hingehen. Der Altstädter Ring, kurz „Staromak“ ist sozusagen der
Markusplatz von Prag. Morgens servieren die Strassencafes überteuertes Frühstück,
abends überteuertes Pils.
Die Nachfrage ist zu jeder Tageszeit riesig, das Angebot auch.
Im Haus an einer Ecke des Platzes, wo Bedrich Smetana seine erste Musikschule
gegründet hatte, ist heute ein Hotel untergebracht. Zwischen Cappucino und Sekt
kann man die Gedenktafel studieren. Oder man lässt sich weitertreiben, über
Nebenstrassen und Hinterhöfe zur Kirche St. Jakob, einer Kirche von unzähligen in
Prag, weit weniger beeindrucked von außen als so viele andere, aber mit einer
berühmten Barockorgel. Sankt Jakob lockt mit Konzertplakaten. Morgen Dvorak,
Ravel und Charpentier mit Kammerorchester… heute abend ein Orgelkonzert…wer
sagts denn…Ich unterschreite die wunderschön riesigen Stuckbilder von Heiligen an
der Frontseite der Kirche und gehe hinein. Mit meinem Mobiltelefon versuche ich, die
tatsächlich atemberaubend schön dekorierte Orgel zu fotografieren. Unscharf,
schade.
Egal, jemand spielt.
Musik 1, 2.25min
Czernohorsky, Bohuslav
Toccata C-dur
Solist: Cerný, Pavel {Orgel}
Labelcode: Z0659
Labelname: LB Lindenberg Productions, Bestellnummer: LBCD71/74
Pavel Cerny, Orgel, mit einer Toccata von Bohuslav Cernohorsky.
Dieser Cernohorsky war Ordensbruder der Minoriten in St. Jakob hier unweit des
Altstädter Rings. Ein Priester und Organist. Seine Biografie ist schwer
rekonstruierbar, es scheint, dass Cernohorsky 1710 auf eigene Faust nach Italien
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ging, überhaupt ist er mehrmals als ein eher ungehorsamer Ordensbruder
aufgefallen.
So verweigerte er nach seiner Rückkunft den Prager Minoriten das familiäre Erbe,
das den Brüdern eigentlich zufallen hätte müssen.
Cernohorskys Mönchskollegen waren nicht amüsiert.
Am Ende nahm man ihm alle Priviligien des Ordenspriesters ab, man wollte ihn
sogar in Prag nicht mehr sehen., Cernohorsky starb verbittert in Graz.
Kurz vor seinem Lebensende schrieb er im Exil, ihm sei durch die offene Brust das
Herz herausgerissen worden, und ohne Herz könne man nicht leben….
Kühl ist es und angenehm menschenleer in der St. Jakobuskirche jenseits des
Altstädter Rings. Wieder draußen, erspähe ich am Ende der nächsten Straße einen
der beiden scharfkantigen Türme der Teynkirche, die ich gestern besucht habe. Hier
soll Bohuslav Cernohorsky ebenfalls die Orgel geschlagen haben, hier hat er einen
Chor geleitet, in dem möglicherweise auch Christoph Willibald Gluck als junger Mann
mitgesungen hat.
Aber Glucks Biografie ist nicht immer ganz verlässlich, daran erinnert mich das
Büchlein des Musikwissenschaftlers Wolfgang Dömling, dass mich auf dieser Reise
begleitet.
Ich lasse also Gluck Gluck sein für heute und suche die Wohnung des gänzlich
anderen Prager Musikers Jaroslav Jezek…
Musik 2, 2.43min
Jezek, Jaroslav
Bugatti step
Darek-Ensemble
Labelcode: 08744, Labelname: DA Records, Verlag: Doblinger
Bestellnummer: 73027
M9009663 001
Tanztee mit Jazzband, Das klingt nach Federboas, Zigarettenspitzen und Bubikopf,
nach Knickerbocker und Schiebermütze, nach Topfhut und Flapperlook.
Die 20er Jahre, in Prag ebenso golden wie in Berlin oder beim großen Gasby in New
York, vielleicht noch ein bisschen goldener, denn Prag war ja von jeher die goldene
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Stadt. Und ein König der Roaring Music der Roaring Twenties war der Prager
Komponist Jaroslav Jezek, der unweit des Altstädter Rings in einer Wohnung in der
Kaprova wohnte und sicher auch mitunter feierte.
Das war gerade Jezeks“ Bugatti Step“.
Nun konnte Jaroslav Jezek sicher auch ganz anders, er war, wenn man so will, ein
musikalischer „Enkel“ Antonin Dvoraks, hatte bei dessen Schwiegersohn Josef Suk
Komposition studiert. Jezeks Leidenschaft galt aber Dada und Futurismus. Er
musizierte im legendären „Befreiten Theater“ in Prag und provozierte dort mit den
Kollegen von der experimentellen Theaterfront die konservativen Sittenwächter. 1939
floh Jezek vor den Nazis in die USA.
Heute ist direkt neben seiner ehemaligen Wohnung die Filiale einer weltberühmten
Geflügelfrittierkette aus Kentucky. Kulturaustausch ist eine wechselseitige
Angelegenheit, denke ich.
Ich lasse also den Fritteusenduft der neuen Welt hinter mir und gehe die Kaprova
weiter Richtung Moldau, ein paar Minuten nur, dann erreiche ich am Ufer das
Rudolfinum, ein mächtiges Neorenaissance Gebäude, das heute die Tschechische
Philharmonie beherbergt. Hunderte Musikstudenten träumen möglicherweise täglich
davon, hier einmal auf der Bühne des Dvorak Saals zu konzertieren. Aber erstmal
bleibt den Studenten nur der Blick auf die rückwärtige Fassade. Dem Hintereingang
des Rudolfinums gegenüber liegt das Konservatorium. Aus geöffneten Fenstern hört
man Studenten üben… wer weiß, vielleicht wird ja einer mal berühmt…
Musik 3, 1.50
Bohuslav Martinu
Allegro moderato aus Serenade Nr. 1
Radek Baborak Ensemble
Supraphon su 39982
Bohuslav Martinu, kurzzeitiger Student des Prager Konservatoriums und Komponist
dieses Serenadensatzes, wurde berühmt, ebenso der Kopf des gerade gehörten
Ensembles, Hornist Radek Baborak, Prager Elitestudent und später erster
Solohornist der Tschechischen Philharmonie, der Münchner Philharmoniker und der
Berliner Philharmoniker. Wenn man es so auf den Punkt bringen möchte: der Prager
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Konservatoriumszögling Radek Baborak gilt nicht wenigen Experten derzeit als
bester Hornist der Welt.
Dabei war und ist das Prager Konservatorium, das seinerzeit im zweiten Stock des
Dominikanerklosters in der Prager Altstadt gegründet wurde und inzwischen am
Moldauufer residiert, eine Brutstätte für Superlative und eine der traditionsreichsten
dazu.
Dvorak unterrichtete hier, Josef Suk, Franz Lehar. Dirigentenlegenden wie Rafael
Kubelik, Vaclav Talich oder Karel Ancerl drückten die Studierbank, die meisten
Aufnahmen tschechischer Provenienz in dieser SWR2 Musikstundenwoche stammen
von Künstlern, die irgendwann hier lernten oder lehrten.
Und neben den Großmeistern gab es hier natürlich auch die Kleinmeister.
Hoffnungsvolle Komponistentalente, vielversprechende Virtuosen, aussichtsreiche
Karrierekandidaten, die trotzdem von der Nachwelt komplett vergessen wurden.
Denn wer kennt schon den Komponisten Karel Kovarovic und seine
Bergmannspolka?
Musik 4, 2.06min
Kovarovic, Karel
Bergmannspolka
Dirigent: Konícek, Stepán
Ensemble: Prager Salonmusik Filmkunst WDR Produktion
Die Prager Salonmusik mit Karel Kovarovics „Bergmannspolka“.
Karel Kovarovic hatte in den 1870er Jahren Harfe, Klavier und Klarinette studiert am
Prager Konservatorium, daneben Komposition bei Zdenek Fibich. Jahrelang hatte er
sein Geld als Harfenist verdient, als Begleiter von Violinvirtuosen auf Tourneen.
Er selbst schrieb 7 Opern, die heute wohl kaum jemand kennt, Kovarovic erlangte
aber immerhin einen Platz in den Fußnoten der Musikgeschichte, weil er Leos
Janaceks Oper „Jenufa“ in die bei der Premiere gespielte Bühnenfassung brachte.
Im Stück, das wir gerade gehört haben, in dieser „Bergmannspolka“ bedient
Kovarovic nun genau jenes Cliche, das man häufig mit tschechischer Musik in
Verbindung bringt: volkstümlich.
Der einfache „böhmische Musikant“ ist sprichwörtlich geworden.
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Dvorak nannte sich so, vielleicht auch, um Smetana zu ärgern, der diesen
Gemeinplatz eigentlich hasste.
Trotzdem bedient ja auch die Musikstunde in dieser Woche die Erwartungen an
böhmische Musik: ein Nest von Ohrwürmern.
Darüber vergisst man leicht: einer der unterschätztesten musikalischen Neuerer des
20sten Jhds hatte auch am Prager Konservatorium studiert.
Alois Haba wurde ein Pionier der Vierteltonmusik…
Musik 5, 2.13min
Hába, Alois (21.06.1893-18.11.1973) Tschechoslowakei; Mähren
Suite Nr 1, op 24 (für Klarinette und Klavier) {im Vierteltonsystem}
Presto
Etlík, Milan {Klarinette}
Koula, Vladimír {Klavier}
Labelcode: 00358, Labelname: SUPRAPHON, Bestellnummer: 111865-2913
1947924 009
Nein, ein normales Klavier klingt natürlich nicht so, ein im Sinne des Erfinders
„verstimmtes“ Klavier schon. Das war Pianist Vladimir Koula an einem im
Vierteltonsystem gestimmten Klavier, alle Tonschritte sind verkleinert, alles wirkt
verrutscht, verrückt im Sinne des Wortes. Die springenden Intervalle der Klarinette,
gespielt von Milan Etlik, wirken stabiler als das harmonische Gerüst.
Alois Haba, Erweiterer des traditionellen Tonsystems, hatte vor allem durch die
Förderung von Josef Suk freie Bahn, als er 1924 am Prager Konservatorium eine
Abteilung für mikrotonale Musik gründete.
Nun verweist die Geschichte dieses Instituts auch auf das tragischste Kapitel der
neueren tschechischen Musikgeschichte. Zeitzeugen der kulturellen Prager
Katastrophe ab 1939 wurden zwei Schüler Alois Habas: Gideon Klein und Viktor
Ullmann.
Die Kompositionsstudenten des Prager Instituts für Mikrotonale Musik wurden von
den Nazis zusammen mit den Komponisten Hans Krasa, Pavel Haas und dem
Dirigenten Karel Ancerl im nördlich von Prag gelegenen Lager Theresienstadt
interniert. Klein und Ullmann wurden zu herausragenden Figuren des zum Schein
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von den Nazis auch noch geförderten kulturellen Lebens im Lager. Theresienstadt,
das nominale Ghetto und Durchgangslager, in welchem die Nationalsozialisten ein
funktionierendes soziales Leben zynisch fingierten, blieb für Beide wie für tausende
andere nur Zwischenstation. Klein und Ullmann wurden später weiter nach Auschwitz
gebracht. Gideon Klein starb kurz vor Kriegsende dort in den Kohlengruben, Viktor
Ullmann wurde 1944 in den Gaskammern ermordet.
Musik 6, 2.39
Ullmann, Viktor
6 Sonette, op. 34 (für 1 Singstimme und Klavier)
On voit mourir
Otter, Anne Sofie von / Forsberg, Bengt
Labelcode: 00173, Labelname: Deutsche Grammophon,
Bestellnummer: 4776546
Anne Sofie von Otter und Bengt Forsberg mit „On voit mourir toute chose anime“ –
man sieht alles Belebte sterben.
Ein Stück, das der in Theresienstadt internierte und später in Auschwitz ermordete
Komponist Viktor Ullmann 1941 geschrieben hat, kurz vor seiner Deportation.
Von der zeitweiligen Ausbildungsstätte Viktor Ullmanns, dem Prager Konservatorium,
bin ich inzwischen, an diesem Julimorgen 2013, etwa 100 Meter Flussaufwärts
entlang der Moldau gegangen und steh nun vor der mächtigen Fassade des Ende
des 19 Jhds erbauten Rudolfinums.
Zwei Monate nach der Okkupation Tschechiens durch die Nazis hatte
Dirigentlegende Vaclav Talich hier die erste Ausgabe eines Musikfestivals aus der
Taufe gehoben.
Der Prager musikalische Mai 1939 wurde zu einem nationalen Symbol, zumindest in
musikalischer Hinsicht.
Zitat Talich damals: „Was sonst soll unser Rückgrat stärken, wenn nicht die Musik?
Heute haben wir mehr als je die Pflicht, uns zu beweisen, dass wir bereit sind,
unserer Bildungsgemeinschaft jedes Opfer zu bringen…“
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Talich dirigierte damals bewusst tschechische Musik, „Mein Vaterland“, vom
böhmischen Nationalkomponisten Smetana, jenes Werk, das mit der „Moldau“ noch
immer die heimliche Prager Hymne enthielt.
Nach dem letzten Ton brandete der Applaus auf, und in den Applaus sang Vaclav
Talich die tschechische Hymne…das Publikum sang 1939 mit…
Musik 7, 1.30
Tschechische Hymne
Publikum im Rudolfinum singt am 5. Juni 1939
Aufnahme rekonstruiert nach Originalband vom norwegischen Rundfunk
Vaclav Talich
Supraphon SU 40652, LC00358
Wo ist mein Heim?
Mein Vaterland?
Wo durch Wiesen Bäche brausen,
Wo auf Felsen Wälder sausen,
Wo ein Eden uns entzückt,
Wenn der Lenz die Flure schmückt:
Dieses Land, so schön vor allen,
Böhmen ist mein Heimatland.
Böhmen ist mein Heimatland
So sang das Publikum an jenem 5. Juni 1939 bei der ersten Auflage des
musikalischen Mai in Prag die Hymne, Vaclav Talich, der Dirigent, stand auf der
Bühne. Kurz zuvor hatten die Deutschen das Land zum Protektorat gemacht.
Nach dem Krieg wurde eben jener Vaclav Talich wegen angeblicher Kooperation mit
den Deutschen inhaftiert. Nach massiven Künstlerprotesten wurde er bald darauf
wieder entlassen. Warum es genau zur Verhaftung von Talich kam, ist nie ganz
geklärt worden, spekuliert wurde sogar über eine Eifersuchtsgeschichte zwischen
Talich und dem ersten Kultusminister der Nachkriegszeit.
All das ist nachzulesen in der Dokumentation dieser gerade gehörten Aufnahme, die
erst 2011 wiederveröffentlicht wurde.
Man darf Talichs Engagement 1939 für einen ersten Prager musikalischen Mai als
geistige Geburtsstunde werten, für jenes Festival mit Weltrang, das nach dem Krieg
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in Prag Jahr für Jahr für künstlerische Höchstleistungen sorgte. Seit 1946 wurde
jeweils an Smetanas Todestag das Festival „Prager Frühling“ eröffnet.
Im Prager Rudolfinum kam es zu legendären Auftritten, zum Beispiel 1957. Dietrich
Fischer Dieskau und Günther Weißenborn gaben Schumanns Dichterliebe live vorm
Prager Publikum.
Musik 8, 2:18
Schumann, Robert
„aus alten Märchen“ – Dichterliebe op. 48
Dietrich Fischer Dieskau, Günther Weissenborn
Supraphon 111183 2901, vergriffen, LC 00358
Auch das ist Prager Musikgeschichte. Dietrich Fischer Dieskau und Günther
Weissenborn standen im Mai 1957 auf der Bühne des Prager Rudolfinums in Robert
Schumanns „Dichterliebe“.
Seit 1946 setzt dieses Festival internationale Maßstäbe, kaum ein Künstler von Rang
und Namen wäre nicht hier aufgetreten.
Und die Wichtigkeit dieses Festivals wird auch von einer historischen Randnotiz
unterstrichen:
Der politische „Prager Frühling“, jener Nachkriegsversuch eines tschechischen
Sozialismus mit menschlichem Antlitz, der 1968 von der sowjetischen roten Armee
brutal niedergeschlagen wurde, verdankt seinen Namen auch dem Festival.
Mit dem Rudolfinum im Rücken habe ich nunmehr den Vorsatz gefasst, mich von der
Prager Gegenwart zu verabschieden.
Mein letzter Weg in dieser Musikstadt soll mich zum Mythos Prag führen. Weit
Laufen muss ich dafür zunächst mal nicht.
Ein Mythos blickt mich bereits finster an von der Karosserie eines Imbisswagens,
denn dieser Imbisswagen für koschere Speisen ist bemalt. Auf dem Bild: eine
jüdische Familie beim Essen, dahinter ein grinsender Mann aus Lehm, riesenhaft, mit
einem Tablett in der Hand.
Beim Partyservice Solomon, der vor der Synagoge am jüdischen Friedhof parkt,
serviert angeblich eine Prager Legende schlechthin: der tönerne Mann, geschaffen
aus Erde, Wasser, Feuer und Luft: der Golem persönlich.
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Musik 9, 4.07 ausblenden mit Schlussakord
Nicolae Bretan
Ouvertüre zum Einakter „Der Golem“
Philharmonic Orchestra Moldova, Leitung: Cristian Mandeal
Nimbus Records NI5424, LC 05871
Philharmonie Moldavien unter Cristian Mandeal mit der Ouvertüre zu Nicolae Bretans
Oper “Der Golem”
Nun wird mir der Golem heute nicht mehr über den Weg laufen, aber er gehört zu
Prag wie der liebe Augustin zu Wien oder Tünnes und Schääl zu Köln.
Der Legende nach wurde der bärenstarke Golem vom Prager Rabbiner und
Philosophen Yehuda Löw im 16. Jhd aus Lehm erschaffen, um die Prager jüdische
Gemeinde vor antisemitischen Übergriffen zu schützen. Moldauwasser, Lehm aus
einer Tongrube am Ufer, Prager Wind und Feuer der Leidenschaft, aus diesen
Zutaten entstand das künstliche Geschöpf unter den Händen von Rabbi Löw.
Zum Leben erweckt wurde der Golem aber erste durch das Wort Gottes, respektive
das Wort „Gott“.
Prag ist und war die Welthauptstadt kabbalistischer Geheimlehren: ein Zettel mit dem
Namen Gottes wird dem Klumpenmann unter die Zunge gelegt, worauf er seinem
Herrn nunmehr höchst lebendig zu Diensten ist.
In verschiedenen Varianten der Geschichte läuft nun der Golem Amok, worauf Rabbi
Löw sein Geschöpf wieder zerstören muss, indem er die Rituale der Erschaffung in
rückwärtiger Reihenfolge vollzieht.
Zu Staub zerfällt der Golem schließlich auf dem Dachboden der Prager
Altneusynagoge – bezeichnenderweise genau dort, wo heute der Imbisswagen mit
dem Bild vom grinsenden Golem parkt.
Musik 10, 0.45
Trad.: Hussitenlied
„Steh auf, große Prager Stadt“
Philharmonischer Chor Prag
Supraphon „The oldest monuments of Czech Music“, LC 00358
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„Steh auf, steh auf grosse Prager Stadt,
das ganze Reich ist treu diesem tschechischen Lande,
das ritterliche Geschlecht sowie alle irdische Macht.“
Ein musikalischer Griff weit in die Vergangenheit Prags.
Wohl im 15. Jhd entstand dieses Hussitenlied, ein Kampflied in religiösen Konflikten,
möglicherweise hat Jan Hus, der Reformer, den Text noch selbst verfasst. Jener
Prager Jan Hus, der 1415 als Häretiker verbrannt wurde, weil er gegen die
Ablasspraktiken gepredigt hatte, und der bis heute wie kaum ein anderer als
tschechische Integrationsfigur gilt.
In den nationalpatriotischen böhmischen Werken der Romantik werden die
sogenannten Hussitenlieder immer wieder zitiert, in Smetanas Zyklus „Mein
Vaterland“ an gleich mehreren Stellen.
Und nun stehe ich kurz vor Ende meiner Prager Reise weit über der Stadt, auf jenem
Hügel, auf den die böhmische Nationalbewegung der Romantik ihre Mythen
projizierte: Vyseherad. Der Legende nach kam hier Libussa zur Welt, eine Art Mutter
aller Prager Mythen.
Die Gründerin der Stadt Prag.
Eine zaubermächtige Fürstentochter, die ihren Schimmel reiterlos auf die Suche
nach einem Bräutigam schickt: der Schimmel kehrt zurück mit einem einfachen
Bauernjungen. Und wie es der Mythos will: Fürstentochter Libussa und
Bauernbursch Primislas begründen ein großes böhmisches Herrschergeschlecht…
Musik 11, 2.43min
Smetana, Bedrich
Libussas Gericht
Tschechoslowakisches Rundfunk-Sinfonieorchester Bratislava
Dirigent: Stankovsky, Robert
Labelcode: 09158, Labelname: Marco Polo
Bestellnummer: 8.223705
Das tschechoslowakische Rundfunkorchester Böhmen unter Robert Stankovski mit
„Libussas Gericht“ von Bedrich Smetana.
Der Sage nach war die Wahrsagerin Libussa die Tochter des Fürsten Krok, der auf
dem legendenumwehten Hügel Vyseherad oberhalb der Moldau residierte.
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Unten im Tal lebten die Menschen in Sünde, und um das Volk vor einer Seuche zu
retten, die der Himmel geschickt hatte, gründete diese Libusse mit ihrem Mann, dem
Bauern Primislas, der den ganzen Tag die Felder pflügte, die Stadt Prag.
Auch der Name der Stadt Prag geht auf diese Legende zurück:
Angeblich schickte Libussa einige Männer in den Wald am Ufer der Moldau, um aus
einem Baum eine Türschwelle zu schlagen.
Das tschechische Wort für Türschwelle ist „Prah“.
An der Stelle des geschlagenen Baumes liegt der mythologische Grundstein der
goldenen Stadt: „Praha“, Prag.
Ich stehe am Ende meiner Reise nunmehr neben der Skulptur, welche die
Stadtgründer Libussa und Primislas zeigt, im Park auf dem Vyseherad.
Hier auf diesem Hügel, auf dem vor langer Zeit eine frühmittelalterliche
Festungsanlage über der Moldau thronte.
Hier erdichtete sich die böhmische Nationalbewegung ihre großen Erzählungen.
Und hier oben, auf dem Vyseherader Friedhof, liegen auch die großen Namen der
Prager Musikgeschichte:
Dvorak, Suk, Fibich, Ondriczek, Ancerl, Kubelik, Smetacek, Destinnova…und
natürlich Bedrich Smetana.
Es ist ruhig hier oben… die ruhigsten Minuten seit meiner Ankunft in Prag. Ich habe
noch viel Zeit. Also gehe ich durch den Park noch zu einer kleinen Aussichtsplattform
am Rande der Befestigungsanlage.
Da unten ist die Stadt. Da unten ist die Moldau.
Musik 12, auf Schluss setzen, 9:00
Bedrich Smetana
Die Moldau
Leipziger Gewandhaus / Leitung: Vaclav Neumann
Edel Classics LC00549
M9040208 001
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Anmerkung des Autors:
Die Idee zu dieser Sendung entstand, als ich in einem Düsseldorfer Antiquariat an einem Nachmittag
dieses Jahres sowohl die 800 Seiten starke Autobiografie des Prager Komponisten Josef Bohuslav
Foerster entdeckte, als auch ein kleines Bändchen mit dem Titel „Spaziergänge durch das
musikalische Prag“.
Das hervorragende Buch des Musikwissenschaftlers Wolfgang Dömling ist neu meines Wissens nicht
mehr erhältlich, aber nach kurzer Internetrecherche findet sich meist der ein oder andere Händler, der
das Buch noch verfügbar hat.
Vieles in Prag hat sich seit Erscheinen des Buches geändert, manches ist kaum wiederzuerkennen,
aber als Ausgangspunkt für eine Spurensuche wurde das Buch auf den Spaziergängen unentbehrlich.