ji Radiokunst I Kulturforum Inside Qivittoq Feature von Merzouga Mit: Bruno Winzen, An Kuohn und Susanne Barth Technische Realisation: Eva Pöpplein und Anne Bartel Regie: Janko Hanushevsky Redaktion: Joachim Dicks DLF/RBB/NDR 2013 Sendung: 07.02.2017 , 20.05 – 21.00 Uhr Zur Verfügung gestellt vom NDR. Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für private Zwecke des Empfängers genutzt werden. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag und Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors zulässig. Die Verwendung für Rundfunkzwecke bedarf der Genehmigung des NDR. KOMPOSITION: Teil 1 „EISFJORD“ ANSAGE INSIDE QIVITTOQ – Ein Feature von Merzouga. SPRECHER Winter in Grönland. Die Polarnacht ist heller, als man denkt. Wolkenlos der Himmel über Ilulissat. Inga blickt nach oben. Ein dunkler Raum öffnet sich über ihr, aus dem ihr Myriaden von Sternen entgegenstürzen. *** Achtzehn Grad minus. Seit vierundzwanzig Tagen ist es dunkel. Kalte Luft strömt aus dem Inlandeis in die Bucht, vom Gletscher, der tief im Inneren des Kangia-Fjords Eisberge groß wie Mietshäuser ins Meer kalbt. Vor den Fenstern stehen sie, weiß, blau, grün und werfen das Mondlicht zurück in den Himmel. Treibgut aus tonnenschwerem, betonhartem Kristall. *** Der Türöffner summt. Das Licht geht automatisch an, als Inga den Hausflur betritt. Das Seniorenheim in Ilulissat. Anne-Sofies Zimmer ist mit Kerzen erleuchtet. Es duftet nach Ofen, Zimtschnecken, Kaffee. Anne-Sofie hat Freunde zum Geschichtenabend eingeladen. Lars (41), Fischer und Jäger. Salik (45), leitender Angestellter, Grönländische Tele-Post. Nivi (28), Grundschullehrerin mit ihren beiden Kindern. Karsten (55), Kameramann. Und Inga selbst (48), Nachrichtenmoderatorin bei KNR. In ihrem Sessel, zugedeckt mit einem Moschusochsenfell die Gastgeberin: Anne-Sofie Nielsen. Manche behaupten sie sei Ende siebzig, andere, sie sei hundertzwei. Wahrscheinlich ist sie die beste Geschichtenerzählerin Grönlands. O-TON Anne-Sofie Nielsen (GRÖNLÄNDISCH) Erzählt den Anfang Ihrer Geschichte über die Begegnung mit einem Qivittoq. Am liebsten erzählt sie Qivittoq-Geschichten, zum Beispiel die von einem Weihnachtsabend in dem Dorf ihrer Kindheit, als ihr ein Qivittoq in Gestalt einer Frau begegnete. Einer Frau, die auf ihren Ellbogen lief. Auf sie zulief. SPRECHERIN 2 Ich war damals, ich glaube ich war drei. Da gab es ein Erlebnis, ich hab das nie vergessen. Ich hab auch oft davon geträumt. Aber heute fällt es mir ein an Abenden, wie diesen, wenn es draußen so kalt ist, und wir treffen uns, um uns gruselige Geschichten zu erzählen. SPRECHER Ende Komposition Teil 1 Übergang zu KOMPOSITION Teil 2 (Atmo Aleqa) O-TON Aleqa Hammond (DEUTSCH) ALEQA Es wird ausgesprochen als Qivittoq. Bedeutet eigentlich wörtlich übersetzt eine Person, die von uns weggegangen ist. Eigentlich kommt es von der Zeit, wo unsere Welt noch ganz klein war. Wenn man zur 2 Gemeinschaft nicht mehr dazu gehört, dann geht man von der Gemeinschaft weg, und geht ins Gebirge. Und dann lebt man alleine da oben, im Gebirge und hat keinen Kontakt zu anderen Menschen. Und solche Leute heißen Qivittoq. Ein Qivittoq, zwei Qivittut. Diese Qivittut, wenn man in Grönland alleine im Gebirge überleben kann, sagt man immer, dann haben sie übernatürliche Kräfte und sowas. Viel von unserer eigenen oralen Tradition, die gesprochene Geschichte Grönlands geht sehr viel um Qivittut. Da ist sehr viel Mystik darauf, man spürt es, man merkt es, man hat es geahnt, und man hat draußen in den Felsen, oder im Gebirge vielleicht etwas gesehen, das sind die Qivittut. Man hat eine Entschuldigung für Sachen, die plötzlich verschwinden von unserem Haus, das sind die Qivittut. Übergang zu KOMPOSITION Teil 3 (Winterbassmotiv + Field-Recording Schlittenhunde ) Ich heiße Aleqa Hammond, ich bin die Premierministerin Grönlands. ... Blut rinnt aus dem Eingang in mäandernden Rinnsalen die Straße hinab, die zum Meer führt. In einem länglichen Raum zerlegen alterslose Inuit große Tranchen Wal- und Robbenfleisch... SPRECHERIN 1 ... moderne Hochhäuser, Bürokomplexe, Shopping Malls und schmucklose, mehrstöckige Wohnsilos. In einem einzigen Wohnblock leben so viele Menschen, wie früher in fünf Dörfern... SPRECHER ... die meisten Jäger sind heute Fischer geworden. Zerfurchte Gesichter, tätowierte, von Eis und Sonne verbrannte Haut... ... die jungen Leute haben iPhones und iPads. Fotos von Amuletten und beschützenden Tupilaks als Bildschirmschoner... ALEQA SPRECHER Ende Winterbassmotiv X Atmo Aleqa ALEQA Und Qivittut ist nicht nur, was wir in alten Zeiten erzählt haben, das haben wir noch genauso viel heute, wie früher. Wir haben großen Respekt davor. Und Qivittut kommt manchmal in unserer eigenen Tagesschau im Fernsehen oder im Radio, dass jemand einen Qivittoq gesehen hat im Gebirge. Vor zwei Sommern hörte ich eine Warnung im Radio, wo jemand von einer Kleinsiedlung gesagt hat: „Achtung, Achtung! Es gibt Qivittut im Gebirge! Man muss aufpassen, weil die können auch ein bisschen aggressiv werden.“ Und das nimmt man sehr ernst. Das ist natürlich eine gute Geschichte, ob es daran etwas Wahres gibt... naja, kann man diskutieren. Aber ich horche zu, ich höre auf, und man nimmt die Geschichte ernst. Übergang zu KOMPOSITION Teil 4 (Motiv Anne-Sofie) SPRECHER Inga gießt Kaffee in ihre Tasse. Stille breitet sich im Raum aus, glatt wie das Wasser, auf dem im Sommer reglos die Eisberge schweben. 3 Inga war in Kanada, in den USA, in Alaska, in Hawaii und bei den indigenen Völkern auf den Pazifikinseln. Miteinander still sein, auch wenn man sich nicht gut kennt, das können nur die grönländischen Inuit, sagt sie. Ich fange heute an, sagt Salik. Ich möchte Euch die Geschichte meines Namens erzählen. Er stammt von einem Qivittoq. KOMPOSITION: Crossfade X Atmo Innenraum Seniorenheim O-TON Salik Hard (DEUTSCH) SALIK Ich bin 1967 geboren, und damals war es nicht normal, dass die Kinder einen ursprünglichen, grönländischen Namen hatten, weil die Dänen waren sehr populär, besonders nach dem Krieg in den 50er und 60erJahren. Mein Vater ist ein Grönländer mit einem großen „G“, er hat entschieden, dass ich einen grönländischen Namen haben soll. Aber mein Name war kein christlicher Name, also steht er nicht im Kirchenbuch. Also hat er keine Erlaubnis gekriegt. Ich durfte nicht Salik getauft werden. Und dann hat er bei Kirche und Ministerium um Erlaubnis angesucht, und hat sie bekommen. Also konnte ich glücklicherweise Salik getauft werden in der Kirche. Man kann sagen ich bin der erste Salik, der getauft wurde. Mein Name ist von einer alten Legende oder Geschichte, die heißt „Salik Qivittoq“, und das bedeutet Salik der Berggeist oder Qivittoq. Und so bin ich eigentlich ein Qivittoq. KOMPOSITION: Übergang zu Motiv Qivittoq „SALIK“ Die Geschichte heißt „Salik, der seine Namensseele getroffen hat“, und sie handelt von einer Familie, und die Hauptperson von dieser Familie war Salik. Ein Mann, ein Jäger, und sie hatten in so einem Winterhaus gelebt, und jedes Frühjahr sind sie in das Sommerlager gefahren. Im Frühjahr haben sie alles zusammen gepackt und das Dach geöffnet, das tut man immer, und dann kommt man zurück im Herbst und benutzt das gleiche Haus wieder. Sie waren gerade weggefahren, und dann hat Salik etwas Gerät im Haus vergessen. Also ist er zurückgefahren und ist hoch zum Haus gelaufen, und in dem Haus war ein Qivittoq. Und dieser Qivittoq war sehr überrascht, weil plötzlich war Salik dort, und er war überrascht, weil dieser Qivittoq konnte alles hören, er konnte die Rentiere auf der anderen Seite vom Berg hören, wenn sie runterlaufen, er konnte sehr weit sehen wie ein Adler. Er konnte alles spüren, aber diesen Mann hat er nicht gemerkt. SPRECHER Der Qivittoq steht noch immer mit dem Rücken zu Salik. - „Wie heißt Du?“, fragt er. - „Salik“, antwortet Salik. Langsam dreht sich der Qivittoq um. In seinem Blick liegt die Kraft eines 4 Menschen, der allein draußen in der Natur überlebt. Der den Kräften der Natur trotzt und sie für sich zu nutzen versteht. Die Gewalt eines Schneesturms. Salik fühlt sich wehrlos dem Blick des Qivittoq ausgeliefert. Der Blick eines Eisbären, denkt er, von dessen Mine man nicht ablesen kann, ob er sich im nächsten Moment von dir abwenden oder dich zerfleischen wird. - „Das ist auch mein Name“, sagt der Mann im Robbenfell. Er lässt das Messer sinken. „Und weil Du meinen Namen trägst, konnte ich Dich nicht erkennen. Ich habe Dich gespürt, und ich dachte, was ich spüre ist ein Teil von mir.“ Die beiden stehen einander jetzt kaum einen Meter entfernt gegenüber. Der Qivittoq blickt in Saliks Augen. Dann springt er auf ihn zu, schlägt über seinem Kopf einen Salto und ist verschwunden. Aus dem offenen Dach steigt ein Rabe auf, der mit kraftvollen Schwüngen davonfliegt. KOMPOSITION: Ende Motiv Qivittoq „SALIK“ Crossfade X Motiv Anne-Sophie und Atmo Innenraum Seniorenheim O-TON Salik Hard (DEUTSCH) SALIK Diese Geschichte, ich habe überlegt, wovon sie handelt. Ich denke, es ist eine Erzählung, die erklärt, dass die physischen und mentalen Bilder zusammenhängen. Also die Geisterwelt und die körperliche Welt hängen zusammen, man kann sie nicht trennen. Deshalb haben die beiden den gleichen Namen. Der Mann, der aus der körperlichen Welt kommt und der aus der Geisterwelt. Ich habe gesagt mein Name ist Salík, aber ursprünglich war es eigentlich Sálik, mit einem langen a. Und das bedeutet der Zweiseitige, kann man sagen. Wir haben alle zwei Seiten. Wir haben einen Geisterteil und einen körperlichen Teil. Eigentlich sollten wir alle Sálik heißen. Übergang zu KOMPOSITION Teil 5: „EISBERGE“ …Die Stadt ein architektonischer Flickenteppich. Rote, blaue und weiße Holzhäuser, die über nackte Felsen hin gewürfelt sind. Dazwischen ein unübersichtliches Netz aus Treppen, die auf meterhohen Stelzen über die Felsen ragen... SPRECHER …Dichter Nebel hüllt den Hafen ein. An einem Haken hängen frisch geschlachtete Robben. Aus ihren aufgeschlitzten Bäuchen quellen in dichten Knäueln die Gedärme... SPRECHERIN 1 …Zwischen den Hochhäusern öffnet sich der Blick auf schroffe, schneebedeckte Berge. Nirgendwo Bäume oder Sträucher. Man hat das Gefühl, dass in Sichtweite, direkt hinter der Stadtgrenze, die Wildnis beginnt... SPRECHERIN 1 SPRECHER …Drei Männer und drei Frauen stehen im Kreis. Einer schlägt die Trommel und beginnt zu singen, die anderen stimmen mit ein. „Das Lied wird durch arhythmische Trommelschläge herbei gerufen“, erklärt die junge 5 Frau im Dolce & Gabbana T-Shirt, „es wird durch unsere Münder gesungen und anschließend wieder durch Trommelschläge in den Himmel zurück geschickt.“ KOMPOSITION: Finale Teil 5 „EISBERGE“. Traditionelles grönländisches Trommeltanzlied aufgenommen in Nuuk mit der Trommeltanzgruppe des N.I.A.P. Crossfade X Atmo Aleqa O-TON Aleqa Hammond (DEUTSCH) ALEQA Die orale Tradition ist wichtiger, als die geschriebene. Das ist eine hundertprozentige Wahrheit. Die Leute wollen lieber die erzählte, die orale Geschichte, als ein Buch zu kaufen. Weil ein Buch kann man lesen, aber man hört die Stimme nicht, man hört den Erzähler nicht, man sieht nicht die Handbewegungen, man sieht nicht die Augenbewegungen. Der Ausdruck, die Umgebung, alles hat eine riesige Bedeutung, um eine gute Geschichte zu erzählen. Und ich denke auch, dass die meisten Leute, die aufgewachsen sind mit sehr vielen Geschichten zuhause, sehr viel Qivittoq-Stories und dies und jenes, das sind auch die Leute, die die beste und schönste Sprache haben. Die orale Tradition stärkt uns in unserer Persönlichkeit, in unseren Gedanken, in unserer Kreativität, in unserer Impulsivität. Ich selbst sehe es so, dass ich heute eine Position habe, wie ich sie habe, weil ich eine starke Person bin. Ich kenne meine Geschichte durch unsere orale Tradition. Also: Orale Tradition ist nicht nur Unterhaltung. Das ist eine Stärke als eine Kultur. KOMPOSITION: Motiv Makka O-TON MAKKA KLEIST (ENGLISCH) MAKKA My name is Makka Kleist. It is said that Heinrich von Kleist, his cousins moved to Greenland, way back, with Herrnhuter, and started teaching religion and all that, so that’s how we got our name. Way, way back I have a little bit of German in me. (Lacht). I usually say it’s my stubbornness that is German. SPRECHERIN 1 Ich heiße Makka Kleist. Man sagt, dass Heinrich von Kleists Cousins mit den Herrnhuter Missionaren nach Grönland kamen. Ich habe also ein klein bisschen deutsches Blut in mir. Ich sage immer meine Sturheit kommt von meinen deutschen Genen. MAKKA I was born in Kukhlissat, on an island. I grew up with a lot of culture, cultural life, so I became first a teacher and then an actor. And I’ve been working with theater for 35 years now, I direct, I write, but now I am the principal of the National Theater School here in Greenland. 6 SPRECHERIN 1 MAKKA SPRECHERIN 1 MAKKA SPRECHERIN 1 MAKKA SPRECHERIN 1 MAKKA SPRECHERIN 1 MAKKA SPRECHERIN 1 MAKKA SPRECHERIN 1 *** MAKKA Seit 35 Jahren arbeite ich am Theater. Ich führe Regie, spiele und schreibe. Heute bin ich die Leiterin der Nationalen Theater Schule in Grönland. It’s the Art of the Moment, like every theatre-piece should be. But this is really the Art of the Moment because you have to be so alert. I mean, you are supposed to scare the hell out of the audience. Es geht um die Kunst des Augenblicks. Man muss extrem wach sein, man muss den Zuhörern richtig Angst einjagen. And that thing is to teach children fear. The children will know how to react, or they will learn it is okay to react by watching the grown-ups and how they react. Es ist wichtig, dass Kinder die Angst kennen lernen. Sie müssen lernen, auf die Angst zu reagieren. Sie beobachten die Erwachsenen, wie sie mit ihrer Angst umgehen. Du kannst davon laufen, lachen oder angreifen, aber du musst handeln. Wenn du handelst, wirst du die Angst überwinden. Fear is a very strong emotion, and fear has been hidden away in European culture. It’s like, don’t show fear, don’t frighten the kids, so the kids in European communities don’t really get in touch with real emotions. And once they do that when they grow up many of them don’t know how to handle them. Angst ist eine sehr starke Emotion. In Europa versucht man, Kinder nicht mit der Angst zu konfrontieren. So kommen sie nicht mit wirklich tiefen Emotionen in Berührung. Und wenn sie erwachsen werden, wissen sie nicht, wie man mit diesen Emotionen umgeht. And once you learn that you can conquer fear by reacting - I mean, you can run away, you can laugh, you can attack it - and by doing something you will be on your way solving that emotion. And by dealing with fear you learn how to deal with other emotions. Du kannst davon laufen, lachen oder angreifen, aber du musst handeln. Wenn du handelst, wirst du die Angst überwinden. Lerne mit deiner Angst umzugehen, und du lernst mit allen anderen Emotionen umzugehen. You learn that every emotion will start, it will peak, it will go away. Even love will change all the time. So you fall in love, and it peaks, and then it goes into something else. So don’t panic, even if you fall out of love (lacht), is the saying, deal with it, deal with it. Emotionen bauen sich auf, erreichen einen Höhepunkt und verklingen wieder. Sogar die Liebe verändert sich ständig. We knew that from our society because many people would be alone out hunting, maybe for weeks, totally by themselves. And if they panic in their fear they can die. You can die. In unserer Gesellschaft sind Menschen oft wochenlang alleine unterwegs um zu jagen. Wenn du ganz alleine da draußen bist und deine Angst in Panik umschlägt, kannst du sterben. Working with the inner critic that is connected to your fear that is connected to blocking out your creativity. I don’t know which one it is, it could be that it is deep within us to conquer fear. Conquer fear in that sense that it’s okay to make a fool of yourself, it’s okay not to know, it’s 7 okay that you do it – in quotation mark – “wrongly” the first time. It’s okay. SPRECHERIN 1 Wir arbeiten an der Schauspielschule viel an dem Inneren Kritiker, der eigentlich eine Ausdrucksform deiner Angst ist, die wiederum deine Kreativität blockiert. Angst davor, sich vor anderen bloßzustellen, etwas falsch zu machen, etwas nicht zu wissen. Vielleicht liegt es tief in uns drinnen, die Angst zu überwinden. Ich beobachte, dass Inuit Schauspielern der Zugang zu ihren tiefen Emotionen leichter fällt. Und es scheint mir, dass sie weniger Angst haben. MAKKA And I find that Inuit actors, Greenlandic actors especially, are very fast in reaching into your real emotion. And it seems like they don’t have that much fear. KOMPOSITION: Motiv Anne-Sofie & Atmo Innenraum Seniorenheim SPRECHER Inga füllt dänische Butterkekse in ein Schälchen. Weit draußen hört man den dumpfen Knall einer Eisbergkante, die auf der Eisdecke zerbirst. Nivis Kinder rutschen näher zusammen. „Mama, erzähl die Geschichte vom Qivittoq von Ilimanaq“, drängt das Mädchen. KOMPOSITION: Übergang zu Motiv Qivittoq „ILIMANAQ“ Meine Großmutter hat mir als Kind oft die Geschichte von einem Qivittoq erzählt, der in ihrem Dorf sein Unwesen trieb. Es muss Anfang der 1960er Jahre gewesen sein. 54 Menschen lebten damals in Ilimanaq, eine Bootsstunde südlich von hier, jenseits des Kangia-Eisfjords. Unter ihnen ein Mann, dessen Frau bereits sechs Kinder tot zur Welt gebracht hatte. Der Mann glaubte, ein Tupilak habe seine Frau verflucht, als endlich das siebte Kind überlebte. Anouk ist ein fröhliches, lebhaftes und ein sehr kluges Mädchen. Alle im Dorf lieben sie. Doch an ihrem dritten Geburtstag, es hat gerade das erste Tauwetter eingesetzt, rutscht Anouk beim Spielen aus und stürzt von der Hafenmole. Sie bricht in das dünn gewordene Meereis ein und ertrinkt. Da wurde der Mann verrückt vor Trauer. Er riss sich die Kleider vom Leib und lief schreiend durch das Dorf. Das Dorf liegt auf einer Ebene, die flach zum Meer abfällt und an deren Ende sich hohe Berge erheben. In diese Berge ist der Mann geflohen. Bereits nach kurzer Zeit hatte er Zauberkräfte entwickelt. Man hörte seinen Schrei von dem einen Gipfel im Norden und Sekunden später hörte man ihn den Namen seiner toten Tochter rufen – von einem anderen Gipfel, eineinhalb Tagesmärsche entfernt. Man erzählte sich er könne fliegen. Es kam auch im Dorf immer häufiger zu unerklärlichen Vorfällen. Trockenfisch wurde von den Holzgestellen vor den Häusern gestohlen. Ein Hundeschlitten war plötzlich unauffindbar. Und in der Kirche hing das Kruzifix verkehrt. Die Bewohner von Ilimanaq lebten in Angst und Schrecken, als eines 8 Tages das Geschrei aus den Bergen verstummte, genauso plötzlich, wie es begonnen hatte. Es blieb einen weiteren Tag aus, dann noch einen, und beinahe hatten die Menschen den Qivittoq von Ilimanaq vergessen, als eines Tages im Spätsommer eine Frau beim Brombeerpflücken in der Nähe des Dorfes den Leichnam des Qivittoqs fand. Er war immer noch nackt und lag mit verrenkten Gliedern zwischen den Sträuchern. In der Höhe seines Herzens klaffte ein Einschussloch. Nirgendwo war auch nur ein Tropfen Blut. Kein Rabe hatte von dem Leichnam gefressen. Die Männer aus dem Dorf wagten es nicht, sich dem toten Qivittoq zu nähern, sie dachten, er wäre verhext. Die Frauen mussten den Toten ins Dorf tragen, wo sie ihn, abseits des Friedhofs, auf einem Hügel begruben. Wenn man von jenem Hügel aus über den Friedhof blickt, kann man noch heute das verwitterte Holzkreuz sehen, unter dem die kleine Anouk begraben liegt. KOMPOSITION: Hafenentladung & Collage SPRECHER ALEQA SPRECHER ALEQA SPRECHER ALEQA … Ins Meer ragende Gletscherzungen, mäandernde Fjorde, auf denen schnurgerade, kilometerlange Risse die Eisplatten in geometrische Formen zerschneiden… … Unsere eigenen Mythen, unsere eigenen Sagen, unsere eigene Geschichte. Wieso wir eine Welt haben, wieso wir Ängste haben, wieso die Welt blau ist, wieso Eis weiß und grün ist… … Das nächste Containerschiff kommt erst wieder im Frühjahr durchs Eis. Im Winter: leere Regale im Supermarkt. Die frischen Eier kommen per Helikopter ins Dorf… … Und das ist immer eine Neugier der Menschheit, zu wissen woher wir kommen. Menschheit ist Mensch geworden, weil wir Kultur kriegten… … Wasser schwappt rhythmisch gegen das Boot. Die Leine, an der halbtote Fische von Widerhaken baumeln, quietscht beim Hochziehen leise. Eis kracht in der Ferne. Die Möwen machen seltsame Töne… … Der größte Reichtum für Grönland ist, dass wir Inuit sind. Wir sind das kleinste Volk auf der größten Insel der Welt. Wir sind reich daran. Und wir haben eine ganz reiche Kultur, und mit dieser Kultur können wir die verschiedenen anderen Herausforderungen im globalen Zusammenhang schaffen. KOMPOSITION: Übergang zu Atmo Aleqa ALEQA Ich denke, das ist ein Teil von unserer Identität. Das kann man einfach nicht entfernen, und das kann man auch nicht dazu geben. Das ist ein Teil von unserer Geschichte, ein Teil von unserer Mentalität. Die Geschichten, die zu einem Volk dazugehören, sind genauso wichtig, wie alles andere, das man sehen kann. Der immaterielle Kulturschatz ist genauso wichtig, wie der materielle Kulturschatz. Geschichten sind die älteste Überlieferung der Menschheit. Wir denken, wieso haben wir eigentlich die Geschichten? Wie alt sind die 9 Geschichten? Woher kommen sie? Wieso hat meine Oma mir das erzählt? Und sie hat es von ihrer eigenen Oma! Wieso? Wir wissen es nicht einmal mehr. Das ist ein Teil so tief in uns... ich sehe die Geschichten, die ich heute kann, und die ich von meiner Oma überliefert bekommen habe, das habe ich mit mir im Herzen als ein Geschenk von meiner Oma. Das ist das beste Geschenk, das man überhaupt haben kann. Feiner, besser, als irgendein Ding. KOMPOSITION: Traditionelles grönländisches Volkslied gesungen von Inga Hansen. Schlittenhunde und Kolkraben. Übergang zu: Motiv Makka O-TON MAKKA KLEIST (ENGLISCH) MAKKA We have been a colony of Denmark, well we were, for 250 years at least. We became so called part of Denmark in ’53, but it didn’t mean anything, in that sense that we were still looked upon as these strange, primitive Eskimos. 250 Jahre lang waren wir eine Kolonie Dänemarks. 1953 wurden wir ein sogenannter Teil Dänemarks, aber es hatte keine Bedeutung. Wir wurden immer noch als diese eigenartigen, primitiven Eskimos betrachtet. MAKKA I mean, if you are told over and over and over again that your language is worth nothing, that your culture is just primitive, worth nothing, that your religion is bullshit, so of course it does something to your self-worth. It drops. But once we started saying to each other, no way, I mean, this culture has been like, we can go back for 10.000 years, and this country at least 5.000 years, we have our own language, we have the stories, we have our own religion, we survived! SPRECHERIN 1 Natürlich leidet dein Selbstwertgefühl, wenn man dir immer wieder sagt, dass deine Sprache nichts wert ist, dass deine Kultur und deine Religion primitiv und wertlos sind. Aber diese Kultur ist 10.000 Jahre alt, dieses Land ist mindestens 5.000 Jahre alt, wir haben unsere Sprache, wir haben unsere Geschichten, und wir haben überlebt. MAKKA Of course it gives self-confidence when you are no longer a colony, when you are no longer a primitive person, when you are no longer looked upon as a lower being, an animal that just happens to be speaking. So of course, it does something to the self-confidence. You see many of the young people, straight backs, proud of themselves. SPRECHERIN 1 Natürlich stärkt es unser Selbstbewusstsein, dass wir keine Kolonie mehr sind, dass wir kein primitives Volk mehr sind, dass wir nicht mehr als niedrige Wesen betrachtet werden, als Tiere, die zufällig sprechen können. Heute sieht man viele selbstbewusste junge Leute, die stolz sind auf ihre Herkunft. MAKKA It’s again what colonization did to people. Because in our own religion we started from our country, from our own surroundings. The respect for 10 SPRECHERIN 1 the animals, the respect for the ocean. It’s the spirit. SPRECHERIN 1 Unsere eigene Religion hat ihren Ursprung in unserer Umgebung, im Respekt für die Tiere und für das Meer. MAKKA But also in our culture it’s, uh, I mean, taking the religion away from people, it was horrible. And you see a nation without religion, I mean, we have Christianity, but it’s still a very strange religion to us. I mean, what has a middle-eastern religion, what has it got to do with us? Really! That has a torture instrument as their symbol! No! SPRECHERIN 1 Einem Volk seine Religion zu nehmen, ist furchtbar. Und heute sehen wir ein Land ohne Religion, wir haben das Christentum, aber es ist uns immer noch fremd. Was hat eine Religion aus dem Nahen Osten mit uns zu tun, die ein Folterinstrument als Symbol hat? Nimmt man einem Volk seine Religion, kann man sicher sein, dass es untergehen wird. MAKKA But taking away religion from people you can be sure they will fall. KOMPOSITION: „EIS + ZITHER“ Ausklang „EIS + ZITHER“ Beginn: Atmo Aleqa O-TON ALEQA HAMMOND (DEUTSCH) ALEQA Die dunkle Zeit im Winter ist besonders die gute Zeit, wenn man die Qivittoq-Geschichten erzählt. Die langen Winternächte sind ganz perfekt für Erzählerabende. Und das tun wir auch heute immer noch, einfach nur in modernen Zuständen und (im modernen) Leben. Wenn ich sage, heute mache ich so einen Erzählerabend: Full House. Dann habe ich gebacken. Das gehört dazu. Es muss dunkel sein, viele Kerzen, und dann hat man etwas Gutes gegessen, den Kaffee und das Zimtgebäck auf dem Tisch, und dann gebe ich mir Zeit zu erzählen. Eine Geschichte kann sehr lang sein. Eine Geschichte kann eine halbe Stunde dauern. Und wenn mein Geschichtenabend zu Ende ist, kann man nicht mehr alleine von meinem Haus auf die Straße gehen. Dann hat man Angst, man nimmt ein Taxi. Oder man wird geholt, oder man kann nicht schlafen. Dann ist es ein guter Erzählerabend bei mir. KOMPOSITION: „FINALE, 1. Teil“ & Atmo Seniorenheim SPRECHER Die Glocke der Zionskirche schlägt Mitternacht. Der Wind treibt schneeschwere Wolken über das Meer. Vor dem Fenster verschwimmen die Eisberge in der Dunkelheit, als endlich Anne-Sofie zu sprechen beginnt. O-TON ANNE-SOFIE NIELSEN (GRÖNLÄNDISCH) Läuft über die Komposition. Anne-Sofie beginnt ihre Geschichte im für QivittoqGeschichten typischen Erzählduktus zu erzählen. Sie beginnt mit einem 11 langgezogenen „Eeeeq!“, einem grönländischen Ausruf des Schreckens. SPRECHERIN 2 Das war Weihnachten, oh, vor vielen, vielen Jahren, in meinem Dorf. Ich war ganz klein, ich glaube drei Jahre alt. Alle waren zusammen, alle Freunde, bei einem Kaffeemik, und dann sagte meine Mutter zu mir: „Anna Sofia, lauf mal hinunter zu deiner Tante und bring ihr Kaffee und Kuchen!“ Die Tante war krank. Ich hatte eine kleine Laterne in der Hand, in meiner rechten Hand, und lief ganz schnell, so schnell ich konnte. Meine Cousine, die größer war, die lief mit mir mit, die hatte mich an der Hand, und meine beiden Cousins, die liefen schon voraus. Ich hatte überhaupt keine Angst, nein, obwohl es so dunkel war, es war doch Weinachten, und Weihnachten braucht man keine Angst zu haben. KOMPOSITION: Crescendo < „FINALE, 2. Teil“ SPRECHERIN 2 Wir kamen an eine Straße, die sich einen steilen Hang hinaufwand, wie eine dunkle Schlange. In der Mitte des Hangs lag eine verfallene Hütte. Als wir uns auf wenige Meter der Hütte genähert hatten, schrien meine beiden Cousins plötzlich auf, machten kehrt und rannten an mir vorbei die Straße hinunter. Hinter der Hütte kroch etwas am Boden. Es kam näher. Zuerst dachte ich, irgendein Tier kriecht auf mich zu, doch dann erkannte ich, es war eine Frau, die langsam auf mich zu kroch, eine Frau ohne Beine, eine Frau, die auf ihren Ellbogen lief. Wirres Haar fiel ihr ins Gesicht und verdeckte ihre Augen. Da riss meine Cousine an meiner Hand, und ich stürzte hinter ihr den Berg hinunter. Wir sahen uns um und sahen, dass die Frau uns verfolgte. Meine Cousine begann zu schreien, ließ meine Hand los und rannte davon. Ich spürte, wie meine Beine schwer wurden, ich fiel zurück, ich war ja viel kleiner, als die anderen, meine Cousins waren schon fast beim Haus, aus dem jetzt die Erwachsenen gelaufen kamen. Meine Hand umklammerte die kleine Laterne, als hinge mein Leben davon ab, das Lichtlein nicht fallen zu lassen. Die kalte Luft brannte in meinen Lungen, und ich meinte bereits den Atem der Frau in meinem Nacken zu spüren, als ich plötzlich die Stimme meiner Mutter hörte, die aufschrie: „Mein Gott, sie greift nach Anne-Sofia!“ Ich drehte mich zu der Frau um. Ihre Finger waren nur noch Zentimeter von mir entfernt und streckten sich nach mir aus. KOMPOSITION : Übergang zu Schlussmusik & Reprise Motiv Anne-Sofia SPRECHER Es ist spät geworden. Vorsichtig setzt Inga einen Fuß auf die vereiste Straße. Salik hat angeboten, sie nach Hause zu begleiten. Inga hakt sich bei ihm ein, langsam gehen sie die Straße hinunter. Der Wind hat die Wolken über die Berge getrieben. Über dem Meer glitzern die Sterne wie Eiskristalle in der Finsternis. 12 ABSAGE INSIDE QIVITTOQ. Ein Feature von Merzouga. Es sprachen Bruno Winzen, An Kuohn und Susanne Barth. Ton und Technik: Eva Pöpplein und Anne Bartel. Komposition und akustische Einrichtung: Merzouga. Regie: Janko Hanushevsky. Mit freundlicher Unterstützung des Goethe-Instituts Dänemark und der Film- und Medienstiftung NRW. KOMPOSITION : Fine (Tacet). Produktion: Deutschlandfunk, Rundfunk Berlin Brandenburg und Norddeutscher Rundfunk 2013. 13
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