1 SWR2 MANUSKRIPT SWR2 Musikstunde Prag, Musikstadt mit Moldau (5) Mit Jörg Lengersdorf Sendung: 17. Februar 2017 Redaktion: Dr. Ulla Zierau Produktion: SWR 2013 / 2017 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Musikstunde können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de 2 Prag, Musikstadt mit Moldau mit Jörg Lengersdorf Noch einmal habe ich mich an diesem Morgen, meinem letzten Morgen in Prag, zum Altstädter Ring begeben. Staromejestske namjesti – ein Zungenbrecher. Gottseidank muss kein Tourist nach dem Weg fragen, ich auch nicht – man geht dahin, wo die anderen hingehen. Der Altstädter Ring, kurz „Staromak“ ist sozusagen der Markusplatz von Prag. Morgens servieren die Strassencafes überteuertes Frühstück, abends überteuertes Pils. Die Nachfrage ist zu jeder Tageszeit riesig, das Angebot auch. Im Haus an einer Ecke des Platzes, wo Bedrich Smetana seine erste Musikschule gegründet hatte, ist heute ein Hotel untergebracht. Zwischen Cappucino und Sekt kann man die Gedenktafel studieren. Oder man lässt sich weitertreiben, über Nebenstrassen und Hinterhöfe zur Kirche St. Jakob, einer Kirche von unzähligen in Prag, weit weniger beeindrucked von außen als so viele andere, aber mit einer berühmten Barockorgel. Sankt Jakob lockt mit Konzertplakaten. Morgen Dvorak, Ravel und Charpentier mit Kammerorchester… heute abend ein Orgelkonzert…wer sagts denn…Ich unterschreite die wunderschön riesigen Stuckbilder von Heiligen an der Frontseite der Kirche und gehe hinein. Mit meinem Mobiltelefon versuche ich, die tatsächlich atemberaubend schön dekorierte Orgel zu fotografieren. Unscharf, schade. Egal, jemand spielt. Musik 1, 2.25min Czernohorsky, Bohuslav Toccata C-dur Solist: Cerný, Pavel {Orgel} Labelcode: Z0659 Labelname: LB Lindenberg Productions, Bestellnummer: LBCD71/74 Pavel Cerny, Orgel, mit einer Toccata von Bohuslav Cernohorsky. Dieser Cernohorsky war Ordensbruder der Minoriten in St. Jakob hier unweit des Altstädter Rings. Ein Priester und Organist. Seine Biografie ist schwer rekonstruierbar, es scheint, dass Cernohorsky 1710 auf eigene Faust nach Italien 3 ging, überhaupt ist er mehrmals als ein eher ungehorsamer Ordensbruder aufgefallen. So verweigerte er nach seiner Rückkunft den Prager Minoriten das familiäre Erbe, das den Brüdern eigentlich zufallen hätte müssen. Cernohorskys Mönchskollegen waren nicht amüsiert. Am Ende nahm man ihm alle Priviligien des Ordenspriesters ab, man wollte ihn sogar in Prag nicht mehr sehen., Cernohorsky starb verbittert in Graz. Kurz vor seinem Lebensende schrieb er im Exil, ihm sei durch die offene Brust das Herz herausgerissen worden, und ohne Herz könne man nicht leben…. Kühl ist es und angenehm menschenleer in der St. Jakobuskirche jenseits des Altstädter Rings. Wieder draußen, erspähe ich am Ende der nächsten Straße einen der beiden scharfkantigen Türme der Teynkirche, die ich gestern besucht habe. Hier soll Bohuslav Cernohorsky ebenfalls die Orgel geschlagen haben, hier hat er einen Chor geleitet, in dem möglicherweise auch Christoph Willibald Gluck als junger Mann mitgesungen hat. Aber Glucks Biografie ist nicht immer ganz verlässlich, daran erinnert mich das Büchlein des Musikwissenschaftlers Wolfgang Dömling, dass mich auf dieser Reise begleitet. Ich lasse also Gluck Gluck sein für heute und suche die Wohnung des gänzlich anderen Prager Musikers Jaroslav Jezek… Musik 2, 2.43min Jezek, Jaroslav Bugatti step Darek-Ensemble Labelcode: 08744, Labelname: DA Records, Verlag: Doblinger Bestellnummer: 73027 M9009663 001 Tanztee mit Jazzband, Das klingt nach Federboas, Zigarettenspitzen und Bubikopf, nach Knickerbocker und Schiebermütze, nach Topfhut und Flapperlook. Die 20er Jahre, in Prag ebenso golden wie in Berlin oder beim großen Gasby in New York, vielleicht noch ein bisschen goldener, denn Prag war ja von jeher die goldene 4 Stadt. Und ein König der Roaring Music der Roaring Twenties war der Prager Komponist Jaroslav Jezek, der unweit des Altstädter Rings in einer Wohnung in der Kaprova wohnte und sicher auch mitunter feierte. Das war gerade Jezeks“ Bugatti Step“. Nun konnte Jaroslav Jezek sicher auch ganz anders, er war, wenn man so will, ein musikalischer „Enkel“ Antonin Dvoraks, hatte bei dessen Schwiegersohn Josef Suk Komposition studiert. Jezeks Leidenschaft galt aber Dada und Futurismus. Er musizierte im legendären „Befreiten Theater“ in Prag und provozierte dort mit den Kollegen von der experimentellen Theaterfront die konservativen Sittenwächter. 1939 floh Jezek vor den Nazis in die USA. Heute ist direkt neben seiner ehemaligen Wohnung die Filiale einer weltberühmten Geflügelfrittierkette aus Kentucky. Kulturaustausch ist eine wechselseitige Angelegenheit, denke ich. Ich lasse also den Fritteusenduft der neuen Welt hinter mir und gehe die Kaprova weiter Richtung Moldau, ein paar Minuten nur, dann erreiche ich am Ufer das Rudolfinum, ein mächtiges Neorenaissance Gebäude, das heute die Tschechische Philharmonie beherbergt. Hunderte Musikstudenten träumen möglicherweise täglich davon, hier einmal auf der Bühne des Dvorak Saals zu konzertieren. Aber erstmal bleibt den Studenten nur der Blick auf die rückwärtige Fassade. Dem Hintereingang des Rudolfinums gegenüber liegt das Konservatorium. Aus geöffneten Fenstern hört man Studenten üben… wer weiß, vielleicht wird ja einer mal berühmt… Musik 3, 1.50 Bohuslav Martinu Allegro moderato aus Serenade Nr. 1 Radek Baborak Ensemble Supraphon su 39982 Bohuslav Martinu, kurzzeitiger Student des Prager Konservatoriums und Komponist dieses Serenadensatzes, wurde berühmt, ebenso der Kopf des gerade gehörten Ensembles, Hornist Radek Baborak, Prager Elitestudent und später erster Solohornist der Tschechischen Philharmonie, der Münchner Philharmoniker und der Berliner Philharmoniker. Wenn man es so auf den Punkt bringen möchte: der Prager 5 Konservatoriumszögling Radek Baborak gilt nicht wenigen Experten derzeit als bester Hornist der Welt. Dabei war und ist das Prager Konservatorium, das seinerzeit im zweiten Stock des Dominikanerklosters in der Prager Altstadt gegründet wurde und inzwischen am Moldauufer residiert, eine Brutstätte für Superlative und eine der traditionsreichsten dazu. Dvorak unterrichtete hier, Josef Suk, Franz Lehar. Dirigentenlegenden wie Rafael Kubelik, Vaclav Talich oder Karel Ancerl drückten die Studierbank, die meisten Aufnahmen tschechischer Provenienz in dieser SWR2 Musikstundenwoche stammen von Künstlern, die irgendwann hier lernten oder lehrten. Und neben den Großmeistern gab es hier natürlich auch die Kleinmeister. Hoffnungsvolle Komponistentalente, vielversprechende Virtuosen, aussichtsreiche Karrierekandidaten, die trotzdem von der Nachwelt komplett vergessen wurden. Denn wer kennt schon den Komponisten Karel Kovarovic und seine Bergmannspolka? Musik 4, 2.06min Kovarovic, Karel Bergmannspolka Dirigent: Konícek, Stepán Ensemble: Prager Salonmusik Filmkunst WDR Produktion Die Prager Salonmusik mit Karel Kovarovics „Bergmannspolka“. Karel Kovarovic hatte in den 1870er Jahren Harfe, Klavier und Klarinette studiert am Prager Konservatorium, daneben Komposition bei Zdenek Fibich. Jahrelang hatte er sein Geld als Harfenist verdient, als Begleiter von Violinvirtuosen auf Tourneen. Er selbst schrieb 7 Opern, die heute wohl kaum jemand kennt, Kovarovic erlangte aber immerhin einen Platz in den Fußnoten der Musikgeschichte, weil er Leos Janaceks Oper „Jenufa“ in die bei der Premiere gespielte Bühnenfassung brachte. Im Stück, das wir gerade gehört haben, in dieser „Bergmannspolka“ bedient Kovarovic nun genau jenes Cliche, das man häufig mit tschechischer Musik in Verbindung bringt: volkstümlich. Der einfache „böhmische Musikant“ ist sprichwörtlich geworden. 6 Dvorak nannte sich so, vielleicht auch, um Smetana zu ärgern, der diesen Gemeinplatz eigentlich hasste. Trotzdem bedient ja auch die Musikstunde in dieser Woche die Erwartungen an böhmische Musik: ein Nest von Ohrwürmern. Darüber vergisst man leicht: einer der unterschätztesten musikalischen Neuerer des 20sten Jhds hatte auch am Prager Konservatorium studiert. Alois Haba wurde ein Pionier der Vierteltonmusik… Musik 5, 2.13min Hába, Alois (21.06.1893-18.11.1973) Tschechoslowakei; Mähren Suite Nr 1, op 24 (für Klarinette und Klavier) {im Vierteltonsystem} Presto Etlík, Milan {Klarinette} Koula, Vladimír {Klavier} Labelcode: 00358, Labelname: SUPRAPHON, Bestellnummer: 111865-2913 1947924 009 Nein, ein normales Klavier klingt natürlich nicht so, ein im Sinne des Erfinders „verstimmtes“ Klavier schon. Das war Pianist Vladimir Koula an einem im Vierteltonsystem gestimmten Klavier, alle Tonschritte sind verkleinert, alles wirkt verrutscht, verrückt im Sinne des Wortes. Die springenden Intervalle der Klarinette, gespielt von Milan Etlik, wirken stabiler als das harmonische Gerüst. Alois Haba, Erweiterer des traditionellen Tonsystems, hatte vor allem durch die Förderung von Josef Suk freie Bahn, als er 1924 am Prager Konservatorium eine Abteilung für mikrotonale Musik gründete. Nun verweist die Geschichte dieses Instituts auch auf das tragischste Kapitel der neueren tschechischen Musikgeschichte. Zeitzeugen der kulturellen Prager Katastrophe ab 1939 wurden zwei Schüler Alois Habas: Gideon Klein und Viktor Ullmann. Die Kompositionsstudenten des Prager Instituts für Mikrotonale Musik wurden von den Nazis zusammen mit den Komponisten Hans Krasa, Pavel Haas und dem Dirigenten Karel Ancerl im nördlich von Prag gelegenen Lager Theresienstadt interniert. Klein und Ullmann wurden zu herausragenden Figuren des zum Schein 7 von den Nazis auch noch geförderten kulturellen Lebens im Lager. Theresienstadt, das nominale Ghetto und Durchgangslager, in welchem die Nationalsozialisten ein funktionierendes soziales Leben zynisch fingierten, blieb für Beide wie für tausende andere nur Zwischenstation. Klein und Ullmann wurden später weiter nach Auschwitz gebracht. Gideon Klein starb kurz vor Kriegsende dort in den Kohlengruben, Viktor Ullmann wurde 1944 in den Gaskammern ermordet. Musik 6, 2.39 Ullmann, Viktor 6 Sonette, op. 34 (für 1 Singstimme und Klavier) On voit mourir Otter, Anne Sofie von / Forsberg, Bengt Labelcode: 00173, Labelname: Deutsche Grammophon, Bestellnummer: 4776546 Anne Sofie von Otter und Bengt Forsberg mit „On voit mourir toute chose anime“ – man sieht alles Belebte sterben. Ein Stück, das der in Theresienstadt internierte und später in Auschwitz ermordete Komponist Viktor Ullmann 1941 geschrieben hat, kurz vor seiner Deportation. Von der zeitweiligen Ausbildungsstätte Viktor Ullmanns, dem Prager Konservatorium, bin ich inzwischen, an diesem Julimorgen 2013, etwa 100 Meter Flussaufwärts entlang der Moldau gegangen und steh nun vor der mächtigen Fassade des Ende des 19 Jhds erbauten Rudolfinums. Zwei Monate nach der Okkupation Tschechiens durch die Nazis hatte Dirigentlegende Vaclav Talich hier die erste Ausgabe eines Musikfestivals aus der Taufe gehoben. Der Prager musikalische Mai 1939 wurde zu einem nationalen Symbol, zumindest in musikalischer Hinsicht. Zitat Talich damals: „Was sonst soll unser Rückgrat stärken, wenn nicht die Musik? Heute haben wir mehr als je die Pflicht, uns zu beweisen, dass wir bereit sind, unserer Bildungsgemeinschaft jedes Opfer zu bringen…“ 8 Talich dirigierte damals bewusst tschechische Musik, „Mein Vaterland“, vom böhmischen Nationalkomponisten Smetana, jenes Werk, das mit der „Moldau“ noch immer die heimliche Prager Hymne enthielt. Nach dem letzten Ton brandete der Applaus auf, und in den Applaus sang Vaclav Talich die tschechische Hymne…das Publikum sang 1939 mit… Musik 7, 1.30 Tschechische Hymne Publikum im Rudolfinum singt am 5. Juni 1939 Aufnahme rekonstruiert nach Originalband vom norwegischen Rundfunk Vaclav Talich Supraphon SU 40652, LC00358 Wo ist mein Heim? Mein Vaterland? Wo durch Wiesen Bäche brausen, Wo auf Felsen Wälder sausen, Wo ein Eden uns entzückt, Wenn der Lenz die Flure schmückt: Dieses Land, so schön vor allen, Böhmen ist mein Heimatland. Böhmen ist mein Heimatland So sang das Publikum an jenem 5. Juni 1939 bei der ersten Auflage des musikalischen Mai in Prag die Hymne, Vaclav Talich, der Dirigent, stand auf der Bühne. Kurz zuvor hatten die Deutschen das Land zum Protektorat gemacht. Nach dem Krieg wurde eben jener Vaclav Talich wegen angeblicher Kooperation mit den Deutschen inhaftiert. Nach massiven Künstlerprotesten wurde er bald darauf wieder entlassen. Warum es genau zur Verhaftung von Talich kam, ist nie ganz geklärt worden, spekuliert wurde sogar über eine Eifersuchtsgeschichte zwischen Talich und dem ersten Kultusminister der Nachkriegszeit. All das ist nachzulesen in der Dokumentation dieser gerade gehörten Aufnahme, die erst 2011 wiederveröffentlicht wurde. Man darf Talichs Engagement 1939 für einen ersten Prager musikalischen Mai als geistige Geburtsstunde werten, für jenes Festival mit Weltrang, das nach dem Krieg 9 in Prag Jahr für Jahr für künstlerische Höchstleistungen sorgte. Seit 1946 wurde jeweils an Smetanas Todestag das Festival „Prager Frühling“ eröffnet. Im Prager Rudolfinum kam es zu legendären Auftritten, zum Beispiel 1957. Dietrich Fischer Dieskau und Günther Weißenborn gaben Schumanns Dichterliebe live vorm Prager Publikum. Musik 8, 2:18 Schumann, Robert „aus alten Märchen“ – Dichterliebe op. 48 Dietrich Fischer Dieskau, Günther Weissenborn Supraphon 111183 2901, vergriffen, LC 00358 Auch das ist Prager Musikgeschichte. Dietrich Fischer Dieskau und Günther Weissenborn standen im Mai 1957 auf der Bühne des Prager Rudolfinums in Robert Schumanns „Dichterliebe“. Seit 1946 setzt dieses Festival internationale Maßstäbe, kaum ein Künstler von Rang und Namen wäre nicht hier aufgetreten. Und die Wichtigkeit dieses Festivals wird auch von einer historischen Randnotiz unterstrichen: Der politische „Prager Frühling“, jener Nachkriegsversuch eines tschechischen Sozialismus mit menschlichem Antlitz, der 1968 von der sowjetischen roten Armee brutal niedergeschlagen wurde, verdankt seinen Namen auch dem Festival. Mit dem Rudolfinum im Rücken habe ich nunmehr den Vorsatz gefasst, mich von der Prager Gegenwart zu verabschieden. Mein letzter Weg in dieser Musikstadt soll mich zum Mythos Prag führen. Weit Laufen muss ich dafür zunächst mal nicht. Ein Mythos blickt mich bereits finster an von der Karosserie eines Imbisswagens, denn dieser Imbisswagen für koschere Speisen ist bemalt. Auf dem Bild: eine jüdische Familie beim Essen, dahinter ein grinsender Mann aus Lehm, riesenhaft, mit einem Tablett in der Hand. Beim Partyservice Solomon, der vor der Synagoge am jüdischen Friedhof parkt, serviert angeblich eine Prager Legende schlechthin: der tönerne Mann, geschaffen aus Erde, Wasser, Feuer und Luft: der Golem persönlich. 10 Musik 9, 4.07 ausblenden mit Schlussakord Nicolae Bretan Ouvertüre zum Einakter „Der Golem“ Philharmonic Orchestra Moldova, Leitung: Cristian Mandeal Nimbus Records NI5424, LC 05871 Philharmonie Moldavien unter Cristian Mandeal mit der Ouvertüre zu Nicolae Bretans Oper “Der Golem” Nun wird mir der Golem heute nicht mehr über den Weg laufen, aber er gehört zu Prag wie der liebe Augustin zu Wien oder Tünnes und Schääl zu Köln. Der Legende nach wurde der bärenstarke Golem vom Prager Rabbiner und Philosophen Yehuda Löw im 16. Jhd aus Lehm erschaffen, um die Prager jüdische Gemeinde vor antisemitischen Übergriffen zu schützen. Moldauwasser, Lehm aus einer Tongrube am Ufer, Prager Wind und Feuer der Leidenschaft, aus diesen Zutaten entstand das künstliche Geschöpf unter den Händen von Rabbi Löw. Zum Leben erweckt wurde der Golem aber erste durch das Wort Gottes, respektive das Wort „Gott“. Prag ist und war die Welthauptstadt kabbalistischer Geheimlehren: ein Zettel mit dem Namen Gottes wird dem Klumpenmann unter die Zunge gelegt, worauf er seinem Herrn nunmehr höchst lebendig zu Diensten ist. In verschiedenen Varianten der Geschichte läuft nun der Golem Amok, worauf Rabbi Löw sein Geschöpf wieder zerstören muss, indem er die Rituale der Erschaffung in rückwärtiger Reihenfolge vollzieht. Zu Staub zerfällt der Golem schließlich auf dem Dachboden der Prager Altneusynagoge – bezeichnenderweise genau dort, wo heute der Imbisswagen mit dem Bild vom grinsenden Golem parkt. Musik 10, 0.45 Trad.: Hussitenlied „Steh auf, große Prager Stadt“ Philharmonischer Chor Prag Supraphon „The oldest monuments of Czech Music“, LC 00358 11 „Steh auf, steh auf grosse Prager Stadt, das ganze Reich ist treu diesem tschechischen Lande, das ritterliche Geschlecht sowie alle irdische Macht.“ Ein musikalischer Griff weit in die Vergangenheit Prags. Wohl im 15. Jhd entstand dieses Hussitenlied, ein Kampflied in religiösen Konflikten, möglicherweise hat Jan Hus, der Reformer, den Text noch selbst verfasst. Jener Prager Jan Hus, der 1415 als Häretiker verbrannt wurde, weil er gegen die Ablasspraktiken gepredigt hatte, und der bis heute wie kaum ein anderer als tschechische Integrationsfigur gilt. In den nationalpatriotischen böhmischen Werken der Romantik werden die sogenannten Hussitenlieder immer wieder zitiert, in Smetanas Zyklus „Mein Vaterland“ an gleich mehreren Stellen. Und nun stehe ich kurz vor Ende meiner Prager Reise weit über der Stadt, auf jenem Hügel, auf den die böhmische Nationalbewegung der Romantik ihre Mythen projizierte: Vyseherad. Der Legende nach kam hier Libussa zur Welt, eine Art Mutter aller Prager Mythen. Die Gründerin der Stadt Prag. Eine zaubermächtige Fürstentochter, die ihren Schimmel reiterlos auf die Suche nach einem Bräutigam schickt: der Schimmel kehrt zurück mit einem einfachen Bauernjungen. Und wie es der Mythos will: Fürstentochter Libussa und Bauernbursch Primislas begründen ein großes böhmisches Herrschergeschlecht… Musik 11, 2.43min Smetana, Bedrich Libussas Gericht Tschechoslowakisches Rundfunk-Sinfonieorchester Bratislava Dirigent: Stankovsky, Robert Labelcode: 09158, Labelname: Marco Polo Bestellnummer: 8.223705 Das tschechoslowakische Rundfunkorchester Böhmen unter Robert Stankovski mit „Libussas Gericht“ von Bedrich Smetana. Der Sage nach war die Wahrsagerin Libussa die Tochter des Fürsten Krok, der auf dem legendenumwehten Hügel Vyseherad oberhalb der Moldau residierte. 12 Unten im Tal lebten die Menschen in Sünde, und um das Volk vor einer Seuche zu retten, die der Himmel geschickt hatte, gründete diese Libusse mit ihrem Mann, dem Bauern Primislas, der den ganzen Tag die Felder pflügte, die Stadt Prag. Auch der Name der Stadt Prag geht auf diese Legende zurück: Angeblich schickte Libussa einige Männer in den Wald am Ufer der Moldau, um aus einem Baum eine Türschwelle zu schlagen. Das tschechische Wort für Türschwelle ist „Prah“. An der Stelle des geschlagenen Baumes liegt der mythologische Grundstein der goldenen Stadt: „Praha“, Prag. Ich stehe am Ende meiner Reise nunmehr neben der Skulptur, welche die Stadtgründer Libussa und Primislas zeigt, im Park auf dem Vyseherad. Hier auf diesem Hügel, auf dem vor langer Zeit eine frühmittelalterliche Festungsanlage über der Moldau thronte. Hier erdichtete sich die böhmische Nationalbewegung ihre großen Erzählungen. Und hier oben, auf dem Vyseherader Friedhof, liegen auch die großen Namen der Prager Musikgeschichte: Dvorak, Suk, Fibich, Ondriczek, Ancerl, Kubelik, Smetacek, Destinnova…und natürlich Bedrich Smetana. Es ist ruhig hier oben… die ruhigsten Minuten seit meiner Ankunft in Prag. Ich habe noch viel Zeit. Also gehe ich durch den Park noch zu einer kleinen Aussichtsplattform am Rande der Befestigungsanlage. Da unten ist die Stadt. Da unten ist die Moldau. Musik 12, auf Schluss setzen, 9:00 Bedrich Smetana Die Moldau Leipziger Gewandhaus / Leitung: Vaclav Neumann Edel Classics LC00549 M9040208 001 13 Anmerkung des Autors: Die Idee zu dieser Sendung entstand, als ich in einem Düsseldorfer Antiquariat an einem Nachmittag dieses Jahres sowohl die 800 Seiten starke Autobiografie des Prager Komponisten Josef Bohuslav Foerster entdeckte, als auch ein kleines Bändchen mit dem Titel „Spaziergänge durch das musikalische Prag“. Das hervorragende Buch des Musikwissenschaftlers Wolfgang Dömling ist neu meines Wissens nicht mehr erhältlich, aber nach kurzer Internetrecherche findet sich meist der ein oder andere Händler, der das Buch noch verfügbar hat. Vieles in Prag hat sich seit Erscheinen des Buches geändert, manches ist kaum wiederzuerkennen, aber als Ausgangspunkt für eine Spurensuche wurde das Buch auf den Spaziergängen unentbehrlich.
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